Kaffeeduft
in London

Nancy Schumann

Krimi

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Erste Auflage 2015

© net-Verlag, 39517 Tangerhütte

© Coverbild: Detlef Klewer

Covergestaltung, Lektorat

und Layout: net-Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95720-132-4

Freedom is just another word

for nothing left to lose.

(Freiheit bedeutet lediglich,

dass du nichts mehr zu verlieren hast.)

Janis Joplin

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Dank

Über die Autorin

Buchempfehlungen

Kapitel 1

London. Leicester Square. Eine betriebliche Weihnachtsfeier, auf die ich nicht gehöre. Ich bin hier eine von vielen. Eine, die niemand kennt, außer der Person, die mich mitgebracht hat. Ich falle nicht wirklich auf. Ich bin hier der Eindringling, die Fremde. Als Begleitperson eines Bekannten bin ich aber auch die Interessante, weil man mich nicht kennt. Ich fühle mich wie die Lösung zu einem »welcher Gegenstand gehört nicht in dieses Bild«-Rätsel.

Die Arbeitskollegen sehen einander schließlich jeden Tag. Da ist es interessanter, sich mit den jeweiligen Partnern auf dieser Party zu unterhalten. Die Briten haben ein Sprichwort: »There is no such thing as a free lunch«, was so etwa dem deutschen »Nichts ist umsonst« entspricht. Mit anderen Worten, ich hätte das hier erwarten sollen.

Mein Bekannter, der keine Freundin oder Frau hat, die er hätte mitbringen können, hat mich nicht ohne Grund auf die Weihnachtsfeier seiner Firma eingeladen. Es ist nicht einfach ein netter Abend auf Firmenkosten. Alles ist ein wenig zu fremd, etwas zu fein, zu förmlich zum Wohlfühlen. Mein langes Schwarzes kann es gegen die Abendkleider hier allemal aufnehmen. Nur ich weiß, dass es aus einem Geschäft kommt, in dem man auch Lack- und Leder-Outfits kaufen kann, während die Garderobe der anderen Damen hier sicher aus Designerhäusern stammt.

Allerdings hätten die meisten Herren hier wahrscheinlich gegen die Lack- und Leder-Outfits wenig einzuwenden. Es sollen ja angeblich immer die biederen Geschäftsleute sein, die dem ein oder anderen Fetisch frönen.

Der Gedanke amüsiert mich dann auch wesentlich mehr als die Erkenntnis über mangelnde Allgemeinbildung und das politische Unverständnis der Veranstaltungsgäste. Vor nicht mal fünf Minuten bin ich als »Tina« einem »John« vorgestellt worden, und dann hat sich »Ian«, mit dem ich hier bin, entschuldigt.

Nun stehen John und ich uns gegenüber in einer erzwungenen Smalltalk-Unterhaltung. Es widerstrebt meiner selbstrettenden Prinzessinnen-Persönlichkeit, mir meinen Partner wieder zu mir zu wünschen, aber es würde die soziale Situation wesentlich erleichtern.

Während ich gerade gar keinen Gesprächsstoff habe, ist der Durchschnittsbrite aber Meister des Smalltalks, und John ist keine Ausnahme.

Mein Gegenüber fragt, woher ich bin, und damit weiß ich schon genau, wie dieses Gespräch verlaufen wird.

»I am German.« »Ich bin Deutsch«, ist meine Standardantwort. Ein feiner Unterschied, der meinem Gesprächspartner vermutlich völlig entgeht. Doch zu sagen, ich sei Deutsche, wäre eine Lüge, denn das Land, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr.

Gleich wird mein Gegenüber mir stolz erzählen, er sei schon mal in Hamburg, Frankfurt oder Cologne gewesen. Prima. In Köln war ich auch schon mal. Hat mich nicht beeindruckt. In Frankfurt (Main) war ich, was ein sehr schönes Wochenende war. Bis Hamburg hat es mich nicht verschlagen. Vielleicht später. Keiner dieser Orte hat das Geringste mit meiner Heimat zu tun. Nicht nur geographisch sind all diese Städte weit entfernt von zu Hause.

Natürlich sage ich davon nichts. Ein paar Regeln des Smalltalks kenne sogar ich. Nicken, lächeln, und dann gehe ich mit einer Entschuldigung ein neues Gläschen Wein holen, um damit ein Gespräch zu beenden, das ich nicht führen will.

Es wird Zeit, Ian zu lokalisieren. An seiner Seite werde ich dann nur als die Begleitung vorgestellt, habe zu lächeln und mich erfreut über die neue Bekanntschaft zu zeigen. Mehr ist dabei nicht erforderlich. Die Kollegen kennen sich ja und reden von allein weiter. Mein Beitrag ist nicht vonnöten. Solange ich allein durch den Raum wandere, meint man aber, mir eine Unterhaltung antragen zu müssen. Dabei fühle ich mich selbst mit mir allein recht wohl. Ich hänge einfach gern meinen eigenen Gedanken nach.

Ich weiß noch, wie ich vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal in dieser Stadt angekommen bin. In einem Bus mit Senioren, die meinten, an der Volkshochschule Englisch lernen zu müssen. Von diesen Leuten kannte ich niemanden, nur ihre Lehrerin, die an der Berufsschule auch meine Englischlehrerin war und mir diese Reise angeboten hatte, weil es im Bus zwei freie Plätze gab. Den zweiten Platz hatte eine weitere Schülerin der Berufsschule ergattert. Sie war in der Parallelklasse, und so hatte ich sie vorher noch nie gesehen. Da wir auf dieser Reise die Jüngsten im Bus waren, freundeten wir uns an. Ich weiß noch, dass ich sie ehrlich mochte. Heute aber kann ich mich kaum noch an ihren Namen erinnern.

Mandy. Ja, das muss es gewesen sein, denn ich höre noch, wie unsere Gastfamilie sich über die für englische Ohren leichten Namen von uns gefreut hat. Weiter reicht mein Namensgedächtnis aber nicht. Die blonde Mandy, von der ich nichts weiter weiß, habe ich seit dieser Busreise nicht mehr gesehen.

Vor fünfzehn Jahren aber stand sie an meiner Seite, als ich zum ersten Mal auf den Londoner Trafalgar Square blickte. Es war das erste Mal, dass ich meine Heimat in Richtung Westen verlassen hatte. Das erste Mal, dass dies überhaupt möglich gewesen war.

Als meine Englischlehrerin an der Berufsschule mir erzählte, dass sie an der Volkshochschule unterrichtet und für die Seniorenklasse dort eine Reise nach London organisiert, habe ich natürlich sofort zugesagt. Wir würden mit dem Bus reisen, was etwa zwanzig Stunden unterwegs sein heißt. Die Senioren wollten England wirklich erleben. Also wären wir in Gastfamilien untergebracht. Es würde natürlich ein Programm geben, mit Theaterbesuch, Kirchen und Schlössern. All das sollte mir recht sein. All dem schenkte ich keine Beachtung. Wichtig war einzig die Tatsache, dass ich, ich, nach London fahren würde.

So kratzte ich das Geld für die Fahrt zusammen. Fünfhundert Mark und noch mal fast einhundert für das Programm. Für den eigentlichen Aufenthalt hatte ich dann kein Geld mehr, vor allem weil ich am Wochenende vor der Fahrt auch noch auf ein Festival gehen wollte, mit ebenso spärlichen Finanzen.

Die Kosten von Fahrt, Programm und Festivalkarte würden zusammen mein Einkommen für zwei Monate auffressen.

Aber wir würden in den Londoner Gastfamilien Frühstück und Abendessen bekommen. Das sollte mir reichen.

Mandy lernte ich erst am Bus kennen. Natürlich würden wir nebeneinander sitzen, waren wir doch fünfzig Jahre jünger als der Großteil der Gesellschaft. Wir hatten uns wohl auch viel zu erzählen, doch von dem Gespräch weiß ich nichts mehr.

Wir fuhren über Nacht, und irgendwann schliefen alle.

An einer Tankstelle in Belgien wachte ich kurz auf. Neben uns stand ein Lastwagen, übervoll mit Hühnern. Eingepfercht in viel zu kleine Käfige und sicher auf direktem Weg zum menschlichen Verzehr. »Die armen Tiere«, bemerkte die ältere Dame in der Reihe hinter uns.

»Ja, und unsereiner isst das dann. Da fühlt man sich ganz unwohl bei, wenn man so was sieht«, antwortete der Mann neben ihr.

Mit der Bemerkung, ich sei Vegetarierin und müsse mich also nicht schuldig fühlen, weil ich ja aus eben diesem Grunde, der unzureichenden Haltung der Tiere, aufgehört hatte, Fleisch zu essen, schloss ich mich dem Gespräch an.

»Na, das ist ja auch nicht richtig«, sagte der Mann nur, offensichtlich davon überzeugt, dass Fleisch nun mal in den Grundnahrungsbedarf des Menschen gehört, wozu es keine Alternative gibt, die auch nur annähernd gesund sein kann.

Somit war das Gespräch dann beendet. Doch es hatte den ersten Keim gegenseitiger Unsympathie gesät. Ich war unwillkürlich zum alternativen Hippy mutiert, mit verschrobenen Ansichten und ungesunder Ernährung. Ich hätte gerade so gut sagen können, dass ich regelmässig Drogen konsumiere und das völlig normal finde. Im gleichen Moment hat das ältere Pärchen sich in meinen Augen zu dogmatischen Egoisten verwandelt. Wir haben das immer so gemacht, und so ist das auch richtig. Ein Gespräch, in dem jemand andere Ansichten als sie hatte, würde nicht zustandekommen. Doch ein Gespräch, das ihren Ansichten schmeichelte, war für mich nicht der Mühe wert.

Von da an schlief ich, bis wir auf der Fähre waren.

Es war acht Uhr morgens, als wir in Canterbury ankamen. Nach zwölf Stunden Fahrt sahen wir alle ziemlich Bob Marley aus, was aber niemanden abhielt, die Stadt und die Kathedrale zu erkunden.

Canterbury mochte ich sofort. Mit seinen engen Gassen und kleinen Häusern hatte es eine angenehme Düsternis, die mich gefangennahm. Von Rechts wegen sollte Canterbury das Mecca für Grufties sein. Die Stadt strahlt voll Finsternis und sympathischer Melancholie, als hätte das Mittelalter beschlossen, sich fließend Wasser und Elektrizität anzueignen, aber sonst doch unverändert in der Stadt zu verweilen. Ich kann kaum glauben, dass ich seit dem nicht wieder dort gewesen bin, doch die wenigen Stunden sind die einzigen, die ich je dort verbracht habe. Zu bald fuhren wir weiter, um in London unsere Gastfamilien zu treffen.

Mandy und ich waren in derselben Familie untergebracht. Genauer waren wir sogar im selben Zimmer, einer winzigen Kammer mit einem Doppelstockbett und nicht viel Luft drumherum. Unsere Gasteltern waren sehr freundlich. Sie hatten vorsichtshalber vegetarisch für uns gekocht. Am ersten Abend waren noch zwei Holländerinnen da, danach nur die Familie und wir.

Sie hatten drei kleine Kinder. Zwei Mädchen, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, und einen Jungen, Jonathan, der gerade zu laufen begann und in ein paar Tagen seinen ersten Geburtstag feiern würde. Jonathan fand es besonders lustig, mit seinen kleinen Händen in meine Cornflakesschlüssel zu hauen, sobald ich die Milch eingegossen hatte. Allerdings ist elf Monate, drei Wochen und vier Tage ein Alter, wo man Menschen nicht wirklich etwas übelnehmen kann.

Und so standen wir am nächsten Morgen bereit für den ersten Tag in London.

Unser Reisebus fuhr uns von Harrow zum Victoria Embankment, wobei die Fahrt erfüllt war vom Geschnatter und Genörgel unserer älteren Mitreisenden. Nein, also so hatten sie sich das Leben bei einer Gastfamilie nicht vorgestellt. Was war das denn für ein Standard? Engländer können keine Gardinen aufhängen, die Dusche ist furchtbar, das Zimmer zu klein, und außerdem müssen sie auf einer Ausziehcouch schlafen. Es schien sie durchweg alle zu erstaunen, dass das Leben in England tatsächlich anders war als in Deutschland. Wie konnte man denn allen Ernstes Dinge anders machen, als sie das taten? Unerhört war das! Dafür hatten sie doch wahrlich nicht ihr Geld bezahlt.

Meine Lehrerin und ihre Kollegin waren an diesem Tag gestresst und mochten uns kaum fragen, wie denn unsere Unterkunft sei.

Mandy und ich lächelten nur. Wir waren gänzlich zufrieden. Wir wurden gut gefüttert und nett behandelt. Das Zimmer war wenig mehr als eine Besenkammer, aber wir wollten ja nicht da einziehen. Die Dusche funktionierte komisch, aber wir konnten uns waschen. Die Kinderlein waren laut und früh wach, aber wir mussten auch früh aufstehen, ausschlafen konnten wir zu Hause.

Unsere Lehrerin war darüber erleichtert. Sie hatte wohl angenommen, dass Menschen, die im Ruhestand anfangen, eine fremde Sprache zu lernen, der Welt aufgeschlossener gegenüber treten würden.

Am Victoria Embankment wurden wir dann auf London losgelassen. Von den Senioren hatten die meisten Pläne, wo sie hin und was sie sehen wollten. Sie stürmten auf die U-Bahn-Station zu und fuhren unter der Erde davon.

Mandy und ich hatten kein Geld für Fahrkarten, schließlich mussten die paar Pfund für drei Tage reichen.

Wir würden einfach nur das sehen, was wir erlaufen konnten.

So schlenderten wir an der Themse entlang, blickten auf das Wasser, die Gebäude am anderen Ufer und die wundervoll verzierten Straßenlaternen.

Am Ende des Weges lag die Westminster Bridge vor uns. Direkt unter der Brücke stand ein Verkaufswagen. England ist nicht bekannt für seinen Kaffee, und so hatte ich, seit wir uns auf den Weg gemacht hatten, keinen getrunken. Mir fehlte mein Kaffee. An dem kleinen Verkaufswagen habe ich mir einen Becher Kaffee für ein Pfund gekauft. So saßen wir am Victoria Embankment, neben der Westminster Bridge, vor der Themse auf einer Bank. Mandy war jünger als ich und hatte die beruhigende Wirkung einer Tasse Kaffee noch nicht für sich entdeckt, aber ich sog den Duft ein und genoss, was ich bis heute den besten Kaffee meines Lebens nenne. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich genau diesem Wagen vertraut, und er hat mich nicht enttäuscht. Der Kaffee war genau so, wie Kaffee sein sollte. Und ich konnte mich an der Wärme festhalten und das Aroma in mich aufnehmen, während ich in London saß und auf das graue Wasser der Themse schaute.

Für uns beide war das genau hier die Essenz dieser Reise. Wir brauchten keine U-Bahn, keine Museen, keine Kunstwerke in der Tate Modern. Wir waren glücklich in dem Moment auf der Bank an der Themse mit billigem Kaffee.

Nach einer Weile rissen wir uns los vom Anblick des Wassers und des unbekannten Ufers. Wir erkundeten London in ganz kleinen Schritten, gingen die Brücke rauf und fanden uns vor den Houses of Parliament und Westminster Abbey wieder. Wir ließen die goldenen Gebäude auf uns wirken, liefen andächtig an ihnen vorbei. Die horrende Summe von zehn Pfund Eintritt konnten wir beide uns nicht leisten. Zum Gottesdienst käme man umsonst herein. Vielleicht würden wir es dann einfach noch mal versuchen.

Also drehten wir uns um und liefen die Whitehall entlang von der Abtei weg.

Völlig erstaunt standen wir vor dem Straßenzeichen, das uns verkündete, dass links von uns tatsächlich Downing Street lag. Tony Blair war gerade erst in 10 Downing Street eingezogen. Vermutlich lebte er noch aus Kisten in dem Haus.

Wir gingen weiter an den Pferden der Garde vorbei, betrachteten die Häuser auf beiden Straßenseiten, die faszinierenden Statuen in der Mitte der Straße. Am Ende dieser Straße schließlich lachte uns die Trafalgar Square entgegen. Nelson’s Column ragte in der Mitte dem Himmel entgegen, ganz wie auf dem Bild in unserem Englisch-Lehrbuch. Auch die Tauben waren auf dem Platz, so wie das im Fernsehen gezeigt wurde. Rechts von mir stand eine rote Telefonzelle, offenbar die letzte entlang der Straße mit Blick auf den Platz. Mehr oder weniger kurzentschlossen sahen Mandy und ich uns an und beschlossen, eines der wertvollen Pfunde für einen Anruf in der Heimat auszugeben.

Ich betrat die rote Telefonzelle mit meinem einzelnen Pfundstück, warf es ein und wählte vorsichtig die Nummer meiner Eltern.

Meine Mutter nahm ab. Schnell erklärte ich, dass ich nur ein Pfund einwerfen konnte und nicht wusste, wie lange das reichen würde. Das Gespräch würde also abrupt enden, ohne Abschied meinerseits. Das war so in Ordnung. Meine Mutter war nur froh, von mir zu hören und sicher sein zu können, dass es mir gut ging.

Ja, es ging mir gut. Es ging mir besser als gut. Ich war hier. Genau hier. An dem Platz, den auch sie aus dem Fernsehen kannte. Ich konnte die Säule sehen und die Löwenstatuen, auch die Tauben. All das war nun eine Wirklichkeit direkt vor meinen Augen.

Sobald ich aus der Telefonzelle trat, würde ich das alles sogar anfassen können. Ich war inmitten einer Erfahrung, die mir niemand je würde wegnehmen können. Es war eine Mauer eingestürzt, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Hier. Genau hier. Mittellos, übermüdet und ein wenig hungrig fühlte ich mich wahrhaft frei. Und eines der wenigen Pfunde in meiner Tasche rasselte nun durch den Apparat, um diese Erfahrung mit meiner Mutter zu teilen. Zwischen ihrer zitternden Stimme und meiner liegen Tränen der Erleichterung. Hier und heute ist die Mauer tatsächlich gefallen.

In den Jahren zwischen der Novemberrevolution und diesem Tag hatten wir unsere Klassenfahrten immer nach Osten unternommen. Das haben wir ganz bewusst so entschieden, und es hat uns kollektiv zu Rebellen gemacht. Kurz nach der Wende, als alle anderen ins westliche Ausland fuhren, ging unsere Abschlussfahrt nach Prag. Damals überwog noch Solidarität gegenüber dem Reiz des Neuen.

Solidarität mit den Nachbarn im Osten. Ausgrenzung all derer, die es nötig hatten, Fahrten nach Westen zu unternehmen, nur weil das jetzt ging. Das war das erste und einzige Mal, dass ich auf mein Klassenkollektiv stolz gewesen war.

Ebenso stolz war ich auf mich selbst, als ich in der Telefonzelle am Trafalgar Square stand. Ich hatte mir diesen Moment erarbeitet, er war verdient in dem Augenblick, da er stattfand. Von hier an gab es kein Zurück. Sie konnten die Mauer morgen wieder aufbauen, und ich würde dann nur noch nach Prag fahren können. Doch London konnte mir nun niemand mehr nehmen.

Mein Pfund war bald aufgebraucht und Mandy an der Reihe mit ihrem Anruf nach Hause. In den paar Minuten allein sog ich die Luft ein, und dann gingen wir gemeinsam dem Trafalgar Square entgegen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir den ganzen Morgen da verbracht haben.

An einer Ecke gab es einen Buchladen, wo ich eine »Vampire Anthology« erworben habe. Mittagessen hieß McDonald’s an jedem der drei Tage. Nicht besonders gut, aber billig. Vom Trafalgar Square liefen wir nach Covent Garden. Hier verbrachten wir die meiste Zeit unseres Besuchs und ersteigerten das teuerste Mitbringsel mittels gemeinschaftlichem Zusammenkratzen und Preisrunterhandeln.

Am Covent Garden standen die Kunststudenten vom St-Martin’s-in-the-Field und offerierten ihre Künste im Karikatur- und Porträtzeichnen. Karikaturen waren billiger, aber wir wollten Porträts. Ich war nie besonders gut im Verhandeln. Es liegt nicht in meiner Natur, den angesagten Preis infrage zu stellen. Irgendwie haben wir den auserkorenen Studenten aber davon überzeugt, dass er nur noch zwölf Pfund von uns will; somit haben wir beide unsere Porträts bekommen. Die waren auch wesentlich cooler als die winzigen Kunstwerke, die unsere Senioren aus der Tate Modern mitbrachten. Ich meine, mich zu erinnern, dass ich das Bild ursprünglich meinem damaligen Freund schenken wollte. Dazu ist es nie gekommen. Das Original hängt in meinem Korridor und eine Kopie bei meinen Eltern in im Wohnzimmer. Was aus dem Freund geworden ist, weiß ich nicht.

All das ist vor fünfzehn Jahren passiert. Heute lebe ich in London, aber das macht die Stadt nicht zu meinem Zuhause. Vor einiger Zeit hatte ich eine Bekannte hier, die ebenfalls aus meiner Heimat stammt. Sie schien es mit anderen Leuten als ich zu tun zu haben. Die Sorte, die meinen, dass Britannien und Amiland und Westdeutschland uns befreit hätten. Die Leute, die erwarten, dass wir nun ständig mit ’nem Grinsen rumlaufen, weil es uns doch plötzlich so gut ginge.

Diese Diskussion musste ich nie führen. Die Menschen, die ich treffe, haben kein politisches Bild von Deutschland. Sie kennen nur einzelne Städte, bestenfalls Berlin im Osten, von Wochenendtrips mit Billigfliegern. Offensichtlich macht sie das zu Weltreisenden, die ihre Erfahrung auch gerne ungefragt teilen. Diese Leute sind nicht weniger nervig als die politisch verirrten, nur weniger mediengeschädigt.

Generell vermeide ich es, über meine Heimat zu sprechen. Es gibt kein Verständnis dafür. Kein Gesprächspartner hat eine auch nur annähernd realistische Vorstellung, wovon ich spreche, und ich bin nicht auf der Welt, um Massen zu bekehren.

So, wie die Dinge allerdings momentan in Großbritannien und anderswo laufen, scheint es, als würde in Kürze tatsächlich wieder eine Mauer errichtet. Nur wird diese nicht in Deutschland stehen. Großbritannien hat keine Lust auf ein vereinigtes Europa, denn es vermutet an jeder Ecke Terroristen und fängt an, die eigenen Landsleute zu bespitzeln. Mir kommt das alles unheimlich bekannt vor. Und trotzdem, die Briten nennen es immer noch Demokratie.

Aber all diese Gedanken sind natürlich völlig an die Gäste dieser Weihnachtsfeier verschwendet und gänzlich ungeeignet für Smalltalk. Wenn ich auch nur einen davon äußere, werde ich mich wieder in den alternativen Hippy verwandeln.

Allerdings würde das sicherstellen, dass sich mein Gegenüber nicht mehr mit mir unterhalten will. Es gibt für mich nichts Schlimmeres als Partys mit Fremden, auf denen man sich unterhalten muss. Ich gehe allemal lieber ganz allein in einen Klub und unterhalte mich mit der Musik in meinem Kopf. Ich denke zu viel. In meinem Kopf gibt es immer mindestens eine Unterhaltung. Smalltalk verpflichtet mich, nett zu lächeln und die limitierten Ansichten meines Gegenübers unangetastet zu lassen. Doch auch dieser Abend vergeht.

Kapitel 2

»Miss Bach, please.«

Das bin ich. Tina Bach. Recht typisch deutsch, aber glücklicherweise ohne einen unserer Umlaute, die der englischsprechenden Bevölkerung einen Knoten in der Zunge verursachen. »Bach« ist allerdings auch nicht ohne Probleme und kommt mit eingebautem Witz, wenn man sich ins englischsprachige Ausland wagt.

Der englische Muttersprachler scheitert am deutschen »Bach« und macht daraus ein englischeres »Back«. Komisch wird das dann, wenn man den Film Terminator im Englischen Original kennt. Arnold Schwarzeneggers Versprechen: »Ich komme wieder« wird dann nämlich zu »I’ll be back«.

Wir Bachs, sowohl meine Wenigkeit als auch der wesentlich berühmtere Komponist, fallen damit einer Vielzahl terminator-geschuldeter humoristischer Kommentare zum Opfer.