Neben der Normalität

 

 

2.Teil

Die Kraft unserer Kinder

 

von Heike Altpeter

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autoren unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Impressum:

Text: Heike Altpeter

Cover:

Fotograf: Jean M. Laffitau

Model: Daniel Hahn

Korrektur/Lektorat: Kerstin Jolas, Martin Urbanek

Layout/Überarbeitung: Karin Pfolz, Martin Urbanek

 

© Karina Verlag, Wien – www.karinaverlag.at

ISBN: 9783967243130


Einleitung

 

Hallo, ich bin Dana Liebknecht, mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt und seit zwei Monaten glücklich mit Paul Liebknecht verheiratet.

Im Juni vorigen Jahres hatten wir uns in einer Diskothek kennengelernt, und ich hatte mich sofort unsterblich in ihn verliebt, ohne zu wissen, dass Paul mein neuer Chef und Ehemann werden würde.

Dr. med. Paul Liebknecht war Neurologe und spiritistischer Berater aus Leidenschaft. Ich wurde zu seinem Medium.

Heute möchte ich Ihnen erzählen, wie mein Leben weiterging. Manchmal kann ich es selbst nicht glauben, und meine Freundin Julia muss mir von Zeit zu Zeit immer mal wieder bestätigen, dass alles tatsächlich so passiert ist.

Lassen Sie sich von mir in eine fantastische Welt voller Träume, mystischer Fälle und dem Unerklärlichen entführen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.

 

Kapitel I

 

Norwegen. Selje, ein Dorf in der Nähe der Mündung des Nordfjords, oberhalb von Bergen an der Westküste gelegen. In einer gemütlichen Hütte brannte ein offenes Feuer. Im Schein einer Gaslampe schrieb eine junge Frau unter Tränen einen Brief an ihre einstige Liebe. Zärtlich streichelte sie dabei mit der Hand über ihren gewölbten Bauch mit dem ungeborenen Leben unter ihrem Herzen. Draußen blies der kalte Westwind über das Land und hüllte alles in eine weiße Decke. Hier und da liefen Menschen dick verhüllt den Weg entlang, und wenn man genauer hinsah, konnte man in einiger Entfernung einen Elch am Wegrand stehen sehen. Mania war hier seit einiger Zeit zu Hause. Sie konnte sich an ihr früheres Leben nur noch vage erinnern. Das einzige, was ihr an Erinnerungen geblieben war, war ihre verschmähte Liebe zu einem Mann in Deutschland. Durch Zufall hatte sie über Internet erfahren, dass er vor kurzem geheiratet hatte.

Nun drehten sich ihre Gedanken nur noch um ihr ungeborenes Kind. Für dieses Kind wünschte sie sich ein Leben in Freiheit und eine glückliche Familie. Mania fühlte sich seit längerem nicht mehr wirklich frei. Wie eine unsichtbare Mauer umfing sie das Gefühl des Hier und Jetzt. Ab und zu hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, wieder nach Deutschland zurückzukehren, aber dies im letzten Moment immer wieder verworfen.

Etwas verwirrt las sie ein letztes Mal ihr Schreiben, bevor sie es in ein Kuvert steckte. Nachdem sie ein paar Minuten mit sich gerungen hatte, zog sie ihre dickste Winterjacke an und brachte den Brief zum Postamt, das in einiger Entfernung am Dorfrand gelegen war. Es war dunkel und kalt. Zügig lief sie den verschneiten Weg entlang des Fjords. Der Wind blies ihr scharf ins Gesicht, aber sie trotzte den Widrigkeiten und gewann an Stärke bei jedem Schritt. Erleichtert, nachdem der Brief aufgegeben war, senkte sie ihren Blick über das Meer. Von dieser Stelle aus hatte man einen fantastischen Ausblick, wenn die Sonne schien.

Heute jedoch konnte man nur einzelne Schaumkronen in Strandnähe entdecken. Aus weiter Ferne vernahm sie das leise Tönen eines vorbeifahrenden Frachters. Sehen konnte sie nichts. Langsam machte sie sich, tief in Gedanken versunken, wieder auf den Heimweg.

 


Kapitel II

 

Wir hatten eine traumhafte Hochzeitsfeier hinter uns, fast wie im Märchen. Die berühmte Hochzeitsnacht hatten wir, nachdem Paul etwas zu tief ins Glas geschaut hatte, friedlich nebeneinander schlafend, verbracht. Das kam manchem vielleicht bekannt vor. Zuerst nahm man sich vor, die Nacht seines Lebens zu verbringen, und dann war man nur noch froh, wenn man endlich die Beine ausstrecken und schlafen konnte. Es hatte uns nicht geschadet, denn schließlich hatten wir noch unser ganzes Leben vor uns, und, dank meiner Fähigkeiten, mit den Geistern zu kommunizieren, wusste ich, dass wir alt und glücklich miteinander werden würden. Unser Glück war perfekt, da meine beste Freundin Julia mit Pauls bestem Freund Samuel zusammen war. Julia war Sekretärin mit einem gewissen Hang zum Spiritistischen, was wir im Laufe der Zeit herausgefunden hatten. Jedenfalls schien sie schon einmal gelebt zu haben und war so etwas wie eine Heilerin gewesen. Manchmal kam davon noch etwas durch.

Samuel dagegen war ein echter Schamane, der zu allem Überfluss auch noch Professor der Neurologie war. Zusammen waren Paul und Samuel ein unschlagbares Team. Während unserer Flitterwochen vor sieben Monaten hatten wir, Paul, Julia und ich, Samuel mit vereinten Kräften aus Kapstadt, wo er bislang gewohnt und gearbeitet hatte, nach Saarbrücken geholt. Das hatten wir für Julia getan, weil sie ihn so sehr liebte, dass sie nicht mehr ohne ihn sein konnte. Jetzt wohnte Samuel bei Julia. Nach vielem Hin und Her war es Paul gelungen, für Samuel an der Universität Saarbrücken eine Privatdozentenstelle als Professor für Übersinnliches zu verschaffen. Samuel ging in diesem Job vollkommen auf.

Jungen Menschen das Vorhandensein von Übernatürlichem plausibel zu vermitteln und dazu zahlreiche Selbstversuche und Gespräche zu organisieren war zu seinem Lebensinhalt geworden. Nur noch Julia und wir beide als seine Freunde waren ihm wichtiger als seine Arbeit. Paul und ich hatten unseren Traum verwirklicht und eine Privatpraxis für Neurologie und spiritistische Beratung eröffnet. Am 1. Februar 2014 hatte unsere Eröffnungsfeier stattgefunden. So langsam kamen immer mehr Patienten in unsere Praxis. Wenn Paul nicht von Haus aus mit einem kleinen Vermögen gesegnet gewesen wäre, hätten wir unser Vorhaben nicht umsetzen können. Aber so war es uns möglich gewesen, die anfängliche Durststrecke zu überbrücken, bis sich unsere gute Arbeit herumgesprochen hatte.

Nun war es schon Ende Februar, und die ersten warmen Sonnenstrahlen hüllten die Landschaft in goldenen Schein. Wann immer es uns möglich war, saßen wir im Garten auf der Bank am Teich und genossen das kurze Glück. Man musste sich zwar immer noch warm einpacken, aber man spürte deutlich die leichte Wärme der Sonnenstrahlen im Gesicht. Hier und da waren noch ein paar kleinere Schneeflecken zu sehen, die aber bei den langsam steigenden Temperaturen dahin schmolzen. Manchmal waren unsere Pausen einfach zu kurz. Es läutete schon wieder an der Tür.

„Bleib noch ein paar Minuten sitzen, ich gehe zur Tür.“

Die frische Luft hatte mir gutgetan, und ich fühlte mich wacher. Mit einem Kuss verabschiedete ich mich von Paul und ging in mein Büro, um den Türöffner zu betätigen.

„Entschuldigung, die Tür war offen. Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Liebknecht. Edgar Süß mein Name.“

„Hallo Herr Süß, ja, das stimmt. Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz und füllen mir bitte dieses Formular aus. Ich rufe Sie gleich herein.“ Mit diesen Worten reichte ich ihm die Unterlagen und führte ihn ins Wartezimmer.

Paul war inzwischen vom Garten hereingekommen.

„Ich gehe ins Sprechzimmer. Schick den Patienten zu mir, wenn du soweit bist.“ Mit einem kleinen Kuss ließ er mich alleine. Es war immer noch wie vor unserer Hochzeit. Wenn Paul mich küsste, war es um mich geschehen. Verträumt wartete ich, bis Herr Süß das Formular ausgefüllt hatte. Nach etwa zehn Minuten rief ich nach ihm. „Herr Süß, Sie können jetzt kommen.“

Mit dem ausgefüllten Formular trat er vor meinen Schreibtisch und reichte es mir.

„Mal sehen! Sehr schön, alles perfekt. Sie wissen, dass wir privat abrechnen?“ Diese Frage stellte ich allen Patienten, um Missverständnisse zu vermeiden. Er bejahte, und ich führte ihn in Pauls Sprechzimmer.

„Das ist Herr Süß. Ich muss seine Daten noch im Computer erfassen. Zwei Minuten?“ Paul nickte. Ich ging hinaus und schloss die Tür hinter mir. Ruckzuck hatte ich die Daten im Computer erfasst, und Paul konnte sie abrufen. Herr Süß war ein Mann um die dreißig. Er war der Bekleidungsbranche als Selbständiger tätig und litt an massiven Schlafstörungen. Mehr konnte man nicht dem Formular entnehmen. Später würde ich mehr wissen. Ich widmete mich meiner Büroarbeit. Die Sprechanlage ertönte.

„Dana, kommst du bitte mal.“

Reflexartig schaltete ich den Anrufbeantworter ein und ging zu Paul ins Sprechzimmer. Dieser wies mich an, neben Herrn Süß Platz zu nehmen, und gab mir eine kurze Zusammenfassung.

„Herr Süß hat mir erzählt, dass er jede Nacht von einem Wesen aufgesucht wird. Dadurch wird er am Schlafen gehindert. Er möchte, dass wir versuchen herauszufinden, was es möchte und wer es ist. Hilfst du mir?“

Solche Fälle hatten wir bereits des Öfteren in unserer Praxis gehabt, und so war dies schon fast zur Routine für mich geworden. Um ein Gefühl für mein Gegenüber zu bekommen, unterhielt ich mich kurz mit ihm und ließ mir weitere Einzelheiten von ihm erzählen: „Ja, wo fange ich an? Es passiert seit ungefähr drei Wochen relativ regelmäßig. Anfangs war ich sehr erschrocken, aber jetzt bin ich nur noch genervt. Ich will, dass es aufhört. Jede Nacht zwischen ein und drei Uhr weckt es mich, und dann kann ich stundenlang nicht mehr einschlafen. Ich bin schon fast kein Mensch mehr. Verstehen Sie das?“

Und wie ich das verstand. Schließlich hatte ich meine ganz eigenen Erfahrungen mit Geistern gemacht. Paul loggte sich in meine Gedanken ein und gab mir Tipps: „Dana, versuche, dich in absolute Ruhe zu versetzen, und fass Herrn Süß an den Händen. Schließ deine Augen, und rufe den Geist, der seine Ruhe stört.“

Mir war sofort klar, was ich tun musste. Es war ja nicht das erste Mal. Ich erbat mir die Erlaubnis von Herrn Süß, ihn anzufassen und fragte, ob ich ihn bei seinem Vornamen nennen durfte.

„Ja, bitte. Ich heiße Edgar.“ Ihm war seine Anspannung deutlich anzusehen, als er mir die Hände entgegenstreckte, die ich ergriff. Langsam beruhigte ich mich, indem ich tief ein- und ausatmete und schloss die Augen.

„Das machst du gut“, vernahm ich Pauls Stimme in meinem Kopf.

„Ich rufe den Geist, der die Nachtruhe von Edgar Süß stört!“ Mit Nachdruck wiederholte ich diesen Satz immer und immer wieder in meinem Kopf.

Herr Süß blickte ängstlich zu Paul, und Paul legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und nickte.

„Tut sich etwas?“ Paul hatte sich erneut in meine Gedanken eingeloggt.

„Raus aus meinem Kopf, ich muss mich konzentrieren“, ließ ich ihn wissen. Ich sammelte mich und rief erneut: „Ich rufe den Geist, der die Nachtruhe von Edgar Süß stört!“ Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Es kam mir vor, als ob etwas versuchte, in mich einzudringen. Und dann geschah es!

„Was ist los mit dir, mein Schatz?“ Pauls Stimme klang in meinem Ohr wie aus weiter Ferne, und ich war nicht mehr in der Lage, ihm zu antworten. Stattdessen sprach eine fremde Stimme aus meinem Mund: „Du sollst büßen. Nichts bleibt ungesühnt!“

Paul sah, wie Edgar zusammenzuckte und die Farbe wechselte. „Kommt Ihnen die Stimme bekannt vor?“ Paul sah Herrn Süß tief in die Augen und versuchte, dessen Gedanken zu lesen. Herr Süß begann zu stammeln: „Das kann nicht sein. Der ist schon längst tot. Das gibt es nicht. Unmöglich. Keiner kann etwas davon wissen. Das war unser Geheimnis. Was soll ich denn jetzt tun? Das darf nicht sein.“

„Was soll keiner wissen?“ Mit beiden Händen fasste Paul Herrn Süß an den Schultern und schüttelte ihn.

„Ich will sofort hier raus.“ Herr Süß sprang auf und löste damit unsere Verbindung. Ich sank in mich zusammen. Kraftlos hing ich im Sessel und versuchte, meine Fassung wiederzufinden. Paul legte mir kurz die Hand auf den Kopf und hielt mit der anderen Herrn Süß fest.

„Bleiben Sie hier! Wenn wir schon die Geister rufen, wollen wir auch wissen, warum sie gekommen sind.“

Unruhig setzte sich Herr Süß wieder hin und ließ seine Blicke rastlos durch den Raum streifen.

„Dana, geht es dir gut?“ Paul sah mich besorgt an, so dass ich all meine Kraftreserven mobilisierte.

„Ja, danke, ich bin gleich wieder soweit. Wir reden später.“

„Jetzt erzählen Sie mal. Was müssen Sie büßen? Was ist passiert, von dem niemand wissen darf?“

Herr Süß wandte sich wie ein Aal, kam dann aber doch zum Punkt, nachdem Paul ihn gedrängt hatte, endlich zu erzählen, was seinerzeit geschehen war.

„Eigentlich war es nichts. Es ist schon viel zu lange her. Wir waren jung und unbedacht. Bei einer Bootstour hatten wir etwas getrunken, und ein Freund war über Bord gegangen. Leider waren wir keine besonders guten Schwimmer, und der Alkohol hatte den Rest erledigt. Wie gesagt, keine große Sache.“ Beschwichtigend fuchtelte er mit seinen Händen vor uns herum.

„Das nennen Sie keine große Sache, wenn jemand über Bord geht?“

Paul war fassungslos. „Erzählen Sie weiter.“

„Irgendwie hatte es Andreas damals wieder zurück ins Boot geschafft. Es war Ende März schon nicht mehr so kalt gewesen. Trotzdem ist Andreas dann nach einer Lungenentzündung damals gestorben.“

Wie konnte ein Mensch emotional so ein Krüppel sein, schoss es mir durch den Kopf, und Paul nickte zustimmend in meine Richtung.

„Sie haben eine seltene Auffassung vom Leben, meinen Sie nicht auch?“ Herr Süß zuckte mit den Schultern und sagte nichts.

„Wann geschah der Unfall, und wann ist Ihr Freund Andreas gestorben?“

Herr Süß sammelte sich. Mit schamgeröteten Wangen erzählte er, dass der Unfall vor vier Jahren passiert und dass Andreas im April nach der Bootstour gestorben war. Paul lehnte sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück.

„Es könnte sein, dass das eben der Geist von Andreas gewesen war. Haben Sie seine Stimme erkannt?“ Herr Süß nickte zaghaft.

„Nun, dann ist eigentlich alles klar. Er macht Sie für das Geschehene verantwortlich, und ich denke, er will, dass Sie endlich dazu stehen. Wie sieht es aus?“ Intensiv studierte Paul die Miene von Herrn Süß. „Nun, ich glaube, Sie sind noch nicht soweit. Es wird notwendig sein, dass Sie erst einmal wieder nach Hause gehen, und wenn Sie so weit sind einzusehen, dass Sie sich damals am Tod Ihres Freundes mitschuldig gemacht haben, kommen Sie wieder zu mir. Dann kann ich Ihnen vielleicht helfen.“

Paul erhob sich und wies Herrn Süß freundlich die Tür. Zornig stand dieser auf und ging ohne einen Gruß hinaus.

„Das war ein seltsamer Typ. Der muss erst noch ein bisschen leiden, bevor es bei ihm Klick macht.“ Ich war wieder ich selbst.

„Hoffentlich macht es Klick. Der Geist war richtig sauer, dass konnte ich deutlich spüren.“

Die Sitzung hatte viel Zeit in Anspruch genommen, und ich war richtig erschöpft.

„Hast du für heute noch jemanden einbestellt?“, fragte ich Paul. „Moment. Nein. Steht nichts mehr im Kalender und du?“

„Bei mir steht auch nichts mehr. Dann lass uns für heute Schluss machen. Ich brauche jetzt einen starken Kaffee.

„Das ist eine gute Idee, Kaffee würde mir auch guttun.“

Es läutete schon wieder an der Tür. „Die Post“, rief ein junger Mann, nachdem ich aufgedrückt hatte, in den Flur, und ich ging sofort zu ihm. „Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“

Der Postbote hielt mir ein Schreiben hin und bat um eine Unterschrift wegen der fehlenden zusätzlichen Gebühr. Mittlerweile hatte ich mich an meinen neuen Namen gewöhnt und unterschrieb, ohne zu zögern, mit Dana Liebknecht.

„Paul, wir haben Post bekommen.“ Während ich zu ihm ging, wedelte ich mit dem Brief.

„Dann zeig mal her, wer schreibt uns denn?“ Geschickt öffnete er den Umschlag und begann, laut vorzulesen.

„Hallo Paul, aus dem Internet habe ich von deiner Hochzeit erfahren. Schade, dass aus uns nichts geworden ist. Ich hatte es mir so gewünscht. Trotzdem möchte ich Dir heute alles Gute für Deine Zukunft wünschen. Ein Geschenk reiche ich Dir zu einem späteren Zeitpunkt nach. Ich wünsche Dir und Deiner Frau alles Gute. Mania Shell.“

Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet.

„Hast du etwas im Internet über unsere Hochzeit gepostet?“, fragte Paul.

„Ganz bestimmt nicht, du weißt, was ich davon halte.“

„Ist schon seltsam, dass Mania nach so langer Zeit erst schreibt. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet?“

„Acht Monate. Kinder, wie die Zeit vergeht. Unglaublich.“ Kopfschüttelnd folgte mir Paul in mein Büro, und ich schloss die Tür hinter uns. Es war immer noch kalt draußen.

„Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich an Mania denke. Du hast Recht. Es sind tatsächlich schon über acht Monate her, seit sie dich entführt hatte. Meinst du, sie kommt wieder zurück?“, verängstigt lief ich im Büro auf und ab.

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Der Brief hört sich nicht so an. Es klingt eher so, als ob sie sich wieder gefasst hätte. Sie will uns sogar ein Geschenk schicken. Ist doch nett.“

„Wollen wir hoffen, dass du nicht falsch liegst.“

Liebevoll nahm er mich in die Arme und küsste mich zärtlich. Wir schalteten die Computer aus und gingen nach oben zu Emma. Emma war Pauls Tante, die ihn nach dem Tod seiner Eltern großgezogen hatte. Bis heute führte sie ihm liebevoll den Haushalt, und auch ich hatte diese kleine rundliche freundliche Frau sehr in mein Herz geschlossen.

„Na, ihr beiden. Schon fertig?“ Emma stand in der Küche.

„Für heute habe ich genug. Es war anstrengend. Menschen gibt es, man glaubt es kaum.“ Kopfschüttelnd setzte sich Paul im Esszimmer an den Tisch.

„Hast du noch Kaffee?“ Ich küsste Emma auf die Stirn und setzte mich zu Paul. „Kommt gleich! Ihr habt Glück. Habe gerade eben frischen gekocht.“

Emma brachte auf einem Tablett Geschirr, Kaffee und Kekse und setzte sich zu uns. „Erzählt. Was war heute wieder los?“

Jeden Tag nach der Sprechstunde erzählte mir Emma von unserem Tag in der Praxis. Emma war erstens neugierig und zweitens sehr an unserer Arbeit interessiert. Soweit es unsere Schweigepflicht erlaubte, erzählten wir Emma das ein oder andere, und sie gab uns dazu ganz freiwillig ihre Meinung preis. Paul zeigte ihr den Brief von Mania, und sie wunderte sich genauso darüber wie wir.

„Da soll mal einer schlau draus werden. Es wäre schön, wenn sie sich wieder erholt hätte und ein vernünftiges Leben führen könnte.“

Emma war eine gute Ersatzmutter. Ohne weiter über Mania und ihr derzeitiges Leben nachzudenken, tranken wir unseren Kaffee und gingen anschließend ins Schlafzimmer, um uns ein wenig frisch zu machen. Wie wir bereits vor unserer Heirat beschlossen hatten, war dies immer noch unsere stressfreie Zone. Unser Rückzugsort für Entspannung und Liebe. Hier waren wir meistens ungestört und konnten uns gehen lassen. Mit Schwung warf ich mich aufs Bett und stöhnte.

„Meinst du, es schadet mir, wenn die Geister durch mich sprechen?“

„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. In dir finden sie schließlich ein Medium, das ihnen hilft, sich mit den Lebenden zu verständigen. Man beißt schließlich nicht die Hand, die einen füttert.“

Das leuchtete mir ein, trotzdem machte ich mir so meine Gedanken. Seit unserer Hochzeit versuchte ich, schwanger zu werden, aber leider war bis jetzt noch nichts passiert. Paul setzte sich zu mir aufs Bett und strich mir zärtlich über den Kopf.

„Denk nicht so viel darüber nach. Irgendwann klappt das ganz von allein. Wir haben noch viel Zeit, bevor wir uns Sorgen machen müssen.“ Mir gelang es immer noch nicht vollständig, meine Gedanken vor Paul zu verschließen, besonders nicht in solchen Situationen.

„Meinst du, es wäre gut, wenn wir uns mal von einem Kollegen ärztlich durchchecken lassen würden?“

„Schaden würde das auf keinen Fall, und wenn es dich beruhigt, lassen wir uns morgen gleich einen Termin geben. Am besten rufst du bei deinem Gynäkologen an, und dann besprechen wir, wie es weitergeht.“

Paul war der einfühlsamste Mann, den man sich wünschen konnte. Dafür liebte ich ihn sehr. Bei Paul war ich zu Hause und fühlte mich geborgen. Herz, was willst du mehr. An seinem Lächeln konnte ich sehen, dass er schon wieder in meinem Kopf war.

„Sollen wir duschen?“, fragte ich Paul, während ich aufstand. Bei dieser Frage leuchteten Pauls Augen auf.

„Zusammen?“ Paul schien schon wieder erregt zu sein. Manchmal fragte ich mich, was wohl an mir dran war, das ständig sein Begehren weckte. Oder lag es einfach nur an der Tatsache, dass ich eine Frau war? Ich ging ins Bad und drehte schon mal den Wasserhahn auf. Paul stellte sich hinter mich und half mir beim Ausziehen. „Du! Das kann ich schon ganz alleine. Ich bin ein großes Mädchen“, lächelte ich ihn verschmitzt an.

„Aber ich brauche dringend Hilfe von dir.“

Typisch Mann. Gab man ihnen den kleinen Finger, wollten sie sofort die ganze Hand. Es war immer noch ein unbeschreibliches Gefühl, wenn wir uns liebten. Die Dusche bot dazu den notwendigen Platz und unsere Hormone erledigten den Rest. Vollkommen entspannt trockneten wir uns gegenseitig ab und zogen unsere Jogginganzüge an. Abends trugen wir am Liebsten bequeme Kleidung. Emma hatte eine Platte mit Schnittchen im Wohnzimmer angerichtet, als wir hereinkamen.

„Holt euch noch etwas zu trinken, dann können wir gemütlich fernsehen.“ Entspannt genossen wir unseren Film und ließen uns gegen elf Uhr satt und zufrieden ins Bett fallen. Mitten in der Nacht weckte mich Paul.

„Liebes, was hast du?“

Verdutzt sah ich auf die Uhr.

„Spinnst du? Es ist halb drei. Was soll ich haben?“

„Sorry, aber du hast gestöhnt und dich unruhig hin und her gedreht. Hast du geträumt?“

Während ich überlegte, was ich geträumt haben könnte, drückte mich Paul fest an sich. Dann fiel es mir wieder ein.

„Das war wieder der Freund von Herrn Süß - Andreas. So hieß er doch, oder?“

„Was wollte er von dir?“ Paul wusste sofort, von wem ich sprach. „Alles bekomme ich nicht mehr zusammen, aber er wollte, dass wir dafür sorgen, dass Herr Süß seine Schuld einsieht, und er hat mir bruchstückhafte Szenen des Unfalls gezeigt.“ Schweigend hielt mich Paul fest. Nach längerem Überlegen fand er, dass es doch sehr ungewöhnlich sei, wenn ein Geist sich nach einer Sitzung wieder an sein Medium wenden würde.

„Es muss Andreas sehr beschäftigen und ihm keine Ruhe lassen. Hoffentlich sieht es Herr Süß ein. Meinst du, du kannst jetzt wieder schlafen?“

Behutsam deckte er mich wieder zu und kuschelte sich an mich. Die Nacht verlief ruhig und ohne weitere Störungen.

 

Kapitel III

 

Krrring, Krrring, Krrring! Unerbittlich holte uns der Wecker um halb acht aus dem Schlaf.

„Guten Morgen, Liebling, hast du gut geschlafen?“

So wurde ich jeden Morgen von Paul geweckt und genoss die Küsse, die auf diese Frage folgten.

„Ich glaube, ich bin letzte Nacht wieder gut in den Schlaf gekommen. Hast du noch etwas Ungewöhnliches bemerkt?“

Paul runzelte die Stirn, während er nachdachte. „Nein, du hast ganz ruhig geatmet, und ich bin auch gleich wieder eingeschlafen.“

Es hatte sich mittlerweile so eingebürgert, dass ich immer zuerst ins Bad ging, und kurze Zeit später folgte mir Paul. Paul brauchte immer am längsten von uns beiden. Allein schon, bis er seine Toilette erledigt hatte, dauerte eine Ewigkeit und dann noch rasieren und stylen. Ich war viel schneller, und für mein Styling brauchte ich auch nur kurz. Meine Haare waren immer noch kurz und wuschelig, und ich beschränkte mich darauf, mir die Wimpern zu tuschen und Lippenstift aufzulegen. Während ich mich langsam anzog, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Paul sich rasierte. Mein Mann! Es war immer noch unglaublich für mich, wie wir uns gefunden hatten. Diese Liebe war das Größte, was es bis jetzt in meinem Leben gegeben hatte.

Der Duft seines After Shave kitzelte meine Nase und weckte Erinnerungen in mir. Daran, wie wir uns das erste Mal in der Diskothek Eishaus gesehen hatten und später in seiner damaligen Praxis und daran, welche erotischen Nächte wir bisher miteinander verbracht hatten. Ich liebte den Duft seines Rasierwassers. Für mich roch es nach Verlangen, nach Zärtlichkeit, nach Begehren. Ja! Ich begehrte diesen Mann mit all meinen Sinnen. Wie er so nackt vor dem Spiegel stand. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu ihm hinzugehen, denn sonst würden wir nie fertig werden, und der erste Patient war bereits für neun Uhr bestellt.

„Bist du bald fertig?“ Fragend drehte ich mich zu ihm um. Schade! Nun hatte er schon seine Unterwäsche an. Trotzdem war seine sportliche Figur ein Hingucker. Im Vorbeigehen streifte er meinen Körper, und jedes einzelne Härchen auf meiner Haut stellte sich vor Erregung auf. Wenn wir Zeit hätten, dann…, dachte ich und gab Paul einen Klaps auf den Po.

„Was dann?“, gab er anzüglich zurück, und ich lächelte verlegen, aber meine Augen verrieten bestimmt die ganze Karte. Nach dieser Plänkelei waren wir auch bald fertig und gingen rasch in die Küche, aus der uns schon leckerer Kaffeegeruch in die Nase zog.

„Hi, Emma! Schon so früh auf?“ Paul drückte sie herzlich und küsste sie auf die Wange.

„Hi, ich will doch nicht, dass ihr hungrig an die Arbeit geht. Arbeitet ihr heute lange?“

Während Paul sich das Frühstückstablett schnappte, ging ich in Gedanken unseren Tagesplan durch.

„Nein. Heute ist ja Freitag“, meinte Paul. „Dann habe ich den letzten Patienten für ein Uhr bestellt. Wenn niemand unangemeldet kommt, müssten wir gegen drei Uhr fertig sein.“

„Okay, dann bereite ich das Essen für vier Uhr vor.“ Emma hatte sich unserem Rhythmus angepasst und richtete die Essenszeiten nach unseren Sprechzeiten. Sie war unersetzlich für uns geworden. Gemeinsam frühstückten wir und besprachen den Tag.

„Wir müssen los!“, mahnte Paul zur Eile, stellte alles aufs Tablett zurück und küsste Emma noch einmal zum Abschied.

„Danke für das leckere Frühstück, Emma, wir sehen uns später“, verabschiedete auch ich mich. Da sich unsere Praxis im Erdgeschoss unseres Hauses befand, gingen wir lediglich eine Etage hinunter und konnten sofort alles vorbereiten. Ich knipste überall das Licht an, während Paul die Computer hochfuhr. Gemeinsam prüften wir noch einmal den Tagesplan, und dann widmete sich jeder seinen Aufgaben.

Der erste Patient für diesen Tag war Tim Blau. Bis er kommen würde, war noch etwas Zeit, und ich rief meinen Gynäkologen an und vereinbarte einen Termin für Mittwochnachmittag. Mittwochs war unsere Praxis ab vierzehn Uhr geschlossen; im Gegenzug hatten wir donnerstags bis neunzehn Uhr geöffnet, wenn sich jemand für einen Abendtermin anmeldete. Mit dem Gynäkologen hatte ich kurz unser Anliegen besprochen und legte gerade auf, als es an der Tür klingelte. „Ja, bitte?“

„Guten Morgen, hier ist Frau Blau, wir haben einen Termin“, ertönte eine Stimme.

„Paul, der erste Patient ist da“, rief ich durch die Sprechanlage, während ich auf den Türöffner drückte. Frau Blau kam mit einem kleinen, etwa sechsjährigen Jungen herein.

„Hallo, Frau Blau. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Frau Blau musterte mich und stellte mir ihren Jungen vor.

„Das ist Tim, mein Sohn. Sie müssen uns helfen. Er leidet ständig unter Kopfschmerzen und kann sich überhaupt nicht konzentrieren.“

Lächelnd reichte ich ihr unser Anmeldeformular, während ich sie gleichzeitig darauf aufmerksam machte, dass wir eine Privatpraxis seien und demzufolge privat abrechnen würden. Sie gab mir ihr Einverständnis und zog sich mit dem Jungen ins Wartezimmer zurück. Ich nutzte die Zeit, um Paul kurz über den kleinen Jungen zu informieren. Es dauerte nicht lange, bis Frau Blau mit dem ausgefüllten Formular zu mir an den Tresen kam.

„Danke. Ich begleite Sie jetzt ins Sprechzimmer.“ Ich ging voraus, öffnete die Tür zu Pauls Zimmer und bat sie einzutreten.

„Bin gleich soweit“, warf ich Paul zu und schloss die Tür wieder. Ich gab sämtliche Daten in den Computer ein, die Frau Blau auf dem Formular angegeben hatte. Paul rief mich über die Sprechanlage:

„Bringst du uns bitte Tee?“

„Kommt sofort!“

Als ich eintrat, saßen alle um den kleinen Tisch herum, und ich stellte die Teekanne und die Tassen dort ab.

„Darf ich Ihnen einschenken?“, fragte ich, woraufhin alle nickten.

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ Ich sah Paul fragend an.

„Ist es Ihnen recht, Frau Blau, wenn meine Frau anwesend ist?“

Es war ihr recht, und so setzte ich mich neben sie und hörte zu. Paul stellte diverse Fragen über den Gesundheitszustand des Jungen und erfuhr, dass er als Baby oft sehr schreckhaft gewesen war und dass immer ein Licht in seinem Zimmer hatte brennen müssen, anderenfalls hatte er nicht schlafen können. Auf Pauls Frage, ob er denn mit Tim alleine sprechen dürfe, reagierte Frau Blau sehr ängstlich, gab aber dann doch ihr Einverständnis, nachdem sie Paul eingehend gemustert hatte. „Kommen Sie bitte mit mir in mein Büro. Dann erzähle ich Ihnen ein wenig über unsere Arbeitsweise.“

Mit einer Geste forderte ich Frau Blau auf, mir zu folgen. Paul begann derweilen schon, sich mit Tim zu unterhalten. Nach einem letzten besorgten Blick zu ihrem Sohn folgte sie mir und ich schloss die Tür hinter uns.

„Ach bitte, nennen Sie mich doch Iris.“ Frau Blau reichte mir die Hand und sah mich an.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Ich bin Dana.“

Gemeinsam setzten wir uns hinter den Tresen, und ich erklärte ihr, welche Leistungen wir in unserer Praxis anboten. Da Iris mir sehr aufmerksam zuhörte, erzählte ich ihr auch von unseren spiritistischen Arbeitsweisen.

„Sie arbeiten also mit Geistern?“ Ungläubig starrte sie mich an.

„So könnte man das ausdrücken. Aber es ist nicht ganz so trivial.“

Ich holte etwas aus und erläuterte ihr unsere Vorgehensweise und zu welchen Zwecken wir dies anwandten. Sie schien zu verstehen, sah mich aber dennoch etwas zweifelnd an.

„Glauben Sie, mein Junge braucht diese Art von Hilfe auch?“

„Nun, das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantworten, aber wenn mein Mann mit Tim gesprochen hat, wissen wir sicher mehr.“

Zur Beruhigung reichte ich Iris Schokolade und aß selbst ein großes Stück davon. In der Zwischenzeit kreisten meine Gedanken um unseren Termin beim Gynäkologen. Ob es an mir lag, dass wir kein Baby bekamen oder an Paul? Obwohl? So potent wie er war, konnte ich mir das nur schwer vorstellen. Also doch vielleicht ich? In diesem Moment ertönte die Gegensprechanlage: „Ihr könnt jetzt wieder hereinkommen.“

Blitzartig erhob sich Iris von ihrem Stuhl und rannte zur Tür.

„Moment, ich schalte noch schnell den Anrufbeantworter ein.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie schon die Tür aufdrückte, und folgte ihr schnell. Paul bat uns, Platz zu nehmen, und räusperte sich mehrmals. Tim saß derweilen in einer Ecke und spielte mit den Legosteinen, die wir für unsere kleinen Patienten angeschafft hatten. Paul spielte selbst gerne damit, aber das wusste nur ich.

„Es ist doch etwas komplizierter als ich dachte“, begann Paul das Gespräch. Unruhig rutschte Iris auf ihrem Stuhl hin und her.

„Meine Frau hat schon mit Ihnen in Bezug auf unsere spiritistische Arbeitsweise gesprochen?“

„Ja, ich weiß Bescheid, fahren Sie fort.“

Paul räusperte sich erneut. „Es ist so, Ihr Sohn hat anscheinend einen Mitbewohner in seinem Zimmer. Zumindest habe ich den Eindruck, dass er ihn sehen kann. Bei einem Kind in seinem Alter ist das nicht ganz so einfach zu beurteilen.“

Frau Blau stieg die Röte ins Gesicht. „Wollen Sie damit sagen, mein Junge spinnt?“

„Um Gottes willen, nein. Warum sollte ein so kleiner Junge lügen, zumal er bei mir nicht unter Druck steht. Er hat mir das während des Spielens erzählt, und ich glaube nicht, dass ein Junge von fünf Jahren sich das alles ausdenkt. Er hat mir erzählt, dass dieser andere Junge immer in sein Bett wolle. Aber wenn das Licht eingeschaltet sei, dann sei der Junge nicht da.“

Iris betrachtete mit offensichtlichem Befremden ihren Sohn.

„Geraten Sie bitte nicht in Panik, ich habe bereits eine Idee. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich einen Kollegen von mir kontaktieren und mit ihm zusammen zu Ihnen kommen. Gemeinsam kommen wir der Sache schon auf den Grund. Wären Sie damit einverstanden?“

Iris überlegte kurz und kratzte sich am Kopf. „Ich bin nicht sicher, was mein Mann wohl dazu sagen wird? Ich weiß nicht so recht. Was passiert dann mit meinem Sohn?“

Die Fragen waren berechtigt, und Paul gab ausführlich Auskunft. Nach einer weiteren halben Stunde war Frau Blau überzeugt davon, dass es wohl das Beste für ihren Sohn sei, wenn Paul und Samuel vorbeikämen, um ihm zu helfen. Gut, dass ich für die Termine immer eine Zeitspanne von zwei Stunden kalkulierte, denn gerade als wir uns von Frau Blau verabschiedeten, klingelte es, und der nächste Patient stand vor der Tür. Ich begleitete Iris hinaus und ließ gleichzeitig Herrn König eintreten. Herr König, zweiundsiebzig Jahre alt, grau meliertes volles Haar, war ein relativ unkomplizierter Zeitgenosse, der unter einer leichten Depression litt, seit seine liebe Frau verstorben war. Das war jetzt drei Monate her. Ich begrüßte ihn herzlich und geleitete ihn ins Sprechzimmer. „Paul, Herr König ist für dich da.“

Paul winkte ab und wies auf den Telefonhörer, den er in der Hand hielt.

„Einen kleinen Moment noch, Herr König, mein Mann telefoniert gerade. Er ist gleich für Sie da.“

Höflich stellte ich einen Stuhl für Herrn König zurecht und bat ihn, sich zu setzen. Wir machten ein wenig Konversation, und er erzählte mir von seinem morgendlichen Einkauf. Schon ertönte die Sprechanlage, und Paul bat mich, Herrn König nun vorzulassen. Während sich Paul seiner Therapie widmete, erledigte ich unsere Korrespondenz und traf die Vorbereitungen für die Abrechnung. Wir rechneten immer monatsweise mit unseren Patienten ab. Paul war sehr sozial eingestellt und passte die Kosten, wenn möglich, dem Geldbeutel seiner Patienten an.

Freundlich führte Paul seinen Patienten aus dem Zimmer: „Das haben wir mal wieder geschafft.“

Er zwinkerte mir zu und formte einen Kuss hinter Herrn Königs Rücken. „Machst du bitte für nächste Woche wieder einen Termin?“

„Sehr gerne.“ Herr König und ich wechselten noch ein paar nette Worte, dann begleitete ich Ihn zur Tür.

„Bis bald. Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche“, damit verabschiedeten wir uns.

Bis zum nächsten Termin hatten Paul und ich noch eine halbe Stunde Zeit, die wir für eine kurze Kaffeepause nutzten.

„Du, ich habe einen Termin beim Gynäkologen für Mittwoch nächste Woche ausgemacht. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich?“ Während ich meinen Kaffee trank, beobachtete ich Paul. Er starrte auf den Fußboden und schien etwas weggetreten zu sein.

„Paul! Hast du gehört?“ Er zuckte zusammen und entschuldigte sich.

„Was hast du gesagt?“

Ich wiederholte meine Frage.

„Ja, ja, ist schon okay“, antwortete er mir immer noch geistesabwesend.

„Schatzi! Ja, ja heißt mir doch egal!“

Paul nahm sich zusammen. „Entschuldigung, so habe ich das nicht gemeint. Ich war in Gedanken bei Tim. Süßer kleiner Junge. Ich dachte darüber nach, wie wir ihm helfen können. Samuel kommt morgen Mittag mit Julia vorbei, dann können wir besprechen, was wir tun wollen, und du und Julia könnt in der Zwischenzeit ein bisschen quatschen.

Super! Julia kam. Darauf freute ich mich sehr. Wir hatten uns schon längere Zeit nicht mehr gesehen, so dass es sicherlich viel zu erzählen gab. Paul schmunzelte vor sich hin.

„Warst du mal wieder in meinem Kopf spazieren?“, lächelte ich ihn liebevoll an.

„Natürlich! Du machst es mir manchmal total einfach. Wozu Bücher kaufen, wenn ich in dir lesen kann?“ Sofort entbrannte ein kleines Handgemenge zwischen uns, was allerdings jäh vom Eintreffen des nächsten Patienten unterbrochen wurde.

„Wir müssen weitermachen, Schatz. Der nächste Patient ist da. Aber das heißt nicht, dass das hier vorbei ist.“ Im Vorbeigehen knuffte er meinen Arm, und ich jammerte übertrieben: „Aua!“

Auch diesem Patienten konnte relativ schnell geholfen werden. Ein paar familiäre Probleme, die zu besprechen waren, und ein Privatrezept über Schlaftabletten.

„Wozu ist dieses Medikament? Davon habe ich ja noch nie gehört“, fragte Herr Helmstedt und stand wie angewurzelt vor meinem Tresen.

Um Freundlichkeit bemüht gab ich höflich Antwort. „Das ist ein rein pflanzliches Mittel für besondere medizinische Zwecke, insbesondere für die Behandlung von nervösen Schlafstörungen.“

„Ist das teuer?“

„Ich kann das für Sie nachsehen. Einen Moment bitte – Ah ja, ich hab’s. 19,90 € für sechzig Kapseln in der Apotheke.“

Sichtlich zufrieden schnappte er sich das Rezept. „Na, dann Tschüss und bis nächste Woche.“ Er winkte mir im Hinausgehen zu.

Wir waren für heute fertig.

„Na, mein Schatz, das haben wir mal wieder geschafft.“ Sichtlich zufrieden kam Paul auf mich zu und drückte mich herzlich. „War heute Nachmittag doch noch entspannt zugegangen. Lass uns hier Schluss machen und nach oben gehen. Emma ist bestimmt schon bei den Vorbereitungen fürs Essen. Mal sehen, was es heute Gutes gibt. Ich habe meinen Computer schon ausgeschaltet“, strahlte Paul mich an. Er sah mir zu, während ich noch schnell alles verstaute und meinen Computer ebenfalls herunterfuhr. Gemeinsam besprachen wir noch den Anrufbeantworter mit der Ansage für das Wochenende, und dann hatten wir endlich Feierabend.

Oben empfing uns schon ein leckerer Duft. Es roch nach Spaghetti mit Hackfleischsoße. Lecker! Paul gab Emma Bescheid, dass wir uns noch frisch machen würden und dann zum Essen kämen. Hinter der geschlossenen Schlafzimmertür umarmte ich Paul.

„Es ist so schön, mit dir zu arbeiten.“

„Und zu leben?“, setzte er fragend hinzu.

„Und zu leben, natürlich auch“, bestätigte ich ihm. Wir küssten uns intensiv, bevor wir uns erfrischten und umzogen.

„Schatz, hast du meinen blauen Pullover gesehen?“

„Liegt im Schrank, gleich oben links.“

„Schatz, da liegt kein blauer Pullover, weißt du vielleicht, wo er sonst sein könnte?“

Das war mal wieder typisch Paul. Vorm überfüllten Schrank stehen und nichts finden.

„Wenn man auch nur in die Mitte schaut, kann man das, was links in der Ecke liegt, natürlich nicht finden.“ Ich kannte das schon und musste unwillkürlich lächeln.

„Du machst dich lustig über mich?“, spielte Paul den Entrüsteten.

„Käme mir nie in den Sinn! Sieh noch mal nach, oben links.“

„Sieh da, ein blauer Pullover, welch ein Zufall!“, meinte ich ironisch, und Paul zuckte beleidigt mit den Schultern. Geschafft! Endlich hatte auch Paul etwas Passendes gefunden.

„Hast du uns noch etwas übriggelassen, Emma?“ Paul schien Hunger zu haben wie ein Bär.

„Ja, geh nur in die Küche. Es ist noch genügend da, mein Junge.“

Kurz darauf lehnte ich mich genüsslich mit vollem Bauch in meinem Stuhl zurück. „Es hat mal wieder prima geschmeckt. Ich bin so satt, da passt keine Maus mehr dazwischen.“

„Oh, das ist aber schade! Ich habe noch Schokoladenpudding gekocht“, sagte Emma bedauernd.

„Mit Sahne?“ Ich befühlte meinen Bauch und hüpfte ein paar Mal auf dem Stuhl auf und ab, um das Essen besser zu verteilen.

„Mit Sahne! Willst du vielleicht doch noch eine kleine Portion?“

Und ob ich wollte. Schokoladenpudding war mein Lieblingsnachtisch, ebenso wie der von Paul.

„Zuerst gehe ich aber ins Bad.“ Paul stand auf und bewegte sich behäbig Richtung Tür.

„Ich bin schneller als du.“ Flink wie ein Wiesel huschte ich an ihm vorbei und war vor ihm dort.

„Okay, du hast gewonnen. Ich gehe nach unten auf die Gästetoilette.“ Paul schloss hinter mir die Tür und machte sich auf den Weg nach unten.

Ich saß schon wieder am Tisch und hatte den halben Pudding aufgegessen, bevor Paul wieder erschien.

„Na, beim Zeitunglesen eingeschlafen?“, neckte ich ihn.

„Ich kann ja auch nichts dafür, dass du so gierig auf den Pudding bist und keine Ruhe hast, um gemütlich im Bad zu verweilen. Ich schon!“

Emma rollte die Augen. „Kinder, Kinder! Keine solchen Gesprächen am Tisch. Wo bleibt denn eure Erziehung?“

Irgendwie schafften wir es immer wieder, so herumzualbern, und Emma beteiligte sich gerne an unseren Albernheiten. Wir genossen unser Zusammenleben sehr.

„Nach dem Essen sollst du ruhen oder tausend Schritte tun, sagt ein Sprichwort. Worauf hättest du denn jetzt Lust?“

Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für die tausend Schritte.

„Ein Spaziergang ist sicherlich besser, als uns jetzt auf die faule Haut zu legen. Emma, dir würde das jetzt auch nichts schaden. Na, kommst du mit?“

Emma zierte sich zunächst, gab dann aber doch nach.

„Allee hopp, dann macht euch fertig. Wer als erster an der Haustür ist.“ Emma sprang auf, warf uns eine Kusshand zu und war schon in ihrem Zimmer verschwunden. Paul und ich liefen ebenfalls schnell ins Schlafzimmer, zogen Jeans und dicke Westen an, schnappten uns die Geldbörse und los. Fertig! Auf der Treppe konnten wir Emma mit ihrem Stoffbeutel überholen, indem wir immer zwei Stufen auf einmal nahmen. Erster!

„Gut, dann bezahlt ihr das erste Eis für dieses Jahr“, beschied Emma uns. Gemütlich spazierten wir am Staden entlang zu den Saarwiesen.

(Staden so wird ein Erholungsgebiet in Saarbrücken - St. Johann am rechten Ufer der Saar genannt. Mit Wiesen, Alleen, Spielplätzen und Biergarten am Ulanenpavillon liegt es zwischen der Bismarkbrücke und der Römerbrücke lt. Wikipedia).

Es war mittlerweile schon halb sechs vorbei, aber die Sonne schenkte uns noch ein paar wärmende Strahlen. Um zur Eisdiele zu gelangen, mussten wir an der Saar entlang zum St. Johanner Markt laufen.

„Meinst du, die Eisdielen haben schon wieder geöffnet?“ Ich ließ meine Blicke die Saar entlang schweifen. Paul wusste aber auch ohne, dass ich ihn ansah, dass ich mit ihm sprach.

„Heute Mittag war es ja doch recht schön. Das Jesolo hat vielleicht schon offen.“

Schweigend liefen wir nebeneinander her. Emma hatte etwas trockenes Brot eingepackt und begann, die Enten zu füttern.

„Wollt ihr auch mal?“ Sie hielt uns ihren Stoffbeutel unter die Nase. Folgsam nahmen wir je ein Stück und taten es ihr gleich. Emma war glücklich.

„Es war doch eine gute Idee von euch, mich mitzunehmen. Die frische Luft tut mir gut.“ Ich erspähte ein Stück von uns entfernt eine bekannte Person. Es war Robert, unser Nachbar vom Haus gegenüber, mit dem Emma vor unserer Hochzeit angebandelt hatte. Seitdem hatten sich die beiden immer mal wieder auf ein Glas Wein getroffen. Aber es war noch immer mit einem gewissen Abstand. Über Gedankenaustausch machte ich Paul auf Robert aufmerksam.

„Sollen wir etwas schneller gehen, dann holen wir ihn ein, so dass Emma ihn begrüßen kann?“ Paul überlegte nicht lange und zog fast unmerklich mit dem Schritttempo an.

„He, ihr beiden. Gibt es etwas zu gewinnen?“

Scheinheilig fragten wir im Chor: „Wieso? Sind wir dir zu schnell?“ Emma schnaubte und beschleunigte ebenfalls ihre Schritte. Wir hatten Glück, und sie bemerkte Robert erst, als wir fast auf seiner Höhe waren.

„Hallo Robert, hast du Ausgang?“, sprach Paul ihn an. Robert drehte sich halb zu uns um und begrüßte uns herzlich. Dann sah er Emma und wurde verlegen. „Hallo Emma, schön, dich zu sehen.“ Auch Emma errötete leicht und reichte ihm die Hand.

„Süß, wie verlegen die beiden sind“, pflanzte mir Paul in den Kopf, so dass ich unwillkürlich lächeln musste. Hand in Hand schlenderten Paul und ich etwas voraus und ließen den Beiden Zeit für ein kurzes Gespräch. „Hast du Emmas Wangen gesehen? Die waren ganz rot, man könnte meinen, sie sei noch ein Teenager.“ Paul amüsierte sich prächtig. Er konnte es einfach nicht lassen. Aus den Augenwinkeln beobachteten wir Emma und Robert. Heimlich ergriff er ihre Hände, und nach einem scheuen Blick in unsere Richtung, küsste er sie auf den Mund. Emma schien aufs Äußerste zu erschrecken und sah schnell zu Paul. Der bemühte sich, zur anderen Seite zu schauen. Wir amüsierten uns königlich.