13A

13A

Fritz Lehner

Seifert Verlag

Inhalt

1. Helmut-Zilk-Park

2. Schweizer Garten

3. Rubenspark

4. Esterhazypark

5. Schönbornpark

6. Votivpark

7. Belvedere

1

Helmut-Zilk-Park

Als Lisa ihn sah, wusste sie es. Das war der Mann, den sie töten wollte. Das Warten hatte sich gelohnt. Niemand war geeigneter als er. Wagner kam ihr vor wie ein Geschenk des Himmels. Oder der Hölle. Dort, wo Kellermann jetzt schon war. Ihr Geliebter. Seit einem Jahr tot. Auf den Tag genau. Deswegen war sie heute auch hier, im Urnenhain des Wiener Zentralfriedhofs, im großen Hof, zwischen den Arkaden, bei den Birken. Nach einem Anruf von Wagner. Der alte Mann hatte um ihr Kommen gebettelt. Er wollte nicht allein sein, wenn er das Grab des Serienkillers besuchte. Kellermann war nach insgesamt sieben Morden in der Seestadt auf der Janis-Joplin-Promenade verreckt, im eigenen Blut ertrunken. Lisa hatte sich über ihn gebeugt, über seine noch warme Leiche, alles ausgekostet, ihren Mantel noch immer nicht gereinigt. Wagner hatte den großen Augenblick versäumt, die Befreiung der Seestadt von ihrem Serienmörder. Wahrscheinlich war der alte Mann jetzt darauf aus, dass sie ihm alles erzählte, angefangen von den ersten Schneeflocken an diesem 17. November auf dem Gesicht des toten Killers bis zu seiner Iris, weit geöffnet, himmelblau, alles begreifend, daran konnte sich Lisa besser erinnern als an die eigenen Schreie.

Der alte Mann kam auf sie zu, reichte ihr die Hand, eine noch immer kalte Hand. Fast hätte er sie umarmt. Lisa beglückte diese Zutraulichkeit, sie würde alles leichter machen, die Suche nach der Vene, das Setzen der Spritze, das Töten. Schon als Krankenschwester hatte sie einige Male daran gedacht, nicht nur bei Wagner, wenn er sie als anhänglicher Patient bis aufs Blut quälte, auch bei anderen war ihr das Auslöschen eines Lebens in den Sinn gekommen. Lysthenox hätte sich am besten geeignet. Noch immer. Lisa hatte in ihrem Versteck genug davon, elegant gestohlen, ohne Mühe oder Kontrolle in ihrer großen Handtasche aus dem Spital nach Hause gebracht. Was machte es da aus, dass sie für den Diebstahl von Psychopax und Morphin gekündigt worden war? Sogar Kellermann hatte sie dafür geschätzt und bewundert, weil sie anfing, zu ihm zu gehören, weil sie fast ein Killerpaar geworden wären.

»Lisa, Sie sehen gut aus, sehr gut, Sie haben sich nicht verändert.«

»Doch, doch, innerlich.«

»Der Schmerz, das Trauerjahr, ich weiß. Auch mir fehlt Kellermann. Sie hätten nicht wegziehen dürfen aus der Seestadt. Ich sterbe vor Langeweile ohne Sie, ohne Serienmorde.«

»Wo ist das Grab?« Lisa blickte sich um.

»Kein Grab, nichts mit Erde, eine Nische. Ein Loch in der Mauer. Kommen Sie! Mein Gott, was würde ich dafür geben, hätten wir in der Seestadt richtige Bäume, unsere sind zu jung, ich muss auf den Friedhof kommen, wenn ich in meinem Alter noch ausgewachsene Birken sehen will. Sie wohnen jetzt beim neuen Hauptbahnhof?«

Wagner führte Lisa die Mauer entlang.

»Geduld, Geduld, Lisa! Seine Asche läuft uns nicht davon. Mitten in Wien, ist es da besser?«

»Ja. Hier kennt mich niemand. Die Geliebte des Serienkillers.«

»Sieben Tote, was für eine schöne Zahl, eine Gnade. Trotzdem schade, dass es nicht mehr geworden sind, die Seestadt hätte eine Zugabe verdient. Aber wer weiß, vielleicht steigt Kellermann aus der Asche und kommt wieder.«

»Oder ein anderer tut es für ihn. Setzt seine Morde fort. Oder beginnt von vorne. Nicht in der Seestadt, sondern hier, mitten in Wien.«

»Aussichtslos. Alles jämmerlich. Die toten Mädchen am Donaukanal, erbärmlich! Zu wenige! Hilflose Geschöpfe, Spraylack in den Mund, ich bitte Sie! An Kellermann kommt niemand heran. Niemand. Von Mann zu Mann, wie in einer Schlacht, das ist es. Ein Bajonett ist nicht brutal, denn wenn man es kann, ist es sauber, es riecht nach Blut und nicht nach Farbe. Kellermann konnte es. Das ist seine Nische.«

Lisa dachte an ihre Spritze. Sie würde alles überbieten. Sauberkeit. Die Nadel selbst war haardünn, der Einstich kaum zu spüren. Oder doch? Sie sah auf der kleinen Marmorplatte keinen Namen.

»Ja, inkognito.« Wagner hatte ihre Verwunderung gemerkt. »Wenn ich Kellermann draufschreiben lasse, setzt ein Pilgerstrom ein. Nicht nur Seestädter, ganz Wien kommt, die halbe Welt. All die Frauen, die ihn nie gesehen haben und dennoch von ihm schwärmen. Noch verheerender wäre ein Erdgrab mit seiner Leiche. Sie wäre nicht sicher. Vor ihr hatte man mehr Angst als vor dem Serienkiller, keiner wollte sie haben, ich habe alle Friedhöfe angefleht. Lisa, hören Sie mich?«

Lisa hatte eben an die Nacht gedacht, als Kellermann nach einem Mord in ihre Wohnung in der Sonnenallee gekommen war. Der Beginn einer großen Liebe. Über den Tod hinaus. Ohne Trauerjahr, ganz im Gegenteil. Voller Ungeduld und Hoffnung. Schaffe ich es? Immer wieder hatte sich Lisa das gefragt. Zu werden wie er. Zu töten. Nicht viele, nur einen. Wäre sie nach dem Mord auch so glücklich wie damals Kellermann? Nicht viele, nur einen. Diesen hier. Alt, alleinstehend. Die Venen breit und prächtig auf dem Handrücken. Rechts oder links? Vor allem, wann und wo?

»Genug der Andacht, Lisa, ich friere.« Wagner riss sie aus ihren Gedanken. »Sie wissen ja jetzt, wo er ist. Und wir sehen uns wieder, hier, im nächsten Jahr, zur selben Zeit. Einverstanden?«

Mindestens einen Tag brauchte sie zur Vorbereitung. Oder zwei. Nur nicht zu lange, der Alte konnte jederzeit umfallen und eines natürlichen Todes sterben. Wie ihre Patienten. In ein Krankenhaus würde sie nie wieder kommen, sie wäre auch nicht glücklich darüber. Die Freiheit eines Killers war alles. Auch das hatte sie von Kellermann gelernt.

»Nächstes Jahr? Einverstanden?«, hörte sie den Alten wieder fragen.

»Früher. Bei mir. Im Sonnwendviertel«, erwiderte sie.

»Sie bleiben sich treu«, sagte Wagner. »Von der Sonnenallee in das Sonnwendviertel.«

»Es sieht aus wie in der Seestadt. Zum Verwechseln.«

»Wieder im Erdgeschoss?«

»Nein. Ganz hoch oben. Morgen Abend? Ravioli aus der Dose. Wie immer.«

Wagner nickte. »Abgemacht.«

Er ging voran. Einmal musste er sich an der Mauer abstützen. Kleiner Schwindel, sonst alles in Ordnung, behauptete er, und natürlich die kalten Hände, doch die hätte er ja schon vor Jahren im Krankenhaus gehabt, bestens betreut von seiner Lieblingskrankenschwester Lisa. Höchste Zeit für Lysthenox. Hochkonzentriert. Aber in den verdammten Ampullen war nur eine schwache Lösung, die für Infusionen geeignet war, nicht für tödliche Spritzen.

Lisa wandte sich um. Sie bat die Asche hinter der Marmorplatte ohne Namen um Hilfe, um eine Eingebung. Kellermann war und blieb eben noch immer der Beste, er hatte trotz Fußfessel seine Morde in der Seestadt geschafft. In nur zehn Minuten. Immer. Lisa durfte ihm keine Schande machen. Er hatte sein Bajonett gehabt, Lisa hatte nur ein Narkosemittel. Sie könnte das Zeug aufkochen, wie es Junkies machten, um zu einem ordentlichen Schuss zu kommen. Diese Idee hatte ihr Kellermann geschickt, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Sie fuhren jetzt stadteinwärts. Wagner schwärmte von Napoleon, während Lisa überlegte, ob sie das Lysthenox über ihrem Feuerzeug oder in der Mikrowelle erhitzen sollte. Am romantischsten wäre eine Kerzenflamme. Bei einem Glas Wein. Am Ende würde es ein Konzentrat geben, das den alten Mann schon beim Einstich wie einen Kartoffelsack zu Boden fallen lassen würde. Nicht zufällig verwendete man in Amerika solche Mittel für Todesspritzen. Aber Lisa würde ihn nicht hinrichten, sondern ihm einfach seine Zukunftsträume ersparen. Ein Museum in seiner kleinen Wohnung! Mit monatlich einem Besucher. Vielleicht verirrte sich ein Tourist in sein Haus, oder eine Schulklasse wurde hineingetrieben. Um Knöpfe zu sehen. Knochen.

Auf der Fahrt in die Stadt begriff Lisa, dass sie nach Gründen suchte, warum Wagner wegmusste. Ein Fremder wäre vielleicht besser gewesen, Kellermann hatte ja auch keine Bekannten umgebracht, nie den Atem seines Opfers gespürt, nie das Geschwätz eines Todgeweihten gehört. Wagner redete gerade über die Zukunft, als gehörte sie ihm. Sie dachte an das Aufbrechen der Ampullen und wie viele sie für das Aufkochen verwenden musste. Wagner sollte ja nicht leiden, auch nicht schreien, höchstens stöhnen. Der letzte Atemzug, das Aushauchen eines langen Lebens. Wo? Auf keinen Fall in ihrer Wohnung.

Lisa schrieb ihre Adresse auf einen Zettel, überreichte ihn Wagner.

»Mein Haus ist leicht zu finden, den Park entlang, dann rechts. Wenn wir Glück haben und keinen Nebel, gibt es den schönsten Ausblick. Bis zur Seestadt. Um acht Uhr?«

Jetzt ertönte die Ansage »Unteres Belvedere«. Lisa drückte Wagners Hand, sie spürte die Venen, dann stieg sie aus und winkte dem 71er nach. Was, wenn der alte Mann gelogen hatte und doch nicht so einsam war, in der Seestadt heute Abend Freunde anrief und vom morgigen Treffen mit der Geliebten von Kellermann erzählte? Sie würde schon Stunden nach seinem Tod verhaftet werden. So einfach war das. Sie bekäme lebenslänglich. Für Mord. Weil sie alles geplant hatte. Wirklich alles?

Beim Gang durch die Gärten des Belvederes fragte sie sich, wie lange die Euphorie nach einem Mord dauerte, dieses besondere Glück, und sah man es einem an? Kellermann selbst hatte oft Angst vor seinem Gesicht gehabt, sich im Spiegel kaum wiedererkannt. Konnte Lisa am Montag in die Kanzlei gehen, ohne sich verdächtig zu machen? San­dra würde auf die Idee kommen, Lisa sei verliebt, habe eine wilde Nacht hinter sich. Sandra Selitsch, ihr fielen alle zu Füßen. Die schöne Anwältin hatte es zu etwas gebracht, mit Sensationsprozessen war sie groß geworden. Eigentlich mit Morden. Dieses Raubtier drängte schon seit Wochen darauf, von Lisa eingeladen zu werden, Sandra war ganz wild darauf, alles über Kellermann zu erfahren. Von Lisa. Von der Geliebten des Serienmörders aus der Seestadt. Sandra Selitsch mochte Männer und ihre Komplimente über ihr Aussehen, aber noch mehr Killer. Sie verteidigte sie voller Leidenschaft, bis aufs Blut, und hatte damit auch Karriere gemacht, hoch, höher. Aber ganz oben war sie noch nicht. Weil ihr einer fehlte. Ein richtiger Mann. Ein Serienkiller. Kellermann hätte alles überboten. So aber ist Sandra Selitsch nur Lisa geblieben. Ein kleiner Trost. Doch so unbedeutend war Lisa Bruckner nicht, immerhin hatte das Ungeheuer aus der Seestadt ihre Lippen berührt, geküsst, und fast wären sie ein Paar geworden. Auch deswegen reizte es Lisa, Wagner zu töten. Mit diesen schönen Gedanken im Kopf wäre sie beinahe in eine der Hütten gelaufen, die man am Teich beim Oberen Belvedere für den Weihnachtsmarkt aufbaute. Bald würde es hier Glühwein geben, der Duft Lisa verführen, sie sich betrinken.

Als sie durch den Helmut-Zilk-Park ging, sah sie ihn mit anderen Augen als bisher. Noch war alles erst halb fertig, ein Anblick wie die Seestadt, voller schmächtiger Bäume, aber Bänke gab es schon, Wege, Laternen. Wagner würde um acht Uhr kommen, eine Stunde später krepieren, aber nicht in ihrem Wohnzimmer. Irgendwo hier. Im Park. Auf einer Bank. Unter einer Laterne, damit Lisa die Venen in seiner Hand sehen konnte.

Lisa wurde auf dem Weg zu ihrem Haus übel, sie keuchte, erstickte fast. Aber es war kein Schwächeanfall, sondern Aufregung, eine Fülle von Hoffnungen. Alles würde gut werden, die Demütigungen in den Spitälern wie ausgelöscht, vernichtet. Es hatte sie lange genug gequält, als gewöhnliche Krankenschwester nie Spritzen in die Venen setzen zu dürfen, dabei hätte sie es besser gekonnt, zehn Mal schmerzloser als die Ärzte. Lisa war geschickt, schnell, nicht nur bei Psychopax, Morphin, GRB und vor allem Lysthenox in den Spitälern, sie hätte mit ihrer Fingerfertigkeit Taschendiebin werden können, Zauberkünstlerin auf einer Bühne. Wagner würde nichts spüren. Der alte Mann war zu beneiden, er hatte einen friedlichen und glücklichen Tod vor sich. Lisa würde ihm morgen Nacht auch noch die Augen zudrücken, ohne Handschuhe, und trotzdem frei von Sorge, denn auf Haut hinterließ man keine Fingerabdrücke. So vieles wusste sie von Kellermann.

In ihrer kleinen Wohnung angekommen, streifte Lisa die Schuhe ab, schnell, auch der neue Mantel wurde mehr auf den Haken geworfen als gehängt. Jede Minute war kostbar, jede Sekunde. Ein Glück, dass Freitag war und sie morgen nicht in die Kanzlei musste. Den Samstag würde sie für sich und Wagner haben, den Sonntag als Tag danach. Noch nie hatte sie sich auf ein Wochenende so gefreut, aber es konnte leicht ihr letztes in Freiheit sein, wenn sie auch nur den geringsten Fehler machte. Sie musste jetzt ihre Ungeduld beherrschen, ihren Hang zu halben Sachen, sich verwandeln, werden wie Kellermann, wie das Seestadt-Ungeheuer. Schritt für Schritt, planmäßig, alles war genau auszudenken und vorzubereiten, damit das Killen ein Genuss werden konnte. Vieles war ohnehin schon geschehen, die letzten Monate hatte Lisa nicht vergeudet, Nächte investiert, das große Ziel nie aus den Augen verloren. Ein Killer-Paar. Kein gewöhnliches. Er war tot, sie nicht. Er war Asche, sie am Anfang.

Lisa stellte die angebrochene Weinflasche auf den Tisch. Sie machte sich mit Freude ans Werk, denn ein Mord war etwas Einmaliges, Einzigartiges. Sie versetzte sich dabei auch in Kellermann, wie gut es ihm dabei gegangen sein musste, die Stunden vorher, eine Mischung aus Aufregung, Hoffnung, Freude auf die Euphorie, die auch bei ihr bestimmt die ganze nächste Woche anhalten würde. Hellsichtig hatte sie schon vor Jahren die halbe Klinikpackung Lysthenox mitgenommen, mit einem flinken Handgriff am rechten Ort, dort, wo die Kontrollen ihre Lücken hatten. Auch nur eine Ampulle aus dem verschlossenen Schrank im versperrten Zimmer oder auf dem Weg in den OP zu stehlen, wäre so gut wie unmöglich gewesen, doch um die Narkotika über dem Ablaufdatum kümmerte man sich weniger. Sie waren für die Vernichtung bestimmt und wertlos, und beim Abtransport kam es eben vor, dass ein Rollwagen für ein paar Augenblicke unbeaufsichtigt war. Das genügte für einen schnellen Zugriff. Lisa nannte es Attacke. Jetzt oder nie. Sie hatte eine Odyssee durch viele Krankenhäuser hinter sich, trostlose Zeiten. Sie trank einen Schluck. Auf das neue Leben! Morgen würde es auch Burgunder geben, ein paar Gläser für Wagner, höchstens eines für Lisa, denn er musste nichts tun, im richtigen Augenblick nur stillhalten, die ganze Arbeit hatte sie.

Lysthenox. 32 Ampullen. Jede mehr als fünf Jahre über dem Datum. Schon deswegen wahrscheinlich Gift. Aber mehr Wässerchen für eine Narkose im OP als für eine Todesspritze, die nur zwei Milliliter fasste und kaum größer war als ihr Zeigefinger. Lisa war eine schlechte Köchin, aber vielleicht eine gute Alchemistin. Ravioli, Kerzen, die Spritze, alles würde morgen Abend bereit sein. Lisa hatte sich für einen großen Löffel und ihr Feuerzeug entschieden. Mit fünf Ampullen, eingedickt auf einen Fingerhut, müsste Wagner zu schaffen sein. Sie überflog den Beipackzettel, alle Warnungen, Hinweise, sie las die eine Stelle noch einmal, sie konnte es nicht begreifen, sie sah sich am Ende, noch bevor sie angefangen hatte. Das Risiko war zu groß. Wagner würde im Helmut-Zilk-Park eher erfrieren als in Sekundenschnelle an einer Überdosis Lysthenox sterben. Dieses Narkotikum schien laut Beschreibung eine Mimose zu sein, nichts zu vertragen, am wenigsten höhere Temperaturen, die Wirkung der farblosen Flüssigkeit würde beim Aufkochen über der Feuerzeugflamme in Sekundenschnelle zerstört. Lisa blickte auf die Uhr, in 28 Stunden.

In 27 Stunden. Lisa schenkte sich ein weiteres Glas ein, trank. Wagner die kleine Spritze mehrmals zu verpassen und ihn so mit der notwendigen Dosis vollzupumpen war keine Lösung, denn er würde sich wehren, herumtorkeln, wahrscheinlich stürzen, Lisa anstarren und die einst so fürsorgliche und freundliche Krankenschwester nicht begreifen. Außerdem hatte sich Lisa ihre Art zu töten schön vorgestellt, mit diesem feinen Nadelstich, einmal und gekonnt, wie der Angriff eines Insekts oder einer Schlange, kleinster Vorgang mit größter Wirkung.

Noch 26 Stunden. 25. Lisa holte einen Teller aus dem Schrank, den flachsten, den sie in ihrer spärlichen Einrichtung finden konnte. Sie brach die erste Ampulle auf, kippte sie, hörte das leise Glucksen, sah das Aufschlagen der Flüssigkeit auf dem weißen Porzellan, letztlich nicht größer als eine Münze. Damit verschlief ein Mensch schmerzlos eine ganze Operation. Die zweite Ampulle. Zwei Münzen. Sie vereinigten sich. Nach der fünften Ampulle macht Lisa Halt, weil sie ja nicht einen Stier umbringen wollte, sondern nur einen schlecht durchbluteten alten Mann. Eine Alchemistin, das war sie, eine ohne viel Erfahrung, aber voller Hoffnung auf ein 25-Stunden-Experiment. Wie viel von der Flüssigkeit würde dann verdunstet sein? So viel, dass nur eine Münze übrig blieb, gerade richtig für die kleine Spritze, Lysthenox, hochkonzentriert für einen Stich?

Nach einer Stunde hatte sich auf dem Teller nichts verändert, oder es war der Flüssigkeit nicht anzumerken. Sie drehte die Heizung im Wohnzimmer höher, für eine bessere Verdunstung. Geduld, Geduld, war der Rat von Wagner auf dem Friedhof gewesen. Lisa nahm sich vor, ihn zu befolgen. Der alte Mann sollte bei den Vorbereitungen zu seinem Tod mitreden dürfen. Den Zettel mit ihrer Adresse durfte sie nicht vergessen. Den würde er bestimmt bei sich haben, um ganz sicher an sein letztes Ziel zu kommen. Entweder nahm sie ihm das kleine Stück Papier schon beim Empfang ab, oder aber spätestens beim Essen. Eine Katastrophe, würde man ihre Adresse bei der Leiche finden. Und die Ravioli in seinem Magen? – Ganz einfach, Wagner durfte nicht geöffnet werden. Darauf setzte sie. Deswegen hatte er ihr heute auch vom ersten Augenblick an gefallen. Gesehen, gewusst. Das war der Mann, den sie töten wollte. Musste. Weil kein besser geeigneter so schnell vorbeikommen würde. Ein toter Greis in einem kalten Park. Man denkt an Herzversagen. Keine Spuren von Gewalt, keine Würgemale, nur Altersflecken, blaue Adern, Falten, eine Haut wie Pergament. Feinste Arbeit mit der Nadel. So macht man es.

Das Instrument selbst war allerdings ein Juwel. Lisa hatte es in Kellermanns Arzttasche gefunden. Für ihn war sie ein wichtiges Requisit gewesen, für seine Auftritte als Aura-­Chirurg in der Seestadt, gefüllt mit Scheren, Ahlen und Skalpellen, eher Museumsstücke, doch Furcht einflößend und schön. Spritzen gab es einige, Lisa hatte sich für die kleinste entschieden. 18/8 stand auf der Nadel, Original-Record auf der Dose, darunter Drei-Pfeil-Marke, eine Bezeichnung romantischer als die andere, und sie passten zur anderen Seite von Lisa. Früher oder später würde sie in die Kriminalgeschichte eingehen, wenn auch nur als kleine Mörderin, aber ihr Werkzeug könnte sie unsterblich machen, zu einem Todesengel der besonderen Art. Lisa schob den Gedanken weg, dass sie für diesen Ruf mehr Menschen töten müsste, nicht nur den alten Mann. Sie erschrak über sich selbst, weil sie jetzt schon anfing, größenwahnsinnig zu werden, noch vor dem ersten Stich, Kellermann war erst nach dem dritten oder vierten Mord in der Seestadt Gott geworden.

Von dem Narkotikum war auch nach drei Stunden so gut wie nichts verdunstet. Oder der Eindruck täuschte, und wie bei einer Schneeschmelze bemerkte man anfangs kaum etwas, aber dann ging es schnell. Mit dem Föhn blies sie leicht über den Teller, die Spritze in den Händen war wunderschön. Auch ohne Nadel, die man abnehmen und durch andere ersetzen konnte. Im Arztkoffer von Kellermann gab es noch einige davon, aber dazu durfte es nicht kommen, nicht schon morgen, ein Bruch oder Steckenbleiben in Wagner wäre eine Niederlage. Lisa schraubte die kleine Manschette aus Stahl vom Glaskörper, dann fügte sie die Elemente wieder zusammen, drückte den Kolben. Satt, geschmeidig, Luft strömte aus. Zischend. Nur Luft. Noch.

Schmerzlos? Das musste sie ausprobieren. Sie stach zu. Ein Schrei, fast hätte sie den Teller mit Lysthenox vom Tisch gestoßen. Sie biss die Zähne zusammen, Wagner würde aber sicher weiterbrüllen. Entweder hatte Lisa zum ersten Mal in ihrem Leben schlecht gestochen, oder sie war wehleidig. Oder zu nüchtern. Wenn der Alte morgen nur genug trank und nicht wegen der Gesundheit auf Mineralwasser bestand. Im Krankenhaus hatte sie Betrunkene mit abgetrennten Fingern, ausgerissenen Ohren oder klaffenden Wunden von Messerstichen gesehen, und einige von ihnen hatten nicht einmal das Gesicht verzogen, manche sogar gelacht. Lisa würde Wagner erst aus der Wohnung lassen, wenn er die Flasche Burgunder geleert hatte.

Sie zog die Nadel aus ihrer Ader. Es blutete nur wenig. Morgen brauchte sie eine ruhige Hand, und für die Tage danach Geduld, denn das Leben der Menschen im Sonnwendviertel könnte weitergehen wie immer, ohne Angst. Kellermann hatte es mit seinem ersten Mord besser getroffen, ein Stich mit dem Bajonett gleich ins Herz der Seestadt. Doch Lisa? Ein alter Mann auf einer Bank, friedlich eingeschlafen, war das überhaupt eine Meldung wert? Wagner hatte sein Gutes, aber auch viele Nachteile. Er würde leicht zu behandeln sein, für die Todesspritze gab es kaum einen Geeigneteren als ihn, aber Lisa beging einen Mord ohne große Anteilnahme oder Aufsehen.

Sie duschte noch, dann legte sie sich nach Mitternacht ins Bett. Aber gleich darauf stand sie wieder auf, betrachtete die Flüssigkeit im Teller. Es ging voran, die kleine Lacke Lysthe­nox war unübersehbar kleiner geworden. Noch 22 Stunden, vielleicht weniger, es kam darauf an, wann der alte Mann müde wurde und zurück in seine Seestadt wollte, auf keinen Fall mit einem herbeigerufenen Taxi, der Fahrer würde vor der Tür stehen, alles verderben, sie konnte ja nicht beide umbringen. Unglaublich, woran man alles denken musste! In Amerika bereiteten ganze Stäbe die Hinrichtung eines Menschen mit Giftspritzen vor, Lisa war alleine. Sie spürte die Wunde auf ihrem Handrücken, bemerkte die Rötung um den Einstich, aber das hatte damit zu tun, das sie noch lebte, ihr Herz Blut durch die Adern pumpte. Bei Wagner würde man nichts sehen.

Lisa nahm eine Schlaftablette, ihre Hypochondrie konnte sie jetzt nicht brauchen, nicht in dieser Nacht, nicht vor dem großen Tag, aber sie hatte als Krankenschwester zu viele Menschen an Infektionen sterben gesehen. Als sie aus Todesangst zu zittern anfing, griff sie zu GRB. Auf die richtige Dosis kam es an. Zur Ruhe kommen, träumen, schlafen, noch mehr träumen, aufwachen, vor allem wieder aufwachen, sich an nichts erinnern können, ein Wundermittel, sogar Vergewaltigungen wurden vergessen, gleich könnte man mit ihr alles tun, auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer wünschte sie sich Kellermann, im Bett legte der Seestadt-Killer ihren Arm um sie.

Fünf Uhr Nachmittag. Lisa legte den Wecker zurück, er war schwer wie ein Stein, sie selbst der einsamste Mensch in dieser November-Finsternis. Sie ging ins Bad, sah im Spiegel ihr Gesicht, Wagner würde Angst bekommen, weglaufen, die nächsten Jahre in der Seestadt weiter nach Knöpfen und Knochen graben.

Die Einstichstelle auf ihrem Handrücken war noch da, die Rötung allerdings verschwunden, auch Lisa würde überleben, sie musste nur ihre Todesängste in den Griff bekommen. Am besten aufhören mit GRB. Aber wenn man so gut umgehen konnte damit, war dieses Medikament doch eine Hilfe, immerhin hatte sie 14 Stunden geschlafen, die vielen Bedenken vergessen, die lange Zeit bis zur Exekution ein wenig überbrückt. Wahnsinnig wurde man erst, wenn man es täglich nahm, in immer höherer Konzentration, aufgekocht. Lisa war anders. Sie hatte alles im Griff, und wenn das Leben einmal zu sehr schmerzte, half ihr ein Glück, GRB nur in Ausnahmefällen.

Sie setzte sich an den Tisch, erschöpft, als hätte sie den Tod Wagners schon hinter sich. Beim Anblick des Tellers wurde sie hellwach. Alles lief bestens, das Glück hatte sie nicht verlassen, die farblose Flüssigkeit war nur noch groß wie eine kleine Münze. Sie führte die Nadel an die gewölbte Oberfläche, durchstach sie. Das Lysthenox umfing die Spitze mit dem oval geschliffenen Loch, schien sich an den dünnen Stahl zu klammern, es wollte aufgesogen werden, daran bestand für sie kein Zweifel. Alles fügte sich, fast wie von selbst, ging ineinander, Lisa musste nur den Kolben im Glaskörper ganz sanft anziehen, nicht einmal den Teller kippen, der eingedickte Saft schien ihr wie Quecksilber aus einem zerbrochenen Fieberthermometer nachzulaufen, um in die Todesspritze zu kommen. Zwei Milliliter, nicht mehr, nicht weniger. Lisa war auf die Stunde genau aufgewacht. Die Spritze in ihrer Hand war nicht schwerer geworden, Wagners Tod wog nicht viel, und leicht würde es weitergehen. Schon jetzt wusste Lisa mehr als jede andere Krankenschwester, Dinge, die man sich nicht aufschreiben durfte, aber mühelos zu merken hatte. Vier Ampullen aufbrechen, genau einen Tag warten, wach oder schlafend, die Fernheizung etwas hochgedreht. Wahrlich leicht zu merken. Wozu? Lisa ahnte es.

Wagner kam auf die Minute genau. In einem eleganten Mantel und ohne Aufsehen. Lisa war sich sicher, dass der alte Mann von keinem einzigen Nachbarn gesehen worden war. Er kam pünktlich und mit Blumen. Wenigstens hatte er kein Skelett oder Pferdekopf aus der Seestadt mitgebracht, aber ausgegrabene Knochen konnten es immer noch sein, denn er trug ein längliches Paket bei sich, das er auf den Schuhschrank im Vorzimmer legte. Lisa hatte auf mehr Altersschwäche und Hinfälligkeit gehofft, doch Wagner schien zu den Menschen zu gehören, die am Abend aufblühten. Er war eben kein dahinsiechender Patient im Spital, sondern ein ganz gewöhnlicher Mann, der sich nicht aus dem Mantel helfen ließ, in Lisas Wohnung auf und ab ging, nach kurzen Fragen Türen öffnete, staunte, weil es hier so aussah wie bei ihm zu Hause, und sich sofort wohlfühlte.

Alles war bereit. Die Ravioli, die Kerzen, die Spritze. Lisa hatte das Instrument in ihren Mantel gesteckt, die Injektionsnadel mit einem Stück Korken geschützt, auch um ein Auslaufen der kostbaren Flüssigkeit zu vermeiden, jeder Tropfen weniger konnte einen längeren Todeskampf bedeuten, die halbe Dosis sogar das Überleben Wagners. Warum war er nicht kränker? Lisas Herz fing an, schneller zu schlagen, weil sie ihn falsch eingeschätzt hatte, die ganze Lage, aus dem geplanten Mord könnte noch ein Desaster werden. Lisa beruhigte sich, zu spät war es erst, wenn sie zugestochen hatte, auch Kellermann hatte sich mit seinem Bajonett einige Male erst im letzten Augenblick entschieden. Lisa versuchte, das Gute zu sehen, den kommenden Abend wie ein Abenteuer, von dem man nicht wusste, wie es endete. Vielleicht würde sie morgen einen Sonntag verbringen wie alle seit einem Jahr, voller Langeweile, hoch über einem Park, in dem nichts geschehen war, sie müsste wieder träumen, von Venen und Stichen, vom Killer-Paar, er im Jenseits, sie hier.

Endlich nahm Wagner Platz, schenkte Lisa ein, sich selbst. Er hob sein Glas.

»Lisa, auf Sie.«

Lisa sah ihn an, wollte nicht lügen.

»Auf den Abend.«

Auf keinen Fall durfte sie zu viel trinken, ihre Hand zitterte jetzt schon, eine Vene würde sie verfehlen, aber es gelang ihr, die Ravioli auf ihren Teller zu kippen, ohne Tomatenkleckse auf dem Tischtuch. Wagner hatte sich selbst bedient, er meinte, er sei ja nicht ein Patient im Krankenhaus, den man füttern müsse.

»Lisa, mir macht es nichts aus, mir nicht, ich bin Ravioli aus der Dose gewöhnt, und die Kerzen in den Flaschen gefallen mir besser als in irgendwelchen Leuchtern aus Silber. Aber wenn Sie Geld brauchen, ich habe genug, ich weiß nicht, wohin damit.«

»Keine Verwandten? Eine Frau?«

»Nichts. Alleinstehend, aber glücklich. Sage ich schon seit Jahren und noch immer. Aber Sie? Oder ist es Ihre Art, Ihr Wesen?«

»Mein Wesen?«

»Nichts eingerichtet, wie auf der Durchreise. Innere Unruhe oder kein Geld?«

»Erst am Anfang.«

»Es wird Ihnen alles gelingen. Mit meiner Hilfe. Ja, ich helfe Ihnen. Mein Gott, Lisa, wie wollen Sie einen Job finden, von einem Krankenhaus rede ich schon nicht mehr.«

»Keine Anklage, nichts.«

»Sie haben wie ein Rabe gestohlen, bis zum Morphin, wer weiß, was noch.«

»GRB, Lysthenox.«

Lisa durfte Wagner alles sagen, ehrlich sein, ihr gegenüber saß jemand, dem man sogar einen Mord gestehen könnte, er musste nur in der Nacht auf einer der Parkbänke gefunden werden.

»Danke, Lisa, für das Vertrauen, ich verrate Sie nicht. Aber das Leben geht weiter. Sie könnten Pflegerin werden. Privat. In der Seestadt. Bei mir. Ich schenke Ihnen das Geld nicht, jeder Cent ist schwer verdient, oder glauben Sie, ich bin ein leichter Fall, ein einfacher Mensch?«

»Reden Sie mit Sandra.«

»Keine andere Krankenschwester, nur Sie.«

»Dr. Sandra Selitsch. Anwältin. Ohne sie wäre ich nicht hier, sondern im Gefängnis, sie hat mich gerettet, keine Anklage, nichts. Sandra ist nicht nur die beste Verteidigerin, auch sehr großherzig, ein Mensch. Ich arbeite gerne für sie, was will ich mehr. Aber vielleicht kann sie den einen oder anderen Tag auf mich verzichten, und ich komme zu Ihnen. Seestadtluft, warum nicht?«

»Die schöne Selitsch?«

»Ja. Meine Sandra. Angst vor ihr?«

»Ich mag sie nicht. Sie liebt offenbar Serienmörder. Auch Kellermann.«

»Und? Hat Sandra Ihnen Kellermann weggenommen? Oder mir? Serienkiller sind für alle da.«

Wagner lachte. Er wischte sich mit der Papierserviette den Mund ab, stand auf, ging ins Vorzimmer, kam mit dem länglichen Paket zurück, legte es auf den Tisch.

»Lisa, das ist er, das sind wir.«

»Wie, ich bin in dem Paket?«

Lisa gefiel es, Wagner zu quälen, nur mit Worten, ein kleines und kurzes Leiden hatte er verdient. Wagner schien die Anwältin Sandra Selitsch wirklich nicht zu mögen. Seitdem ihr Name im Raum stand, war er wieder der Mann, wie ihn Lisa aus dem Krankenhaus kannte, unstet, ein ständiges Hin und Her, ein Schädel mit Adern, die ihm aus den Schläfen traten und jeden seiner letzten Herzschläge zeigten, für die Injektion ungeeignet, weil eine Aorta Lisa nur mit Blut vollspritzen würde. Den Abend hatte sich Lisa anders vorgestellt, ruhiger, den alten Mann am Einschlafen, fast hinüber, gerade dass er sich auf den Beinen halten und in den Park schwanken konnte, bereit für den Todesstoß.

»Machen Sie es auf, Lisa, mein Geschenk für Sie. Das erste.«

Was könnte noch kommen? Begriff der alte Mann nicht, dass er in ihrem Leben keine Bedeutung hatte? Wenn er auch nicht endlich mehr trank, müsste sie die Tropfen holen, ihn mit GRB in die richtige Stimmung bringen. Aber noch durfte sie Wagner nicht ihren Widerwillen zeigen. Sie rollte mit spitzen Fingern das Papier auseinander, immer weiter, eine unsinnige Mühe, an deren Ende doch nichts herauskommen konnte. Lisa nahm sich vor, sich überschwänglich zu bedanken, zu lächeln, aber den Alten auf keinen Fall zu küssen. Sie schämte sich, wie sehr sie sich verstellte, aber das Umgarnen der Beute war wichtig. Wenn alles vorbei war, würde sie nur an das Schöne denken. Bei der letzten Schicht Papier ahnte sie schon sein Geschenk, Kellermanns Bajonett, sie müsste ein Gesicht des Erschreckens machen. Lisa ging sogar noch weiter, ließ die Waffe zu Boden fallen, trat einen Schritt zurück.

»Keine Angst Lisa, es wird nie zerbrechen, nie. Ich habe den Herrschaften gesagt, wenn ich mich schon um seine Leiche kümmere, bekomme ich dieses Ding, bei mir ist es sicher, in meinem kleinen Museum, in das niemand kommt.«

Lisa hob das Bajonett auf, wog es in den Händen, ihre Spritze war so viel leichter, eben die Waffe einer Frau. Sie legte das große Stück Stahl auf den Tisch, Wagner setzte sich wieder, drehte die Spitze des Bajonetts weg von sich, holte eine Packung Zigaretten aus seinem Sakko.

»Darf ich?«

Lisa nickte, schob ihm einen kleinen Teller zu.

»Lisa, Sie leben gesund, ich nicht. Aber erst seit einem Jahr. Ich trinke auch wieder. Ich sterbe vor Langeweile in der Seestadt. Also lebe ich, auf Teufel komm raus.«

Wagner stellte den Teller beiseite, kippte ein Glas in sich hinein, schenkte sich nach. Lisa atmete auf, die Tropfen konnten im Schrank bleiben, GRB wäre auch ein Risiko, die Euphorie bei einem alten Mann nicht wirklich zu berechnen, noch weniger dann seine Müdigkeit, er konnte sogar plötzlich vom Stuhl fallen, die ganze Nacht wie tot in ihrem Zimmer liegen, erst zu Mittag aufwachen, ihr Sonntag wäre verdorben.

»Lisa, sind Sie krank?«

»Nein, warum? Ich rauche nicht, ich habe nicht einmal einen Aschenbecher für Gäste, ich habe nicht einmal Gäste, keine Bekannten, nur Sie.«

Lisa hoffte auf seine Ehrlichkeit.

»Wie ich. Keine Gäste, keine Bekannten, nur Sie.«

»Aber Sie haben doch jemandem erzählt, dass wir uns treffen, einen schönen Abend verbringen?«

»Keiner Seele. Aber Sie lenken ab. Sie waren im Krankenhaus.«

»Insgesamt 14 Jahre. Einmal da, einmal dort.«

»Vor Kurzem. Als Patientin. Etwas Ernstes? Auf jeden Fall hat es Infusionen gegeben. Über die Ader auf Ihrer Hand.«

»Es war eine Spinne.«

Lisa strich mit ihrem Finger über die kleine Wunde, spürte keinen Schmerz, aber die Ader auf ihrem Handrücken war gerötet, es war vielleicht doch leichtsinnig gewesen, den Einstich nicht zu desinfizieren. Aber ihr gefiel der Einfall mit der Spinne. Endlich ein Stück Wahrheit. Lisa sah sich als Tarantel. Oder Schlange. Blitzschnell musste es jedenfalls gehen.

»Lisa, Sie lügen, gut so, meinetwegen, Sie verschonen mich mit Ihren Sorgen, aber werden Sie wieder gesund, sterben Sie nicht vor mir. Auf den Abend!«

Wagner trank, Lisa nippte. Sie konnte nicht anders, als auf seine Hände zu sehen. Welche würde es werden? Links wäre das Lysthenox schneller beim Herzen, ohne Schreie im Park, höchstens ein Stöhnen, dann das Aushauchen, die Stille. Lisa merkte die Betrunkenheit des Alten an der Länge der Asche, er rauchte eine Zigarette nach der anderen, als wüsste er von seinem bevorstehenden Ende. Ein Stück Glut fiel auf seine Hand, er hatte es nicht einmal gemerkt. Lisa roch die verbrannten Haare, die angeschmorte Haut.

»Ich habe doch jemandem von meinem Besuch erzählt«, gestand Wagner jetzt. »Musste ich. Sogar mit Ihrer Adresse, wäre nicht anders zu machen gewesen.«

»Wem? Wem haben Sie es erzählt?«

»Geduld, Geduld, eine Überraschung. Mit einer kleinen Gemeinheit dahinter. So bin ich eben.«

Lisa hatte die Wahl. Aufgeben oder nicht. Ein Risiko eingehen oder leben wie Wagner, auf Teufel komm raus. Das Bajonett gab ihr die Antwort, heute Nacht oder nie. Ein Blick auf Wagners Hände machte ihr noch mehr Mut.

»Ihre Hände, sind sie noch immer kalt?«

»Kalt und ohne Gefühl.«

Wagner drückte seine Zigarette am Handrücken aus, er schrie nicht auf, er gähnte sogar. Der Rauch stieg ihm in den Mund, er hustete, spülte den Reiz mit Wein hinunter. Lisa blickte auf die Uhr, mit viel Glück konnte in einer halben Stunde alles vorüber sein.

»Und wenn ich Sie heirate, Lisa? Ich meine es ehrlich. Kommen Sie dann zu mir? Allein und unglücklich, das ist die Wahrheit. Sie sind meine letzte Hoffnung.«

Lisa sprang auf. Auf vieles war sie gefasst gewesen, doch nicht auf den Wahnsinn eines Alten. Kein Gefühl in den Händen, aber im Herzen. Im Krankenhaus war alles leichter gewesen, über manche Komplimente und Anträge von siechen Männern konnte man hinweggehen, darüber lächeln, oft wurden sie sogar schnell von ihnen selbst vergessen und waren auch nicht immer ernst gemeint, doch Wagner breitete seine Verzweiflung in Lisas Wohnung aus, in ihrem Zimmer, in dem man vor Rauch und Enge fast erstickte. Sie nützte die Gelegenheit, öffnete die Balkontür, ließ frische Luft herein. Wagner wartete lange, eine Ewigkeit, bis er die Stille nicht mehr ertrug.

»Lisa, keine Antwort ist auch eine Antwort, Zeit sich zu verabschieden, für immer, früher als erwartet, und Sie rufen mir kein Taxi, der alte Mann geht zu Fuß, die U-Bahn bringt ihn dann zurück in die Seestadt, in die verdammte Langeweile und Einsamkeit.«

Wagner hob sich aus dem Stuhl, seine letzte Zigarette ließ er zu den vielen Stummeln auf den Teller fallen, er drängte sich an ihr vorbei, auf den Balkon, erinnerte sie an ein Versprechen.

»Der schönste Ausblick, bis zur Seestadt, Sie haben nicht gelogen. Aber die reine Wahrheit sind Sie auch nicht, wenn ich es so sagen darf. Oder haben Sie den Nachbarn erzählt, wer Sie sind? Weiß hier jeder Mensch, dass er neben der Geliebten eines Massenmörders wohnt? Ich habe keine Angst vor Ihnen, aber die anderen, zuerst in Ihrem Haus, dann kommt das nächste, das ganze Sonnwendviertel, alle regen sich auf, jetzt verstehe ich Lisa, warum es bei Ihnen so ungemütlich ist, kein Teppich, keine Bilder, die Kerzen in Flaschen, Sie sind auf dem Sprung, schon bald wieder weg.«

»Wer sollte mich verraten?«

»Ja, wer? Ich überlege noch. Jemand, der Sie kennt, Lisa Bruckner von innen und außen, der sich nicht täuschen lässt, er müsste nur im Park spazieren gehen, ab und zu stehen bleiben, mit den Leuten reden, da die richtige Bemerkung, dort, der Rest erledigt sich von selbst, ein Lauffeuer mitten im Sonnwendviertel.«

Lisa hätte ihre Freude am liebsten laut hinausgeschrien. Wagner machte es ihr leicht, sie hatte die richtige Wahl getroffen, um ihn würde niemand weinen, am wenigsten sie, nicht einmal morgen Kopfschmerzen haben, keinen Anflug von schlechtem Gewissen, nur maßloses Glück. Sie trat beiseite, viel mehr war nicht notwendig, um dem alten Mann mit dem rot angelaufenen Gesicht zu antworten. Wagner verstand, dass er zu gehen hatte. Er schlüpfte an ihr vorbei, seinen Geruch aus Zigaretten und Moder würde sie noch lange nicht loswerden, und auch unten auf der Parkbank stand ihr noch einiges bevor. Wagner zwängte sich ohne ihre Hilfe in den Mantel. Sie sah ihm an, wie sehr er sich um noch mehr versteckte Drohungen bemühte, um Worte für seinen Hass.

»Lisa, wissen Sie, warum ich mich auf meine Seestadt freue? Weil ich alles beenden werde, alles. Noch heute. Mit einem Riss. Ich Idiot. Und Nick soll Ihnen zu denken geben, danke für den Hundefraß.«

Schon wieder eine Überraschung? Wo? Wann? Wagner schloss die Tür ohne Gruß. Lisa hatte nun einen weiteren Grund, ihm nachzulaufen, ohne Abschied solle man doch nicht auseinandergehen, noch dazu im Streit. Er würde alles schlucken, jede Lüge von Lisa. Sie legte das Ohr an die Tür, hörte das Ankommen des Lifts, das Hineinstolpern Wagners, die Abfahrt. Sie zog den Mantel an, schlüpfte in die Schuhe mit den glatten Ledersohlen. Auch daran hatte sie gedacht, es sollte am Ort des Geschehens keine Abdrücke geben. Die Schlüssel. Tür auf. Kein Mensch zu sehen oder zu hören, Tür zu. Jede Minute war kostbar, jede Sekunde, es erging ihr wie Kellermann, ein schönes Gefühl, wenn er sie nur sehen könnte. Lisa freute sich auf ihre Rückkehr in die warme Wohnung, auf sein Bajonett, auf die herbeigesehnte Zeit, auf die Stunde des Killer-Paars. Der Lift kam, sie bestieg ihn, roch Wagners Zigaretten und ihren Wein, sah sich im Spiegel, gefiel sich. Sie musste auch anziehend sein, für Wagner, um ihn umzustimmen, um dem Alten noch ein letztes Mal in seinem Leben den Kopf zu verdrehen, mit Liebe ließ sich alles machen.