Cover

Marc-Uwe Kling, Julius Fischer, Uli Hannemann, Jakob Hein, Ahne, Spider, Kirsten Fuchs, Jochen Schmidt, Tube, Volker Strübing, Micha Ebeling, Michael Bittner, Roman Israel, Stephan Serin

Das Lesebühnen-eBook

Inhaltsverzeichnis

Marc-Uwe Kling: LOST

Julius Fischer: DER OUTDOOR-AUTOR

Julius Fischer: Ich hasse Menschen – Heute: Heath Ledger

Uli Hannemann: Der Weg ist das Ziel

Jakob Hein: Irgendein Künstler

Ahne: Zwiegespräche mit Gott – heute: Das Defizit

Ahne: Zwiegespräche mit Gott – heute: Zieht eure T-Shirts aus

Andreas »Spider« Krenzke: Ich kann mich nicht erinnern

Andreas »Spider« Krenzke: Ferien in Üdüle

Kirsten Fuchs: Kreuzberg

Jochen Schmidt: ZWEITÄLTESTE FRAU DER WELT

Tube: Marmorkuchen, total in Braun

Volker Strübing: Fleischsalat

Micha Ebeling: MARBURG, MILCH UND MORITATEN

Michael Bittner: Ein Gehirn sieht rot

Roman Israel: Ein kleines Beispiel

Stephan Zeisig: Isch bin Bus

Ahne: Freie Marktwirtschaft oder auch: Entscheide dir!

Marc-Uwe Kling

LOST

»Scheiße, ist das kalt!«, flucht das Känguru.

Es hüpft vor mir durch den Schnee, die roten Boxhandschuhe über den Pfoten und unfassbar rosafarbene Ohrschützer auf dem Kopf.

»Glotz nich so blöd«, schimpft das Känguru. »Ich weiß, dass das scheiße aussieht.«

Es lässt einen Ast los, der mir direkt ins Gesicht klatscht.

»Warum folge ich dir nur immer wieder auf diese ›Abkürzungen‹?«, murre ich, aber die Frage bleibt nur als lauwarmer Nebel in der eiskalten Abenddämmerung hängen.

»Da vorne müsste der Weg sein«, sagt das Känguru. »Vertrau mir. Meine alten Dschungelinstinkte werden wieder wach.«

»Dschungelinstinkte. Tss. Ich kann es gar nicht fassen, dass wir uns im Tiergarten verlaufen haben …«

1 5   M I N U T E N   S P Ä T E R

»Ich denke, wir sollten unsere Lage akzeptieren und hier Feuer machen«, sagt das Känguru, als wir zum dritten Mal dieselbe Lichtung betreten. »Wenn der Tag anbricht, finde ich auf jeden Fall hier raus.«

Ich verdrehe die Augen und schimpfe vor mich hin. Das Känguru macht derweil Feuer. Plötzlich blickt es mich seltsam an.

»Sag mal … darf ich dich essen, falls du erfrierst?«

»Was?«, rufe ich verstört. »Nein!«

»Wieso denn nicht?«, fragt das Känguru. »Ich finde das sehr egoistisch von dir. Wenn ich vor dir erfriere, darfst du mich essen.«

»Ich will dich nicht essen. Das ist ja ekelhaft.«

»Na, danke«, sagt das Känguru. »Du bist auch ekelhaft.«

Es wirft einen Ast ins Feuer und reibt sich die Pfoten.

»Du müsstest mich ja nicht roh essen«, sagt es nach einer Weile. »Du könntest mich ja grillen. Ich würde dich grillen.«

Es zieht etwas aus seinem Beutel.

»Du hast Gewürze dabei?«, frage ich.

»Na?! Na?!«, ruft das Känguru herausfordernd und bestreut sich selbst. »Wollen mal sehen, ob ich mich dir nicht doch schmackhaft machen kann! Ein bisschen Curry hier, ein bisschen Koriander da …«

»Bäh. Ich hasse Koriander.«

»Hörense ma«, brummt da plötzlich eine fremde Stimme. »Die Diskussion könnense sich gleich ma spar’n. Grill’n is in dem Teil vom Tierjarten sowieso nich erlaubt. Ick bin vom Ordnungsamt. Dit jibt nen safftijen Strafzettel.«

Das Känguru mustert unseren ungebetenen Gast. »Sagen Sie mal«, sagt es, »würden Sie sich von Ihrem besten Freund aufessen lassen? In einer Notsituation. Wenn Sie sowieso sterben würden, ihn aber retten könnten?«

»Ick arbeite fürs Ordnungsamt«, sagt der Mann. »Ick hab keene Freunde.«

»Aber können Sie uns vielleicht sagen, wie wir hier wieder rauskommen?«, frage ich.

»Sie ham sich verloofen?«

Ich nicke.

»Im Tierjarten?«

Ich seufze.

»Dit is nich meen Zuständigkeitsjebiet.«

»Wenn du erfrierst«, sagt das Känguru zu mir, »esse ich dich einfach trotzdem.«

»Ich verbiete dir ein für alle Mal mich zu essen«, zische ich.

»Also, ick hab zwar keene Freunde«, funkt der Mann vom Ordnungsamt dazwischen, »aber eenet sag ick Ihnen: Wenn ick Freunde hätte, würd ick mir uff da Stelle von selbigen uffessen lassen. Stante pede. Dafür müsst ick nich ma erfroren sein. Einfach so würd ick mir von die uffessen lassen. Nur damit die nich verhungern. Ick meen, wofür hat man denn Freunde? Oda och wenn die keen Jeld für Mittach dabei ham. Würd ick mir uffessen lassen. Oda wenn die einfach Lust uff nen kleenen Snack ham. Würd ick mir uffessen lassen. Oda wenn beim Videoabend alle traurig wären, weil keener Schüps mitjebracht hat, würd ick sag’n: ›Freunde! Hier bin ick! Esst doch mir uff.‹«

»Da hörst du’s!«, ruft das Känguru mir nickend zu. Sein Magen knurrt. Es wendet sich wieder dem Mann vom Ordnungsamt zu.

»Wollen wir Freunde werden?«

Aus:

Die Lesedüne »Über Wachen und Schlafen«

Buch + CD (160 Seiten + 63 min. Spielzeit)

ISBN 978-3-863910-13-6 (Print)

Julius Fischer

DER OUTDOOR-AUTOR

Als Schriftsteller muss man sich Nischen suchen. Sonst geht man in der Masse unter. Die Idee, dass man alleine vom Schreiben leben kann, ist ungefähr so realistisch wie der Wunsch kleiner Mädchen, auf dem Bauernhof zu leben oder Prinzessin zu werden, wenn sie groß sind.

Die meisten landen in der Nagelpflege.

Vom Schreiben leben kann man im Grunde genommen nur, wenn man entweder gleich am Anfang, so mit zwölf, etwas total Krasses veröffentlicht, Herr-der-Ringe-mäßig, und dann ein Leben lang gefeiert wird, oder indem man am Fließband produziert.

Jedes Jahr einen historischen Roman, zack, oder einen Krimi, zack, Themen gibt’s ja viele.

Die dritte Möglichkeit ist die Drittmittelsubventionierung, sprich: Man wird Werbetexter, nur literarisch.

So wie bestimmte Theater Hausschreiber oder Hausphilosophen haben, könnten sich auch Hersteller von Gebrauchs- und Genussmitteln einen Autor an Bord holen, der mit seinem Namen und vor allem seiner gewundenen Sprache für deren Produkte wirbt, zum Beispiel Prostata-Pastillen.

Wenn man David Foster Wallace Glauben schenken darf, wird das in Amerika schon seit Langem gemacht – nichts, was unbedingt überrascht. Hier ein nicht wortwörtliches Gedächtniszitat aus einem von ihm zitierten literarischen Werbeessay über ein Kreuzfahrtschiff:

Unter der lapislazuliblauen Himmelskuppel treibt das luxuriöse Schiff, die Seabull, das Aushängeschild der Reederei Ocean Dreams, einem neuen Tag entgegen. Ich liege auf dem Oberdeck in einem gemütlichen Rattan-Sessel der Firma Rattan-Möbel, in der Hand einen Johnny Walker. Meine Tommy-Badehose spannt ä bissl, weil das Essen hier so lecker ist usw. usf.

So etwas sollte ich auch machen, habe ich mir gedacht, damit es mir nicht so ergeht wie den Zwergfächern an den Universitäten, die nach und nach wegrationalisiert werden.

Wer braucht denn bitte noch Germanistische Literaturwissenschaft oder Philosophie?

Lächerlich. Steht doch heute alles im Internet.

Ich wünsche mir, dass dieser Satz irgendwann einmal aus dem Zusammenhang gerissen auf Muskote-Packungen steht oder in einem Aphorismenband von Rowohlt.

Lächerlich. Steht doch heute alles im Internet. – Julius Fischer (Autor und Mensch).

Ich will mit meinen Texten stellvertretend für ein Unternehmen stehen, aber natürlich nur für so intellektuelle Sachen wie Gauloises oder Whisky.

Oder für Lebensmittel. Zum Beispiel Rügenwalder Mühle, die haben immer so gute Lieder. Man könnte meinen dicken Charme noch erhöhen, wenn man mir Kindersachen anziehen und eine Zahnlücke schminken würde.

Am liebsten wäre ich allerdings Outdoor-Autor. Ich mag Funktionskleidung. Sie hat spitzenmäßige Eigenschaften: Bequemlichkeit, Temperaturausgleich, Praktikabilität.

Ich würde gerne für The North Face den dichtenden Wikinger geben, Figur und Fresse würden auf jeden Fall dazu passen.

Ich stelle mir eine Blockhütte vor, in Norwegen, der Morgen graut nach einer klaren Polarnacht, Auftritt ich, in der einen Hand mein Frühstück, einen halben Haifisch, in der anderen Hand das Goldene Vlies von meinem letzten Raubzug, am Leibe trage ich nur einen Schlüpfer von The North Face, den man aber durch eine ausgefeilte Falttechnik in eine Windjacke oder ein 8-Mann-Zelt umfunktionieren kann.

Ich blicke über meine Siedlung hinunter in die Bucht, wo eine riesige Flotte abfahrbereit auf mein Zeichen wartet. Ich rufe meine Untergebenen zusammen, auch sie tragen Funktionsunterwäsche und Netzhemden. Ich breite die Arme aus und deklamiere:

Damit du uns nicht fortwehst,

wenn du auf den Fjord gehst,

kleide dich in North Face,

weil du auf Komfort stehst.

Dann ein schwarzer Bildschirm, atmosphärisches Atmen oder Herzklopfen, Schriftzug: The North Face, fertig ist der Werbespot.

Das Ganze ginge natürlich auch bei Jack Wolfskin, müsste dann aber eher in die Indianerrichtung gehen.

»Über Wachen und Schlafen«

Buch + CD (160 Seiten + 63 min. Spielzeit)

ISBN 978-3-863910-13-6 (Print)