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Innentitel

 

Steampunk/Episoden-Roman


Deutsche Erstausgabe

 

2019

 

© Mystic Verlag

 

Text: Sven Haupt

Umschlagskonzept: Sven Haupt

 

Umschlaggestaltung: Claudia Gornik

Bildmaterial: Garik Barseghyan/pixabay

www.coverboost.de

 

Satz: Sven Haupt

Lektorat: Helga Sadowski

Korrektur: Christine Jurasek, Anke Tholl

 

 

ISBN: 978-3-947721-37-5

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere

Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens


Inhalt

Siam, 1897

Sibirien, 1923

London, 1940

Cuauhtemallan, 1985

Mare Serenitatis, 2010

Chryse Planitia, 2035

New London, 2089

Sumeru, 2123

Anahita, 2178

Crepusculi Frater, 2215

Stella Errante, 2281

Rohitassa, 2376

Siam, 1897

 

»Halten Sie jetzt ganz still, Frau Doktor, ich würde Sie nur äußerst ungerne verletzen.« Die Stimme war ruhig, machte jedoch deutlich, dass der Besitzer keinerlei Probleme mit der Alternative haben würde.

Irene Cameron erstarrte. Sie fühlte deutlich, wie etwas sehr Scharfes ihre Haut am Hals aufritzte. Sie schielte vorsichtig an sich herab und sah eine golden schimmernde Schneide aufblitzen, die über ihre Schulter hinweg an ihrem Hals vorbeilief und in dem Baumstamm endete, an dem Irene sich gerade vorbeidrücken wollte. Mit der Klinge durch den Hinterleib an den Stamm genagelt, zappelte die größte Spinne, die die ihr jemals vor die Augen gekommen war. Einen Moment lang glaubte sie, ihre Beine würden nachgeben. Das Tier war so groß wie ein Essteller. Irene versuchte verzweifelt, Gewalt über ihre Stimme zu bekommen, als eine riesige Hand sie sanft, aber bestimmt, an der Schulter griff und zur Seite zog.

Major Charles Browning trat an den Baum heran, während sich die Klinge mit einem leisen Sirren und Klicken wieder faltete und in seinem rechten Unterarm zurückschob. Er zog das letzte Stück mühelos aus dem Stamm und betrachtete einen Moment lang das immer noch schwach zuckende Geschöpf, welches kopfüber auf seiner Waffe hing. Er schnaubte kurz und ließ die Spinne kommentarlos einem der Träger hinter ihm vor die Füße fallen. Der Einheimische sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Diese Reaktion entsprach weitestgehend jener, welche alle Fremden gegenüber dem Major zeigten. Der riesige Mann aus Bronze schnaufte, wandte sich ab und verschwand mit zwei langen Schritten seiner sanft zischenden Pneumatik-Beine im Unterholz.

»Ich habe es ihnen gesagt«, murmelte er vor sich hin. »Frauen gehören nicht in den Urwald.« Das leise Grummeln des mächtigen Mannes konnte man problemlos zehn Meter weit hören.

Irene atmete noch immer schwer.

»Ich neige immer stärker dazu, Ihnen zuzustimmen!«, flüsterte sie ihm schwach hinterher. Der Schock ließ langsam nach und Irene ärgerte sich schon wieder über die nachlässige Unachtsamkeit, mit der sie hier durch den Wald stapfte. Sie war schließlich nicht auf dem Weg zu einem Picknick im Hyde-Park. Andererseits, wozu hatte sie eine Elite-Kriegsmaschine dabei, wenn nicht zum Schutz?

Sie rief sich innerlich zur Ordnung, drückte ihr Taschentuch gegen die Wunde am Hals und folgte dem schmalen Trampelpfad weiter durch das Dickicht.

Zwei Stunden später veranlasste der kleine Mönch, der ihre Expedition führte, auf einer kleinen Lichtung das Nachtlager aufzuschlagen. Der Tag war weit fortgeschritten und sie mussten die Feuer entfacht haben, bevor die Dunkelheit kam. Nicht, dass Irene in diesem verdammten Zwielicht irgendetwas von dem Himmel über ihnen sehen konnte, geschweige denn wusste, wann hier die Dämmerung anbrach.

Erschöpft ließ sie sich auf einen der Klappstühle fallen, die ihr Diener Keno aufgestellt hatte. Es fühlte sich lausig an, wann immer Irene abends auf ihrem Stuhl saß und sich als Einzige ihren Tee bringen ließ, aber sie machte sich nichts vor. Weder konnte Irene die schweren Zelte aufbauen, noch das Gelände sichern, Feuer machen oder etwa kochen. Außerdem war ihre heilige Tasse Tee in den letzten Wochen das Einzige gewesen, was sie daran erinnert hatte, wen sie hier vertrat und wo sie eigentlich hingehörte. Trotzdem sank ihre Stimmung von Tag zu Tag. Der einheimische Träger, der seine Machete benutze, um die riesige Spinne über dem Lagerfeuer zu grillen, half dabei nicht unbedingt. Die Krone schien weit fort. Dennoch, sie musste sich als Botschafterin verstehen, ein Leuchtfeuer der Kultur in dieser vom Uhrmacher verlassenen Hölle. Das durfte sie nie vergessen.

Irene beobachtete, wie Major Browning die Soldaten anbellte. Das Gelände wurde durchsucht und gesichert. Feuer entfacht. Rund um die Lichtung standen Wachposten, die Gewehre im Anschlag. Die Männer erhielten Weisung, auf alles zu schießen, was sich bewegte, ohne Fragen zu stellen. Die Gruppe lernte. Seit ihrem Aufbruch in Bangkok vor drei Wochen hatten sie schon fünf Soldaten und ihren Anführer verloren. Seitdem hatte der Major die Leitung der Expedition übernommen und das Kriegsrecht verhängt.

Armer Lord Wintersmith, dachte Irene. Als der berühmte Weltreisende und Großwildjäger von ihrer Majestät persönlich gebeten worden war, die Bemühungen in Siam zu leiten und die Interessen der Krone zu vertreten, hatte er wohl nicht damit gerechnet, nachts brüllend in den Wald geschleift zu werden. Irene schauderte.

»Ihr Tee, Madame.«

Irene schreckte auf. Keno stand neben ihr und reichte mit niedergeschlagenen Augen ihren Abendtee. Sie seufzte erleichtert und nahm dem Jungen das Tablett ab.

»Kòp kun mâak«, entgegnete sie und sah glücklich auf das feine Porzellan hinab. Was würde sie ohne Keno machen!

Sie trank dankbar in kleinen Schlucken und befühlte mit der freien Hand unbewusst den frischen, weißen Verband an ihrem Hals. Gleichzeitig beobachtete sie den Major, wie er strikte militärische Ordnung in die Reihen seiner Soldaten brüllte. Dabei hätte er nicht einmal laut werden müssen, ein Flüstern hätte vollkommen gereicht. Die Männer erfüllte auch so eine panische Angst vor dem Mann. Irenes Meinung nach, eine vollkommen normale Reaktion in der Gegenwart eines zwei Meter großen, dreihundert Kilo schweren Soldaten aus Bronze. Tatsächlich war er nicht einmal vollständig aus Metall. Soweit Irene wusste, bestanden sein Oberkörper, sein linker Arm und die rechte Hälfte seines Gesichts noch aus Fleisch und Blut. Den Rest hatte er auf diverse Schlachtfelder verteilt, auf denen er im Namen der Krone die Kunde vom großen Uhrmacher im Himmel und seiner größten Nation auf Erden zu dunklen Orten trug.

Heutzutage, im Zuge des atemberaubenden Fortschritts, den die wissenschaftliche Revolution der Knochenmagie und der Knochenmechanik den europäischen Ländern gebracht hatten, starben Soldaten auf den Schlachtfeldern immer seltener an ihren Verletzungen. Schwere Wunden qualifizierten sie stattdessen immer häufiger für technische Aufrüstungen durch die Hände der Mechaniker und Magier der Hoch-Akademie der Krone.

»Der Perimeter ist gesichert, Madame«, meldete die durchdringende Stimme des Majors.

»Sehr gut, Browning«, erwiderte Irene über ihre Tasse hinweg. »Ihre Arbeit ist wie immer ausgezeichnet. Sie sollten jetzt aber wirklich einmal Pause machen. Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?«

»Mit allem Respekt, Madame, ich werde schlafen, wenn wir das Kriegsgebiet lebend verlassen haben.«

»Meinen Sie nicht, Sie übertreiben, Major? Wir sind nicht im Krieg. Dies ist offiziell immer noch eine diplomatische Mission und eine Expedition auf der Suche nach neuen Artefakten.«

»Danke, Madame. Ich werde versuchen mich daran zu erinnern, wenn ich das den Familien meiner toten Männer erkläre.«

Irene seufzte. Der Offizier salutierte und wandte sich wieder der Inspektion des Lagers zu. Er begann, den umliegenden Rand des Waldes in der zunehmenden Dämmerung systematisch zu scannen. Irene konnte die Linsen seines künstlichen Auges surren und klicken hören. Sie wusste um den Frust des Majors darüber, dass er nur noch über zehn Soldaten mit Gewehren verfügte. Jeder Teilnehmer der Expedition hatte ihn ausgiebig darüber fluchen gehört. Im Moment wäre sie ebenfalls dankbar, wenn die Gruppe etwas mehr Feuerkraft auf ihrer Seite hätte.

Der Nordosten Siams galt als unerschlossen in einem Land, in dem ein Gebiet als erschlossen bezeichnet wurde, wenn ein Pfad dorthin führte, der mindestens fünf Monate im Jahr benutzt werden konnte und sich jemand fand, der den Namen des Dorfs am anderen Ende kannte. Die Geografie ließ keine Wünsche offen. Die Landschaft zerklüftet und bergig, der Boden arm, der Wald gefährlich und das Leben hart. Siedlungen lagen teilweise mehrere Tagesreisen auseinander.

Und dann die Nächte.

Sie waren schon am Anfang der Reise in Bangkok gewarnt worden, noch bevor die Gruppe überhaupt ihr Gepäck auf den Flussdampfer geladen hatte. Nordwärts gegen den Strom den Mae Nam Chao Phraya hinauf und weiter auf dem Mae Nam Pa Sak Richtung Nord-Osten. Lord Wintersmith hatte nur gelacht.

»Tiger?«, rief er. »Wundervoll, dann kann ich meiner guten Marie zu Hause einen schönen neuen Fellteppich als Reisegeschenk mitbringen!« Der weltberühmte Jäger und Trophäensammler amüsierte sich köstlich und tätschelte dabei sein golden verziertes Kaliber .577 Nitro Express Jagdgewehr. Er nannte es Betsy. Mit ihren über zehn Zentimeter langen Patronen konnte sie problemlos eine Lokomotive erschießen. Sie hatte ihm nichts genutzt.

Das Fauchen der Tiger war die ganze Nacht hindurch zu hören und verfolgte einen bis in die Träume. Es riss nie ab und es kam von allen Seiten. Die einheimischen Träger hatten schon nach der ersten Nacht umkehren wollen. Lord Wintersmith musste ihren Lohn gleich zweimal erhöhen. Doch mittlerweile gab es keine Panik mehr. Es gab keine Möglichkeit mehr zu fliehen, zu weit entfernt lag die nächste Siedlung. Was blieb, war das gleichmäßige Gefühl des Entsetzens, mit dem die Siamesen umherstarrten. Manchmal wusste sie nicht, wer den Trägern mehr Angst einflößte: Die Tiger außerhalb ihres Lagers, oder Major Browning in seinem Innern. Irene konnte es den Männern nachfühlen.

An einem der ersten Tage war der Soldat in einen Ameisenhaufen getreten, als er einen potenziellen Lagerplatz inspizierte. In wenigen Sekunden hatten riesige, rote Ameisen seine Beine bedeckt und die Träger veranstalteten sofort ein großes Geschrei. Der Major jedoch sah lediglich milde interessiert an sich herab und aktivierte mit einer fast beiläufigen Geste den Flammenwerfer, der in seinen rechten Arm integriert war.

Nachdem die Einheimischen Zeugen wurden, wie der bronzene Soldat seine eigenen Beine mit Feuer reinigte, hielten sie fortan so viel Abstand von ihm, dass sie praktisch hinter dem nächsten Baum standen.

»Madame?« Irene sah auf. Wie immer in diesem verfluchten Wald hatte es nur wenige Minuten gebraucht, um vollständig dunkel zu werden. Das nahe Lagerfeuer spiegelte sich auf den golden schimmernden Panzerplatten, die den Brustkorb des Soldaten bedeckten.

»Major?«, fragte Irene.

»Madame, ich habe mit Bhante Nyanamoli gesprochen. Er sagt, wir werden das Waldkloster morgen im Laufe des Vormittags erreichen.«

»Werden wir dort emdlich unseren flüchtigen Meister antreffen?«

Der Soldat zögerte kurz, bevor er antwortete.

»Er sagt, er hofft es.« Er klang unsicher. »Es scheint, der Meister ist für seine spontanen Wanderungen bekannt.« Irene sah in das Feuer.

»Ich werde ihn finden, Browning. Ich muss ihn finden. Lord Wintersmith darf nicht umsonst gestorben sein. Wir müssen Ergebnisse mit nach Hause bringen. Um der Zukunft der Krone willen.«

»Natürlich, Madame. Ich sollte noch hinzufügen, dass Bhante Nyanamoli seine Tätigkeit als Führer im Kloster Wat Phra That Phanom für beendet hält. So sei es in Bangkok mit ihm vereinbart worden.« Irene schnaubte.

»Weisen Sie ihn darauf hin, dass seine Aufgabe als Führer beendet sein wird, wenn wir ihm sagen, dass sie es ist. Kein weiterer Soldat der Krone wird sein Leben in diesem grünen Höllenloch lassen, weil ein Mönch aus Bangkok lieber einen Urlaub im siamesischen Hinterland genießen will.«

»Ich behalte mir vor, ihm diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, sobald wir das Kloster erreicht haben«, entgegnete der Soldat trocken.

»Sehr gut. Wir können uns keine weiteren Verzögerungen mehr erlauben, Major. Siam muss an die Krone fallen! Wir brauchen jeden Vorteil, dessen wir habhaft werden können. Ich denke, das ist in den letzten Wochen überaus deutlich geworden.«

»Sehr wohl, Madame.«

»Es geht um die großen Zusammenhänge, Major. Diese dürfen wir nie aus den Augen verlieren, auch nicht in diesem grünen Höllenloch.« Das ist mein Job, dachte sie. Dafür dienen wir der Krone. Laut fügte sie hinzu:

»Siam im Jahre 1897 des Herrn ist ein Land an der Grenze der Neuzeit, Browning. Geografisch divers, mit zahllosen Volksgruppen, jede mit ihrer eigenen Kultur und Sprache. Ein Land, das sich selbst kaum kennt. Dominiert von endlosen Urwäldern, minimaler Agrarwirtschaft und keiner nennenswerten Industrie. Aber ein Land das träumt, Major. Ein Land das träumt. Seit König Chulalongkorn 1868 seinen Vater Mongkut abgelöst hat, ist er fest entschlossen, sein Land in die Prosperität und Kultur der Gegenwart zu bringen, auch wenn er es dorthin zerren muss, während es schreit und strampelt.«

»Wahrscheinlich«, murmelte der Major hinter ihr, »weil es gerade von Tigern zerfleischt wird.« Irene beachtete ihn nicht, denn sie war mit ihren Gedanken ganz woanders.

»Chulalongkorn tut gut daran, ein aktives Interesse an seinem Land zu zeigen, Major. Seine Edelmetalllager, die Ölvorräte und seine massiven Brennstofflager in Form von Tausenden von Quadratkilometern unangetasteten Regenwalds sind nicht unbemerkt geblieben. Die Nachbarn und Kolonialstaaten stehen bereits mit Gabel und Messer im Anschlag einen Schritt hinter den Grenzen, um sich am unbewachten Buffet zu bedienen. Einmal im Land wird Chulalongkorn sie nicht mehr loswerden. Der König braucht Freunde. Und wenn schon keine Freunde, dann zumindest Verbündete. Im Moment hat er die Wahl zwischen Kambodscha, das an der Ostgrenze steht und die Bewohner Siams gewohnheitsmäßig mit Affen vergleicht, und der britischen Krone, deren gewaltige Militärstreitkraft und Präsenz im westlichen Burma dafür sorgen, dass unsere Stimme hier in jedem Fall gehört werden wird.«

Der Major hatte wohl beschlossen, dass er für dieses spezielle Selbstgespräch nicht mehr gebraucht wurde. Irene bemerkte kaum, wie der Soldat sich leise zischend und klickend entfernte. Sie dachte an ihre streng geheime Mission und daran, wie viel davon abhing. Sie griff in ihre Weste und zog vorsichtig eine Fotografie aus der Innentasche. Eine der ersten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die aus Siam ihren Weg an den Hof der Krone gefunden hatten. Dort war sie sofort vom Geheimdienst beschlagnahmt worden und fand ihren Weg schnell auf den Schreibtisch der leitenden Wissenschaftlerin für Magieabwehr der Hochakademie. Irene bereute den Tag bitterlich, als sie das Bild eines Morgens neben ihrem Tee hatte liegen sehen.

Es zeigte den berühmtesten und am tiefsten verehrten Meditationsmeister Siams. Er war zu einem kurzen Besuch in der Hauptstadt erschienen, um die Ehre in Empfang zu nehmen, fortan das größte Kloster Bangkoks zu leiten und den König selbst zu unterrichten. Der ebenfalls anwesende Botschafter der Krone, seines Zeichens Agent der Akademie, hatte das Foto umgehend auf den Weg nach Britannien geschickt.

Ihre übereilt zusammengestellte Expedition traf keine vier Wochen später in Bangkok ein. Dort hatten sie jedoch feststellen müssen, dass der große Meditationsmeister mit dem Namen Ajahn Maha Suha, bereits in der Nacht nach den Feierlichkeiten durch das Fenster seiner Kammer geklettert und sofort im nächsten Wald verschwunden war. Der Meister schien nicht der Karriere-Typ zu sein. Im Gegenteil. Er wirkte fest entschlossen, so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und den König zu legen. Seitdem verfolgten sie den Mann. Drei Wochen, zweihundert Kilometer und fünf tote Expeditionsmitglieder. Alles wegen eines Fotos.

Das Bild zeigte einen alten thailändischen Mönch, der in traditioneller Robe und mit gekreuzten Beinen auf dem erhöhten Sitz des Meisters in einer reich geschmückten Meditationshalle saß. Er sah geradezu schmerzhaft dünn aus, fast ausgemergelt. Seine Arme wirkten wie Besenstiele und seine Rippen standen weit hervor. Irene hatte schon gelernt, dass das hier nichts Besonderes war. In Siam schien jeder so dünn zu sein. Je weiter man nach Norden und Osten kam, desto ausgehungerter sahen die Menschen aus. Das Land gab ihnen nichts im Überfluss. Außer Tiger.

Wenn sich der Mönch auf dem Foto der Wichtigkeit des Anlasses bewusst war, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er hatte seine Mundwinkel so weit herabgezogen, dass sie fast den Kiefer vom Kopf trennten und seine Augen stachen dem Betrachter glatt durch den Schädel bis in den Hinterkopf. Er schien ohne Mühe durch jeden Menschen hindurchsehen zu können. Irene gruselte es beim Anblick dieser Augen.

 

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich einen uralten Mann durch den Busch jage!«, polterte Lord Wintersmith wütend, nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.

»Maha Suha«, kommentierte der Major, »wird selbst vom König Chulalongkorn mit allergrößtem Respekt behandelt. Dieses Land verehrt seine Lehrer über alles.«

»Verdammte, gotteslästerliche Heiden!«, brüllte Lord Wintersmith wütend. Die Brandy-Flasche neben ihm war bereits halb leer. »Was heißt das überhaupt? Maha Suha?« Der Major blickte ruhig auf den betrunkenen Lord hinab.

»Die Bezeichnung Maha bedeutet groß und ist ein Ehrentitel für berühmte Lehrer. Suha ist Pali und kommt von Sukha, oder Suhara. Es bedeutet Glück, oder Freude.«

Lord Wintersmith sperrte den Mund auf, starrte auf den finster dreinblickenden Mönch auf dem Foto und fiel vor Lachen fast von dem Koffer, auf dem er saß.

 

Nun hielt Irene das Foto selbst in der Hand und sie lachte nicht.

Das einzig relevante an diesem Foto hing am Hals des alten Mönchs. An einem Lederstrang, wie er gewöhnlicher nicht sein konnte, lag auf seiner dürren Brust unter den eingezogenen, krummen Schultern eine Knochenscheibe, die es eigentlich nicht geben durfte.

Irene hatte laut geflucht, als sie das Foto zum ersten Mal sah. Ein graviertes Runenartefakt dieser Größe schien unerhört. Sie selbst, als die führende Expertin für den magischen Einsatz von Knochen, hätte das Konzept vor einem Monat noch lächerlich genannt. Selbst die besten Offensiv-Magier der Krone beherrschten vielleicht Knochen bis zur Größe einer Zigarre, danach war Schluss.

Das Problem sind immer die Runen, dachte sie. Die Runen in Harmonie mit der Oberfläche der Knochen zu bringen und zu verhindern, dass sich das Ganze in eine Wolke exothermer Energie verwandelte, wenn das Gleichgewicht plötzlich brach und die gesamte Kraft des Artefakts auf einmal freigesetzt wurde. Meistens löste sich der Knochen dabei vollständig auf. Zusammen mit dem Gebäude, in dem er sich befand. Sie hatte einmal einen Knochen mit fünf harmonierenden Runen gesehen. Die Dampfmaschine, in welche er integriert worden war, lief bereits seit einem Jahr. Der betreffende Knochen hätte locker in ihre Teetasse gepasst.

Die Knochenscheibe am Hals des Mönches hatte die Größe des Untersetzers ihrer Teetasse und war dicht mit Runen bedeckt. Mit dem Loch in der Mitte sah das Artefakt aus wie der Querschnitt durch den Wirbel eines Elefanten. Irene schwindelte bei dem Gedanken, welche Energien damit in Bewegung gesetzt werden konnten. Das Energie-Potenzial der Knochen stieg exponentiell zu ihrer Größe. Leider auch zusammen mit ihrer Instabilität. Diese Knochenscheibe konnte wahrscheinlich ein ganzes Panzerschiff nach Hause schicken – und zwar fliegend. Oder eine Stadt einäschern.

Irene musste diese Technik sichern. Dieses Wissen war mehr als nur entscheidend für die Zukunft der Krone. Es repräsentierte ultimative Macht. Eine Macht, die im Moment am Hals eines verhungerten Hinterwäldlers baumelte. Der Schöpfer allein wusste, wem sie dort nutzen sollte. Irene seufzte erneut und steckte das Foto wieder ein. Zeit, ihren Schlafplatz aufzusuchen.

 

Der Morgen kam schneller, als sie es sich gewünscht hätte. Dank der vielen Wachfeuer war es ruhig geblieben und als Irene den Kopf aus dem Zelt steckte, sah sie den Major an der gleichen Stelle stehen, an der er gestern den Wald gescannt hatte. Sie fragte sich, ob der Mann jemals schlief.

Das Lager wurde abgebrochen und wie von Bhante Nyanamoli angekündigt, dauerte es tatsächlich nur zwei Stunden, bis sie das Waldkloster Wat Phra That Phanom fanden. Kloster schien allerdings ein stolzes Wort für die kleine Gruppe halb offener Holzhäuser, die sich um eine baufällige Meditationshalle drängten. Dennoch war Irene dankbar für die Lichtung, auf der sie zumindest den Himmel wieder sehen konnte.

Der Klostervorsteher kam Ihnen entgegen, offensichtlich unglücklich über ihre Anwesenheit. Sein Blick zeigte unverhohlene Feindseligkeit und seine Körperhaltung versprach Widerstand. Dies änderte sich jedoch abrupt, als der Major zischend und surrend zwischen den Bäumen hervortrat. Die Sonne funkelte auf seiner Rüstung und der Tonfall, in dem er den Mönch ansprach, ließ keinerlei Zweifel aufkommen. Die Diskussion war entsprechend kurz.

»Der Meister hat sich mit einigen Schülern in die umliegenden Hügel zurückgezogen«, sagte Browning an Irene gewandt. »Dort gibt es scheinbar Höhlen. Er sagt, es ist eine Stunde Fußmarsch von hier.«

Während er sprach, zeigte der Major in Richtung eines niedrigen Gebirgszuges, der sich vage hinter den Baumwipfeln der Lichtung abzeichnete.

»Keine weiteren Verzögerungen, Browning!«, verkündete Irene fest.

Der Soldat nickte stumm. Sie verließen umgehend das Klostergelände. Das Gepäck mit den Trägern ließen sie mit fünf Soldaten und dem Befehl, ein Lager vorzubereiten, zurück. Der Major ging voraus, die fünf Soldaten sicherten den Weg nach vorne und hinten. Bhante Nyanamoli gab einen offensichtlich unglücklichen Führer ab, ging jedoch widerstandlos voran.

Das Gelände stieg stark an und sie brauchten fast zwei Stunden, bis der Mönch auf eine Reihe von Höhleneingängen deutete, die sich klar an den vor ihnen aufragenden Felswänden abzeichneten. Sie erreichten den größten von ihnen über eine lange, in den Fels geschlagene Treppe. Browning postierte zwei Soldaten und den Mönch am Eingang, bevor er die restlichen drei Männer mit Laternen durch den Eingang schickte.

Schließlich nickte er Irene zu und diese betrat stumm die Höhle.

 

Sie fanden den großen Raum nach nur zwei Biegungen des Ganges. Er war durch zahlreiche Öllampen erhellt. Am Kopf der Halle thronte eine goldene Statue auf einem Podest. Mehrere Mönche saßen zu beiden Seiten der Halle an den Wänden und meditierten. Vor Ihnen, den großen Altar im Rücken, klein, gebeugt und zerbrechlich dünn, saß der alte Meister.

Niemand schien sie zu beachten. Alle hatten die Augen geschlossen und schienen in Meditation versunken. Schließlich wandte sich Irene an den Major.

»Das reicht. Stellen Sie uns vor und sagen Sie ihm, dass wir mit ihm reden wollen.«

Der Blick des Majors ruhte bewegungslos auf dem Meister. Nun gab er mit erhobener Hand eine Reihe schneller Zeichen, woraufhin sich die Soldaten stumm an strategisch relevanten Stellen positionierten und ihre Waffen entsicherten.

Die dröhnende Stimme des Majors hallte von den Wänden wider, als er den Meister in seiner Sprache anredete.

Nichts passierte. Der Major wartete einen Moment, dann wiederholte er die Ansage, diesmal lauter.

Als Irene schon besorgt überlegte, ob der ungeduldige Offizier gleich vortreten und den alten Mann wachrütteln würde, hob der Meister langsam den Kopf und sah sie an.

Der Blick traf sie wie eine Ohrfeige. Er floss durch ihren Kopf, ihre Wirbelsäule hinab und legte alle Schalter um, die mit Demut und Unterwerfung verbunden waren. Sie fühlte sich wieder wie ein Schulmädchen, das vor dem Direktor stand und gleich in Tränen ausbrechen würde. Gott, diese Augen. Was ist mit diesen Augen?, dachte sie gebannt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit begann der alte Meister zu sprechen. Seine Worte ertönten leise und klar. Dennoch schienen sie lauter zu sein als alles, was der Major produzieren konnte. Irene brauchte einige schockierte Sekunden, um zu realisieren, dass der Meister ihre eigene Sprache benutzte. Fließend und fehlerfrei.

»Das kleine Menschenmädchen hat mich also doch noch gefunden. Soweit entfernt von der Hand ihres Papas. So allein. So angsterfüllt und doch so gierig.«

Irene machte den Mund auf und wieder zu. Die Stimme schien den Teil ihres Kopfes abgeschaltet zu haben, der für Sprache zuständig war. Sie schielte zur Seite und sah, dass der Major regungslos wie eine Säule stand.

»Keine Sorge, kleines Menschenmädchen, die große Maschine wird erst einmal schweigen. Sehr laut, dieser Mann aus zischendem Blech.«

»Major?«, fragte Irene.

»Ich kann mich nicht mehr bewegen«, kam die langsame und gequälte Stimme des Soldaten zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

Irene sah wieder in die entsetzlichen Augen. Wo hatte sie solche Augen schon einmal gesehen?

Der Meister gab ein hechelndes Geräusch von sich, von dem Irene hoffte, es wäre ein Lachen, dann erhob er sich. Die Bewegungen waren sicher, schnell und so fließend, wie sie nie in ihrem Leben einen Menschen hatte aufstehen sehen. Sprachlos vor Entsetzen und Erstaunen sah sie den alten Mönch auf sich zukommen und in das Licht der Laternen treten.

Die Augen. Sie verengten sich im Licht. Aber nicht so, wie sie sollten. Die Erkenntnis traf Irene wie ein Blitz und mit einem Mal sah sie ihren Fehler.

»Major«, flüsterte sie. »Kann es sein, dass Maha Suha auch eine Bedeutung im Siamesischen hat?«

Der Major schwieg einen Moment.

»Es gibt in Thai ein Wort, das Suha sehr ähnlich klingt. Das Wort sěua«, krächzte er undeutlich.

»Und was bedeutet sěua, Major?«

»Tiger

Irene stöhnte.

Der Meister trat auf sie zu und nun sah sie auch die Knochenscheibe auf seiner Brust. Die Runen leuchteten hell. Sie schienen seinen Körper zu überstrahlen und in seine Form einzufließen. Die Gestalt des Mönches verschwamm und einen Moment lang verdunkelten sich alle Lampen und Kerzen in der Höhle.

Der Geruch, der Irene entgegenschlug, war betäubend. Sie kannte ihn aus dem Dschungel. Er machte überdeutlich, dass sie sich weit außerhalb ihres Reviers aufhielt.

Als das Licht wieder heller wurde, blickte Irene in die Augen des größten Tigers, den sie jemals gesehen hatte. Er war riesig wie ein Pferd. Der gewaltige Kopf schien die ganze Höhle auszufüllen. Die Augen brannten sich glatt durch ihre verängstigte Seele.

»Jetzt kommt das kleine Menschenmädchen und will meine Magie besitzen.«

Die Stimme sprang direkt in ihren Kopf, ohne Umweg über die Ohren. Einmal im Kopf ließ sie keinen Platz mehr für einen anderen Gedanken. Der Tiger schnaubte.

»Ich habe dich unterschätzt, kleines Wesen. Ich dachte, du wärst nur ein hübsches Schmuckstück am Rock des lächerlichen Jägers.«

Der Tiger schüttelte sich.

»Was für ein Ärgernis. Er hätte nicht auf meine Brüder schießen sollen, genauso wie die anderen Metallträger. Meine Brüder sind sehr ungehalten.«

Der Tiger sah auf Irene hinab und schien zu überlegen.

Irene hatte weder Kraft noch Stimme, um Gegenwehr zu leisten.

»Seit fünfhundert Jahren lehre ich in diesem Wald«, sagte er ruhig. »Ich lehre Mensch, Tier und Geist. Lange sind wir allein gewesen. Unsere Meditation blieb ungestört.« Er grollte tief unten in seiner Kehle. Das Geräusch ließ Irenes Knochen vibrieren. Sie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken herunterlief.

»Jetzt kommen verwirrte weiße Äffchen. Kommen in meinen Wald und wollen meine Bäume, meine Berge und meine Magie.«

Er sah zu dem regungslosen Major hinüber.

Dieser zitterte merklich und schaffte es unter gedämpftem Ächzen, den Kopf zu bewegen.

»Dein Wille ist stark, Mann aus Blech«, kommentierte der Tiger. »Ich weiß, es werden weitere kommen. Größer, stärker, hungriger.« Er wurde leise. »Ich bin alt. Ich kann euch nicht aufhalten. Also werde ich es auch nicht versuchen.«

Der Tiger erhob sich und ging langsam auf die rechte Wand der Höhle zu. Wie auf ein Kommando erhoben sich alle Mönche im Raum und griffen unter ihre Roben.

Irene hätte heulen können. Jeder Mönch zog eine Knochenscheibe ähnlich der am Hals des Tigers hervor. Vollkommen ruhig und synchron bildeten die Mönche an der Wand eine Art Bogen aus den Knochenscheiben. Der Major drehte seinen Kopf mühsam zur Wand und folgte mit Irene stumm dem Geschehen. Die Knochenscheiben scheinen an Nägeln an der Wand zu hängen und bilden eine Art Tor. Kaum hatte sie das gedacht, leuchteten die Runen hell auf. Der Bereich der Wand innerhalb des Tors flackerte und wurde dunkel.

Der Tiger trat darauf zu und sprach noch einmal, ohne sich umzusehen.

»Dein Wille ist stark, kleines Menschenmädchen. Aber mein Wille ist stärker. Meine Magie ist nicht für deine gierigen Hände gedacht. Sie dient der Weisheit, nicht dem Hunger nach Macht.«

Nach diesen Worten trat der Tiger durch die Wand und verschwand. Die Scheiben leuchteten noch einmal hell auf und zerfielen anschließend zu Staub, der lautlos von der Wand rieselte.

Schweigen senkte sich über die Höhle, nur unterbrochen vom leisen Rascheln der Roben, als die Mönche die Halle verließen. Niemand achtete auf die beiden Fremden.

Es dauerte einige Minuten, bis Irene wieder etwas sagen konnte. Das Gefühl in ihren Gliedmaßen kehrte nur langsam zurück.

Sie sprach sehr leise.

»Haben Sie das alles, Major?«

Der Soldat grunzte und mit zögerndem Klicken und einem langsamen Surren sprang das Linsensystem in seinem Kopf an. Ein weiteres angestrengtes Stöhnen und sein künstliches Auge leuchtete hell auf. Es warf einen kreisrunden Lichtschein auf die Wand, wo eben noch das Tor gewesen war. Es flackerte einige Male, dann entfaltete sich die Szene mit dem Tor noch einmal vor ihren Augen. Die Aufnahme flackerte in Schwarz-Weiß und lief viel zu schnell, aber es reichte. Irene sah, wie die Mönche die Scheiben anbrachten und die Runen aufleuchteten.

»Stopp«, sagte sie.

Mühsam übernahm Irene wieder die Kontrolle über ihren Körper und zwang ihre Beine in den Dienst zurück.

Unbeholfen trat sie an die Wand heran.

»Vergrößern!«, forderte sie und zeigte auf eine Knochenscheibe.

Die Filmaufnahme fuhr langsam an die Scheibe heran. Die Runen glühten gestochen scharf im Dunkeln der Höhle.

»Langsam vorfahren.«

Irene sah, wie die Runen nacheinander aufleuchteten. Sie sah die Form, erkannte die Reihenfolge und die Muster. Das würde dem Orden reichen.

Irene lächelte.

»Dein Geist mag stärker sein, aber unsere Technik ist besser. Die Krone ist noch nicht fertig mit dir, große Miezekatze. Wir werden dich nicht vergessen.«


Sibirien, 1923

 

Der letzte Hund starb am vierten Tag. Sie wollten ihn eigentlich zu Mittag essen, aber es gab keinen Brennstoff mehr für den kleinen Messingofen und das Holz des Schlittens hatten sie schon vor Tagen verbraucht. Striker bemerkte schüchtern, dass sie den Hund schon gestern hätten erschießen sollen, aber der Major wollte die Munition nicht verschwenden. Das ausgehungerte, müde Tier schleppte sich also noch einen vollen Tag lang neben ihnen durch den Schnee, bevor es mit einem leisen Winseln zusammenbrach und zügig von den großen, schnell fallenden Flocken bedeckt wurde.

Major Jacob Cameron war in einer grässlichen Stimmung. Hauptsächlich, weil er nach eigener Aussage wegen der verdammten Kälte seine Zigarren nicht mehr schmecken konnte.

Die Männer stapften weiter durch die endlose Schneewüste. Das Weiß erstreckte sich in alle Richtungen, soweit das Auge reichte. Der letzte Außenposten des russischen Kaiserreichs lag nun schon drei Tage hinter ihnen und Cameron war sich sicher, dass auch die letzte, erbarmungslose Kosakeneinheit die Verfolgung abgebrochen hatte. Der Zar würde von ihrem Tod in der weißen Hölle Nord-Sibiriens erfahren und der ganze Vorfall würde schnell zu den Akten gelegt werden. Cameron begrüßte diese Wendung der Ereignisse auch bis zu einem gewissen Grad. Unglücklicherweise erwiesen sich die letzten Konsequenzen im Moment nicht als das, was er sich bei der minutiösen Planung seiner Flucht ausgerechnet hatte.

Der Schneefall nahm weiter zu und der Major blieb stehen, um zum wiederholten Male in dieser Stunde den Horizont durch die getönten Gläser seiner Schneebrille abzusuchen.

Er wandte sich nach Striker um, dessen schmale Gestalt hinter dem breiten Rücken des Offiziers in Deckung ging, so oft er die Chance dazu bekam. Striker hatte die Flucht mittels Hundeschlitten organisiert und war zu diesem Zweck bereits monatelang verdeckt im Einsatz gewesen. Er hatte Cameron außerhalb der Stadtgrenze erwartet, mit Kleidung und Vorräten ausgestattet und so ihre Flucht ermöglicht. Nun sah er aus den Tiefen seiner extra schweren Fellkleidung hoffnungsvoll zu seinem Vorgesetzten auf. In seinen Zügen, soweit der Major sie hinter der breiten, getönten Brille erkennen konnte, stand das ehrliche und unbeugsame Vertrauen eines Soldaten in seinen Offizier. Es war ein Blick voller Respekt, ja fast schon Anbetung. Das pisste Cameron nur noch mehr an.

Bestimmt schon zum zehnten Mal fragte er, nur deutlich genervter: »Was sagt der Transmitter?«

Der Angesprochene hielt ihm stumm den Sender hin. Die Antenne war zu einer engen Spirale geformt und ein großes rotes Licht blinkte mitten auf dem mit Blumenmuster verzierten Gerät aus Messing. Der Major sah angewidert auf das Rankenmuster hinab und nahm sich zum wiederholten Male vor, den Verantwortlichen in Britannien zu finden und ihn zurück bis nach Sibirien zu treten. Der schwere Mann grunzte in seinen Vollbart und musterte wieder den Horizont. Die Abenddämmerung kam hier viel zu schnell. Wenn es in diesen Breiten Nacht wurde, dann aber richtig. Das war noch nicht einmal das Beste. So nahe der Küste handelte es sich hier mit Sicherheit um Eisbärengebiet. Nicht, dass irgendein Bär die beiden mit wohlschmeckenden Robben verwechseln könnte, der Major glich eher einem Mammut - aber ein Bär blieb ein Bär. Und die wurden verdammt groß hier. Außerdem auch ausgesprochen hungrig. Das Kaliber seines Gewehrs würde vielleicht ausreichen, ihnen tagsüber den Hintern zu retten, aber nachts waren alle Eisbären schwarz und der Soldat wollte lieber nicht darüber nachdenken.

»Macht keinen Sinn weiterzugehen, Korporal. Wir rasten.«

»Sehr wohl, Sir«, entgegnete Striker und ließ mit einem kaum hörbaren Seufzen den schweren Rucksack in den Schnee fallen. Er begann sofort das Zelt aufzubauen, während der Major einige Schritte beiseitetrat und sich eine Zigarre ansteckte. Striker ist ein guter Junge, dachte der alte Soldat lächelnd. Er weiß natürlich, dass das alles nur Show ist mit dem Zelt.

Es sah nicht so aus, als würden sie noch eine weitere Nacht überleben. Cameron blickte nachdenklich auf seine Zigarre. Zum Glück ist es meine Letzte, dachte er. Erfrieren ist das eine, aber zu sterben in der Gewissheit, nicht gerauchte Zigarren in der Tasche zu haben, das war unerträglich. Er fummelte einige Momente ungeschickt und erfolglos mit dem schweren Zündgerät herum, bevor er fluchend aufgab und sich einen der Handschuhe auszog. Die Kälte ließ seine rechte Hand augenblicklich taub werden.

Er zog angestrengt einige Male an der Zigarre und fluchte innerlich, weil er wieder nichts schmeckte. So stand er minutenlang da, den Blick auf den Horizont gerichtet, und hing düsteren Gedanken nach. Plötzlich sah der hinter ihm am Boden hockende Korporal auf.

»Was war das?«, fragte Striker.

»Was war was?«, entgegnete der Major abwesend, der nichts gehört hatte.

Striker drehte den Kopf langsam hierhin und dorthin, dann legte er eine behandschuhte Hand zu seinen Füßen auf das Eis, als würde sie dessen Temperatur fühlen. Er sah auf und blickte an seinem Vorgesetzten vorbei auf den Boden. Cameron zog die Brauen zusammen und folgte seinem Blick, als der Untergrund vor ihm explodierte.

Ein gewaltiges Krachen ließ die Eisdecke vor ihm bersten und Bruchstücke in alle Richtungen spritzen. Wasserfontänen schossen zum Himmel auf, gefroren augenblicklich und trieben als Schnee wieder zu Boden.

Keinen halben Meter vor den Füßen des Majors wuchs ein golden glänzender Turm aus dem Eis. Schemenhafte Formen zogen an den Augen des Soldaten vorbei. Messingfarbene, genietete Metallplatten, kreisrunde Bullaugen mit funkelndem Kristallglas. Und schon wieder das verdammte Blumenmuster, dachte der Major genervt. Der Turm wuchs zu einer Höhe von etwa fünf Metern und stand dann still.

Der Korporal hatte entsetzt aufgeschrien, war rückwärts auf den Hintern gefallen und krabbelte nun wie ein Krebs, mit vor Schreck aufgesperrtem Mund, auf dem Schnee davon.

»Da, da«, stammelte der junge Mann entgeistert, setzte sich in den Schnee und zeigte mit einem zitternden Handschuh auf die metallene Erscheinung.

Wie zur Antwort erklangen das Schleifen und Knarren eines sich öffnenden Schotts von der Spitze des Turms. Es knallte, als die Luke von innen aufgestoßen wurde. Kurz darauf tauchte ein Gesicht über der Reling am oberen Rand des Turms auf und spähte zu den beiden Männern hinab. Die Hautfarbe des Mannes glänzte in einem so tiefen Schwarz, dass außer seinen hellen Zähnen und Augen gegen den dämmrigen Himmel kaum etwas zu erkennen war.

»Ahoi!«, rief er zu den Soldaten hinab. »Entschuldigen Sie Gentlemen, ich glaube wir haben uns verfahren. Kennen Sie vielleicht den Weg zur nächsten Kneipe?«

 

Der Major hatte sich derweil keinen Millimeter gerührt.

Nun nahm er gelassen die Zigarre aus dem Mund, welche vom herabfallenden Schnee gelöscht worden war und sah einen Moment lang auf den tropfnassen Tabak hinab, bevor er sehr tief Luft holte und brüllte: »Ich habe dir das letzte Mal schon gesagt, dass ich dich auf deinem eigenen Kahn Kiel holen lassen werde, wenn du noch eine einzige meiner Zigarren ausmachst, du von Gott verlassener Bastard!«

»Ah«, kam prompt die Entgegnung von oben. »Major Cameron! Also sind wir hier ja doch richtig. Die nächste Kneipe muss sehr nahe sein. Können wir da vielleicht auch gescheit parken?«

Er sagte noch mehr, was Striker leider nicht verstehen konnte, weil es in den wüsten Obszönitäten unterging, die der Major den Messingturm hinaufbrüllte.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die beiden Männer mit ihrer Ausrüstung über eine schnell herabgelassene Strickleiter hinaufgeklettert waren.

Das Schott schloss sich knallend hinter ihnen und wenige Sekunden später verschwand der Turm spurlos im Wasser. Das runde Loch in der Eisdecke des zugefrorenen Meeresarms schloss sich bereits wieder und der fallende Schnee bedeckte schnell jede Erinnerung an den Vorfall.

 

Zehn Meter unter der Wasseroberfläche standen sich derweil der fast zwei Meter große Kapitän des U-Boots und der mehr als einen Kopf kleinere, dafür fast so breite wie hohe Major Cameron gegenüber. Der Soldat hatte sofort seine schweren Pelze abgeworfen und funkelte sein Gegenüber aus seinem struppigen Vollbart heraus aggressiv an. Der Kapitän mit der tiefschwarzen Hautfarbe grinste so breit, dass er fast irre wirkte. Der schlaksige Mann händigte dem Major als Allererstes wortlos eine große Zigarre aus, die der alte Soldat nun paffend entzündete, während er aus dem Mundwinkel weitersprach.

»Striker«, begann der Major, »dies ist der notorisch unpünktliche Kapitän Richard Hardeggen, der beste Ingenieur der Krone, auch wenn ihre Majestät die Königin versucht, ihn immer so weit wie möglich von Britannien fernzuhalten, weil seine Erfindungen einen eklatanten Hang zum Explodieren aufweisen. Manche nennen ihn genial, andere geisteskrank. Jetzt haben sie ihm das Kommando über sein selbst entworfenes U-Boot gegeben, denn kein anderer war verrückt genug, es anzunehmen. Davon abgesehen ist er natürlich hoch qualifiziert für den Job, da wir alle wissen, dass U-Boote die erste Wahl als Fortbewegungsmittel für Trickser und Drückeberger sind. Um uns alle zu warnen, hat der große Uhrmacher, unser aller Schöpfer, seine Haut so schwarz wie seine Seele gefärbt. Richard, das hier ist Korporal Striker, den ich fast auf dem Packeis umgebracht hätte, weil manche Ingenieure der Krone nicht in der Lage sind, eine verdammte Uhr zu lesen.«

Das Grinsen des Kapitäns wurde noch eine Spur breiter. »Angenehm, Korporal«, entgegnete der große Mann gelassen. »Sie sollten einen Orden für den Versuch bekommen, Major Cameron, oder wie auch immer er sich diese Woche gerade nennt, im ewigen Eis verschwinden zu lassen. Es war ein guter Versuch, auch wenn er leider nicht so einfach umzubringen ist. Gott hat ihn zum besten Spion der Welt bestimmt und nachdem er mir meine wunderschöne Hautfarbe geschenkt hatte, hat er ihm das stinkende Feuer der Hölle in seinen Mund gepflanzt, damit ihn jeder als den elenden Hundesohn erkennen kann, der er ist.«

Die beiden ungleichen Männer starrten sich einen Moment lang finster an und brachen dann gleichzeitig in schallendes Gelächter aus, während sie sich herzlich umarmten.

 

Das U-Boot machte Striker furchtbar nervös. Das Schiff war im Innern geradezu lächerlich geräumig. Er fand sogar ein Badezimmer in seiner Kabine. Ein Badezimmer! Inklusive einer Badewanne aus Emaille. Der Korporal, der sich noch immer im Zustand leichten Schocks befand, versuchte nicht daran zu denken, dass er gerade Hunderte von Metern tief unter dem Meer geduscht hatte. Sein Hirn drohte sich zu verknoten.

Vor nicht einmal einer Stunde war er fest davon überzeugt gewesen, seinem Schöpfer in Form eines Eiszapfens gegenüberzutreten, und nun sah er auf seinem Weg in den Dinnersaal einen Wal am Panoramafenster des Aussichtsdecks vorbeischwimmen.

Er wusste nicht einmal, was er da sah, aber der livrierte Junge, der ihn über lange, edle Perserteppiche hinweg zum Abendessen führte, wies gelassen zum Fenster hinaus und erklärte fröhlich, dass das Tier ihnen schon seit Tagen folge. Striker hatte schreiend aus dem Raum rennen wollen, riss sich aber gerade noch zusammen, um sich vor einem Kind keine solche Blöße zu geben.

Als der Diener die Türflügel des Salons lautlos vor ihm öffnete, schlug ihm schon das Gelächter der beiden Männer entgegen. Er wurde in einen großen, holzgetäfelten Raum geführt und erwartete fast, ein Kaminfeuer brennen zu sehen. Es hätte ihn nicht im Geringsten überrascht.

Die Freunde saßen sich bereits am geräumigen Esstisch gegenüber und waren offensichtlich, ohne große Umschweife, direkt zum Wein übergegangen, noch bevor überhaupt die Suppe aufgetragen wurde. Elektrisches Licht flackerte in glitzernden Kristallfassungen und an der Wand gegenüber der Tür prangte ein gewaltiges Ölporträt. Es zeigte eine attraktive Dame mittleren Alters, die in tropischer Expeditionskleidung vor einem vom Urwald überwucherten Tempeleingang stand. Den Hut hatte sie in den Nacken geschoben, die Linke auf die Hüfte gestützt. Mit der Rechten hielt sie den Lauf eines geradezu absurd großen Gewehrs. Striker fragte sich flüchtig, ob man es vielleicht benutzen konnte, um Wale zu erschießen.

Hardeggen, der seinen Blick bemerkte, lächelte anerkennend.

»Ich sehe, Sie haben Geschmack, junger Mann«, kommentierte der Kapitän. »Kommen Sie nur rein und treten Sie unter den kritischen Blick der größten Entdeckerin unserer Zeit. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir im Moment mit über dreißig Knoten fahren und unsere Maschinen nicht einmal ausgelastet sind.«

Cameron prostete der Dame im Gemälde schwungvoll zu. »Sir Irene Cameron«, polterte er. »Einzige Frau im Empire, die jemals zum Ritter geschlagen wurde. Ohne ihre Entdeckung der großen Knochenartefakte in Siam würden wir noch immer mit Segelschiffen durch die Gegend paddeln, wie die Wikinger.« Er rülpste hingebungsvoll. »Mutter war schon immer ein ganzer Kerl.«

Striker setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz und bekam sogleich ein Glas Wein ausgehändigt. Der Kapitän lächelte ihn gewinnend an.

»Und nun noch einmal ein offizielles Willkommen an Bord der Seewolf, Korporal.«

»SeewolfNautilusNautilusso