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Ein Neuer aus Beverly Hills

»O mein Gott, o mein Gott, o mein Gooooooott!«, quiekt das Mädchen mit der Jennifer-Aniston-Frisur und dem Spaghettiträger-Top, das direkt neben Lucy steht. Ihre Stimme klingt tränenerstickt. Umso lauter ist der Schrei ihrer Freundin mit dem Zickzack-Scheitel und der zerrissenen Jeans zu hören. Ihre unter der Brust geknotete Bluse rutscht noch ein gefährliches Stück weiter nach oben, als sie das Schild mit der Aufschrift »Robbie, marry me!« hoch über den Kopf hält.

»Wenn die wüssten, wie er mit vierzig aussieht«, raunt Lucy ihrer Schwester Hanna zu, doch die macht sofort ein Pssst-Zeichen. Als ob eines dieser mega-hysterischen Girlies ausgerechnet auf uns achten würde, denkt Lucy und zuckt mit den Schultern. Und selbst wenn: So schnell wird wohl niemand unser Geheimnis erraten. Hanna ist mal wieder viel zu unentspannt.

Was ihre Outfits betrifft, unterscheiden sich die Schwestern nicht von den kreischenden und weinenden Fans um sie herum, die immer näher zur Bühne drängen. Doch die beiden sind weit davon entfernt, in Tränen auszubrechen oder sonst wie die Fassung zu verlieren.

»Geniale Idee von dir, uns zu unseren guten Zeugnissen mit einer Konzertreise in die Neunziger zu belohnen«, sagt Lucy und lächelt zufrieden, als sie an ihre Eins in Englisch denkt. Überhaupt ist ihr Notendurchschnitt im ersten Halbjahr super ausgefallen – nur im Catwalktraining wird sie wohl nie auf einen grünen Zweig kommen. Vierzehn-Zentimeter-Absätze sind ihrer Meinung nach ein Folterinstrument! Freiwillig würde sie in den halsbrecherischen High Heels nie herumlaufen. Im zweiten Halbjahr will sie unbedingt interessantere Fashion-Kurse belegen.

»Sollten wir öfter machen«, gibt Hanna gut gelaunt zurück. Doch ihre Antwort wird von den ersten Takten eines Songs übertönt, den sie sofort erkennt: Ihre Mutter hat diese CD jahrelang rauf und runter gehört.

»Mama würde ausflippen, wenn sie jetzt dabei sein könnte«, brüllt Lucy ihrer Schwester ins Ohr, denn mittlerweile herrscht im Saal ein ohrenbetäubender Geräuschpegel. Der Fanjubel übertönt fast die Musik der fünf jungen Männer, die – teils mit freien Oberkörpern, teils mit ärmellosen Westen und allesamt in verwaschenen Jeans – über die Bühne fegen. Sie vollführen akrobatische Sprünge und Drehungen, bleiben dabei völlig synchron und haben erstaunlicherweise auch noch genug Luft zum Singen. Der Leadsänger ist ein Typ mit wild gestylter Mähne und unverwechselbarer Mimik, der seinen Text in die Menge schmettert. Der neunzehnjährige Robbie Williams bringt damit das Publikum zum Toben, allen voran das Girlie mit der Jennifer-Aniston-Frisur, das einer Ohnmacht nahe scheint. Jetzt fallen Gary, Mark, Howard und Jason mit ein und singen über die Magie der Liebe.

O ja, denkt Hanna, es ist ganz schön magic, dass wir gerade über zwanzig Jahre zurück durch die Zeit gereist sind, um ein Take-That-Konzert zu erleben. Sie findet es einfach fantastisch, dass Lucy und sie von Oma dieses Zeitreise-Gen geerbt haben und mithilfe der goldenen Taschenuhr nach Lust und Laune in die Vergangenheit springen können!

Doch bevor Hanna weiter darüber nachsinnen kann, lässt sich ihre Schwester von der Musik mitreißen und singt aus vollem Halse mit. Dabei knufft sie Hanna liebevoll in die Seite, um sie zum Mitmachen aufzufordern. Hanna zögert. Schon immer war Lucy spontaner als sie – oder, wie sie es ausdrücken würde: verrückter. Aber hier, im Jahr 1993, kennt sie schließlich keiner. Warum also nicht?

Erst summt sie nur leise mit, doch dann zwinkert Lucy ihr aufmunternd zu und sie wird mutiger. Beim nächsten Refrain trällert sie mindestens so laut den Text mit wie ihre Schwester. Im Gedränge ist fast kein Platz zum Tanzen, aber irgendwie gelingt es ihnen doch – mit kleinen Hüpfern auf der Stelle und nach oben gerissenen Armen. Es kribbelt am ganzen Körper – kein Wunder, bei diesen wummernden Bässen …

»Wow, feiert ihr ‘ne Privatparty?« Lykke, die ihren Kopf ins Zimmer steckte, lächelte überrascht.

Abrupt hielten die Schwestern in ihrer Bewegung inne. Das Kribbeln eben war wohl doch nicht von den Bässen gekommen – vielmehr war es das typische Zeichen, das ihnen das Ende einer Zeitreise ankündigte. Diesmal hatten sie es blöderweise nicht beachtet, und nun hatte Lykke sie ertappt bei … Ja, wobei überhaupt?

»Eigentlich wollte ich ja nur nachsehen, wo ihr bleibt, aber jetzt bin ich doch neugierig.« Mit diesen Worten betrat Lykke das Zimmer im Internat der Fashion School Bernstein, das sie gemeinsam mit Lucy bewohnte, und ließ sich auf den neuen lilafarbenen Sitzsack fallen, den sie zu Weihnachten bekommen hatte.

»Ähm – tja, wir haben nur gerade über die Lieblingssongs unserer Eltern gesprochen. Ist deine Mum auch so ein großer Take-That-Fan?«, improvisierte Lucy, während Hanna rot anlief und versuchte, unauffällig ihre Kleidung glattzustreichen. Natürlich trugen die Schwestern jetzt wieder ihre Outfits aus der Gegenwart, so wie immer, wenn sie von einer Zeitreise zurückkamen. Hannas beigefarbene Cordhose war vollkommen in Ordnung, ebenso wie der dunkelbraune Kaschmirrolli und die farblich dazu passenden Stiefeletten. Wie üblich wirkte sie wie aus dem Ei gepellt, und das, obwohl sie gerade das Gefühl hatte, sich bis auf die Knochen blamiert zu haben.

Lucy dagegen machte sich weniger Sorgen um ihr Outfit, das aus schwarzen Leggings, petrolfarbenen Schnürstiefeln und einem currygelben Longshirt mit der Aufschrift WE LOVE FASHION bestand. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester hatte sie sich längst wieder gefasst. »Weißt du, unsere Mutter hat bald Geburtstag, und wir studieren gerade eine kleine Show für sie ein. Dabei müssen wir wohl die Zeit vergessen haben. Cool übrigens, deine neue Frisur. Krass, die Ähnlichkeit mit Pink!«

»Findest du?« Lykke freute sich über den Vergleich. Und der war auch gar nicht aus der Luft gegriffen: Lykkes neuer blondierter Kurzhaarschnitt erinnerte wirklich ein bisschen an die Sängerin. Auch wenn diese eindeutig weniger weibliche Kurven hatte als Lykke.

»Deine neue Haarfarbe ist aber auch nicht schlecht«, gab Lykke das Kompliment zurück. »Damit kommen deine grünen Augen noch besser zur Geltung.« Lucys halblanger Bob war neuerdings schokobraun gefärbt und damit einen Tick dunkler als ihr Naturton. Oder, anders gesagt, als Hannas lange kastanienbraune Mähne. Ohne Coloration würden die Schwestern fast wie Zwillinge aussehen.

Inzwischen war Hanna auch wieder eingefallen, warum Lykke eben überhaupt nachgesehen hatte, wo sie blieben: Heute Nachmittag sollten die Kurse für das zweite Halbjahr ausgehängt werden, und wer bei diesem Termin zu spät kam, musste sich eben dort einschreiben, wo noch Plätze frei waren – erfahrungsgemäß also in den eher langweiligen Kursen bei den weniger beliebten Dozenten. Und es war schon fünf vor drei! Allerhöchste Zeit also, sich auf den Weg zum Schwarzen Brett zu machen.

»Wir sollten uns beeilen! Ich habe keine Lust auf Textiltechnologie für Fortgeschrittene bei Sondra Chang!«, rief Hanna und stürmte aus dem Zimmer. Lucy und Lykke schauten sich verblüfft an. So flott war die stets so beherrschte Hanna sonst nie unterwegs.

»Los, hinterher«, sagte Lucy lachend, »sonst landen wir womöglich wieder bei Rumpelstilzchen im Catwalk-Kurs!« Boris Schulz, genannt Rumpelstilzchen, war bekannt für seine Ungeduld und seine Wutanfälle. Besonders wenn er es mit Schülerinnen wie Lucy zu tun hatte, die auf Laufstegtraining so viel Lust hatten wie auf eine Tetanusimpfung.

Die drei Mädchen eilten durch die langen Marmorgänge des Schlosses, das die Fashion School beherbergte, dann die majestätische Treppe hinab ins Erdgeschoss und dort weiter in Richtung Schwarzes Brett. Lucy hoffte inständig, dass noch ein Platz in Modefotografie für Fortgeschrittene frei war. Und vielleicht auch noch einer in Mode und Marketing, das fand sie ebenfalls superspannend.

Doch als Hanna, Lykke und Lucy um die Ecke bogen, wurde ihnen sofort klar, dass die Eile völlig unnötig gewesen war. Statt des Gedränges vor dem Schwarzen Brett bot sich ihnen ein völlig anderes Bild: Nur rund ein Dutzend Schülerinnen und Schüler waren zu sehen, und die machten es sich auf den knallgrünen XXL-Polstern des Lounge Areals gemütlich. Auch Mona, Hannas Zimmergenossin und beste Freundin, hatte sich in einen Sessel gefläzt und blätterte in aller Ruhe in einem Modemagazin.

»Da seid ihr ja«, rief sie, als sie die drei entdeckte, und legte die Zeitschrift zur Seite.

»Warum steht niemand an, um sich in die Kurslisten einzutragen?«, erwiderte Hanna beunruhigt. Sie hatte schon Angst, sie hätte sich um eine Stunde vertan und wäre nun zu spät dran.

»Es hängt noch gar nichts aus«, erklärte Lasse träge, während er sich ausgiebig dehnte und streckte. Dann fuhr er sich durch die blonden Wuschelhaare. »Dabei hieß es doch, dass wir uns ab Punkt drei einschreiben können, oder?« Er machte eine unbestimmte Kopfbewegung in Richtung Wanduhr, die bereits fünf Minuten nach drei anzeigte.

»Vielleicht ist Miss E. krank geworden«, mutmaßte Li, die neben Lasse saß – so wie in letzter Zeit fast immer. Die Schwestern runzelten die Stirn: Hanna, weil Verspätungen so überhaupt nicht zur Schulleiterin Lilian Eastbrook passten. Und Lucy, weil sie eifersüchtig war. Ihr gefiel nicht, dass Lasse und Li nur noch im Doppelpack auftraten. Aber kein Wunder, dass er sich zu dem hübschen Mädchen mit den Mandelaugen und dem Milchkaffee-Teint hingezogen fühlte. Bestimmt zeigte sich Li nicht so abweisend, wenn Lasse sie küssen wollte.

Li hat ja auch kein Zeitreise-Gen, das seine Wirkung verliert, sobald sie die große Liebe küsst, dachte Lucy grimmig. Sie dagegen musste vorsichtig sein, wenn sie und Hanna weiterhin Spritztouren durch die Vergangenheit unternehmen wollten. Mal angenommen, Lasse ist wirklich meine große Liebe, überlegte sie, dann wäre unsere Zeitreise-Zeit vorbei gewesen.

Das hatte sie ihm natürlich nicht sagen können, damals an seinem Geburtstag, als nur noch ein paar Millimeter zwischen seinen und ihren Lippen lagen und sie ihm in letzter Sekunde irgendeinen Mist über eine angebliche Zahnfleischentzündung erzählte. Weshalb Lasse sie nun wohl im besten Fall für ein bisschen verklemmt hielt – und im schlechtesten Fall für komplett durchgeknallt.

»Beim Mittagessen habe ich Miss E. noch gesehen, da war sie putzmunter«, riss Clemens sie jetzt aus den Gedanken, dessen Spitzname KaLa er seiner Vorliebe für fingerlose Handschuhe und seiner Verehrung für Karl Lagerfeld, seinem großen Vorbild, verdankte.

»Holt euch doch einfach einen Chai Latte und setzt euch zu uns«, schlug Lasse vor. »Wir wollten bis vier Uhr warten. Wenn bis dahin niemand mit den Listen auftaucht, wird das Ganze wohl auf Montag verschoben.«

Lasse war, wie immer, Pragmatiker und Lebenskünstler zugleich. Und er hatte vollkommen recht, wie Lucy fand: Immerhin war es Freitagnachmittag. Warum nicht einfach ein bisschen chillen?

In diesem Moment bogen zwei weitere Schüler um die Ecke.

»Schau an, wen hat der schöne Ansgar denn da mitgebracht?«, fragte Mona halblaut. Sie meinte das zwar ironisch, doch tatsächlich passte die Umschreibung schöner Ansgar durchaus. Der Typ mit dem schulterlangen goldblonden Haar sah ziemlich gut aus. Nicht nur, weil er von Kopf bis Fuß in perfekt sitzenden Markenklamotten gekleidet war. Und nicht irgendwelche Marken, sondern echte Luxuslabels. Aber Ansgar hätte wohl auch in Discounter-Jeans und Billig-T-Shirt lässig gewirkt, und wenn man ihn näher kannte, wusste man, dass er eigentlich gar nicht auf diesen teuren Krempel stand. Er war ihm egal. Er trug einfach die Sachen, die seine Eltern ihm kauften. Und obwohl er viel lieber Pilot werden wollte, als irgendwas mit Mode zu machen, fühlte er sich in der Fashion School pudelwohl. Selbst Lucy hatte inzwischen ihre Vorurteile gegenüber dem »Angeber Ansgar« abgebaut, und Hanna sowieso. Spätestens seit sie nach einer gewonnenen Wette mit ihm ein Eis essen war, fand sie ihn richtig nett. Nur Mona mochte ihn noch immer nicht. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass sie den Status als Hannas beste Freundin gefährdet sah. Für ihren Geschmack verbrachte Hanna sowieso schon viel zu viel Zeit mit ihrer Schwester. Wenn sie nun noch mehr mit Ansgar unternehmen würde, bliebe für Mona kaum noch Zeit übrig.

»Hi Leute«, grüßte Ansgar in die Runde, »das hier ist Lennox Andersen, mein neuer Zimmergenosse.«

Das war ja mal was ganz Neues! Ansgar hatte bisher als einziger Schüler der Fashion School ein Einzelzimmer bewohnt. Anfangs hatten alle gedacht, er selbst hätte darauf bestanden. Aber dann hatte sich herausgestellt, dass es seine Eltern gewesen waren, die bei Miss E. um ein Einzelzimmer für ihren Sohnemann gebeten und dies mit einer großzügigen Spende nachdrücklich unterstrichen hatten. Ansgar dagegen fand es im Einzelzimmer stinklangweilig und hatte sich nun offenbar durchgesetzt mit seinem Wunsch, endlich einen Mitbewohner zu bekommen.

Der Neue stand mit unbewegter Miene neben ihm und versenkte die Hände in den Hosentaschen.

»Lennox, das sind meine Freunde: Hanna, ihre Schwester Lucy, Lasse, Li, Aisha, Vivian, KaLa, Lykke, Xavier …«

Lennox schien nicht besonders interessiert zu sein, irgendjemanden kennenzulernen. Sein Gesicht strahlte noch immer pure Langeweile aus, und jetzt gähnte er sogar herzhaft. Wenigstens besaß er den Anstand, dabei die Hand vor den Mund zu halten. Lucy fiel fast die Kinnlade runter vor Empörung. Was glaubte dieser Lennox denn, wer er war? Auch wenn er in seinem lässigen Anzug und so unrasiert irgendwie aussah wie Robert Pattinson in diesem einen Dior-Werbespot, fand sie ein dermaßen herablassendes Verhalten unverzeihlich. Auch Mona schnappte hörbar nach Luft und Ansgar unterbrach sich selbst mitten im Satz. Doch dann verzog Robert alias Lennox seinen Mund zu einem Lächeln und sagte: »Sorry, Leute, ich freu mich total, euch alle zu treffen, aber der Jetlag macht mir zu schaffen. Morgen bin ich bestimmt schon fitter.«

Das wurde ja immer alberner. Jetlag! Wie lächerlich. Natürlich war die lange Fahrt nach Brandenburg ermüdend, aber das galt für alle Schüler, die nicht gerade aus Berlin und Umgebung kamen. Lucy schnappte sich das Modeheft, das Mona vorhin zur Seite gelegt hatte, und vertiefte sich demonstrativ darin, um zu zeigen, dass sie völlig unbeeindruckt war.

»Lennox ist nämlich heute erst aus L.A. gekommen«, versuchte Ansgar die Situation zu retten. »Ich wollte ihm nur noch schnell die Kurslisten zeigen, bevor er sich zum Powernapping hinlegt.«

Okay. Er hatte also tatsächlich einen langen Flug hinter sich. Trotzdem fand Lucy es übertrieben, ein kurzes Nickerchen als Powernap zu bezeichnen und mit Jetlag zu kokettieren.

»Du kommst aus Los Angeles?«, mischte sich Lasse in das Gespräch ein. Er hatte letzten Sommer mit seinen Eltern eine Reise von New York die Ostküste entlang bis nach Florida gemacht und war total begeistert von allem, was mit den USA zu tun hatte.

»Hm«, machte Lennox, der offenbar gerade eine Nachricht bekommen hatte und sich mit seinem Smartphone in einen Sessel zurückzog.

Ansgar antwortete an seiner Stelle: »Ja, seine Familie lebt dort, genauer gesagt in Beverly Hills.« Aus seinem Munde klang das fast beiläufig, als hätte er gesagt: Seine Familie lebt in Berlin, genauer gesagt in Kreuzberg. Was wohl daran lag, dass auch er mit seinen Eltern ein paar Jahre in den USA verbracht hatte und diese mit ihrem Shapewear-Imperium mehr verdienten, als sie jemals würden ausgeben können. Hanna hatte die Familie neulich erst gegoogelt und dabei erfahren, dass Ansgars Eltern tatsächlich die klassische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte erlebt hatten. Beziehungsweise zum Multimillionär. Unfassbar, wie reich man mit Unterwäsche werden konnte, die Bauchansätze, verräterische Dellen und kleine Speckröllchen einfach wegzaubert. Was wäre Hollywood ohne diese Trick-Wäsche? Spätestens mit der Erfindung von HD wären die roten Teppiche wohl leer gefegt.

»Beverly Hills? Habe ich da Beverly Hills gehört?«, ertönte eine leicht schrille Stimme. Lucy drehte sich um. Na klar: Da kam Laetizia angestöckelt, dicht gefolgt von ihrer BFF Angelina. Die zwei Möchtegern-Society-Girls sahen mal wieder aus wie Supermodels auf dem Weg zum Casting. Beide trugen hochhackige Stiefel zu knallengen Jeans und darüber Designer-Mäntel. Sie waren so stark geschminkt, als stünde gleich ein Fotoshooting an, und unterschieden sich auf den ersten Blick eigentlich nur durch ihr Hairstyling: Während Laetizias erdbeerblonde Locken zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur aufgetürmt waren, fiel Angelinas goldene Mähne glatt und glänzend über ihren Rücken. Was die Haarfarbe betraf, hätte man sie für Ansgars Schwester halten können – und was die teuren Outfits betraf, ebenfalls. Trotzdem (oder vielleicht genau deswegen) waren Angelinas monatelangen Flirtversuche an ihm abgeprallt. Doch nachdem er angefangen hatte, sich ab und zu mit Hanna zu treffen, hatte er sich in Angelinas und Laetizias Augen ohnehin disqualifiziert. Jetzt allerdings hatten die beiden Unzertrennlichen die Zauberworte Beverly Hills gehört, und das zog sie an wie ein riesiger Magnet (so einer wie auf Schrottplätzen). Sie vergaßen darüber sogar, dass sie sich eigentlich nicht mit Leuten unterhielten, die unter ihrer Würde waren.

»O mein Gott, o mein Gott, o mein Goooootttt!«, rief Angelina schrill aus und erinnerte Hanna und Lucy dabei unweigerlich an die Neunziger-Jahre-Mädchen, die auf dem Take-That-Konzert vorhin genauso hysterisch geklungen hatten.

»Nun fall uns hier bloß nicht in Ohnmacht«, konnte sich Lucy nicht verkneifen, woraufhin sie einen vernichtenden Blick von Angelina erntete. Dann wandte diese sich wieder an Ansgar und redete aufgeregt auf ihn ein: »Sag, ist das wirklich Lennox Andersen? Der Sohn von Ellen Andersen, der berühmten Schmuckdesignerin, und dem Hollywood-Produzenten Nigel Andersen?«

Lucy hatte weder von der einen noch von dem anderen jemals gehört, aber Angelinas ehrfürchtiger Tonfall ließ darauf schließen, dass es sich dabei um echte Promis handeln musste.

Ansgar nickte nur. Dann deutete er auf Lennox, der noch immer in sein Smartphone vertieft war, als ginge ihn das alles gar nichts an, und sagte: »Er redet nicht so gerne darüber. Promi-Eltern können nervig sein.«

Er muss es ja wissen, dachte Hanna und war in diesem Moment sehr froh, dass ihre Eltern nicht berühmt waren, auch wenn sie als Software-Entwickler ziemlichen Erfolg hatten.

Laetizia, die Lennox für ihre Entdeckung hielt, hatte ganz und gar nicht vor, Angelina den Vortritt zu lassen. Mit wiegenden Hüften ging sie hinüber zur Sitzgruppe, ließ sich direkt neben Lennox nieder, schwang divenhaft ein Bein über das andere und säuselte: »Hallo, ich bin Laetizia la Roche. Schön, dich kennenzulernen.« Eine halbe Ewigkeit lang reagierte Lennox überhaupt nicht, sondern tippte weiter an einer Kurznachricht. Dann blickte er kurz auf, runzelte die Stirn und murmelte. »Hi. Lennox. Muss kurz meine Parents beruhigen, die drehen immer durch, wenn ich nicht sofort schreibe, dass ich gut angekommen bin.«

»Dabei wäre es sicher in den Nachrichten gekommen, wenn dein Flieger abgestürzt wäre«, kommentierte Mona, respektlos wie immer. Doch statt empört die Stirn zu runzeln, so wie Laetizia es tat, stimmte Lennox ihr grinsend zu. »Genau, das sag ich ihnen ja auch immer.« Dann widmete er sich wieder seinem Smartphone und schien alles um sich herum zu vergessen. Laetizia setzte ein beleidigtes Gesicht auf. Gerade als sie aufstand und ihrer Freundin zunickte, um sie zum Gehen aufzufordern, stolzierte die auf den Neuen zu, streckte ihm ihre Hand entgegen und ließ ihm gar keine andere Möglichkeit, als irgendwie darauf zu reagieren.

»Hi. Angelina. So wie Angelina Jolie.« Dazu ließ sie ein affektiertes Kichern hören.

Lucy stöhnte laut. Das war wirklich die Krönung der Peinlichkeit. Diesen Obertussis war wirklich nichts zu blöd, wenn es darum ging, einen gutaussehenden, reichen Promisohn auf sich aufmerksam zu machen.

»Na ja, bis auf den Namen gibt’s da aber keine Ähnlichkeit«, erwiderte Lennox trocken, und alleine dafür hätte Lucy ihn küssen können. Oder lieber doch nicht. Man wusste ja nie …

Film

Das große Baggern

Fünf Minuten später waren Angelina und Laetizia davongestöckelt. Auch der dauergähnende Lennox hatte sich verabschiedet, um sich eine Runde aufs Ohr zu legen, außerdem Xavier, der mit seinem Bruder zum Skypen verabredet war, und Aisha, die unbedingt einen Thriller zu Ende lesen wollte.

Alle anderen lungerten unschlüssig im Lounge Areal herum. Auf die Listen brauchten sie wohl heute nicht mehr zu warten. Was sollten sie stattdessen unternehmen? Immerhin war es Freitag, aber keiner hatte einen guten Plan für heute Abend. Vivian schlug vor, sich bei Sondra Chang, der Vertrauenslehrerin, abzumelden und gemeinsam mit dem Bus nach Berlin reinzufahren, um dort tanzen zu gehen. Aber dafür konnte sich niemand so wirklich begeistern, zumal draußen nasskaltes Schmuddelwetter herrschte – typisch Februar eben.

»Leute, ich hab zu Weihnachten die neueste Staffel von Game of Thrones bekommen. Die liegt noch unangerührt da. Wollen wir eine DVD-Nacht machen?«, fiel Li ein.

»Geniale Idee«, fand Lasse. »Ich habe ein paar Tüten Chips übrig. Wenn noch jemand Getränke beisteuert, können wir gleich loslegen.«

Alle waren sofort begeistert. KaLa lief los, um Eistee und Limonade zu holen, Li sauste in ihr Zimmer, wo die DVD-Box lag, und wenig später trafen sich alle im TV-Zimmer der ersten Etage, das zum Glück noch nicht belegt war.

Als Lucy sah, wie sich Li dicht neben Lasse in die Sofaecke kuschelte, hatte sie urplötzlich keine Lust mehr auf den DVD-Abend. Und das, obwohl sie ein großer Fan der Serie war.

»Ich leg mich lieber hin, mir platzt der Schädel«, murmelte sie und verabschiedete sich hastig, bevor ihr jemand lästige Fragen stellen konnte.

Stirnrunzelnd schaute Hanna ihrer Schwester hinterher. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Lucy jemals Kopfschmerzen gehabt hätte oder freiwillig früh ins Bett gegangen wäre.

Irgendwas war offenbar nicht in Ordnung mit ihrer Schwester. Aber was nur?

»Hey, Hanna, neben mir ist noch ein Platz frei«, rief Ansgar ihr zu.

»Bin schon da«, antwortete Hanna lachend und dachte: Lucy wird schon wissen, was sie tut. An die Sache mit den Kopfschmerzen glaubte sie jedenfalls nicht. Warum auch immer sie so schräg drauf war: Hanna hatte nicht vor, der Sache heute auf den Grund zu gehen. Bald war Lucy bestimmt wieder ganz die Alte.

Tatsächlich kam Lucy ihre Reaktion schon am nächsten Morgen total übertrieben vor. Was war bloß in sie gefahren? Eigentlich war sie unkompliziert und entspannt. Warum in aller Welt war sie auf einmal zur Drama Queen mutiert? Dabei war das doch die Rolle, die Angelina und Laetizia sonst spielten. Zum Glück war sie wenigstens so klug gewesen, ihre schlechte Laune im stillen Kämmerlein auszuleben. Wäre ja ganz schön peinlich gewesen, wenn Lasse ihren kindischen Eifersuchtsanfall mitbekommen hätte …

Lucy nahm sich vor, sämtliche negativen Gedanken zu verjagen – besser gesagt einfach rauszuschwitzen. Mindestens zweieinhalb Stunden lang rackerte sie im Fitnessraum der Schule wie eine Wahnsinnige. Danach war sie fix und alle, aber auch mit sich zufrieden. Beim Training war es ihr gelungen, die umherschwirrenden Gedanken zu sortieren. Sie hatte sich da was eingeredet. Lasse und Li verstanden sich einfach nur gut. Da lief nichts. Lasse stand auf sie, Lucy, daran bestand überhaupt kein Zweifel. Vielleicht sollte sie demnächst doch mal das Risiko eingehen und ihn küssen?

Hanna schüttelte den Kopf, als sie ihre Schwester schon wieder aus dem Fitnessraum kommen sah. Obwohl Lucy schon immer die sportlichere der beiden Schwestern gewesen war, kam Hanna deren intensives Training ziemlich extrem vor.

Ihr war klar, dass das Ganze etwas mit Lucys seltsamer Reaktion vom Abend zuvor zu tun haben musste. Doch sie stellte ihrer Schwester wieder keine Fragen. Irgendwie spürte sie, dass Lucy über diese Sache – worum es auch immer ging – nicht reden wollte. Hanna nahm sich vor, in nächster Zeit besonders aufmerksam zu sein. Immerhin war Lucy ihre kleine Schwester, und sie waren weit weg von zu Hause. Deshalb fühlte Hanna sich für sie verantwortlich. Außerdem plagte sie das schlechte Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, lieber mit den anderen – vor allem mit Ansgar – einen chilligen DVD-Abend zu erleben, als sich um ihre Schwester zu kümmern?

Der Montagmorgen startete für Hanna mit einer Doppelstunde Mathematik und für Lucy mit Französisch bei dem gnadenlosen Jérome Valentin.

Monsieur Valentin war der humorloseste Mensch, der Lucy je begegnet war. Bestimmt ging er zum Lachen in den Keller – wenn er überhaupt jemals lachte. Das Einzige, was ihm Spaß zu machen schien, war, seine Schüler mit unregelmäßigen Verben und unaussprechlichen Vokabeln zu quälen. Zum Glück traf es heute nicht sie, sondern Xavier. Und der war so was wie ein kleines Genie in Französisch. Monsieur Valentin quetschte ihn aus wie eine Zitrone, bis Xavier zwei Verbformen verwechselte, woraufhin Monsieur Valentin seine Abfrage beendete und Xavier eine Zwei notierte. Einsen vergab er aus Prinzip nicht. Ein bescheuertes Prinzip, wie Lucy fand. Obwohl sie in Französisch keine große Leuchte war, fürchtete sie sich nicht vor dem Lehrer. Wenn er ihr blöd kam, stellte sie sich einfach vor, wie er in einem Benjamin-Blümchen-Kinderpyjama aussah. Und schon wirkte er längst nicht mehr halb so Angst einflößend wie in seinen üblichen Nadelstreifenanzügen und den Designerhemden.

»Mademoiselle Kaufmann, qu’est-ce qui est si drôle?«

Monsieur Valentin war ihr breites Grinsen nicht entgangen. Und nun wollte er wissen, was sie so lustig fand. Mist – beziehungsweise merde –, sie hätte sich diese Benjamin-Blümchen-Sache nicht so ausführlich ausmalen sollen.

»Ähm …«, begann Lucy ohne die geringste Ahnung, wie sie sich herausreden könnte, und schon gar nicht auf Französisch.

»Ich hab da noch eine Frage zu dem Unterschied zwischen Conditionnel und Subjonctif«, rief Lasse in diesem Moment dazwischen. Und das, obwohl Monsieur Valentin Wortbeiträge ohne vorheriges Melden nicht duldete. Ganz zweifellos brachte sich Lasse gerade selbst in Schwierigkeiten, um ihr aus der Patsche zu helfen. Ein Gentleman im Surfer-Look!

Doch dann wurde auch Lasse gerettet, und zwar von Miss E. höchstpersönlich. Nach einem kurzen, energischen Klopfen betrat sie den Klassensaal. Sofort herrschte respektvolle Ruhe. In Monsieur Valentins Unterricht wagte zwar auch kaum einer, zu schwatzen oder gar Unsinn zu machen, doch wenn Miss E. hereinkam, stand selbst Monsieur Valentin stramm. Die ehemals berühmte Modedesignerin, die sich mit der Fashion School ihren Lebenstraum erfüllt hatte, strahlte eine kühle Eleganz aus, wie sie im seegrasgrünen Hosenanzug auf High Heels, deren Silberton exakt zu ihrem Pagenkopf passte, nach vorne zum Lehrerpult schritt. Alle Blicke waren auf sie gerichtet – nicht nur wegen ihres Erscheinungsbilds, sondern vor allem aus Neugier. Was konnte so wichtig sein, dass die Schulleiterin höchstpersönlich in den Unterricht kam? Normalerweise machte sie, wenn es etwas anzukündigen gab, eine Lautsprecherdurchsage oder schickte ihre Sekretärin.

»Ich bitte die Unterbrechung zu entschuldigen«, sagte Lilian Eastbrook in ihrer gewohnt leisen, aber dennoch unüberhörbaren Stimme. »Für heute Nachmittag bitte ich sämtliche Schülerinnen und Schüler in die Aula. Um Punkt fünfzehn Uhr findet dort eine Infoveranstaltung statt, die für alle verpflichtend ist. Danke.« Nach diesen Worten und einem Nicken in Richtung des Französischlehrers verließ die Schulleiterin den Raum. Das Raunen, das durch die Klasse ging, ignorierte sie. Nun war es Monsieur Valentins Problem, wieder für Ruhe zu sorgen. Selten hatte er so viel Mühe mit der Disziplin wie in den letzten zwanzig Minuten dieser Stunde.

In der Mittagspause redeten alle natürlich nur über ein Thema.

»Was glaubt ihr, worum es bei dieser Infoveranstaltung geht?«, fragte Philine, eine eher unauffällige Schülerin, die zu Laetizias und Angelinas Clique gehörte, um dann gleich ihre eigene Vermutung zu verkünden: »Miss E. sah heute irgendwie so blass aus. Was, wenn sie krank ist und als Schulleiterin zurücktritt? Ich wette, sie übergibt dann die Leitung an Clarissa Schiller, immerhin ist die noch immer sehr prominent, das ist ganz wichtig für das Image der Schule.«

Laetizia sprang sofort auf die Idee ihrer Tischnachbarin an: »Oh my god, du könntest recht haben. Hoffentlich sinkt das Niveau der Fashion School damit nicht, sonst werden meine Eltern garantiert darauf drängen, dass ich nach Paris oder New York wechsele.«

Hanna, die das Gespräch vom Nebentisch aus mitgehört hatte, runzelte nur entnervt die Stirn. Mona dagegen konnte sich eine Antwort nicht verkneifen: »Am besten wechselst du gleich in ein anderes Sonnensystem. Allerdings täten mir dann die Aliens leid«, murmelte sie grimmig, und darüber musste Hanna lachen, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.