9783959590747-mini

Danksagung

Wie jedes Buch, so ist auch dieses nicht ausschließlich auf dem Mist des Autoren alleine gewachsen. Viele andere Leute haben hierzu beigetragen, die ich im Folgenden hoffentlich vollzählig auflisten werde. Sollte ich doch jemanden vergessen: Tut mir leid, es hat Jahre von der ersten Fassung bis zur Veröffentlichung gedauert, und ich bin nicht unbedingt immer der Bestorganisierte. Es ist also definitiv keine Absicht.

Zuerst kommen meine Testleser, die sich mit Abstand die meiste Arbeit gemacht haben. Das sind diesmal: Sabine Dau, Bea Hagen, Stephan Heitzmann, Megumi Maria Loy, Kerstin Pflieger, Petra Schmidt und Tina Skupin. Donnerwetter, hab ich aber viele Testleser verschlissen!

Dann sind da noch die Helfer in sachlichen Fragen.

Meine paar Brocken Arabisch hätten kaum für die enthaltenen Sätze ausgereicht und sind noch dazu in 20 Jahren derart eingerostet, dass mir David Carl freundlicherweise unter die Arme gegriffen hat.

Italienisch konnte ich noch nie, hier geht mein Dank an Silva Albertini.

Über einige polizeiliche Dinge (zum Beispiel, auf welch hypermoderne Art man heute Fingerabdrücke nimmt) klärten mich Sabine S., Thomas W. und Holger K. von der Polizei in München auf. Dass ich mich über einige Verfahrensweisen fröhlich hinwegsetze (Welcher Spurensicherer ließe beispielsweise Kurt einfach so Belenus' Leiche untersuchen?) darf man ihnen nicht ankreiden, das ist alleine meine Schuld. Manchmal muss man einfach die berühmte künstlerische Freiheit bemühen.

Dr. Gabriele Hausmann checkte und korrigierte meine Ideen zu Fritzens Lungendurchschuss und Angies Koma.

Oh, und Testleserin Petra Schmidt stand mir auch noch mit einigen Tips zum sächsischen Dialekt zur Seite. Den ich natürlich zugunsten des Verständnisses nur ab und zu minimal habe aufblitzen lassen ...

Diverse Mitglieder des Tintenzirkels halfen mir mit Fachwissen zu einzelnen Fragen oder einfach hilfreichen Gedanken, wenn ich irgendwo feststeckte.

Eigentlich sollte hier nun noch ein Imam oder Islamverein oder sonst ein Fachmann zum Thema Islam stehen, der das Verhalten „meines“ Imams und ein paar andere Punkte geprüft hat. Leider fand sich keiner. Nach Monaten der erfolglosen Suche, in denen ich entweder gar keine Antwort bekam oder nach anfänglicher Bereitschaft ein Rückzieher gemacht wurde, musste das Manuskript endlich an den Verlag gehen. Sollten Sie, lieber Leser, also zufällig Muslim sein und sich beim Verhalten von Imam Hosni Said oder der beiden Salafis an den Kopf gegriffen haben: Ich hab's versucht. Ehrlich. (Und ja, ich weiß, der Imam einer Moschee ist kein Priester in dem Sinne wie ein christlicher Pfarrer. Die Parallelen sind aber doch recht zahlreich, sodass ich mir erlaubt habe, diesen Ausdruck so zu benutzen.)

Zu guter Letzt danke ich natürlich wieder meiner Verlegerin Charlotte Erpenbeck, dass sie so an Kurt glaubt, und meiner Frau, die nun schon seit Jahren damit leben muss, dass ich mich ständig für Stunden zum Schreiben und Recherchieren zurückziehe. Übrigens hat sie auch so einiges aus ihrem Wissen als Krankenschwester auf der Intenivstation beigesteuert.

Sascha Raubal

Von Sascha Raubal bisher im Machandel Verlag erschienen:

Kurt – In göttlicher Mission (Oktober 2015)

Kurt 2 – Götter in Gefahr (Oktober 2017)

Kurt 3 erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2018


Kurt 2

Götter in Gefahr

Sascha Raubal


Urban-Fantasy-Krimi



Für Pia, Adrian und Yasmina

-für wen auch sonst?




Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover: Bob Alex / Eugenia Cherubina/ www .shutterstock .com

Druck: booksfactory.de

Haselünne

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-95959-074-7




Alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Ausnahmslos. Wenn auch nicht alle von mir.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ...

na, Sie kennen den Spruch.

S.Raubal


Hintergrundinformationen und gelöschte Szenen

finden Sie auf der Homepage des Autors:

http://Fantasy.Raubal.de

Prolog

 

 

Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erden.“

 

Steht im zweiten Buch Mose, dem Exodus. Drittes Gebot. Haben Sie sich schon mal gefragt, was das soll?

Oh, Verzeihung. Ich sollte mich erst mal vorstellen. Odensen mein Name, Kurt Odensen. Nein, ich bin kein Theologe, sondern Privatdetektiv. Aber glauben Sie mir: Wenn die Herrschaften Fachleute wüssten, was ich weiß ...

Wie? Was ich denn schon wissen kann? Ha! Ich könnte Ihnen ja mal erzählen, mit wem ich im letzten Jahr so alles ein Bierchen trinken war. Da kämen Sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Aber ... nein, das geht nun auch wieder nicht. Ziemlich geheim, wissen Sie?

Ausflüchte? Na, Sie machen mir Spaß. Aber okay, gut, ich verrate Ihnen ein bisschen was. Kommen wir doch zurück zum dritten Gebot. Was meinen Sie? Wozu soll das gut sein?

Okay, der Teil mit den Tieren, ja, der könnte glatt als Versuch durchgehen, die Arbeiten von Darwin und Wallace zu verhindern. Damit keiner hinter die Sache mit der Evolution kommt. Aber wieso, glauben Sie, soll man kein Bild von einem Gott malen?

Ich sag's Ihnen: Weil man dem Gott damit eine Gestalt gibt. Nein, nicht nur im bildhaften Sinne, sondern ganz handfest. Wissen Sie, Götter sind ja – auch wenn die Gläubigen das nicht hören wollen – Geschöpfe von uns Menschen. Sie wurden in unserem Geist geboren. Also ... jetzt nicht in Ihrem und meinem, sondern den Hirnen unserer Vorfahren. Und im menschlichen Geist leben sie auch heute noch. Der Witz daran ist: Sie sind durchaus real und haben eine eigene Persönlichkeit, nämlich die, die ihre Gläubigen ihnen gegeben haben. Und wenn man sich seine Götter mit einer richtigen Gestalt vorstellt, können sie die auch annehmen. Jupiter konnte also auch mal als Schwan oder Stier unterwegs sein. Ja, klingt bescheuert, ist aber so.

Auf die Tour können Götter also die Menschen besuchen und ihnen sagen, was sie wollen. Selbst. Ohne Umweg über die Priester. Und da liegt der Hund begraben. Wer braucht denn schon Priester, wenn er seine Anweisungen direkt von ganz oben kriegen kann? Und mal ehrlich: Wir müssen nur einen kleinen Blick nach Rom werfen, um zu wissen, dass den geistlichen Herrschaften sowas nicht schmecken kann. Sehen Sie? Daher das Gebot. So haben sich vor ein paar tausend Jahren die Priester ihren eigenen Gott vom Hals geschafft. Er durfte noch schön als Maskottchen herhalten, aber wo's langgeht, das haben sie bestimmt.

Wobei er ja noch Glück hatte. Seine Kollegen und sogar seine Frau haben sie komplett abgeschafft. Alle Anbetung verboten, die Tempel geschleift, und irgendwann existierten die alten Götter nicht mal mehr. Na gut, Michel und Gabriel hat man am Leben gelassen, aber zu Laufburschen degradiert. Das nannten sie dann hochtrabend Erzengel.

Ganz schöne Schweinerei, was? Aber es kommt noch schlimmer: Dieser Gott wollte partout nicht nach der Pfeife seiner Priester tanzen. Erstgeborene umbringen, Städte in Schutt und Asche legen, das alles war ihm zuwider. Also was haben sie gemacht? Sich einen neuen Gott geschaffen, der mehr ihrem Geschmack entsprach. Das war ein Früchtchen, kann ich Ihnen sagen ... Wie? Oh ja, ich bin ihm begegnet, und nicht nur ihm. Spaß war das keiner, aber wir haben's überlebt. Die Priester mögen den alten Gott abserviert haben, aber das Volk hatte ihn nicht vergessen, und am Ende ... ach, nun rede ich aber echt zu viel.

Sorry, mehr kann ich nun wirklich nicht preisgeben. Außerdem muß ich jetzt los. So einen kleinen, diebischen Buchhalter einsacken.

 

Ach ... eines noch: Haben Sie schon mal drüber nachgedacht, warum es im zweiten Gebot heißt „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ und das vierte sagt „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen“? Da steht nirgends „Ich bin der einzige Gott auf dieser Welt“. Merken Sie was?

Jetzt muss ich aber. Schönen Tag noch!

 

Wiedersehen macht Freude

 

Ernst Klemmer, gutaussehend, sechsunddreißig, Buchhalter, betrat den McDonald’s im Münchner Hauptbahnhof kurz nach halb neun Uhr morgens. Der Zug nach Wien war ihm gerade vor der Nase weggefahren, und der nächste würde erst in einer knappen Stunde gehen. Genug Zeit also für ein kleines Frühstück. Er war ja nicht in Eile. Vor morgen früh würde ihn wohl kaum jemand vermissen.

Ausnahmsweise war wenig los. In einer Ecke saßen einige Jugendliche, die in ihren Ferien offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als sich bereits zu Tagesbeginn mit Fritten und Cola vollzustopfen; ansonsten jedoch war der Laden gähnend leer.

Klemmer holte sich sein Frühstück und nahm Platz. Er war kein Freund von Schnellrestaurants, aber im Moment brauchte er einfach etwas im Magen. Wenn er erst mal in Wien war, würde er sich in aller Ruhe einen Verlängerten und ein paar Kipferl gönnen. Die Kaffeehauskultur dieser Stadt hatte ihm schon immer behagt. Wien war nicht die schlechteste Stadt, um noch ein paar Angelegenheiten zu ordnen, bevor er Europa verließ.

Während er versuchte, von dem natürlich viel zu heißen Kaffee einen Schluck zu nehmen, betrat eine süße Asiatin mit wunderschönen langen, schwarzen Haaren das Restaurant, holte sich ebenfalls ein Tablett mit Kaffee, Rührei und einem Muffin und setzte sich mit einem bezaubernden Lächeln an den Nachbartisch direkt ihm gegenüber. So was Schnuckliges aber auch! Klemmer schenkte ihr ein strahlendes Lachen, während er das Zuckerpäckchen aufriss und in seinen Becher leerte. Irgendein großer Kerl mit einer Tasse Kaffee kreuzte genau seine Blickachse und verzog sich an einen Tisch in Ernsts Rücken. Als er die Hübsche wieder sah, hatte diese ein Journal in der Hand und sich in einen Artikel vertieft. Schade, so ein kleiner Flirt hätte ihm den Abschied von München angenehmer gemacht.

 

Neun Uhr, der Kaffeebecher war leer, und der Magen hatte erst mal seinen Willen bekommen. Ernst beschloss, in aller Ruhe wieder nach oben zu gehen und am Bahnsteig auf den Zug zu warten. Er erhob sich, nahm das Tablett und steuerte auf den Sammelwagen zu. Da legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. „Herr Klemmer?“

Ernst reagierte blitzschnell. Er schlug mit seinem Tablett nach hinten, traf wohl auch, dem Fluch nach zu urteilen, und sprintete los. Die hübsche junge Frau sprang auf, offenbar erschrocken von dem plötzlichen Tumult, und machte Anstalten einzugreifen. Wollte sie ihm etwa helfen? Oh je, Mädchen, da übernimmst du dich aber, dachte er noch, da trat sie schon direkt in seinen Weg. Er schlug einen Haken, um ihr auszuweichen, fühlte eine Berührung am Arm, und im nächsten Moment wirbelte die Welt um ihn herum. Er sah den Boden, dann seinen Verfolger – so von unten sah der Kerl noch viel größer aus –, die Decke und schließlich einen Haufen Sterne, als er mit dem Kreuz aufschlug. Jemand hielt ihn am Arm fest, drehte ihn auf den Bauch und drückte ihm das Knie in den Rücken, während sein Handgelenk schmerzhaft verdreht wurde.

Ein paar sauber geputzte schwarze Lederschuhe Größe 45 oder darüber stand vor seinem Gesicht, und die Stimme, die ihn gerade schon angesprochen hatte, ertönte: „Keine Aufregung, Herrschaften, alles in Ordnung. Wir sind Privatdetektive, und dieser Herr hier wird von unserem Kunden dringend zu einem Gespräch gebeten. Bitte genießen Sie weiterhin Ihr Frühstück, es ist schon alles vorbei.“ Die ständige Berieselung mit Ami-Krimis machte sich bemerkbar. Alle Anwesenden wandten sich tatsächlich einfach ab und ignorierten das weitere Geschehen. Das hätten genauso gut Mafiosi sein können, die ihn vor den nächsten Güterzug werfen wollten, aber dass mal einer auf die Idee kam, trotz der kleinen Ansprache die Bullen zu rufen ... Fehlanzeige. Ach, die Welt ging vor die Hunde.

Der Träger der Lederschuhe beugte sich zu ihm herunter. „Herr Klemmer, wären Sie so freundlich, uns nun ohne viel Aufhebens zu begleiten? Andernfalls müssten wir Sie den Herren von der Polizei übergeben, und das wäre nicht nur unangenehm für unseren Auftraggeber, sondern ganz besonders auch für Sie.“

„Ist recht, ich komme mit“, presste Ernst mühsam hervor. Seine momentane Lage erlaubte ihm leider weder Widerstand noch längere Ansprachen.

Sein Handgelenk wurde losgelassen, das Knie in seinem Rücken verschwand, dann packte der große Kerl – der sich als sein kaffeetrinkender Nachbar entpuppte – ihn am Jackett, und im nächsten Moment stand Ernst auch schon wieder auf den Füßen. Er sah sich um, wer ihn da so unerwartet außer Gefecht gesetzt hatte, und staunte. Die hübsche, zierliche Asiatin lachte ihn fröhlich an. „Sie?“, fragte er verdattert.

„’Tschuldigung. Ich lege attraktive Männer wirklich ungern auf diese Weise flach, aber Sie wollten uns leider ausbüxen. Ich hoffe, Sie sind mir nicht zu böse, ja?“

Wie konnte er einem so zuckersüßen Lächeln widerstehen? Noch dazu bei diesem Kompliment und der eindeutigen Anspielung. Er schaute etwas schief zurück. „Schon gut. Ich werde es überleben.“

Flankiert von den beiden Detektiven trottete er in Richtung Treppe und hinauf ins Erdgeschoss. Zu seinem großen Unbehagen führten sie ihn geradewegs zu den Schließfächern. Sich dumm zu stellen würde ihm nichts nützen, er wurde zielsicher direkt zum richtigen Fach geleitet.

„Holen Sie den Schlüssel freiwillig raus, oder muss ich Sie durchsuchen?“, brummte ihn der Kleiderschrank neben ihm an, der seit Minuten mit dem Versuch beschäftigt war, mit einem Taschentuch die Flecken aus seinem Hemd zu wischen, die Ernsts Frühstücksreste dort hinterlassen hatten.

Ernst schielte zu der jungen Frau. „Wenn, dann doch bitte lieber Ihre Kollegin, ja?“

Die drohte spielerisch mit dem Finger. „Das könnte Ihnen so passen. Aber wenn ich im Dienst bin, muss das Vergnügen hinten anstehen. Nein, nein, ich würde tun, was mein Chef sagt. Ehrlich, ist besser so.“

Ergeben seufzend fischte er den Schlüssel heraus und reichte ihn dem Mann. Der öffnete das Fach, holte die Reise- und die Laptop-Tasche heraus und nahm ihn dann wieder sanft, aber unmissverständlich am Arm. „Nun mal los, mein Wagen steht draußen.“

Kurz darauf saß Ernst Klemmer auf dem Rücksitz eines Audi, neben sich zu seinem Leidwesen den großen Detektiv, während die Kleine am Steuer saß und sich mit beängstigendem Tempo durch den Münchner Stadtverkehr schlängelte.

„Worum geht’s eigentlich, Herr ...?“

„Odensen. Kurt Odensen. Und stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Sie wissen, worum es geht. Ihr Boss wartet schon sehnsüchtig darauf, ein paar Takte mit Ihnen zu reden.“

 

*

 

Gegen zehn Uhr saß Ernst im Büro des Detektivs und lauschte dem Tuut - Tuut, das aus der Freisprechanlage tönte, dann abrupt abbrach, als jemand abhob. „Mahler.“ Ernsts Chef. Bislang hatte er noch die Fassung bewahrt, doch bei dem spröden Klang der Stimme „Gottes“, wie der Boss hinter dessen Rücken gerne genannt wurde, sank ihm das Herz in die Hosen.

„Herr Mahler, Odensen hier, guten Morgen!“

„Haben Sie ihn?“ Mahler hielt sich nie mit Höflichkeiten auf.

„Er sitzt in voller Lebensgröße hier in meinem Büro.“ Odensen wandte sich ihm zu. „Na, Herr Klemmer, möchten Sie Ihrem Chef nicht einen guten Morgen wünschen?“

Schadenfroh war der ja gar nicht. Ernst schenkte ihm einen giftigen Blick und räusperte sich. Seine Kehle war in Sekundenschnelle ausgedörrt. „Ähm, ja, guten Morgen, Herr Mahler. Können Sie mir vielleicht erklären, was diese Herrschaften von mir wollen?“

Mahler schwieg eine Ewigkeit von drei oder vier Sekunden, dann drang ein heiseres Lachen aus dem Lautsprecher. „Klemmer, Sie sind arrogant, pflichtvergessen und ein Betrüger, aber dumm sind Sie nicht. Also tun Sie nicht so. Wo ist das Geld?“

Welches Geld? Die Frage lag ihm auf der Zunge, aber er schluckte sie rechtzeitig hinunter. Das Spiel war aus, der Boss wusste Bescheid. Ab jetzt konnte er sich nur noch in Schadensbegrenzung versuchen.

„Alles noch da. Auf diversen Konten. Ich kann es wiederbeschaffen.“

„Das will ich hoffen. Sie können noch einigermaßen glimpflich aus der Sache rauskommen. Sie wissen so gut wie ich, welchen Schaden mein Ruf nähme, wenn dieser Vorgang an die Öffentlichkeit dringen sollte. Also stelle ich Sie vor die Wahl: Sie kooperieren, und zwar bedingungslos, und geben alles zurück, was Sie unterschlagen haben. Dafür werden sie fristlos gefeuert. Oder Sie unterschätzen mich ein weiteres Mal, versuchen noch einen einzigen Trick, und landen für Jahre hinter Gittern. Sie kennen meinen Einfluss auf die Staatsanwaltschaft. Ich gebe Ihnen fünf Sekunden.“

Ernst brauchte nur eine. „Ich kooperiere.“

„Odensen, bringen Sie den Kerl zu mir! Jetzt.“

Odensen avisierte ihre Ankunft in Frankfurt in etwa fünf Stunden und legte auf. „Was für ein reizendes Kerlchen. Da freut man sich doch aufs Wiedersehen, oder?“

Ernst seufzte. „Oh ja. Es war eine immerwährende Wonne, für ihn zu arbeiten, glauben Sie mir. Aber das hat sich ja nun erledigt.“

„Vielleicht hätten Sie einfach kündigen und bei einer anderen Firma anfangen sollen?“, schlug Odensens hübsche Kollegin vor. „Wäre wesentlich weniger riskant gewesen, als Ihren Chef und seine Kunden um – wieviel? – sieben Millionen zu erleichtern und dann ausbüxen zu wollen.“

Er zuckte mit den Schultern. Die Summe stimmte, anscheinend hatten sie wirklich alles entdeckt. „Naja, aber wenn es geklappt hätte, hätte ich in zwei Wochen schon irgendwo am Strand liegen, mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und Cocktails schlürfen können. Und das für den Rest meines Lebens. Wenn ich fragen darf: Wie haben Sie mich gefunden? Der Boss dachte doch, ich wäre in der Stuttgarter Niederlassung.“

Odensen lachte. „Sie meinen, er sollte es denken. Aber wissen Sie, so praktisch das Telephonieren übers Internet auch ist, von überall aus und sogar mit dem Laptop, alles ist nachverfolgbar. Herr Mahler hat Ihrem Anruf heute früh nicht getraut. Also hat er erst mal bei den schwäbischen Kollegen nachgefragt, die ihm sagten, dass niemand Sie dort gesehen hat. Die Computerfritzen haben dann schnell rausgefunden, dass das Gespräch über Ihren UMTS-Stick gelaufen war. Der wiederum lässt sich wie jedes normale Handy orten. In München, zufällig genau da, wo Sie wohnen.“

Handyortung? Ernst glaubte nicht, dass ein Privatdetektiv so etwas auf legalem Wege tun konnte, doch darüber brauchte er sich nun nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. In einem Prozess wäre es vielleicht hilfreich gewesen, aber den hatte er ja gerade eben abgewendet. Und sein Chef ... Der lebte ohnehin eher nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“.

Der Ermittler fuhr derweil fort. „Tja, in dem Augenblick, als wir da ankamen, haben Sie mit Gepäck das Haus verlassen und das Taxi bestiegen, und wir sind Ihnen natürlich gefolgt. Sobald klar war, wohin die Reise geht, haben wir Ihren Chef angerufen und nach Anweisungen gefragt. Den Rest kennen Sie.“

„Und wie lange sind Sie schon hinter mir her?“

„Gute vier Wochen. Seit Ihr Boss Verdacht geschöpft hat. Wir haben nur darauf gewartet, dass seine Experten die Unregelmäßigkeiten in der Münchner Niederlassung genau untersucht und die nötigen Beweise gesammelt hatten. Eigentlich sind Sie damit noch gar nicht ganz fertig, aber ihre Reisepläne und die kleine Vertuschungsaktion waren dann Beweis genug. Und inzwischen haben Sie’s ja eh schon zugegeben. So, dann machen wir uns mal auf nach Frankfurt.“

 

*

 

Gerade als Kurt mit den beiden anderen das Büro verlassen wollte, klingelte es an der Tür. Seine Assistentin öffnete einem Mann Mitte vierzig, der sie freundlich anlächelte, um sie herumkurvte und schnurstracks auf ihren Chef zumarschierte. „Gurt! Mai Gudsdor! Nu? Wie geeds?“

Kurts überraschtes Gesicht begann zu strahlen. „Fritz! Alte Bullensau!“ Er packte die ihm entgegengestreckte Hand und schüttelte sie erfreut. „Was zum Teufel machst du denn hier?“

„Och, ich gugge einfach mal so vorbei. Komme ich ungelegen?“

„Im Moment leider ja. Muss meinen Fang abliefern.“ Er nickte zu Klemmer hinüber. „Wie lange bist du in der Stadt?“

„Nur ein paar Tage. Ich dachte, ich sehe mir mal München an und erschreck den Privatschnüffler ein bisschen.“

Kurt lachte. „Das ist dir gelungen. Platzt hier rein und quatscht einen breit auf Sächsisch an. Vielen Dank übrigens, dass du jetzt wieder anständig redest.“

„Bevor du mir mit Bayrisch kommst ...“ Fritz schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Magst du mich nicht der bezaubernden Lotusblüte vorstellen, die mich eingelassen hat?“

„Ja natürlich. Li, das ist Fritz Schmaißer, Kripo-Beamter aus Leipzig. Hab ihn bei meinem ersten großen Fall etwas genervt, und seitdem quält er meine Trommelfelle zur Strafe gerne mal am Telephon mit seinem Kauderwelsch. Fritz, das ist Wen Li – Wen ist der Familienname –, meine Assistentin.“

Li gab Fritz die Hand. „Hab schon von Ihnen gehört. Grüß Gott, Herr Schmaißer.“

„Fritz, bitte. Grüß Gott auch, junge Frau.“ Er wandte sich wieder an Kurt. „Wie lange dauert denn die Lieferung?“

„Wir müssen bis nach Frankfurt. Das sind gute vier Stunden Fahrt, und dann wieder zurück, also wahrscheinlich wird es sehr später Abend.“

Fritz war sichtlich enttäuscht. „Schade, dann wird es wohl nichts mit dem Bierchen bei Otto heute Abend. Ich dachte, ich könnte mir die berüchtigte Kneipe endlich mal persönlich anschauen. Aber ich bin ja noch ein paar Tage da. Dann vielleicht morgen?“

Bevor Kurt antworten konnte, legte ihm Li die Hand auf den Arm. „Warte mal, ich hab da eine Idee. Du brauchst ja nicht bis nach Frankfurt mitkommen.“

Odensen schüttelte den Kopf. „Nein, Süße, alleine lass ich dich den nicht kutschieren. Sorry, Herr Klemmer, Sie sind sicher kein gefährlicher Verbrecher, aber Sie könnten immer noch versuchen zu fliehen. Das wäre erstens peinlich und zweitens teuer für uns.“

Li wehrte ab. „Wo denkst du hin? Ich will ja gar nicht alleine fahren. Aber wie wäre es, wenn wir deine Freunde in Nürnberg fragen, ob sie uns einen Mann zur Begleitung geben können? Wir fahren nach Nürnberg, und da steige ich mit Klemmer um in einen Wagen von WODAN Guards. Vielleicht hat ja Thorben Zeit, ansonsten halt einer seiner Kollegen. Die machen uns doch sicher einen Sonderpreis. Und du bist in vier oder fünf Stunden schon wieder hier.“

Kurt überlegte einen Moment. Einerseits waren das unnötige Ausgaben, die er Mahler nicht in Rechnung stellen konnte, andererseits freute er sich, Fritz nach anderthalb Jahren wiederzusehen und ein Bierchen mit ihm zu trinken. Oder auch zwei.

„Na gut, ich ruf mal an.“

 

*

 

Eine halbe Stunde später befanden sich Kurt und Li mit Klemmer auf dem Weg nach Nürnberg. Das lag sowieso auf der Strecke nach Frankfurt, bedeutete also nicht mal einen Umweg. Kurt hatte seinen alten Freund Thorben persönlich erreicht, und dieser hatte sich spontan bereit erklärt, Li zu chauffieren. Ganz ohne Rechnung. Er hatte gerade nichts zu tun, Kurt war ein Freund des Hauses, und die Aussicht auf eine kleine Spazierfahrt mit einer süßen Schnecke, wie Thorben es formulierte, machte ihm das Ganze gleich zum Vergnügen. Allerdings war kein Auto von WODAN Guards greifbar, deshalb würden sie die ganze Strecke in Kurts Audi zurücklegen müssen, während dieser mit dem Zug wieder von Nürnberg nach München zurückfuhr.

 

Währenddessen machte sich Fritz auf zum Stadtbummel. Er sollte gegen siebzehn Uhr wieder am Büro sein und wollte sich bis dahin ein wenig München ansehen.

 

*

 

Der große, kräftige Mann fuhr sich mit der Hand durch die rotblonden Locken und sah fluchend auf seine Uhr. Es war bereits nach vier. Schon dreimal hatte er nun bei diesem Odensen geklingelt. Anscheinend war wirklich niemand da. Er verließ das Haus und sah sich argwöhnisch nach allen Seiten um, bevor er in Richtung U-Bahn hastete und in der Menge untertauchte.

 

*

 

Punkt fünf Uhr nachmittags drückte Fritz Schmaißer auf die Klingel, neben der in edlem Messing ein Schild hing „Detektei Odensen – Nachforschungen aller Art“. Nicht schlecht, der Junge hatte sich gemacht. Letztes Jahr war er noch als erfolgloser Möchtegern-Detektiv bei Fritz aufgetaucht, der sich finanziell nur mühsam über Wasser hielt. Nun residierte er schon in einem schmucken Büro, hatte eine umwerfend hübsche Assistentin und Kunden, die sogar bis aus Frankfurt zu ihm kamen. Fritz war aufrichtig neidisch.

Kurt öffnete die Tür und strahlte ihn an. Statt eines feinen Anzugs und Oberhemds trug er nun Jeans und T-Shirt. „Fritz! Pünktlich wie die Maurer. Naja, Beamter halt. Wollen wir gleich losziehen oder kommst du noch auf einen Kaffee rein? Ist ja noch a bissl früh fürs Abendessen.“

Eine Tasse in den Händen saß Fritz ein paar Minuten später auf einem gediegenen Ledersofa und sah sich ausgiebig um. Helles, freundliches Büro, großer Schreibtisch aus Nussholz, teurer Teppich, alles in allem, wie man so schön sagte, gehobenes Ambiente. Er nickte anerkennend. „Nicht schlecht, die Hütte. Scheinst ja wirklich dick im Geschäft zu sein.“

Kurt kuckte geschmeichelt und tat bescheiden. „Ach, na ja, seit die Sache mit den Attentaten letztes Frühjahr durch die Presse ging, kamen sie schlagartig alle wie von selbst zu mir. Nichts mehr mit fremdpoppenden Weibern, plötzlich sollte ich entlaufende Millionärsbälger suchen, irgendwelchen Stars und Sternchen die Stalker vom Hals schaffen oder eben diebische Buchhalter wie den von heute früh schnappen. Lauter zahlungskräftiges Publikum, da bleibt dann schon einiges hängen. Die Aufträge sind so reingeprasselt, dass ich heilfroh war, als Li vor einem Jahr vor der Tür stand und sich bei mir beworben hat. Selbst zu zweit bewältigen wir die Arbeit kaum. Du hast uns grad in einer ganz ruhigen Woche erwischt, der eine Fall ist mit dem Fang heute abgeschlossen, und wir können mal ein paar Tage durchatmen. Meistens ist mehr los.“

Kurt konnte sich gar nicht vorstellen, wie Fritz sich freute, das zu hören. Aus verschiedenen Gründen, aber das wollte er nicht sofort aufs Tapet bringen.

„Das klingt ja wirklich super. Dann war das heute früh ein Buchhalter? Was hat er angestellt?“

„Seinen Chef und ein paar Kunden um satte sieben Milliönchen geprellt. Hat die Kohle über Monate oder vielleicht sogar Jahre abgezweigt und auf diverse Konten in der Schweiz und sonst wo verfrachtet. Vor sechs Wochen hat er wohl einen dummen Fehler gemacht, und einer seiner Kollegen ist aufmerksam geworden. Da der Typ hier in der Münchner Zweigstelle der Kanzlei sitzt, hat der Chef uns drauf angesetzt. Währenddessen haben seine eigenen Leute die Spuren der Transaktionen weiterverfolgt. Es war pures Glück, dass er jetzt noch aufgeflogen ist, er wollte nämlich so oder so Schluss machen und verduften. Wenn er diesen einen, kleinen Fehler nicht gemacht hätte, säße er jetzt schon in Wien beim Kaffeetscherl und demnächst irgendwo in der Südsee. Adios monedas.“

Fritz schnalzte mit der Zunge. „Na, so ä Schlingl. Jetzt versteh ich auch, warum du einen Kunden aus Frankfurt hast. Münchner Zweigstelle, das erklärt’s. Und die süße Li arbeitet also schon ein Jahr für dich, ja?“ Ungefähr zu der Zeit war der Telefonkontakt eingeschlafen, und sie hatten sich nur ab und an mal kurze Grüße per Mail gesandt.

„Jupp. Sie stand einfach vor meiner Tür. Meinte, sie hätte mich damals bei der Aktion in Eberfing gesehen – ich hab dir ja von dem Anschlag erzählt – und wollte bei mir anheuern. Zuerst war mir so ein zartes Mädel ja etwas suspekt in dem Gewerbe. Aber erstens kennt sie sich klasse mit Computern aus, und zweitens macht sie seit Jahren Tae Kwon Do und Zen Sen Jitsu, alias Allkampf. Mit der Kleinen legt sich keiner ungestraft an. Da hab ich ihr eine Chance gegeben und das bis heute nicht bereut. Ganz gewieftes Ding.“

„Nicht schlecht. Und verdammt hübsch ist sie dazu auch noch.“ Fritz verzog das Gesicht, als sein Magen lautstark nach dem Abendessen verlangte. „Ups! Das erinnert mich daran, dass ich seit dem Frühstück nur ein paar belegte Brote hatte.“

Kurt lachte und erhob sich. „Na, dann sollten wir uns mal auf den Weg machen. Was hältst du vom Libanesen?“

Fritz stand ebenfalls auf. „Noch nie probiert, aber ich bin mutig.“

„Wir wollen doch nicht, dass du ganz vom Fleisch fällst, oder?“ Kurt tätschelte scherzhaft Fritzens stattlichen Bauch und schob seinen Besuch aus der Tür.

 

Auf dem Weg zur U-Bahn kam ihnen ein großgewachsener Mann mit rötlicher Mähne und Schnauzbart entgegen, der einen recht gehetzten Eindruck machte. Kurt sah ihm kurz stirnrunzelnd hinterher, wandte dann aber seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gast zu. Auch Fritz’ Instinkt schlug kurz an, meldete, dass an dem Kerl etwas eigenartig war, doch momentan hatte er wirklich anderes im Kopf.

 

*

 

Der Mann mit den rotblonden Haaren trat wütend gegen die Tür. Auch dieses Mal war niemand da. Wo trieb der verdammte Detektiv sich herum? Hier warten konnte er nicht, das Telephon schied aus, es blieb nur, in Bewegung zu bleiben und immer wieder hier aufzutauchen, bis er den Kerl erwischte. Er tauchte abermals in den Schwabinger Gassen unter.

 

*

 

„Sag mal, hast du nicht mal geraucht?“, fragte Fritz. „Du hast dir den ganzen Abend keine angezündet.“

Kurt winkte ab. „Hör mir auf! Hab den Dreck vor einem Dreivierteljahr aufgegeben, aber bis ich die Sucht wirklich los bin, das dauert noch. Also erinner mich bloß nicht dran, okay?“

„Okay“, lachte Fritz. „Kenn ich selbst. Man fragt sich zwei, drei Jahre lang, warum man überhaupt so blöd war, damit anzufangen.“

„So isses.“ Kurt schob sich noch ein Falafel in den Mund. „Jetzt haben wir aber lange genug über mich geredet. Wie steht’s bei dir? Inzwischen wieder ein paar Mörder verknackt?“

Fritz druckste ein wenig rum. „Hätte ich gerne. Aber da war mir leider jemand im Weg.“

„Wie, im Weg?“

„Naja, ich wurde an meiner Arbeit gehindert. Wir hatten vor einem Dreivierteljahr so einen Fall, da hat eine Bande Nazis einen Fidschi totgedroschen.“

„Einen was?“

Fritz verzog das Gesicht. „Einen Asiaten. Wenn man ständig mit Typen zu tun hat, die dazu Fidschi sagen, das färbt irgendwann ab. Saublöd, ich weiß.“

Kurt nickte. „Lass das mal nicht Li hören! Sie ist zwar nicht grad überempfindlich, aber sowas muss ja ned sein. Also, da hat das braune Pack einen umgebracht.“

„Ja. Ganz hässliche Sache. Und jedes Mal, wenn wir uns einen Verdächtigen greifen wollten, war der entweder verschwunden oder wir wurden schon auf dem Kommissariat von einem schmierigen Winkeladvokaten empfangen, der den Kerl in Null Komma garnix wieder rausgehauen hat. Irgendwann ist mir dann klar geworden, dass da einer seine schützende Hand über das Gesindel hält. Und zwar jemand mit bestem Einblick in unsere Ermittlungen.“

Fritz trank seinen Tee aus. „Ums kurz zu machen, diese verfluchten Drecksäcke haben Freunde in den höchsten Ebenen von Staatsanwaltschaft und Gerichten. Politik sowieso. Als ich versucht hab, was dagegen zu tun, haben sie mich kaltgestellt. Ich wurde versetzt, dann haben sie mir ein psychologisches Gutachten an den Hals gehängt, das mich als ausgebrannt abgestempelt hat, und wollten mich auf mehrere Wochen Zwangsurlaub schicken. Das war letzte Woche. Da hab ich dann hingeschmissen.“

„Du hast gekündigt? Als Beamter auf Lebenszeit?“ Kurt konnte zwar einerseits den Frust seines Freundes verstehen, und er bewunderte auch dessen Anstand und Mut, aber eine absolut sichere Stelle einfach aufzugeben, das erschien ihm schon als ein zu drastischer Schritt. „Was sagt denn deine Frau dazu?“

„Ach, die.“ Fritz winkte frustriert ab. „Die hat mich vor drei Monaten verlassen. Sie hatte immer schon Schwierigkeiten mit meinem Beruf. Die Dienstzeiten, der Stress, die Alpträume, das hat sie auch sehr belastet. Als dann auch noch dieser ganze Ärger dazu kam, da hat sie es nicht mehr ausgehalten. Fritz, hat sie gesagt, ich achte dich sehr für deine Haltung, ich verstehe, dass du nicht anders kannst, aber ich halte es nicht mehr aus. Und weg war sie.“

Kurt war sprachlos. Fritz hatte innerhalb eines Vierteljahres Frau und Job verloren, praktisch alles, was sein Leben ausmachte, nur, weil er Ehre im Leib hatte. Was für eine Scheißwelt! Er holte tief Luft, öffnete den Mund ... und schloss ihn wieder. Was sollte er auch sagen?

 

*

 

Nach dem Essen spazierten sie gemächlich durch Schwabing zu Ottos Ecke, Kurts alter Stammkneipe. Kurt zeigte Fritz auf dem Weg das Haus, in dem er früher – vor gerade mal anderthalb Jahren – gelebt und sein Büro gehabt hatte, die Stelle, an der er mit seinem damaligen Team von den Rockern überfallen worden war, und sogar den Lidl, in dem er seinerzeit hatte einkaufen müssen.

Fritz musste unwillkürlich lachen, als Ottos Kneipentür ganz wie in Kurts Erzählungen quietschte und tatsächlich ein kurzes Tippen an die Stirn genügte, um Otto Kurts Bestellung – ein Franziskaner Hefeweizen – mitzuteilen. Nur den alten Stammplatz im hintersten, dunklen Winkel hatte Kurt nicht behalten, da der Detektiv jetzt ja nur noch alle paar Wochen herkam. Sie suchten sich einen Tisch, und Sekunden später stand der dicke Wirt da, setzte Kurt seine Weiße vor und sah Fritz fragend an.

„Ähm ... ein Pils, bitte.“ Fritz wartete, bis Otto außer Hörweite war, und grinste Kurt an. „Nu, das ist wirklich nicht grad Luxusklasse, was?“

„Aber gut genug. Er spült die Gläser sauber und lässt einen in Ruhe, mehr verlange ich von einer Kneipe nicht.“ Kurt blickte ihn ein paar Augenblicke schweigend an. „Sag mal“, fuhr er dann fort, „wenn du jetzt so ganz ungebunden bist ... hast du eventuell schon einen Umzug in Betracht gezogen? Ich weiß, das wäre ein Kulturschock, von den barbarischen Provinzen mitten in die bayrische Hochkultur, aber ich denke, du könntest es verkraften.“

Fritz versuchte, sich seine Erleichterung darüber nicht anmerken zu lassen, dass Kurt selbst den Vorschlag machte, und überspielte das Ganze mit einem Witz. „Soll das ein Heiratsantrag werden, mein Süßer?“

„Depp.“

„Gleichfalls, danke.“

„Also? An einem Job interessiert oder nicht?“

„Tja ... wenn du mich so fragst ...“ Ach, warum sollte er es verhehlen? „Mensch, Kurt! Das war meine hochfliegendste Hoffnung. Zur Polente kann ich nicht mehr zurück, aber das Ermitteln liegt mir nun mal im Blut, seit ich denken kann. Also, nicht, dass du mich nur aus Mitleid anheuerst, ja? Das könnte ich nicht verknusen.“

„Red keinen Scheiß, Fritz! Eben, weil du ein Vollblutermittler bist, mit reichlich Kripo-Erfahrung, kann ich dich wirklich gut brauchen. Ich hab dir schon gesagt, dass wir in Arbeit ersaufen, die kleine Li und ich. Sie ist ein ganz gewitztes Mädel, ein As am Computer und kann auch mal ordentlich hinlangen, aber Erfahrung, die fehlt ihr halt noch. Also, Hand drauf?“

 

*

 

Während Kurt seinen neuen Mitarbeiter per Handschlag begrüßte, parkte die kleine Li den Audi in seiner Garage. Die Fahrt war weitgehend ereignislos verlaufen, abgesehen von einem etwas pikierten Herrn Mahler. Der schien es ein wenig unter seiner Würde zu finden, dass sein diebischer Angestellter nur von einer Assistentin abgeliefert wurde und nicht vom Chef persönlich. Li hatte sich eine Geschichte über einen anderen, wichtigen Fall aus den Fingern gesogen und innerlich über so viel Arroganz gelacht.

Wie üblich hatten Thorbens ständige Witze und zweideutigen Bemerkungen die Fahrt recht kurzweilig gestaltet. Der kompakte Bodyguard hatte ein derart einnehmendes Wesen, und Li war ja nun auch nicht auf den Mund gefallen, dass selbst der arme Ernst Klemmer trotz des für ihn traurigen Anlasses der Fahrt ständig in schallendes Gelächter ausgebrochen war.

Kurts Wohnung und Garage befanden sich nur knappe dreihundert Meter von seinem Büro entfernt, und so hüpfte Li noch mal kurz dort rein, um die Schlüssel ihres eigenen Wagens zu holen. Jetzt noch bis raus nach Huglfing fahren, da war sie irgendwann nach elf zu Hause. Zum Glück war Kurt kein Stechuhr-Fanatiker. Sie würde morgen einfach erst um zehn aufkreuzen, eine Frau brauchte schließlich ihren Schönheitsschlaf.

Sie schloss die Bürotür auf, machte gar nicht groß Licht, sondern langte einfach um die Ecke ans Schlüsselbrett. Die kleine Ente an ihrem Schlüsselanhänger war leicht zu erfühlen. Schon wollte sie die Tür wieder zuziehen, da spürte sie jemanden hinter sich. Bevor sie auch nur zu irgendeiner Abwehrbewegung ansetzen konnte, wurde sie an den Handgelenken gepackt und in das dunkle Büro geschoben.

All ihr jahrelanges Training, all ihre Reflexe versagten. Wie Stahlklammern hielten die Hände des Eindringlings ihre Arme fest. Das Einzige, was ihr durch den Kopf ging, war die Angst vor einer Vergewaltigung. Der Angreifer drückte die Tür hinter ihnen zu, und sie stand in der Finsternis, alleine mit ihm, seinen schweren Atemzügen und ihrer eisigen Furcht.

Heißer Atem strömte an ihrem Ohr entlang. „Wo ist er?“

„Wer?“

Der Druck auf ihre Handgelenke wurde schmerzhaft verstärkt. „Odensen, wer sonst?“

„Weiß ich nicht. Aua!“ Er hatte noch fester zugedrückt.

„Ich habe keine Zeit für Spielchen, Mademoiselle. Ich brauche Odensen, und zwar dringend. Also, wo ist er?“

Mademoiselle? Ein Franzose? „Ich sage doch, ich weiß es nicht. Er wollte mit einem alten Bekannten etwas essen und danach noch in eine Kneipe gehen. Aber wohin, das hat er nicht gesagt.“ Nun ja, zumindest, wo sie essen wollten hatte tatsächlich noch nicht festgestanden, insofern war das nur eine halbe Lüge.

Mit einem Mal wurde ihr linkes Handgelenk losgelassen und sie hörte, wie etwas über die Tapete strich. Vermutlich suchte der Kerl den Lichtschalter. Das war ein Fehler. In dem Moment, als er ihr klargemacht hatte, dass nicht sie sein Ziel war, hatte sie ihre Fassung zurückgewonnen. Glaubte der Kerl etwa, dass sie sich mit links nicht verteidigen konnte? Irrtum. Das Licht flammte auf, zwang beide, für einige Sekunden die Augen zuzukneifen. Im selben Moment wirbelte sie herum, packte mit der Linken seine Hand, die ihre Rechte festhielt, und setzte zu einem fiesen Hebel an, der jeden in die Knie zwang, ganz egal, wie groß und stark er war.

Außer diesem Kerl. Er war nicht im Geringsten von ihrer Technik beeindruckt, langte einfach wieder mit der zweiten Hand zu und nahm sie erneut in seinen Schraubstockgriff.

Stöhnend hielt sie still, um sich nicht selbst durch ihr Gezappel noch mehr Schmerzen zuzufügen, und wartete, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann nahm sie das Gesicht ihres Gegners wahr und erstarrte vollkommen. Der durchdringende Blick seiner nebelgrauen Augen sog sämtliche Kraft, allen Kampfgeist aus ihr heraus. Dieser Mann schien direkt hinein in ihre Seele zu sehen und selbst dort, tief im Inneren, alles zu lähmen.

„Ich schätze starke Frauen sehr, Mademoiselle. Jedoch habe ich im Moment leider wirklich keine Zeit dafür. Ich wiederhole es also noch einmal. Ich brauche Odensen sehr dringend. Verraten sie mir jetzt endlich, wo er ist!“

Sie konnte es nicht zurückhalten. Ohne ihr Zutun verließen die Worte Ottos Ecke ihren Mund.

„Merci beaucoup.“

Der Fremde ließ sie los, und sie stand einfach nur da und sah seinen roten Locken hinterher, als er aus der Tür stürzte. Noch Minuten danach konnte sie sich nicht zur kleinsten Bewegung aufraffen, bis der Bann endlich brach und sie an Ort und Stelle zu Boden sank.

 

Erst langsam kehrte die Kraft in Lis Körper zurück, und noch langsamer kamen ihre Gedanken wieder in Gang. Wer war der Kerl gewesen? In Größe und Statur hatte er es problemlos mit Kurt aufnehmen können, doch selbst der wäre gegen ihre Kampfkunst-Erfahrung nicht derart gefeit gewesen. Dazu dieser Blick, der sie wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange hatte erstarren lassen! Und dann ...

Sie keuchte vor Schreck. Dann hatte sie ihm verraten, wo Kurt zu finden war.

Ohne sich lange mit Selbstvorwürfen aufzuhalten – der Verrat war ja nicht freiwillig geschehen – schnappte Li sich das Telephon und drückte auf die Kurzwahltaste für Kurts Handy.

 

*

 

„Na? Fühlst du dich erleichtert?“ Fritz schmunzelte, als Kurt vom Klo zurückkam.

„Und wie. Komm!“ Kurt schnappte sich seine Jacke.

Draußen fiel Fritz etwas ein. „Ach übrigens, hast du zufällig Frank Zander als Klingelton?“

„Ja, wieso?“

„Weil dich dann grad, als du dein Bier weggetragen hast, jemand erreichen wollte.“

Kurt kramte sein Handy heraus und sah nach. „Nanu? Mein Büro? Das kann nur Li gewesen sein. Mal sehen, was sie wollte.“

Er rief in seinem Büro an, doch es nahm niemand ab. „Hm“, er zuckte die Schultern, „wenn’s was Wichtiges ist, ruft sie noch mal an. Wahrscheinlich will sie bloß meine Erlaubnis, morgen später zu kommen. Als wenn sie die bräuchte.“ Er steckte das Handy wieder ein und ging weiter.

 

*

 

Der Mann, der Minuten vorher noch Li in seinem harten Griff gehalten hatte, eilte durch die Straßen Schwabings. Er hatte sich in den letzten Stunden mit der Umgebung vertraut gemacht und wusste, wo Ottos Ecke zu finden war. Mehr als die halbe Strecke war schon geschafft, und innerlich begann er langsam aufzuatmen. Bald! Bald würde er Hilfe bekommen!

Ein kleiner Mann im langen Mantel kam ihm entgegen, die Hände in den Taschen vergraben, mit tief ins Gesicht gezogenem Hut. Beinahe waren sie auf gleicher Höhe, da hob der Mann den Kopf und sah ihn an.

„Bonsoir, Monsieur!“

„Bonsoir“, erwiderte er und hastete an dem Fremden vorbei. Dann hielt er inne. Woher wusste der Kerl, dass er Franzose war? Er wandte sich um. Der Fremde stand vor ihm, sah ihn an und grinste böse. Dann öffnete er seinen Mantel. „Et adieu!“

 

*

 

Li rannte, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nie gerannt war. Warum hatte Kurt nicht abgenommen? Sie wusste nicht, wie lange sie gebraucht hatte, um wieder zu sich zu kommen, nachdem der Fremde das Büro verlassen hatte. War ihr Anruf schon zu spät gekommen? Auf jeden Fall hatte sie sich nicht lange mit weiteren Versuchen aufgehalten und flog nun geradezu durch die Straßen in Richtung Ottos Ecke. Erst, als sie nicht mehr anders konnte, als eine kleine Verschnaufpause einzulegen, zückte sie ihr Smartphone und versuchte es noch mal bei Kurt. Es klingelte, zwei-, dreimal, dann hob jemand ab.

„Li? Was gibt’s denn?“

Vor Erleichterung knickten ihr beinahe die Beine ein, und sie lehnte sich erst mal an eine Hauswand. „Kurt! Gott, bin ich froh, deine Stimme zu hören!“

„Ist was passiert?“ Seine Stimme klang nun alarmiert.

„Hör zu, ich bin überfallen worden und ...“

„Verflucht, bist du verletzt?“

„Nein, nein, hör doch zu! Da ist ein Kerl, der ...“

In diesem Moment hallte ein Schuss durch die Straßenschluchten, und die Verbindung brach ab.

 

*

 

„Scheiße!“ Kurt schrie sich lautstark seinen Schreck aus der Seele. „Li wurde überfallen. Woher kam der Schuss?“

„Von da, würde ich sagen.“ Fritz stürmte in die vermutete Richtung los, Kurt hinterher. Das Handy, das er vor Schreck hatte fallen lassen, blieb einfach liegen.

 

*

 

Li sah kaum noch etwas durch ihren Tränenschleier, rannte aber trotzdem weiter in Richtung der Kneipe. Aus derselben Richtung war auch der Schuss gekommen. Sie bog um eine Ecke und sah einen Mann am Boden liegen. Die Statur passte. Wie gelähmt blieb sie stehen. Erst, als zwei Männer aus der anderen Richtung gelaufen kamen, offenbar ebenfalls von dem Schuss alarmiert, erwachte sie aus ihrer Starre und trat langsam, mit zögerlichen Schritten, an die Leiche heran.

„Li? Bist du das, Kleines?“

Sie sah auf. Einer der Männer, die ihr entgegenkamen, war Kurt, der andere sein Besucher von heute Vormittag. Sekunden später lag sie in den Armen ihres Chefs und heulte wie ein Schlosshund.

 

*

 

„Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wer das ist?“ Der Polizist sah sie eindringlich an. Alle drei schüttelten simultan den Kopf. Nein, sie hatten nicht den blassesten Schimmer. Kurt hatte den Kerl noch nie im Leben gesehen und keine Vorstellung, warum der ihn so dringend hatte sprechen wollen. Li war ihm nur während dieser wenigen, angsterfüllten Minuten begegnet, und Fritz war völlig außen vor, sah sich aber trotzdem genötigt, ebenfalls eine Antwort zu geben.

„Tja, das ist schon seltsam, oder? Er bedrängt Ihre Angestellte, überfällt sie richtiggehend, nur um Sie zu finden. Auf dem Weg zu Ihnen wird ihm der Schädel durchlöchert, und Sie wissen nicht einmal, wer er ist, geschweige denn, was er von Ihnen wollte.“

Äußerst unzufrieden mit dem mageren Ergebnis seiner Befragung steckte der Beamte Block und Stift ein und trollte sich zu seinen Kollegen. Kurt tauchte einfach unter dem Absperrband durch, trat zu den Männern von der Rechtsmedizin, die die Leiche gerade in Augenschein genommen hatten.

„Darf ich bitte kurz?“ Sie zuckten mit den Schultern und ließen ihn vor dem Toten in die Hocke gehen. Irgendetwas kam ihm seltsam an dem Kerl vor. Abgesehen von seinem Verhalten heute und der Tatsache, dass ein Teil seines Hinterkopfes nun über den Bürgersteig verteilt war. Aber was? Er strich die rotblonden Locken aus dem blutverschmierten Gesicht und hob ein Augenlid an. Die Iris war von einem eigenartigen Grau, wie dichter Nebel. Aber es sagte ihm nichts Besonderes über den Mann. Das Gesicht wirkte irgendwie – zeitlos. Einerseits mochte der Kerl kaum älter sein als er selbst, andererseits strahlte er selbst im Tode und in diesem erbärmlichen Zustand eine unermessliche Lebenserfahrung aus.

Einer Eingebung folgend nahm Kurt die Hand des Mannes und sah sich dessen Finger an. Zum Glück waren ein paar Halogenstrahler aufgestellt worden, um den Tatort auszuleuchten, sodass er auch Details gut erkennen konnte. Er stutzte, sah noch genauer hin und sog erschrocken die Luft ein. Er hatte gefunden, was er suchte.

 

 

 

Jagd

 

 

Auf den Schreck waren alle drei gleich wieder zu Otto zurückgekehrt – Kurt musste ja auch noch sein Handy wieder einsammeln, das wunderbarerweise noch keinen Liebhaber gefunden hatte –, und Li hatte sich die Kante gegeben: ein ganzes Bier und einen Schnaps. Kurt und Fritz spülten nur noch jeder mit einem Obstler den Anblick des durchlöcherten Kopfes hinunter, dann geleiteten sie die selig lallende Li ins Büro. Für solche Fälle gab es dort, gut versteckt hinter einer Rigips- Wand und einem Vorhang, eine Schlafcouch.

„Wo bist du untergekommen?“ Kurt schloss leise die Tür hinter sich. Li war, kaum, dass sie lag, eingeschlafen und sägte bereits ihren ersten Baum durch.

Fritz nannte ihm den Namen seiner Bleibe.

„Jessas, das ist ja nun bestenfalls was für Rucksacktouristen. Da such ich dir aber noch was Besseres, okay?“

„Nu stell dir vor, so furchtbar üppig ist – nein, war – mein Gehalt bei der Kripo nun auch nicht.“

„Schon klar, und für heute Nacht wird’s das auch tun müssen. Aber dann ziehst du um, bis wir eine richtige Bleibe für dich gefunden haben. Ich hab im letzten Jahr so viele Best Western Punkte gesammelt, da sollten ein paar Nächte für umme rausspringen.“

„Ich kann mich doch nicht von dir aushalten lassen!“

„Doch, kannst du. Pass auf, wenn ich in Hotels übernachte, dann dienstlich. Das geht eh auf die Spesenrechnung. Wenn ich dafür meine Punkte einsetze, schenke ich sie nur dem Kunden. Und die anderen Prämien jucken mich eh nicht. Anders gesagt: Ich weiß mit meinen tollen Punkten sowieso gar nichts anzufangen, das ist die Gelegenheit, sie zu nutzen. Also Ruhe jetzt.“

 

Kurt lieferte seinen neuen Mitarbeiter in dessen Billighotel ab und wanderte nach Hause. Endlich hatte er Muße, über die Geschehnisse der Nacht nachzudenken. Wer der Tote war, blieb zwar noch ein Rätsel, doch was er war, davon hatte Kurt eine ziemlich genaue Vorstellung. Er musste das unbedingt sofort Thorben und Wodan mitteilen. Aber nicht übers Handy auf offener Straße.

Was zum Teufel hatte der Kerl von ihm gewollt? Wie war er auf ihn gekommen? Er glaubte nicht, dass der Fremde ihm schaden wollte, wie es Li gedacht hatte. Es schien eher so, als hätte jemand den Mann erschossen, damit er keinen Kontakt mit Kurt aufnehmen konnte. Und wie er ihn umgebracht hatte! Großes Kaliber, aus nächster Nähe, von unten durch den Kopf, sodass ein Teil des Hinterkopfes und des Gehirns sich meterweit über den Asphalt verteilten. Das war nicht einfach nur brutal, der Killer wollte auf Nummer sicher gehen, kaltblütig und präzise. Hatte der Mörder gewusst, dass er es nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatte? Und wenn ja, woher? Gehörte er selbst dazu? Dann hätte er sein Opfer nicht so überraschen können. Rätsel über Rätsel, doch weit nach Mitternacht, müde und mit Promille im Blut, würde er keines davon lösen. Er würde daheim erst einmal sofort in Nürnberg anrufen und dann eine Mütze Schlaf nehmen.

 

*