Und wieder mal Krimis

Anthologie

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www.net-verlag.de

Erste Auflage 2017

© Coverbild: Detlef Klewer

Covergestaltung, Korrektorat und Layout: net-Verlag

Auswahl der Geschichten: Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Michael Mauch (S. 9)

Iris Wassill (S. 96)

Maria-Carolin Gebert (S. 130)

P.S. Dufour (S. 144)

Detlef Klewer (S. 158)

Ferdinand Küster (S. 168)

Andre Scherzer (S. 197)

© net-Verlag, Tangerhütte

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95720-208-6

Und wieder mal Krimis

29 spannende Krimis, breit gefächert, bieten Ihnen, liebe Leser, 29 meist schon erfahrene Autoren. Spannende Kriminalfälle, die ermittlungstechnisch dargestellt werden, oder welche, die gar keine sind, bis hin zu tierischen Krimis verwandeln einen trostlosen Regenabend in ein fesselndes Lesevergnügen.

Wir wünschen allen Lesern einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zum Buch

Autorenbiografien

Michael Mauch

Die vier Birken

Lucius Allan

Die Kunst kriminalistischer Beweisführung

Michael Johannes

B. Lange Das Schandmal von Sandheim

Vera C. Koin

Mord in … Marrakesch?

Frank Knollmann

Ananasrenetten

Karsten Beuchert

Grenzüberschreitung

Matthias Biehl

Abgebrüht

Silke Vogt

Kein erst-klassiger Mord

Maria-Carolin

Gebert Tödliche Steine

P. S. Dufour

Harpers End

Detlef Klewer

Bartholomeus de Groot und die verzweifelte Dame

Fabiana Rot

Saure Rache

Renate Behr

Engel im Großstadtdschungel

Lisann Fuchs

Immer wieder Tiffany

Jochen Pogrzeba

Heimkehr

Ann-Kathrin

Behrendt Blackout!

Michael Laß

Tödliche Tricks

Martha Sawicz

Falsche Entscheidungen

Annette Messerschmidt

Wen die Stunde schlägt

Karin Büchel

Die Frauen des Herrn Knott

Ronald Pacholski

Tot und ungefiedert

Angie Pfeiffer

Nicht sein Tag

Jürgen Rösch-Brassovan

Frau Begalkes Fund

Elisabeth Schreck

Nächtlicher Verfolger

Helmut Glatz

Der Schrei auf der Brücke

Sabine Siebert

Ein fast perfekter Plan

Mine & Hilde Stift

Abgebrüht ist abgekühlt

Marita Bagdahn

Die Bergtour

Christiane Bienemann

Mordsperspektiven

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Michael Mauch

Die vier Birken

Hinter dem Haus, unweit des Waldrandes, stehen vier Birken. In Reihe angeordnet, markieren sie die Grundstücksgrenze nach Osten. Vor über zwanzig Jahren habe ich die Baumgruppe eigenhändig angepflanzt – damals befand sich das Haus noch im Rohbau. Zu jener Zeit erschien mir dies wichtig, in der Tat wichtiger als die Fertigstellung des Hauses selbst. Grotesk, ich weiß. Mein Mann schüttelte ebenso darüber den Kopf, allerdings konnte er mir selten einen Wunsch abschlagen. Wie auch immer, Tom lebte noch, und unser Leben schien von Freude und Glück durchflutet. Aber dies liegt in der Vergangenheit, bevor die dunklen Wolken heraufzogen. Als ich noch nicht …

Inzwischen haben die Birken längst eine stattliche Größe erreicht, die sie äußeren Einflüssen trotzen lässt. Ich kann sie von meinem Bett aus sehen. Wache mit ihnen auf. Lege mich mit ihnen schlafen. In ihnen lese ich die Jahreszeiten. Ich liebe Birken, schon als kleines Mädchen habe ich sie geliebt – die Dalmatiner der Holzgewächse. Sie bedeuten mir Kraft, Trost und Beharrlichkeit. Ihr Anblick erfüllt mich mit einer Mischung aus Wohlbehagen und seltsamer Erregung. Bei geöffnetem Fenster, wenn der Wind sanft über die herzförmigen Blätter streicht, höre ich ihr Flüstern. Und sie haben so manches zu erzählen. Mitunter geben Birken dunkle Geheimnisse preis – mein Geheimnis, besser gesagt, unseres. Denn obendrein sind sie Zeuge, Mitwisser und Anstifter.

Alles begann mit dem Tod meines Mannes. Nach langer Leidenszeit gaben ihn zuerst die Mediziner auf, im Anschluss er sich selbst. Nur ich habe bis zuletzt auf das Wunder gehofft, gebetet und mit jeder Faser meines Köpers dafür gekämpft. Ungeachtet dessen traf das wohl Unvermeidliche ein. Bei Toms Beerdigung stand ich komplett neben mir. Vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln ließ ich jenen Tag über mich ergehen, ertrug Zeremonie, Beileidsbezeugungen und mitleidige Blicke. Anschließend brach ich zusammen. Meine Erinnerung an diese Zeit ist heute noch lückenhaft. Woran ich mich erinnere, ist die aufopferungsvolle Pflege von Carla, meiner Nichte. Rund um die Uhr war sie für mich da, hat die Belange der eigenen Familie hintangestellt und mich zurück ins Leben geführt, wofür ich ihr in höchstem Maße dankbar bin.

Eines Tages – ich befand mich auf dem Weg der Besserung – offenbarte mir meine Nichte, in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken, nachdem ihr Mann Robert den Job verloren hatte. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und bot Carla an, zusammen mit ihrer Familie bei mir einziehen und mietfrei wohnen zu können. Nicht ganz uneigennützig von mir. Ich fürchtete mich nämlich vor dem Gedanken, in dem großen Haus allein leben zu müssen.

»Oh, Tante Vivian, du weißt gar nicht, wie glücklich du uns machst«, sagte sie.

Ich legte meine Hand auf die ihre. »Kindchen, das ist das Mindeste, was ich für euch tun kann.«

Zwei Wochen vergingen, da fuhren die ersten Lastwagen vor. Es wurde gehämmert, gebohrt, geschliffen und geschraubt. Wände wurden tapeziert oder frisch gestrichen, Teppichböden verlegt und Mobiliar angeschafft. Das Inventar meines verstorbenen Mannes und der größte Teil meines eigenen lagerte man auf dem Dachboden ein. Vage Zweifel beschlichen mich. Nicht wegen der Kosten, auf Geld kam es mir nicht an. Die grundlegenden Fragen lauteten: Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Und würde ich dieser Herausforderung zu solch frühem Zeitpunkt gewachsen sein?

Meine Sorgen verflüchtigten sich, als ich das Ergebnis der Umbaumaßnahmen und die entzückten Gesichter meiner Großnichte und meines Großneffen sah. Aus dem Domizil zweier Individualisten älteren Semesters mit eingestaubten Erinnerungsstücken war das behagliche Zuhause einer jungen Familie mit Zukunft entstanden. Im Garten hatten Schaukel, Rutsche und Sandkasten ihren Platz gefunden, und mir kam zu Bewusstsein, dass von nun an ein scharlachrotes Gatter das Anwesen einzäunen würde. Unweigerlich ging mein Blick zu den vier Birken. Sie machten einen freudlosen Eindruck auf mich, als habe man sie ihres Amtes enthoben.

Ich spürte eine zarte Berührung und sah an mir hinab. Meine Großnichte Louise hatte meine Hand ergriffen.

»Du–uh, Tante, gefällt dir dein Haus jetzt nicht mehr?«, fragte sie und blickte mich mit ihren großen, klaren Augen an.

Ich ging in die Knie. »Doch, Mäuschen«, antwortete ich und drückte sie an mich. »Vermutlich brauche ich nur etwas Zeit, mich daran zu gewöhnen. Aber ich bin überaus froh, dass ihr da seid.«

Das Haus hatte also Zuwachs bekommen. Carla, die quirlige und fleißige Hausfrau und Mutter. Ihr Mann Robert, der Arbeit ebenso wenig scheute und mit Geschick und Einfallsreichtum gesegnet worden zu sein schien – mich begeistern Männer, die anpacken können. Darüber hinaus gab es die achtjährige Tochter Louise, ein bildhübsches Mädchen, höchst neugierig und blitzgescheit. Sie besaß einen gelben Vogel, der Bruce Lee hieß – was für ein irrwitziger Name für einen Kanarienvogel. Tagsüber trillerte er in den obersten Tonlagen und gab erst Ruhe, wenn man ein Tuch über seinen Käfig legte. Zu guter Letzt war da noch das Nesthäkchen Tobey, zwei Jahre alt. Ein Wonneproppen, wie er im Buche stand. Bisweilen etwas anstrengend, aber ich vermutete, dass es sich hierbei nur um eine Phase handelte.

Die darauffolgenden Wochen und Monate verliefen harmonisch; schließlich profitierten beide Seiten von diesem Arrangement. Ich schätzte die Anbindung zur Familie sehr. Es stand mir jederzeit frei, mit ihnen zu essen. Ich wurde in Entscheidungen mit einbezogen und um Rat gefragt. Im Gegenzug passte ich auf die Kinder auf, wenn Carla und Robert außer Haus gingen oder Zeit für sich benötigten. Falls der Trubel meine Nerven doch einmal zu arg strapazierte, verfügte das Haus über ausreichend Platz, sodass ich mich zurückziehen konnte.

Besonders gut verstand ich mich jedoch mit Louise. Die Kleine erinnerte mich zuweilen an mich, als ich im gleichen Alter war. Offensichtlich hatte auch ich ihr Herz erobert. Den überwiegenden Teil der Nachmittage verbrachten wir zusammen. Louise liebte es, wenn ich ihr aus meinen Büchern vorlas – wohlgemerkt Erwachsenenliteratur. Die zuvor von ihr geschätzten Kinderbücher rührte sie dagegen nicht mehr an. Unablässig hing sie an meinen Lippen, sog alles wie ein Schwamm in sich auf.

An sonnigen Tagen saßen wir im Schatten unter den Birken, sprachen über das Tagesgeschehen aus der Zeitung oder spielten Schach. Wir hatten viel Spaß, kicherten miteinander. Oft tat uns vor lauter Lachen der Bauch weh.

Einmal sagte Louise: »Tante Vivian, ich bin gerne bei dir. Du weißt so viel, mehr als alle meine Lehrer.«

Ich strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesichtchen. »Ach, Mäuschen, ich kann mir auch nichts Schöneres vorstellen, als den Tag mit dir zu verbringen.«

Wir genossen jede Minute, die wir beisammen sein konnten. In ihr sah ich nicht bloß die Großnichte, sondern meine Seelenverwandte. Sie redete und verhielt sich fortan nicht mehr wie eine Achtjährige. In der Schule ließ man sie aufgrund von Unterforderung eine Klasse überspringen.

Mein Stolz und meine Zuneigung zu ihr wuchsen stetig. Ich kann es kaum anders formulieren: Sie reifte zur Tochter, die mir das Leben verwehrt hatte. Ich war glücklich.

Bedauerlicherweise hielt mein Glück nicht lange an. Das Leben versteht es, durchaus zu überraschen. Eines späten Abends klopfte es in Gestalt meiner Nichte an die Zimmertür. Ich saß mit einem Buch und einem Glas Wein vor dem Kamin.

»Tante Vivian, bist du noch auf?«, vernahm ich Carlas Stimme von draußen.

»Ja, komm rein.«

Im Türspalt erschien meine Nichte. »Hast du eine Minute?«

»Natürlich. Ich entdecke gerade wieder Jane Austen neu. Meinst du, ihre Romane könnten Louise gefallen?«

»Tante, genau deshalb wollte ich mit dir reden«, sagte sie und betrat den Raum.

Ich registrierte die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und die schmalen Lippen. »Setz dich doch! Möchtest du ein Glas?«

»Danke, nein.«

»Kindchen, was bedrückt dich?«

Sie nahm Platz. Vermied den Blickkontakt zu mir. »Wie soll ich anfangen?«

Ich spürte, dass sie unter großer Anspannung stand. Obwohl das Kaminfeuer loderte, begann ich zu frösteln.

»Es geht um Louise«, erklärte sie und rang sichtlich um Fassung. »Ich finde keinen Zugang mehr zu ihr.«

»Wie meinst du das?«

»In letzter Zeit hat sie sich sehr verändert. Sie …«

»Ich denke doch zum Positiven«, fiel ich ihr ins Wort. »Sie hat immerhin eine Klasse übersprungen, und ihre Zensuren sind ausgezeichnet, oder nicht?«

»Vivian, das meinte ich nicht. Ich … wir bekommen sie kaum noch zu Gesicht. Sie verbringt mehr Zeit mit dir hier oben als mit uns. Sie redet ununterbrochen nur von dir. Tante Vivian sagt dies, Tante Vivian sagt das. Sie sieht zu dir auf, himmelt dich an.«

Versteinert saß ich da.

Hörte weiter zu.

»Sie spielt nicht mehr mit ihren Puppen, möchte sich mit keiner Freundin treffen. Weißt du, was sie sagt?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Die Kinder in der Schule seien ihr zu infantil. Zu in-fan-til, das muss man sich mal geben.« Carlas Stimme schwoll an. »Mein Baby wirft mit Fremdwörtern um sich. Manchmal kommt sie mir vor wie eine Erwachsene im Körper eines Kindes. Sie belehrt Robert und mich in unserer Lebensweise. Was wir tun, wäre nicht gut für den CO2-Haushalt. Sie schlägt sich mit globalen Problemen herum, will Hungersnöte und die Abholzung der Regenwälder bekämpfen, befasst sich mit sozialen Ungerechtigkeiten und schimpft auf Politiker.«

Mein Mund fühlte sich trocken an. Ich wagte nicht, Carla erneut zu unterbrechen.

»Ihre Klassenlehrerin hat mich heute in die Schule bestellt. Louise bombardiere ihre Lehrer unermüdlich mit Fragen und verstricke sie in langanhaltende Debatten. Sie störe den Unterricht, beschäftige sich stattdessen mit anderen Dingen. Und auf die Frage, warum sie sich nicht beteilige, sage sie, dass sie in der Aufgabenstellung wenig Sinn sehe. Ich habe Louise darauf angesprochen. Sie meinte: ›Mama, man muss im Leben Prioritäten setzen.‹ Vivian, das ist doch nicht normal!«

»Ich … ich hatte ja … keine Ahnung«, stammelte ich.

»Louise ist acht Jahre alt. Acht Jahre!«

Ich fühlte einen Kloß in meinem Hals. »Carla, was kann ich tun?«

»Was du tun kannst?«

Ich nickte.

»Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du hast schon genug angerichtet. Neulich meinte Louise, sie wolle einmal so werden wie du. Aber wir wollen nicht, dass sie wie du wird. Sie ist unser Kind. Vivian, du nimmst Louise ihre unbeschwerte Kindheit. Sie ist nicht mehr das kleine Mädchen, das wir kannten.«

»Es tut mir leid, Carla. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Du brauchst nichts zu sagen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass Louise künftig nicht mehr zu dir nach oben kommen wird.« Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und ging.

Ich starrte zur Tür, deren Konturen allmählich vor meinen Augen verschwammen. Meine Brust schmerzte, und der Kloß im Hals nahm mir die Luft zum Atmen.

In dieser Nacht zog ein Sturm über das Haus hinweg – sinnbildlich für meine Situation. Ich wälzte mich im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. In meinem Kopf spulten sich Carlas Worte in einer Endlosschleife ab: »… um dir zu sagen, dass Louise künftig nicht mehr zu dir nach oben kommen wird.«

Am Tag darauf bekam ich mein Mittagessen ins Arbeitszimmer gestellt. Ich war bloß noch ein Schatten meiner selbst. Eine einzige Nacht hatte ausgereicht, mich schlechter fühlen zu lassen als jemals zuvor. Louise traf es nicht minder. Während ich lustlos auf meinem Teller herumstocherte, kam sie von der Schule. Ihre lautstarken Proteste und ihr Weinen fuhren mir durch Mark und Bein. Am liebsten wäre ich hinuntergeeilt, um sie zu trösten – um mich selbst zu trösten. Aber verdiente ich Trost?

Wenn auch unbeabsichtigt, hatte ich das Kind beeinflusst. Ihr meine Ideen und Vorstellungen eingetrichtert und damit letzten Endes geschadet. Der Keim allen Übels war also ich – ich allein.

Von Selbstvorwürfen und Kummer geplagt, verbrachte ich den Nachmittag im Lesesessel und starrte stundenlang zu den Birken. Irgendwann versiegten die Tränen und die finsteren Gedanken. Ich verlor mich in einem Zustand des Nichtseins. Weder fühlte ich meinen Körper noch das Sitzmöbel unter mir. Dies war der Moment, als ich das erste Mal das Flüstern hörte.

»Viviaaan.«

Ich fuhr zusammen. Sah mich um. Niemand war hier. Das Radio aus. Zunächst glaubte ich an eine Sinnestäuschung. Gepolter vom Erdgeschoss drang herauf. Entweder baute Robert wieder mal an einem Regal, oder Tobey warf mit Bauklötzen um sich. Lautes Gezwitscher von Bruce Lee. Außerdem ein entferntes Wimmern. Louise?

»Viviaaan«, wisperte es wieder.

Aufs Neue erschrocken, lenkte ich den Blick zum Fenster. Es stand in Kippstellung. Diesmal war ich mir sicher: Die Worte hatten mehrere Personen gleichzeitig ausgesprochen. Möglicherweise befanden sich Leute im Garten. Ich trat an die Fensterscheibe, doch sah niemanden. Mit dem Fernglas suchte ich den Waldrand ab. Mein Herz pochte. Keine Menschenseele zu erkennen. Ich drehte am Fokussier-Rad, durchkämmte systematisch das Gelände und blieb an einem Punkt haften: die Birken im Garten. Ihre Zweige wiegten im Wind.

»Viviaaan.«

Ich stieß einen Schrei aus. Das Fernglas fiel zu Boden. Das konnte unmöglich sein. Wie sollten Bäume sprechen können? Hatte ich den Verstand verloren?

»Wiiir sind es.«

Die Birken sprachen zu mir. Ihre Trauer über den errichteten Zaun war demnach keine Einbildung gewesen. Ich hatte ihre Stimmung wahrhaft gefühlt. Erstaunlicherweise brachte mich diese Erkenntnis nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, sie hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.

»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich.

»Viviaan, wir leeeiden.«

»Warum?«

»Wir füüühlen mit dir.«

Bei genauerer Betrachtung wirkten die Birken angeschlagen und kraftlos. Ihre feingliedrigen Äste hingen herab. Die Baumrinde hatte eine gräuliche Färbung angenommen.

»Ich bin eben traurig«, sagte ich. »Sie verbieten mir den Umgang mit Louise.«

»Sie sind nicht gut für diiich. Schick sie weg!«

»Wenn die Familie geht, geht Louise mit ihnen. Aber ich will das Kind nicht verlieren.«

Einige Sekunden blieb es still.

»Was soll ich tun?«

Ein Knacken hinter mir. Ich wandte den Kopf.

Carla stand in der Tür. »Mit wem redest du?«

»Mit mir selbst«, sagte ich und blickte zum Fenster hinaus.

»Vivian, du wirst immer wunderlicher, weißt du das?«

Ich schwieg.

»Na ja, hier ist jedenfalls dein Abendbrot«, sagte meine Nichte und stellte eine Platte mit belegten Broten auf den Tisch.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst etwas essen.«

»Muss ich?«

»Vivian, stell es bitte nicht so hin, als wären wir die Bösen.«

»Nein, die böse alte Frau bin wohl ich.«

»Tante, du willst doch auch, dass es Louise gutgeht, oder etwa nicht?«

»Was ist denn das für eine Frage

»Dann halt dich von ihr fern und lass sie Kind sein!«

»Ich …« Weiter kam ich nicht. Die Tür fiel ins Schloss.

An diesem Abend sprachen die Birken nicht zu mir, und auch die Nacht über sollte ich mit meinen Gedanken alleine bleiben.

Ungestümes Kinderlachen entriss mich einem traumlosen Halbschlaf. Dennoch war ich erleichtert, überhaupt etwas Ruhe gefunden zu haben. Ich fühlte mich klarer. Wie herrlich das Lachen doch klang. Offenbar alberten Louise und Tobey am Frühstückstisch herum. Süßlicher Duft zog in meine Nase. War heute Samstag? Samstags backte Robert immer Pancakes. Dazu gab es wahlweise Himbeeren, Schokocreme oder Ahornsirup. Ich rieb mir die Augen. In dieser Sekunde hätte ich alles dafür gegeben, bei ihnen am Tisch zu sitzen.

»Das Mädchen scheint dich lääängst vergessen zu haben«, flüsterte es.

Ich blickte aus dem Fenster. Die Morgensonne brach durch das Blattwerk der Birken und zeichnete lang gezogene Formen auf den Rasen.

»Nein, Louise ist nur abgelenkt«, erwiderte ich.

»Iiihr bist du egal. Der Familie bist du egal.«

Empörung stieg in mir auf. »Das stimmt nicht!«

»Hööör doch hin. Sie haben Spaß, während du hier oben schmachtest.«

»Sie haben mich aus einem schweren Tief geholt.«

»Und wo bist du nuuun?«

»Bestimmt wird es wieder besser«, hörte ich mich antworten. Indessen geriet mein Inneres weiter in Aufruhr. Ich ballte die Hände zu Fäusten.

»Sie nutzen diiich aus. Lachen über deine Gutmütigkeit.«

»Aber Carla … sie hat mir geholfen.«

»Aus puuurer Berechnung.«

»Nein, nein!«

»Sie müssen geeehen.«

»Sie sind die einzigen Verwandten, die ich noch habe.«

»Aus diiiesem Grund erben sie alles. Je früher duuu stirbst, desto besser für sie!«

Ich schmiss mich aufs Bett und presste das Kopfkissen gegen die Ohren. »Ich will das nicht hören. Ihr lügt!«

Die Stimmen verstummten und mit ihnen die Geräusche aus dem Erdgeschoss.

Wie lange ich so dalag, vermag ich nicht zu sagen. In meinem Kopf herrschte eine friedvolle Leere, in der ich mich verlor.

Poch.

Ich schlug die Augenlider auf. Blickte zur Zimmerdecke. Hellwach.

Poch.

Ein stechender Schmerz in meinem Kopf.

Poch.

Abermals meinte ich, mir müsse der Schädel zerspringen. Ich hastete aus dem Bett und blickte aus dem Fenster. »Was um Himmels willen …?«

Robert stand bei den Birken und zog gerade einen Pfeil aus einem der Baumstämme. Er hatte eine Zielscheibe angebracht und vertrieb sich die Zeit, indem er mittels Langbogen Pfeile auf sie abfeuerte.

Ich riss das Fenster auf. »Hör sofort damit auf!«, schrie ich.

Mit erstaunter Miene sah Robert zu mir herauf. Durch Handzeichen gab er mir zu verstehen, er wolle das Schießen einstellen.

Erleichtert beobachtete ich ihn, wie er die restlichen Pfeile herauszog und im Köcher verstaute. Erst jetzt entdeckte ich den Rest der Familie. Carla rührte in einer Salatschüssel, Louise saß auf der Schaukel, und Tobey spielte im Sandkasten mit bunten Plastikförmchen. Auf dem Grillrost brutzelten Fleisch und Würste vor sich hin und verströmten ein würziges Aroma.

»Ich bringe dir nachher einen Teller nach oben, Vivian«, rief meine Nichte und winkte mir zu.

Louise sah vergnügt aus. Bewusst oder unbewusst nahm sie keine Notiz von mir. Dieser Umstand versetzte mir einen tiefen Stich ins Herz.

»Viviaaan.«

Ich schloss die Augen. Fühlte Tränen meine Wangen hinuntergleiten.

»Es wiiird Zeit«, flüsterten die Birken mir zu.

»Ich weiß«, antwortete ich. »Aber allein komme ich nicht gegen sie an.«

»Wiiir helfen dir.«

»Was soll ich tun?«

»Du weißt, was zu tuuun ist.«

Ich nickte und verließ das Zimmer. Vorbereitungen mussten getroffen werden.

Dem Messerblock in der Küche entnahm ich das große Kochmesser und wog es in den Händen. Anschließend griff ich zum Tranchiermesser. Es schien mir besser geeignet. Lichtreflexe brachen sich in der Klinge. Mein Puls beschleunigte.

»Ich glaube, ich kann das nicht«, sagte ich.

»Du muuusst!«, flüsterte es. »Sie haben dein Leben auf den Dachboden verbannt. Sie nutzen dich aus. Sie verbreiten Lärm und Hektik. Sie haben dir Louise genommen. Sie müssen weg. Töte sie!«

Mit jedem Argument spannten sich meine Muskeln weiter an. Die Bäume hatten recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Ich musste die Familie töten.

»Was machst du hier?«, grollte es hinter mir.

Jemand packte meine Schulter. Ich drehte mich um.

Wenige Zentimeter vor mir stand Carla. Ihre Gesichtszüge wechselten von Zorn zu Verwunderung. Die Augen weit. Der Mund leicht geöffnet. Sie sah nach unten. Ich folgte ihrem Blick. Zeitgleich spürte ich die Kraft, die gegen meine Hand drückte. Da sah ich das Blut. Rasch breitete es sich auf Carlas weißem Sommerkleid aus. Dort, wo die Klinge im Stoff eingedrungen war. Ich zog das Messer heraus. Ließ es fallen.

Carlas Augen fixierten mich. Ihre Lider zuckten. Sie bewegte die Lippen, ohne dass ich eine Silbe verstand. Dann sackte sie zu Boden und regte sich nicht mehr.

»Was habe ich getan?« Ich war wie versteinert. So entsetzlich der Anblick auch war, ich konnte nicht wegsehen.

»Du hast das Richtige getaaan«, flüsterten die Stimmen.

»Ich … ich … habe sie umgebracht.«

»Das wolltest du doch.«

»Es war … ich mein …« In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander.

»Nun räum sie weeeg«, flüsterte es. »Wir sind noch nicht fertig.«

Im Hintergrund hörte ich Bruce Lee pfeifen. Nicht sein übliches Gezwitscher. Dieses Pfeifen klang anders; aufgeregter, lauter – es klang … anklagend.

Ohne nachzudenken, schritt ich ins Esszimmer, öffnete den Käfig, packte das Federvieh und brach ihm das Genick. Anschließend spülte ich ihn die Toilette hinunter. Ich fühlte mich gut, verdammt gut sogar. Das hätte ich schon viel früher tun sollen.

Als Nächstes musste ich Carla verstecken. Ich zog ihren Körper über den Steinfußboden in die Speisekammer. Die Türe ließ ich angelehnt. Mit Gummihandschuhen, Wassereimer, Putzmittel und Schwamm machte ich mich an die Beseitigung der Spuren.

Ich wrang gerade den Schwamm in der Spüle aus, da erschien Robert in der Küche.

»Wo ist Carla?«, fragte er.

»Woher soll ich das wissen?«

»Sie wollte nur Kräuterbutter holen.« Er sah auf die Uhr. »Das ist jetzt bestimmt schon zehn Minuten her.«

»Vielleicht war keine mehr im Kühlschrank, und sie ist einkaufen gefahren.«

»Nein, ich hätte das Auto doch gehört.«

»Tja, such sie doch«, schlug ich vor.

Entgeistert blickte er mich an und näherte sich der Speisekammertür. »Liebling?«

Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Bewegte vorsichtig meine Hand Richtung Gasherd. Ich fühlte den Griff der schweren Eisenpfanne und schloss die Finger darum.

Er öffnete die Türe. »Carla! Was …?«

In diesem Augenblick krachte die Pfanne mit voller Wucht gegen seine Schläfe. Ein dumpfes Geräusch. Rückstände von Bratkartoffeln und Fett spritzten umher, und einhundertundachtzig Pfund Körpergewicht schmetterten zu Boden.

»Das hättest du mir wohl nicht zugetraut. Keiner von euch!« Ich triumphierte, und das freigesetzte Adrenalin fühlte sich fantastisch an.

Um mir Gewissheit zu verschaffen, dass Robert wirklich tot war, legte ich zwei Finger an seine Halsschlagader. Kein Puls.

Fast mühelos glitt Roberts Leiche über den öligen Fußboden hinweg. Auch er fand seinen vorläufigen Platz in der Speisekammer.

Ich atmete tief durch. Der grässlichste Teil des Vorhabens stand mir noch bevor. Doch ein Zurück würde es nicht mehr geben, so gern ich es auch gewollt hätte. Nein, dafür war es zu spät …

Louise schob ihrem kleinen Bruder eine Gabel mit Fleisch in den Mund, als ich um die Ecke in den Garten kam.

»Nein«, sagte sie. »Erst runterschlucken, dann kommt Nachschub.«

Tobey verzog die Miene. Wirkte unschlüssig, ob er brüllen oder klein beigeben sollte. Er entschied sich für Letzteres.

»Das machst du prima«, sagte ich.

Louise nickte. »Na ja, man muss schon resolut sein, sonst tanzen Kinder einem auf der Nase herum.«

»Du scheinst alles im Griff zu haben.«

»Trotzdem möchte ich später mal keine.«

»Wieso?«

»Weil sie nur Probleme machen. Du wolltest doch auch keine Kinder, Tante.«

»Mäuschen, das hatte bei mir andere Gründe.«

»Welche denn?«

Ich winkte ab. »Ein andermal. Na, wer von euch will ein Eis?«

»Ich«, rief Tobey und spie halbzerkaute Fleischbrocken aus.

Beide saßen auf der Kücheneckbank, während ich Erdbeersorbet in zwei Eishörnchen füllte. Um die Waffeln wickelte ich Servietten, die ich unauffällig mit Chloroform tränkte, und reichte ihnen das Eis.

»Tante, möchtest du keins?«, fragte Louise.

»Nein, esst ihr nur.«

Kaum hatte ich den Satz beendet, kippte Tobeys Kopf auf die Tischplatte. Louise sank nur wenige Atemzüge später in sich zusammen. Ich holte die Spritze aus der Seitentasche meiner Strickjacke hervor. Mit zitterigen Fingern knotete ich den Gummischlauch um den Oberarm des Jungen und drückte die Überdosis Propofolmischung in seine Vene. Daraufhin nahm ich das braune Injektionsfläschchen und zog die Spritze erneut auf. Ich setzte mich zu Louise, hielt sie fest im Arm – ein allerletztes Mal. Während der Kolben niederging, fühlte ich, wie das Leben aus ihrem zarten Körper wich. Meine Finger strichen ihr durchs Haar. Etwas in mir zerriss und starb mit ihr.

»Guuut gemacht«, flüsterten die Birken. »Spute dich. Noch ist unser Plan unvollendet.«

»Ich weiß«, sprach ich und wusch mir das Gesicht an der Spüle.

Bis Sonnenuntergang blieb wenig Zeit. Den Restbestand an Medikamenten und Utensilien aus Toms Tierarztpraxis stopfte ich in schwarze Müllsäcke. Ich putzte die Küche, räumte den Garten auf, packte Kleidungsstücke der Familie in Koffer und lud sie zusammen mit den Säcken in den BMW.

Es sollte den Anschein erwecken, als seien sie verreist.

Jeder Punkt auf meiner Strichliste wurde sorgfältig abgehakt.

Als die Dunkelheit hereinbrach, fuhr ich ins Sumpfgebiet und ließ den schwarzen BMW Kombi im Morast versinken. Zerplatzende Luftblasen an der Wasseroberfläche waren das Letzte, was ich vom Familienauto zu Gesicht bekam. Die sieben Meilen zurück musste ich zu Fuß bewältigen. Starker Kaffee und zwei Gläser Scotch richteten mich wieder auf.

»Gib sie uuuns«, wisperten die Birken. »Wir werden auf sie aufpassen.«

Die Mühsal, vier Gräber ausheben zu müssen, brachte mich erneut an den Rand der Erschöpfung. Die Birken gestanden mir allerdings nur kurze Verschnaufpausen zu. Ich verfrachtete einen Leichnam nach dem anderen mithilfe einer Schubkarre zu ihnen. Wir hatten Glück. In dieser Nacht führte der Neumond das Regiment am Sternenhimmel. So blieb unser Treiben der Außenwelt verborgen.

Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Birkenwipfel. Durchgeschwitzt und entkräftet klopfte ich die wiedereingefügten Rasenstücke plan und sammelte letzte Krümel Erde auf. Den überschüssigen Erdaushub verstreute ich auf dem Acker des Nachbarn. Ein abschließender Blick auf die Grabstätte. Perfekt.

Die Kombination aus körperlicher Anstrengung und Ruhe im Haus ließ mich den kompletten Sonntag durchschlafen. Beim Erwachen konnte ich mich kaum rühren. Der Muskelkater und die Kopfschmerzen waren mörderisch.

Natürlich blieb das Verschwinden der Familie nicht unbemerkt. Am Montag rief die Schule an, um sich nach Louise zu erkundigen. An den darauffolgenden Tagen meldeten sich alle möglichen Leute: die Kinderarztpraxis, das Fitnessstudio, ein Kollege von Robert, Carlas Frisörin und so weiter. Meine Auskunft blieb stets dieselbe: »Die Familie ist verreist … Nein, ich weiß nicht wohin … Nein, ich weiß auch nicht, wann sie zurückkommen.«

Schließlich stand die Polizei vor der Tür.

Eine junge, blondhaarige Polizistin mit Pferdeschwanz musterte mich. »Sie wollen uns allen Ernstes weismachen, seit über zwei Wochen nichts von der Familie gehört zu haben?«

»Weil es die Wahrheit ist«, sagte ich.

»In der ganzen Zeit kein Anruf, keine Urlaubskarte, keine E-Mail? Die Leute wohnten immerhin bei Ihnen!«

»Nein. Wir leben in einem freien Land. Es steht jedem frei zu verreisen, wann immer und so lange er möchte.«

Die Polizisten gingen. Doch sie sollten alsbald schon wiederkommen. Dieses Mal mit einem Durchsuchungsbeschluss. Das Haus und das gesamte Anwesen wurden buchstäblich auf den Kopf gestellt. Etwas Verwertbares wurde nicht gefunden. Ich hatte gute Arbeit geleistet. Über den Leichen lag eine dicke Schicht Kalkpulver, und ich hatte literweise Salmiakgeist darübergeschüttet. Die Rechnung ging auf. Keiner der Spürhunde schlug bei den Birken an.

Bei der Vernehmung blieb ich standhaft und ließ mich in keinerlei Widersprüche verwickeln.

Erst als das Ermittlungsteam abrückte und die Haustüre hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich auf.

Nachträglich belagerten bohrende Fragen meinen Verstand: Hatte ich es geschafft? Würden sie den schwarzen BMW irgendwann finden? Falls ja, konnte die Verbindung zu mir hergestellt werden? Musste ich für den Rest meines Lebens ins Gefängnis? Diese Ängste begleiteten mich, aber schlimmer noch war diese unbeschreibliche Sehnsucht. Mir fehlte Louise, mein kleines Mädchen – in jeder Minute, zu jeder Stunde, an jedem gottverdammten Tag.

Ein Ruck fuhr durch meine Glieder. Ich glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. War jemand im Haus? Ich hielt die Luft an. Gedämpfte Stimmen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Ein Poltern. Leute stürmten die Treppe hinauf. Schnelle Schritte. Krachend flog die Zimmertür auf.

»Tante, Tante, sieh mal, was ich gekriegt habe«, sprudelte es aus Louise hervor. Sie rannte ums Bett herum und präsentierte ein Lebkuchenherz, das an ihrem Hals hing.

»Großartig«, sagte ich und las den Text darauf. Süße Maus.

Carla lehnte am Türrahmen. »Wir waren mit ihnen auf dem Rummelplatz.«

»Und, hattest du viel Spaß?«, fragte ich Louise.

»Ja, ich bin Autoskooter gefahren, Riesenrad und Kettenkarussell.«

Ich hustete.

»Komm, Louise«, sagte Carla, »die Tante braucht etwas Ruhe.«

»Aber ich habe ihr noch gar nicht meine neuen Schuhe gezeigt«, entgegnete die Kleine.

»Schätzchen, die kannst du ihr später doch noch zeigen. Sieh lieber mal nach deinem Bruder, dass er die Süßigkeiten nicht allein verputzt.«

»Oh nein, der Vielfraß«, rief sie und rannte hinaus.

Meine Nichte beugte sich über mich. Wischte mir mit einem Papiertaschentuch den Mund. »Vivian, kann ich etwas für dich tun?«

»Wärst du so lieb, das Kopfteil hochzustellen und das Fenster zu öffnen?«

»Klar.«

»Danke, Kindchen.«

»Na, schön. Ruf einfach, wenn du was brauchst. Ja?«, sagte Carla und verließ den Raum.

Meine Augen tasteten umher. Pflegerollstuhl, Patientenlifter, Sauerstoffkonzentrator, Absaugegerät, Infusionsständer und eine Serie an Schläuchen und Kabeln. Im Wandregal stapelten sich Medikamente und allerhand Pflegemittel. Das Zimmer glich einer Intensivstation.

Am helllichten Tag hatte mich ein Auto angefahren, vom Fahrrad geschleudert und überrollt. Seit diesem Unglück war ich vom zweiten Halswirbel abwärts gelähmt. Lediglich den Kopf konnte ich noch bewegen. Der Verursacher beging Fahrerflucht. Die Polizei fand ihn bis heute nicht. Lackspuren am Fahrradrahmen deuteten auf einen schwarzen BMW hin.

Ich blicke zu den vier Birken und lausche dem Rascheln ihrer Blätter. Robert gab zu Protokoll, sein Auto einen Tag vor dem Unfall verkauft zu haben. Ich habe keinen Grund, ihn zu verdächtigen. Warum sollte er lügen?

Lucius Allan

Die Kunst kriminalistischer Beweisführung

Wie leicht wäre der Kampf gegen das Böse, würden umständliche Gesetze nicht darauf bestehen, ein Verbrecher dürfe erst dann verurteilt und gerichtet werden, wenn er das Verbrechen, das er bereits Wochen und Monate im Geiste mit sich herumtrug, auch tatsächlich begangen habe. Nun ja, besagte Gesetze existieren, und da von Gesetzen gemeinhin behauptet wird, ohne sie würden wir uns gegenseitig zerfleischen, so wird die Strafverfolgung auch künftig die Prinzipien der kriminalistischen Beweisführung lediglich dazu verwenden, bereits begangene Verbrechen aufzuklären, statt die noch zu erwartenden zu verhindern. Doch bevor ich Ihnen an einem ganz konkreten Fall demonstriere, wie bedenklich die bestehende Gesetzeslage und die Praxis der Strafverfolgung sind, will ich kurz die Prinzipien der Beweisführung erläutern, mit deren Hilfe sowohl bereits vollübte Taten aufgeklärt als auch solche verhindert werden können, die das Stadium der Planung noch nicht überschritten haben.

An erster Stelle stehen die hehren Prinzipien der logischen Deduktion und Induktion, die so vielschichtig und verschlungen sind, dass eine erschöpfende Besprechung derselben den kriminalistischen Laien nur verwirren würde. Ich will mich also darauf beschränken, deren Existenz mit aller Bestimmtheit hervorzuheben.

Der nächste Punkt ist die Erfahrung. Ich verfüge über eine mehrjährige Erfahrung, die mich die Prinzipien der Beweisführung in solchem Maße haben verinnerlichen lassen, dass ich es gar nicht mehr bemerke, wenn ich deduziere oder auch induziere. Aber noch etwas weitaus Wichtigeres stellt sich bei ausreichender Erfahrung – und entsprechender Begabung – automatisch ein, was weder an Universitäten noch aus Büchern zu lernen ist: Gespür! Jawohl. Gespür. Noch bevor irgendwelche Beweise oder auch nur Hinweise auf Beweise vorliegen, spürt der begabte Strafverfolger bereits, wenn in seiner Umgebung eine Missetat begangen oder auch nur geplant worden ist. Und gewiss werden Sie nun auch ahnen, welche Qualen ich erleide, wenn ich ein geplantes Verbrechen spüre, ja, mir dessen schon ganz gewiss bin, aber nichts unternehmen kann, weil mir ein Wirrwarr aus Gesetzen und Vorschriften die Hände binden, sodass das Verderben ungehindert seinen Lauf nehmen kann.

Doch kommen wir nun zu dem bereits angekündigten Fall.

Ich verlasse mein Büro nur selten, denn alles, was ich für meine Ermittlungen benötige, befindet sich bereits dort: mein Scharfsinn samt logischer Deduktion und Induktion, meine Erfahrung, mein Gespür, ein Feldstecher und ein Fenster, durch das ich mit dem Feldstecher spähen kann. Mein Büro liegt an der Hauptstraße unseres Ortes, und an der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein recht breiter Gehweg, der an einer Reihe von Geschäften und Wohnhäusern vorbeiführt. Unser Städtlein ist ein ruhiger, ist ein angenehmer Ort, dessen Einwohner ganz überwiegend ein gesetzestreues und anständiges Leben führen. Doch selbst hier finden sich hin und wieder kriminelle Elemente, und wann immer Laster und Verderben sich einen Weg in unsere Gemeinschaft bahnen, so führt sie das Geschick regelmäßig den Gehweg gegenüber meinem Büro entlang. Und dort nun warte ich, bewaffnet mit meinem Scharfsinn und meinem Feldstecher.

Eines Tages begab es sich nun, und hier beginnt jetzt unser Fall, dass ein älteres Ehepaar um 18 : 21 Uhr auf eben jenem Gehweg entlangspazierte. Zunächst war an den beiden nichts Ungewöhnliches oder gar Verdächtiges zu entdecken. Ein Ehepaar eben, das in den Abendstunden einen Spaziergang machte. Sie gingen nun regelmäßig zwischen 18 : 13 und 18 : 25 Uhr an meinem Büro vorbei, ohne irgendwelchen Argwohn zu erwecken, bis eines Tages, wir schrieben den 4. November, sich meine stärkste Waffe, mein Gespür, vernehmen ließ und mich mahnte, die beiden im Auge zu behalten. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei objektiv nachvollziehbare Hinweise auf irgendein Vergehen, aber die benötigte ich auch gar nicht. Wenn mein Gespür mir eingab, dass sich etwas zusammenbraue, so wog dies mehr als jede noch so sorgfältig zerstückelte Leiche.

Ich behielt die beiden also im Auge. Der Mann hatte die Sechzig bereits deutlich überschritten, war wahrscheinlich Rentner. Vollständig ergrautes Haar, groß gewachsen, aufrechter Gang, knielanger Mantel aus schwarzem Tuch. Gehobener Mittelstand, wahrscheinlich ehemaliger Beamter. Die Frau war wesentlich jünger, in den Fünfzigern, vielleicht auch erst in den Vierzigern, einen Kopf kleiner als der Mann, brünett, attraktiv, dunkelblaue Cordjacke.

Am 6. November passierten sie um 18 : 21 Uhr mein Büro, und dieses Mal machte ich zwei Beobachtungen, von denen eine ganz klar bestätigte, dass mein Gespür mich nicht getäuscht hatte. Zum einen konnte ich an ihren Schuhen den Weg bestimmen, den sie gegangen sein mussten. Ohne Zweifel waren sie von der Greifenstraße in den Stadtpark eingebogen, waren dort den am Teich vorbeiführenden Weg entlanggegangen, der direkt bis an die Hauerstraße führt. Der Hauerstraße waren sie dann ein Stück nach links gefolgt bis zur Ampel, hatten dort die Straße überquert und waren die Fußgängerzone entlang bis zur Hauptstraße gegangen, wo sie dann auf den Gehweg abgebogen waren, der auf der gegenüberliegenden Seite an meinem Büro vorbeiführt.

Der Hinweis, der mir ihren Weg verraten hatte, war so trivial, dass ich mich kaum getraue, ihn hier anzuführen: Ihre Schuhe waren mit einem bräunlichroten Schlamm beschmutzt, wie man ihn bei Regenwetter – und in den vergangenen Tagen hatte es geregnet – auf dem Weg im Stadtpark vorfindet, und zwar nur auf dem Weg im Stadtpark!

Die zweite Beobachtung war noch bedeutsamer, denn sie bewies mir nicht nur die Verlässlichkeit meines Gespürs, sondern verriet mir auch, dass der Haussegen bei den beiden schief hängen musste. Gingen sie sonst immer eingehakt und in ein eifriges Gespräch vertieft den Gehweg entlang, so schwiegen sie am 6. November mit eisiger Miene und hatten zu allem Überfluss noch die Hände demonstrativ in den Mantel- beziehungsweise Jackentaschen vergraben.

Ich ging einige Male grübelnd in meinem Büro auf und ab, doch sagte mir mein Ermittlersachverstand schon bald, dass ich zunächst die Ereignisse zumindest des folgenden Tages werde abwarten müssen, bevor ich irgendwelche Schritte einleiten konnte.

Der nächste Tag kam und mit ihm das Ehepaar. Auch dieses Mal gingen sie schweigend und mit eisiger Miene vorbei.

Am übernächsten Tag, den 8. November, gingen sie zwar wieder eingehakt, doch genügte schon ein Blick in ihre Gesichter, um in diesem Theater den sehr ungeschickten Versuch zu erkennen, den Schein einer glücklichen Ehe zu bewahren.

Das, worauf ich gewartet hatte, folgte dann am nächsten Tag. Als ich auf meinem Posten am Fenster stand, in der einen Hand den Feldstecher, in der anderen einen Martini, wen entdeckte ich da? Oder genauer: Wen entdeckte ich da zu einer völlig ungewohnten Zeit, nämlich um 14 : 32 Uhr? Ganz recht. Die Frau. Und zwar nur die Frau; sie war alleine, ohne ihren Ehemann! In einer Ungezwungenheit, die schon fast lächerlich wirkte, flanierte sie den Gehweg entlang, blieb bisweilen stehen, um die Auslage in einem der Schaufester zu betrachten, tat interessiert, nur um sich im nächsten Augenblick den Anschein höchster Empörung über die Preise zu geben. O ja, sie, die unschuldige, von ihrem Mann so kurz gehaltene Ehefrau in der schäbigen Cordjacke, sie hatte allen Grund, sich über den Wucher der Welt erbittert und voll Zorn zu zeigen!

Sie ging also weiter, bisweilen noch unwillig den Kopf schüttelnd, und dann, ja, dann kam, was kommen musste. Ein Mann, jung, voll Leben, attraktiv, in der Blüte seiner Jahre. Er verließ gerade eine Drogerie, als er – ganz zufällig! – die Frau erblickte.

Ach, wie groß war das Erstaunen über die so zufällige Begegnung auf dem belebten Gehweg. Sie reichte dem jungen Mann die Hand, wie man es bei einem entfernten Bekannten zu tun pflegt, den man irgendwann einmal bei einem ganz unbedeutenden Anlass kennengelernt und gleich darauf wieder vergessen hat. Man gab sich also die Hand, nur kurz, betont distanziert. Dann plauderte man ein wenig, tauschte die üblichen Floskeln aus, die man eben für ganz unbedeutende und zufällige Bekannte bereitzuhalten pflegt.

Ich musste schmunzeln, war innerlich aber doch empört und fühlte mich beleidigt, dass die beiden Schmierenkomödianten glaubten, einen erfahrenen Ermittler meines Ranges mit dieser Vorstellung narren zu können. Doch beließ ich es bei einem Kopfschütteln und beobachtete weiter, obwohl ich natürlich längst wusste, was als Nächstes geschehen würde.

Und da geschah es auch schon. Er öffnete eine Plastiktüte mit den Einkäufen, die er gerade in der Drogerie getätigt hatte, und holte eine Schachtel heraus. Dies tat er ohne den geringsten Versuch, etwas zu verbergen. Ganz im Gegenteil, er wühlte so auffällig in seiner Tüte herum, geradezu als wolle er herausbrüllen: Seht alle her! Glaubt ihr etwa, ich hätte irgendwas zu verheimlichen?

Dem geübten Auge fiel allerdings sofort ein kleines, aber bedeutendes Detail auf: Der Bursche achtete peinlich darauf, dass er den Großteil der Schachtel mit der Handfläche bedeckt hielt, sodass nur die Frau diese eindeutig identifizieren konnte.

Außer mir ist das natürlich niemandem aufgefallen; die Frau konnte also die Schachtel unbehelligt an sich nehmen und dann, nach einem flüchtigen Händedruck mit dem Mann, ihres Weges gehen.

Und hier nun befand ich mich wieder an jenem Punkt, da mir so schmerzhaft die Unzulänglichkeiten unserer Gesetzgebung bewusst wurden. Hätten mir nicht umständliche Gesetze die Hände gebunden, sondern hätte ich jetzt sogleich in Aktion treten können, welches Leid wäre der Menschheit erspart geblieben!

So aber nahm das Verhängnis seinen Lauf, und ich konnte nichts anderes tun, als abwarten.

Ich wartete also, zur Untätigkeit verdammt, während das Böse jeden Augenblick in unsere Stadt einfallen konnte. Dennoch wartete ich ohne innere Anspannung, da ich ja wusste, auf wen ich wartete und wann die Erwartete eintreffen würde. Ich beobachtete also die Passanten auf dem Gehweg, die sich im Laufe des Nachmittags allerdings rar machten, nachdem der erste Schnee des Jahres zu fallen begonnen hatte und es empfindlich kühl geworden war.

So vergingen also die Stunden, und als es endlich 18 : 15 Uhr war, da erschien sie endlich. Ohne die geringste Überraschung stellte ich fest, dass sie wiederum alleine war. Dies war die Zeit, zu der sie täglich ihren Spaziergang mit ihrem Mann unternahm, aber nun kam sie allein. Aber immerhin kam sie, der Schein musste schließlich weiterhin gewahrt werden! Ebenfalls ohne Überraschung stellte ich fest, dass sie nun nicht mehr ihre alte Cordjacke trug, sondern einen teuren Pelz. So sicher fühlte sie sich also bereits.

Ich ließ sie gehen und beschloss, am nächsten Tag in Aktion zu treten.

Den folgenden Vor- und Nachmittag beobachtete ich zunächst den Gehweg, ohne die Frau hingegen entdecken zu können – ganz wie ich erwartet hatte.

Um 17 : 30 Uhr packte ich meinen Arbeitskoffer und begab mich in den Stadtpark. Dort wartete ich. Ich wartete zehn, ich wartete fünfzehn, ich wartete zwanzig Minuten. Es hatte bereits zu dämmern begonnen, und ich befürchtete schon, sie irgendwo übersehen zu haben. Dass sie kommen würde, stand außer Frage. Sie musste auch heute und noch am folgenden Tag den Spaziergang unternehmen, um den Anschein zu erwecken, alles sei in bester Ordnung und gehe seinen gewohnten Gang.

Ich marschierte den Weg im Stadtpark auf die Hauerstraße zu, und da – mit einem Male – entdeckte ich sie. Sie hatte also versucht, mich zu täuschen, war heute nicht durch den Park gegangen, sondern schlenderte scheinbar völlig unschuldig – aber natürlich wieder im Pelzmantel! – die Hauerstraße entlang.

Im Laufschritt machte ich mich auf und erreichte die Hauerstraße gerade in dem Augenblick, da sie den zum Stadtpark führenden Weg passierte. Ich hielt sie an und teilte ihr mit, in aller Höflichkeit natürlich, dass sie festgenommen sei. Die folgenden Erläuterungen hätte ich mir gerne erspart, da sie ja den Grund ihrer Festnahme ebenso gut kannte wie ich. Aber das Gesetz schreibt diese Formalitäten vor, also schilderte ich ihr auf ihre verwunderte Frage, die sie nicht ohne schauspielerisches Talent vorbrachte, was geschehen war. Die unglückliche Ehe mit dem bejahrten Mann, der sein ganzes Leben lang treu dem Staat gedient und dessen einziges Verbrechen darin bestanden hatte, sparsam und inzwischen alt zu sein; der wahrscheinlich aus einer anderen Stadt stammende jugendliche Liebhaber, der ihr aus der Drogerie das Gift – vermutlich Rattengift – besorgt hatte, weil sie selber glaubte, dort möglicherweise erkannt zu werden. Dann der Nachmittagstee für ihren Mann, dem sie heimlich das Gift beigemengt hatte; erste Darmkrämpfe, Übelkeit, röchelnd hatte sich der Mann zum Badezimmer geschleppt, wo er dann zusammenbrach. Währenddessen hatte sie den Haustresor geplündert und ließ dann ihren sterbenden Ehegatten – bis dass der Tod uns scheidet! – in der Wohnung zurück, um sich nach all den Jahren der Entbehrung endlich den lang ersehnten Pelzmantel zu kaufen. Dann zur gewohnten Zeit der Spaziergang, um ja keinen Argwohn zu erwecken, was ihr gewiss auch gelungen wäre, hätte sie sich hierfür nicht gerade den Gehweg vor meinem Büro ausgesucht. Nach der Beerdigung ihres Mannes dann schließlich die Flucht mit ihrem jugendlichen Liebhaber. Was sie dazu zu sagen habe?