817460_Buechle_Mehr_als_nur_ein_Traum_S3.pdf

5. Kapitel

Wie nahezu an jedem Abend, seit sie vor zwei Wochen den Pick-up gekauft hatte, hielt Felicitas im Dorf, da ihr Birdie von der Vorderveranda aus zugewunken hatte. Sie trat an das gesplitterte Holzgeländer und unterhielt sich mit der alten Frau, den neugierig herbeilaufenden Kindern und deren Eltern, während sich die warme Maisonne allmählich hinter den knorrigen Bäumen verabschiedete. Das endlos erscheinende Dröhnen eines vorbeifahrenden Zuges und das Rattern der Räder über die Schwellen drangen lautstark herüber. An diesem Tag wagte Felicitas, ein Thema anzusprechen, das ihr seit geraumer Zeit auf dem Herzen lag: „Ich habe gehört, Miss Virginia sei ermordet worden.“

Birdie sah sie traurig an und bat sie, ihr in den Garten zu folgen. Auf dem Weg dorthin bewunderte Felicitas die tiefroten Heckenrosen, die bis über die Fenster hinaufrankten. Hinter der Hütte ragte ein Wellblechdach über eine Veranda hinweg, auf der eine Holzbank als Schaukel an den Dachträgern befestigt war. Dem Anbau schloss sich ein lang gezogenes Feld an, auf dem eine bunte Anzahl verschiedener Pflanzen wuchs. Die Fotografin in ihr war sofort begeistert von den vielen Farbnuancen. Sie hatte bereits gehört, dass es in Mississippi das ganze Jahr hindurch frisches Gemüse und Obst gab, doch die Vielfalt in Birdies Garten erstaunte sie dennoch. Zwischen den akkurat angelegten Pflanzenreihen stand Birdies Enkelin Lily, die mit einer Harke Unkraut jätete.

„Sehen Sie, Miss Tess, das, was neben dem Haus wächst, sind unterschiedliche Tomatensorten.“ Birdie deutete in verschiedene Richtungen und erklärte: „Das sind Limabohnen und Kuhbohnen. Schwarze-Augen-Bohnen gedeihen gleich hier und dort drüben gibt es Erbsen, Gurken, Auberginen, Kürbisse, Grün- und Senfkohl, Rüben, Kartoffeln, Karotten, süße, gelbe und grüne Zwiebeln, Rote Bete, Mais, grüner Paprika, und das dahinter werden einmal Cantaloupe- und Wassermelonen.“

Während Felicitas ausgiebig die Sortenvielfalt bestaunte, verschwand Birdie im Haus und kehrte mit drei Gläsern Zitronenlimonade zurück. „Wissen Sie, Lily hat ein Händchen für den Garten. Sie baut zudem Gurken, Brechbohnen, Kürbisse, Butterbohnen, rote Bohnen und Chilibohnen an.“

Nun genauestens im Bilde darüber, was sie bei Birdie und Lily alles einkaufen konnte, folgte Felicitas Birdies Einladung und setzte sich neben sie auf die sanft schwingende Holzschaukel. Lily kam herüber, wusch sich in einem Wasserfass die erdigen Hände und machte es sich auf der Verandatreppe bequem. Sofort stand Felicitas auf und reichte ihr das dritte Glas mit der perlenden Limonade.

„Danke, Miss Tess“, murmelte Lily und trank den Inhalt in einem Zug aus. Die löchrige Fliegentür schwang auf, und Birdies Tochter Holly Dedra gesellte sich zu ihnen auf die Holzschaukel. Das Gestell knarrte, schien aber keine Mühe zu haben, die drei Frauen zu tragen.

Holly Dedra hatte sich ebenfalls ein erfrischendes Getränk mitgebracht. Sie drehte das Glas mit dem kleinen Sprung an der oberen Kante in ihren kräftigen Händen, während sie von ihrer verstorbenen Freundin Virginia zu erzählen begann.

Fasziniert lauschte Felicitas, wie tief verbunden die weiße Frau sich mit den Schwarzen gefühlt hatte. Selbst in der Stadt war sie für deren Belange eingetreten, obwohl ihr deshalb Vorwürfe, Spott, ja sogar Hass entgegengeschlagen waren. Mit ihrer selbstbewussten Art hatte sie sich aber durchaus Respekt verschafft, weshalb sie größtenteils in Ruhe gelassen worden war.

Holly Dedra erzählte mit kehliger Stimme, in die sich abwechselnd Trauer und freudige Erinnerungen mischten. Derweil brach die Nacht herein, und es fielen die ersten Regentropfen. Lily, durch den Regen von den Stufen vertrieben, betrat das Haus ihrer Großmutter. Schwer und warm hing die schwüle Luft unter den Bäumen. Aus dem vereinzelt metallischen Klopfen auf das Wellblechdach entstand bald ein donnerndes Prasseln, das alle anderen Geräusche verschluckte.

Als Holly Dedra mit belegter Stimme berichtete, wie Virginia in der Nähe ihres Hauses erschossen bei ihrem Automobil aufgefunden worden war, balancierte Lily ein Tablett auf die Veranda hinaus.

Es herrschte Schweigen; einzig unterbrochen vom Knarren der Holzschaukel. Birdie und Holly Dedra hingen wehmütigen Erinnerungen nach, Felicitas hingegen verspürte ein starkes Bedauern darüber, ihre Verwandte niemals persönlich kennengelernt zu haben. Ihre Sehnsucht nach einer Familie, nach Menschen, denen sie sich zugehörig fühlen durfte, ergriff sie mit Vehemenz.

Unterdessen brachte Lily einen Krug mit Wasser und kurz darauf einen gusseisernen Topf heraus, dem ein würziger Duft entstieg. Heißer Dampf stieg in Richtung des fleckigen Wellblechs hinauf, auf das der Regen monoton trommelte. Die junge Schwarze schöpfte aus dem Topf und reichte dem weißen Gast den ersten Teller. Noch immer berührt von Holly Dedras Geschichte, nahm Felicitas ihn mit einem zaghaften Lächeln entgegen. Als schließlich alle einen Teller in den Händen hielten, hob Birdie den Kopf und dankte ihrem Herrn im Himmel mit kräftiger, fröhlicher Stimme für die Ehre, Virginia Tampico gekannt zu haben. Danach dankte sie für ihre Familie, für ihre Freunde im Dorf, für das Essen, für die Köchin und schließlich auch für die weiße Frau, die sich auf ihre Veranda verirrt hatte.

Felicitas lächelte, versunken in längst verloren geglaubte Erinnerungen an die Gebete aus ihrer Kindheit. Sie sah sich an einem hübsch gedeckten Esstisch, im Kreis ihrer Eltern und eines anderen Mädchens, in dem sie eine Cousine vermutete. Ihre Mutter, deren Gesicht ihr Gedächtnis nicht mehr freigab, hatte fast ebenso leidenschaftlich gebetet, wie Birdie es tat. Wohlige Wärme überkam Felicitas. Sie hatte diese Gespräche mit Gott geliebt, sich ihm dabei ganz nahe gefühlt. Nachdem ihre Familie gewaltsam auseinandergerissen worden war, hatte sie dieses Gefühl tief in sich vergraben – wie so vieles andere auch.

„Vorsicht, Miss Tess. Das Jambalaya könnte noch sehr heiß sein“, warnte Holly Dedra, kaum dass Birdie geendet hatte.

„Danke“, sagte Felicitas, wartete einen Augenblick und verbrannte sich erst dann die Zunge.

Birdie lachte aus vollem Halse über Felicitas’ Grimassen und vertrieb damit die dunklen Wolken aus ihren Herzen, die die traurige Geschichte um Virginia hervorgerufen hatte. Die Schaukel vibrierte kräftig unter Birdies Gelächter und das Wasser aus dem Glas, das Lily Felicitas eilig gereicht hatte, schwappte auf ihren Rock.

Während sie nun erheblich vorsichtiger das scharfe Gericht aus Fleisch, Reis und allerlei Gemüse löffelte, betrachtete sie die Frauen in ihrer Gesellschaft. Drei Generationen einer Familie hatten sich hier versammelt, doch Felicitas fühlte keinen Neid, sondern ein überraschendes, angenehmes Gefühl der Zugehörigkeit. Die Gespräche drehten sich nun um Felicitas’ zukünftige Arbeit im Café und um ihre Pläne mit dem eigenen Fotostudio. Lilys Anstellung bei den Carbonnes, einer wohlhabenden Familie, und die bevorstehenden Ernten in diesem Jahr waren ebenfalls Teil ihrer Unterhaltung.

Die Nacht hatte das Land fest im Griff, als Felicitas sich endlich auf den Heimweg machte. Eilig hastete sie auf ihr Auto zu, damit sie halbwegs trocken einsteigen konnte. Die große, muskelbepackte Gestalt neben dem Pick-up erkannte sie sogar im Dunkeln.

Höflich zog Abner seinen tropfenden Hut, klemmte ihn unter den Arm und öffnete ihr die Tür. „Das ist ein guter Wagen. Ich hatte schon befürchtet, Mrs Hauser dreht Ihnen Miss Virginias pinkfarbenes Cabrio an.“

„Der Caddy gehörte ihr?“, fragte Felicitas verwundert und blieb stehen, woraufhin ihr das kinnlange Haar innerhalb von Sekunden nass am Kopf klebte.

Abner lachte kurz auf. „Miss Virginia wurde ein Auto gestohlen, weil sie es oft vorn an der Straße abgestellt hatte. Danach hat sie das auffälligste Auto gekauft, das sie finden konnte. Niemand hat es je gewagt, es sich unter den Nagel zu reißen!“

Felicitas fiel in sein Lachen mit ein. Im Besitz des rosafarbenen Schlachtschiffs wäre wohl jeder Dieb bis nach Jackson hinüber aufgefallen.

„Mrs Hauser war nach Miss Virginias Tod ganz scharf auf den Caddy. Sie hat ihn gründlich reinigen lassen und wollte ihn selbst fahren, aber ihr Mann hat es ihr nicht erlaubt.“

„Weshalb denn das? Ich finde, er passt perfekt zu dieser modebewussten Frau!“

„Vielleicht, weil er einer Frau gehört hatte, die mit unseresgleichen befreundet war? Oder weil Miss Virginia darin ermordet wurde?“

Betroffen strich sich Felicitas den Regen aus den Augen. Ihr Blick wanderte fragend zu Abners Gesicht hinauf, doch das lag gänzlich im Dunkeln, da der Mond sich hinter dichten Regenwolken versteckte.

„Hat man je herausgefunden, wer meiner Verwandten das angetan hat?“

Abner schob die Hände tief in seine ausgebeulten Hosentaschen. Dabei zogen sich die Hosenträger bedrohlich in die Länge. „Die Weißen sagen, es sei einer von uns gewesen. Wir sagen, es war einer von ihnen!“ Abner stülpte sich den Hut auf die nassen Locken und stapfte davon.

Betroffen sah Felicitas ihm nach, bis die Nacht ihn verschluckte. Es wäre bestimmt sinnvoll, keine Fragen mehr zu Virginias Tod zu stellen, denn offenbar legte sie damit den Finger auf eine offene Wunde.

Tropfnass stieg sie in den Wagen, ließ ihn an und fuhr in Richtung ihres Zuhause. Mit dem robusten Fahrzeug rollte sie zügig durch die Bachläufe, die die Piste querten und jetzt gewaltige Wassermassen mit sich führten. Im unzureichenden Licht der Scheinwerferkegel entdeckte sie die weißen Markierungssteine viel zu spät, also wendete sie mühsam auf der Fahrbahn und bog dann in die Einfahrt ab. Bereits nach ein paar Metern hielt sie allerdings an und betrachtete überrascht das schlammige Bachbett, das einmal der Waldweg gewesen war. Zwar hatte ihr Pick-up einen starken Motor und große Räder, doch sie war sich nicht sicher, ob er eine Fahrt durch das Wasser überleben würde. Hatte Virginia deshalb vorn an der Straße geparkt?

Unschlüssig starrte Felicitas auf den vom Scheinwerferlicht angeleuchteten Regen, lauschte, wie er gleichmäßig auf das Autodach prasselte und der Scheibenwischer rhythmisch quietschte. Schulterzuckend schaltete sie schließlich den Motor und das Licht aus und verließ den Pick-up. Nass war sie ohnehin, da konnte sie den restlichen Weg auch zu Fuß zurücklegen. Der Wagen stand, ohne dass er von der Straße aus gesehen werden konnte, im Dunkel des Waldes, aber noch außerhalb des unter Wasser stehenden Bereichs. Ihm würde hier sicher nichts geschehen.

Blinzelnd, da ihr das Regenwasser in die Augen lief, schloss sie die Wagentür ab und stapfte am Wegrand entlang in Richtung Haus. Wie gut sie daran getan hatte, den Pick-up stehen zu lassen, wurde ihr bereits nach wenigen Metern klar. Mittlerweile versank sie bis über die Knie im Wasser, auf dem Kiefernzapfen, Äste und Blätter schwammen.

Minutenlang kämpfte sie sich durch die plätschernden Fluten, eingehüllt in eine Regenwand und umgeben von im Wind rauschenden Baumriesen. Schließlich wurde das Wasser flacher, und kurz vor dem offenen Tor erreichte sie festen, wenn auch vom Regen durchtränkten Boden. Wie jeden Abend – wenn sie es nicht gerade vergaß – zog sie die Torflügel zu, und somit war ihr bezauberndes Eiland durch die Mauer, die Hecken, den Flusslauf und die Bäume vom Rest der Welt abgeschnitten.

Felicitas eilte über den knirschenden Kies in Richtung Eingang. Ein eigentümliches Geräusch ließ sie innehalten. Bebend vor Nässe und Kälte blieb sie stehen und lauschte in die Nacht hinein. Woher rührte das seltsam tiefe Brummen? Stammte es von einem Alligator, der sich wegen der Überschwemmung bis ans Haus hinauf gewagt hatte? Oder gab es hier andere Raubtiere, von deren Existenz sie nichts wusste? Verzweifelt versuchte sie, mehr als graue und schwarze Schattenrisse zu erkennen. Täuschte sie sich, oder bewegte sich etwas am äußersten Ende ihrer Veranda? Ein ängstlicher Schauer lief ihr über den Rücken. In dem Versuch, schärfer zu sehen, kniff sie die Augen zusammen. Tatsächlich! Gleich neben dem ersten Geländerpfosten regte sich eine riesig anmutende Gestalt.

Einmal mehr wurde Felicitas bewusst, wie einsam es hier draußen war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Energisch kämpfte sie gegen die lähmende Furcht und ihre damit verbundene Atemnot an. Felicitas zwang sich, die Panik niederzukämpfen, und tastete sich zur Haustür vor. Gerade, als sie die unterste Stufe erreichte und erleichtert aufatmen wollte, erhob sich vor ihr ein großer Schatten. Erschrocken schrie sie auf.

***

Sorgsam legte Kerstin das Blatt auf den anwachsenden Stapel und zog ein neues hervor. Sie schob ihre Brille höher und versuchte, den Inhalt des Dokuments zu erfassen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Zu fremd war ihr die amerikanische Amtssprache mit ihren juristischen Fachausdrücken. Ungeduldig warf sie einen Blick auf die tickende Uhr an der Wand. Christopher würde sicher gleich kommen und konnte ihr hoffentlich helfen.

Als es endlich an der Tür läutete, sprang sie so rasch auf, dass eines der nachlässig in ihren Rücken gestopften Sofakissen zu Boden fiel.

„Hallo, schöne Frau!“, lachte Christopher und blickte suchend über sie hinweg in den dunklen Flur. Da ihre Eltern nicht zu sehen waren, zog er sie an sich. Kerstin schloss die Augen. Es tat gut, in seinen Armen zu liegen und für einen Moment den Sorgen um ihre Freundin zu entfliehen.

Christopher küsste sie auf die Haare und raunte ihr in seinem leichten, amerikanischen Akzent zu: „Heute ist ein perfekter Tag, um mit dir am Isarufer spazieren zu gehen, etwas Leckeres zu essen und dann …“

Protestierend drückte Kerstin sich von ihm weg. Er entließ sie nur widerwillig aus seiner Umarmung und sah mit gerunzelter Stirn auf sie herab. Entschuldigend legte sie ihre Hand an seine frisch rasierte Wange, was er als Einladung verstand, diese zu ergreifen und jede ihrer Fingerspitzen zu küssen. Kerstin erschauerte, spürte ein betörendes Kribbeln durch ihren Körper ziehen und wusste, dass es nicht viel brauchen würde, bevor sie alles um sich her vergaß. Also wich sie, wenn auch äußerst ungern, einen Schritt zurück.

„Chris, wir können später noch einen Spaziergang machen. Zuerst habe ich eine Bitte an dich.“

Er murmelte etwas in ihre blonden Locken und begann, ihre Stirn und ihre Wangen zu küssen.

„Chris!“

„Du bist heute so bürokratisch deutsch“, erwiderte er leise und schob sie weiter in den Flur hinein.

„Ich bin nicht bürokratisch deutsch, sondern besorgt und gleich auch wütend!“, widersprach Kerstin und wand sich erneut aus seinen Armen. Bei diesem zweiten Versuch, sich nicht von seiner betörenden Nähe ablenken zu lassen, sorgte sie für mehrere Schritte Abstand zwischen ihnen.

„Du bist in Sorge? Weshalb?“, fragte Christopher, nun wieder ganz der aufmerksame Gentleman, und zog sein Uniformhemd glatt.

„Feli!“

Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. „Entschuldige, Baby.“

„Ist schon gut“, erwiderte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Es war ja nicht so, dass sie seine Zärtlichkeiten nicht genoss, nur hatte sie im Augenblick anderes im Sinn.

„Was ist mit deiner unglaublich schusseligen Freundin?“, hakte er lächelnd nach.

„Mit den Nachlasspapieren ist etwas nicht in Ordnung.“

„Diesen Verdacht hattest du ja schon immer, aber Felicitas wollte nicht auf dich hören. Hat sie dir nicht geschrieben, dass es ihr gut geht?“

„Ja, das hat sie. Doch jetzt sind Ungereimtheiten aufgetaucht. Ich bekam ihre Akte auf den Tisch und weiß nicht, was ich damit tun soll.“

„In den Keller zu den anderen tragen?“

„Chris!“

Der Gerügte zog eine Grimasse. Es war ihm anzusehen, dass er wenig Lust dazu hatte, sich mit ihr über Felicitas zu unterhalten. Dennoch nickte er und ging vor ihr ins Wohnzimmer. Im Radio wurde ein Freddy-Quinn-Song gespielt und dann ohne Pause zu Gittes Ich will ’nen Cowboy als Mann übergeleitet. Kerstin sah den gebürtigen Texaner verstohlen grinsen, als er sich auf das Sofa fallen ließ und den Stapel Papiere in die Hand nahm. Sie war froh, dass Chris bereitwillig seine Pläne aufschob und ihre Sorgen ernst nahm. Sie setzte sich ebenfalls und beobachtete, wie er konzentriert die Unterlagen der Washingtoner Kanzlei durchlas. Schließlich hob er den Kopf und sah sie mit seinen wunderschönen blauen Augen fragend an. „Ich bin kein Jurist, Baby. Was soll ich deiner Meinung nach finden?“

„Lies bitte weiter. Womöglich fällt dir eine Kleinigkeit auf, die übersehen wurde. Ich sage dir später mehr!“

„Alfred Hitchcock bin ich auch nicht!“, murmelte er, vertiefte sich aber wieder in die Dokumente. Kerstin dankte es ihm mit einem verliebten Seufzen, lehnte sich zurück und ließ ihre Gedanken zu den Tagen abdriften, an denen sie den dunkelhaarigen Mann gesehen hatte, der ihrer Meinung nach ein auffälliges Interesse an Felicitas gezeigt hatte. Sie war sich sicherer denn je, diesen Mann im Terminal des Münchner Flughafens wiedergesehen zu haben. Er war mit derselben Maschine wie ihre Freundin in die Staaten geflogen ...

Kerstin fuhr hoch, als Christopher die Papiere auf den Wohnzimmertisch warf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie fragend an.

„Nichts Ungewöhnliches?“

„Eine Menge Paragrafen und hochgestochene Formulierungen. Kerstin, ich kann dir hierbei nicht helfen. Außerdem weiß ich noch immer nicht, was dich beunruhigt.“

„Das hier!“ Sie nahm das zuvor beiseitegelegte Deckblatt mit dem roten Vermerk darauf und legte es Christopher auf die Knie. Er las die handschriftlich verfassten Worte, griff wieder nach der Akte und musterte den Briefkopf. „Die Kanzlei könnte in der Zwischenzeit von einer anderen geschluckt worden sein. Oder sie ist in ein anderes Gebäude umgezogen und die Angestellten hielten es nicht für nötig, den Deutschen die geänderte Adresse mitzuteilen. Möglicherweise, weil sie nicht auf so viel Bürokratie eingerichtet sind.“ Christopher zwinkerte ihr zu.

„Und im Washingtoner Rathaus weiß niemand davon?“

Christopher ergriff Kerstins Hand. „Felicitas hat in ihrem Brief von dem Haus geschwärmt und mit viel Humor von den charmanten Eigenheiten der Menschen dort berichtet. Baby, es geht ihr gut! Was also beunruhigt dich?“

„Dass es diese Kanzlei womöglich nie gegeben hat. Dass das alles ein Schwindel ist und Feli darunter zu leiden haben wird. Dass ich diesen Mann im Flughafen gesehen habe und er mit Feli im gleichen Flugzeug in die Staaten geflogen sein muss!“

„Welchen Mann?“ Christopher beugte sich zu ihr hinab. Das erste Mal, seit sie ihm von ihrer inneren Unruhe erzählt hatte, sah sie einen Anflug von echter Besorgnis auf seinem Gesicht.

„Ich habe nichts gesagt, weil ich niemanden beunruhigen wollte. Allerdings hatte ich in den Wochen vor Felis Abreise mehrmals das Gefühl, dass sie beobachtet wird. Als wir zusammen in München waren, habe ich zweimal einen dunkelhaarigen Mann gesehen, der Feli richtiggehend angestarrt hat. Bei einer unserer Radtouren glaubte ich, denselben Typen noch mal gesehen zu haben. Ich denke, ich habe ihn auch bei einer oder zwei anderen Gelegenheiten bemerkt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Flughafen war!“

„Du hast Felicitas nicht darauf angesprochen? Sie nicht gefragt, ob sie ihn womöglich kennt?“

„Nein. Die Ereignisse haben sich erst viel später in meinem Kopf zusammengefügt.“ Kerstin behielt für sich, dass sie vor allem aus Sorge wegen Felicitas’ Albträumen geschwiegen hatte. Vermutlich hatte ihre Freundin niemanden sonst in die schrecklichen Geschehnisse ihrer Kindheit eingeweiht. „Aber jetzt, im Nachhinein …“ Von Selbstvorwürfen geplagt blickte sie zu Christopher auf, der tröstend seine Stirn an ihre legte.

„Ich schreibe mir die Kanzlei-Adresse ab und versuche in der Kaserne jemanden mit Beziehungen in die Hauptstadt aufzutreiben. Hab’ keine Angst. Deiner Feli geht es bestimmt gut.“

„Sie ist so weit fort“, flüsterte Kerstin ängstlich. „Was ist, wenn ihr etwas zustößt?“

„Mississippi ist nicht so übel“, raunte Christopher. „Und Feli lebt ja dort in einer Kleinstadt. Die Leute dort passen aufeinander auf.“

Kerstin nickte, wenngleich ein kleiner Zweifel blieb, der sich schmerzlich in ihrem Nacken festbiss, als wolle er mit aller Macht verhindern, in Vergessenheit zu geraten. Doch das Wissen, dass Christopher sich der Angelegenheit annehmen würde, beruhigte sie zumindest halbwegs. Im Radio spielte Cliff Richards Rote Lippen soll man küssen, und das ließ Christopher sich nicht zweimal sagen.

***

Eine tiefe Stimme übertönte Felicitas’ heftiges Herzklopfen. „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Zitternd hielt Felicitas sich am Handlauf fest und rang um Atem. „Meine Güte, Deputy Brown!“, stieß sie hervor. „Ihre Aufgabe ist es, Menschen zu beschützen, nicht, sie zu Tode zu erschrecken!“

„Es tut mir leid. Ich dachte, Sie hätten mich gesehen!“

„In dieser verregneten und dunklen Nacht, wenn Sie im Schatten der Überdachung lauern?!“

„Ich habe Ihnen nicht aufgelauert, Miss. Nur gewartet.“

„Für Sie mag das ein Unterschied sein, für mich nicht. Ich habe mich erschreckt!“ Aufgewühlt zwängte sich Felicitas an der breitschultrigen Gestalt vorbei, drückte die Klinke herunter und betrat den geräumigen Vorraum. Landon, an diesem Tag leger in Bluejeans und einem blau-weiß karierten Hemd, folgte ihr unaufgefordert. Zumindest hatte er den Anstand besessen, vor dem Haus auf ihre Rückkehr zu warten. Immerhin wusste er vom Vorabend, dass sie selten abschloss – oder besser: selten daran dachte abzuschließen.

Felicitas knipste das Licht im Flur an und betrachtete die nassen Schmutzspuren, die sie bereits im Eingangsbereich hinterlassen hatte. Ihr lindgrünes, mit dunkelgrünen Kringeln bedrucktes Etuikleid klebte wie eine zweite Haut an ihr und von ihren Schuhen war nicht mehr zu sehen als ein paar klobige schmutzig-braune Klumpen. Der dunkle Schlamm reichte ihr bis über die Knie und sah aus, als trüge sie Stiefel mit hohem Schaft.

Ihr Besucher musterte sie ausgiebig, bevor er in einem amüsierten Tonfall fragte: „Sind Sie mit dem Pick-up gleich beim ersten Regen im Morast stecken geblieben?“

Felicitas hob den Kopf und bemerkte mit einem flüchtigen Blick, dass ihr Gast nicht einen Tropfen abbekommen hatte. Saß er denn bereits so lange auf ihrer Treppe? Sie strich einige nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Wie sind Sie hierhergekommen? Ich habe kein Auto gesehen.“

„Mit den Pferden!“

„Mit … mit den Pferden?“ Felicitas starrte in die dunklen Augen des Mannes und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Auf meinem Pferd reitend und mit Ihrem als Handpferd.“

„Mit meinem Pferd?“, entfuhr es ihr. Sie stemmte die verschmutzten Hände in die Hüfte und blitzte ihr grinsendes Gegenüber herausfordernd an. „Ich sagte Ihnen doch: Sie können das Tier da lassen, wo es ist.“

„Sie brauchen es, akzeptieren sie das einfach! Zum einen, um Ihren Pick-up aus dem Schlamm zu ziehen, und zum anderen, damit Sie auch bei solchem Wetter das Grundstück verlassen können.“

„Erstens, Deputy Brown, habe ich den Pick-up vor dem schlammigen Wegabschnitt geparkt, und zweitens wird es ja nicht allzu oft so kräftig regnen wie heute.“

„Miss Tess“, begann der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen und einer Stimme, als rede er mit einem bockigen Kleinkind.

Felicitas ließ ihn stehen und stapfte, klebrige Fußspuren hinterlassend, zum Badezimmer. Dort setzte sie sich auf den Wannenrand, stellte die Füße mitsamt den Schuhen hinein und ließ Wasser über ihre Beine laufen. Winzige Zweige, festgeklebte Blätter und Unmengen schwarzbrauner Erde lösten sich und verließen, begleitet von einem lauten Gurgeln des Badewannenabflusses, das Haus.

Felicitas zuckte zusammen, als Landon sie mit seiner lang gezogenen Sprachmelodie ansprach. „Interessante Art der Schuhreinigung.“

Mit seiner breiten Gestalt, die annähernd an die Statur Abners heranreichte, füllte er fast den gesamten Türrahmen aus. Er lehnte sich mit der rechten Schulter an die Wand, während Felicitas sich weiter vom Schlamm befreite. „Bevor Virginia vor rund dreißig Jahren das Haus bauen ließ, standen hier die verkohlten Überreste eines Plantagenhauses. Die Familie hatte zur Zeit des Sezessionskrieges die offizielle Auffahrt zuwachsen lassen und an ihr entlang ein geniales Schleusensystem angelegt. Dadurch konnten sie den Weg innerhalb von Minuten in einen reißenden Fluss verwandeln, sodass niemand ahnen konnte, dass der Flusslauf eigentlich eine Straße ist. Angeblich hat das künstlich umgeleitete Gewässer die Familie sowohl vor marodierenden Südtruppen als auch vor den durchziehenden Nordtruppen beschützt – nicht aber vor den Sklaven, die kurz nach Ende des Krieges vorbeikamen. Unter ihnen waren Ortskundige, und die brannten das Haus doch noch nieder.“

„Faszinierend!“, erwiderte Felicitas, leicht irritiert darüber, wie ungeniert er ihr zusah. Sie öffnete die Schnürsenkel, streifte die Schuhe ab und spülte sie von innen aus, bevor sie die Strümpfe auszog und ebenfalls durchspülte.

Schließlich ließ sie die nassen Kleidungsstücke in der Wanne liegen und wollte nach ihrem Handtuch greifen. Sie bekam den blauen Baumwollstoff zwar mit den Fingerspitzen zu fassen, es gelang ihr jedoch nicht, diesen vom Wandhaken zu lösen. Beim zweiten Versuch beugte sie sich zu weit hinaus. Noch während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, packte Landon sie von hinten unter den Armen, zerrte sie aus der Wanne und stellte sie auf die Füße. Er ließ sie sofort los, reichte ihr kopfschüttelnd das Handtuch und begab sich dann zurück zum Türrahmen, als sei nichts geschehen.

„Danke, Deputy!“

„Es würde ein denkbar schlechtes Bild auf mich werfen, wenn ich erklären müsste, wie Sie in meiner Anwesenheit aus der Badewanne stürzen und sich dabei das Genick brechen konnten!“

Felicitas sah ihn einen Augenblick fassungslos an, ehe sie loslachte. Ihr Gesprächspartner musterte sie mit gerunzelter Stirn, was sie zusätzlich zum Lachen reizte. Ihre Schultern bebten noch immer, als sie ihre Beine abtrocknete und dann einen Wischlappen ergriff und die schmutzigen Fußspuren vom Bad bis zum Eingangsbereich beseitigte.

„Was war denn so komisch?“, fragte Landon, der ihr wiederum folgte.

„Stellen Sie sich mal das Entsetzen des Anwalts vor, wenn der sich schon wieder auf die Suche nach einem Erben machen müsste!“

Auf Landons Gesicht zeigte sich sprachlose Verblüffung, ehe er die Küche betrat. „Ich brühe uns einen Kaffee auf, in Ordnung?“

„Nur zu, Sie scheinen sich hier ja ohnehin besser auszukennen als ich“, erwiderte sie, während sie die Stufen hinauf in ihr Schlafzimmer eilte, um sich aus dem nassen Kleid zu pellen und eine bequeme Bluejeans und ein Blusentop überzuziehen.

***

Der verführerische Duft von frischem Kaffee hing in der Luft, als Felicitas in ihre Küche trat. Landon hatte es sich auf der Bank bequem gemacht und reichte ihr eine voluminöse Tasse, aus der sich der milchige Dampf in Richtung Zimmerdecke kringelte. Höflich schob er ihr die Milchflasche und eine ehemalige Zigarrendose gefüllt mit Zucker zu.

„Virginia hat mich praktisch aufgezogen“, erklärte er ihr wehmütig lächelnd, weshalb er sich in diesem Haus wie zu Hause fühlte.

„Das heißt aber nicht, dass Sie mit mir verwandt sind?“

„Nein“, erwiderte er brüsk und trank einen großen Schluck. Sie selbst wartete lieber noch, hatte sie sich doch an Lilys Jambalaya bereits die Zunge verbrannt. Das genügte für einen Tag.

„Was ich vorhin sagen wollte, Miss Tess: Es ist möglich, dass ihr Pickup nicht mehr da steht, wo Sie ihn abgestellt haben. Niemand weiß, ob die Schleusen noch funktionstüchtig sind, allerdings laufen sie bei stärkeren Regenfällen über und setzen den Weg unter Wasser, wenn auch längst nicht so tief, wie sie es ursprünglich getan haben.“

„Sie meinen, mein Wagen befindet sich jetzt womöglich im Straßengraben?“ Felicitas sah den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Sie besaß das Fahrzeug erst seit Kurzem und war darauf angewiesen – ganz zu schweigen davon, dass sie es noch abbezahlen musste!

„Das könnte durchaus sein. Ich hoffe, Sie haben ihn abgeschlossen?“

Felicitas nickte, wenngleich sie sich da nicht wirklich sicher war, und wagte es, einen Schluck Kaffee zu trinken. Erstaunt hob sie die Augenbrauen. Sie hatte noch nie einen besseren Kaffee getrunken.

Ihr Gast lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine unter den Holztisch, wobei die Bank protestierend knarrte. „Ihr Pferd habe ich in dem kleinen Anbau hinter dem Haus untergebracht. Stroh war noch vorhanden, Heu müssten Sie besorgen. Für heute Nacht wird es mit dem Heusack zurechtkommen, den Clive Mason mir mitgegeben hat.“

„Was soll ich denn mit dem Tier anfangen?“

„Das Pferd bietet Ihnen – gerade nach einem solchen Regen – die beste Möglichkeit, das Grundstück zu verlassen.“

„Ich soll auf dem Pferd in die Stadt reiten?“

„So in etwa dachte ich mir das, ja!“ Landons Lachen füllte die Küche, und Felicitas stimmte mit ein. Offenbar lachte der Deputy ebenso gern wie sie, und das machte ihn ihr gleich ein bisschen sympathischer.

„Ich kann weder ein Pferd reiten, noch weiß ich, wie man es versorgt.“

„Das bringe ich Ihnen bei. Morgen ist mein freier Tag. Falls der Wolkenbruch bis dahin vorbei ist, zeige ich Ihnen, was Sie wissen müssen.“

„Steht Ihr Pferd vor der Veranda?“

„Es ist lang angebunden und kann grasen. Im Anbau ist nur Platz für ein Pferd.“

Felicitas nickte lediglich, erinnerte sie sich doch ungern an den voluminösen schwarzen Schatten, der sie in Angst versetzt hatte. War Virginias Pferd etwa auch so riesig? Für den Augenblick beschloss Felicitas, das freundlich gemeinte Angebot auszuschlagen. Sie wollte nicht reiten lernen!

Stille kehrte in der Küche ein. Nur das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben blieb gleichbleibend stark, die Holzdecke und der Boden wechselten sich mit einer Reihe von Knarr- und Knacklauten ab.

Schließlich war es Felicitas, die das Schweigen brach: „Erzählen Sie mir bitte noch mehr über Miss Virginia. Was tat sie? Wovon lebte sie? Ist sie hier geboren oder ist sie zugezogen?“

„Ich bin nicht Holly Dedra mit ihren ausschweifenden und schön ausgeschmückten Geschichten“, schränkte Landon ein. Felicitas schaute ihren Besucher über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Was wollte er ihr sagen? Dass er darüber im Bilde war, wie viele Abende sie, seiner Warnung zum Trotz, im Dorf verbracht hatte? Wusste er sogar, wen sie besucht und wer mit ihr zusammengesessen hatte?

„Virginia hat sich um allerlei Belange ihrer Mitmenschen gekümmert.“

„Vor allem um die der Schwarzen?“

„Sie töpferte, malte und schnitzte. Einige ihrer Arbeiten konnte sie verkaufen“, fuhr Landon fort, als habe er ihre Frage nicht gehört, und deutete mit dem Finger auf die Tassen. Die Künstlerin in Felicitas hatte die handgetöpferten Gefäße bereits an ihrem ersten Tag in diesem Haus bewundert. Mit ihren zwei verschiedenen Blautönen und dem sanften hellen Braun erinnerten sie an einen Sandstrand am Meer, über den sich ein blauer Himmel spannte.

„Virginia nahm mich im Alter von neun Jahren bei sich auf, als meine Mutter, eine ihrer Freundinnen, verstarb. Mein Vater, ein Soldat, war im Ausland stationiert. Er fiel schließlich in Deutschland.“

„Das tut mir leid“, flüsterte Felicitas betroffen und musterte prüfend Landons Gesicht. Seine braunen Augen ruhten ohne ein Anzeichen von Schmerz oder Vorwurf auf ihr, vielmehr wirkte er ruhig und entspannt.

„Nach Moms Tod hätte mir nichts Besseres passieren können, als von Virginia aufgezogen zu werden. Meinen Vater habe ich ohnehin kaum gekannt.“ Landon blickte aus dem Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus. Versuchte er nun doch, die in ihm aufwallenden Emotionen zu verbergen, oder schaute er nach dem Pferd?

„Der Regen lässt nicht nach. Wäre es ein Problem für Sie, wenn ich in meinem alten Zimmer übernachte?“

„Solange Ihr altes Zimmer nicht mein jetziges Schlafzimmer ist …“

Landon schmunzelte. „Nein, es ist das mit dem Funkgerät.“

„In Ordnung!“

Felicitas räumte die Tassen ins Spülbecken, stellte Milch und Zucker beiseite und wischte den Tisch ab. Dabei war sie sich nur zu bewusst, dass Landon sie beobachtete.

„Fühlen Sie sich wohl hier?“, erkundigte er sich überraschend.

Sie spülte bedächtig den Lappen aus, hängte ihn über den Wasserhahn, griff dann nach ihrem Küchenhandtuch und drehte sich schließlich zu dem Mann um. „Ja, ich fühle mich wohl. Dieses Haus ist bezaubernd, ebenso wie das Grundstück. Die Menschen in der Stadt sind – wie soll ich es sagen – anders als die in dem Dorf, in dem ich die letzten Jahre verbracht habe“, meinte sie lächelnd. „Die Schwarzen sind mir fremd gewesen, und bei meiner ersten Begegnung mit Abner hatte ich ein wenig Angst. Aber es ist wohl nur das Ungewohnte, Fremde an ihnen gewesen. Sie sind sehr herzlich und gastfreundlich. Dank meiner missglückten Einstandsparty habe ich jetzt einen Job, den ich morgen antreten werde. Damit kann ich den Pick-up und eine Laborausrüstung abzahlen. Ich finde schon, Deputy, dass es mir gut geht!“

Landon lachte kurz auf, erhob sich und schritt zur Tür. Dort drehte er sich um und sagte: „Sie scheinen mit Virginia verwandt zu sein. Sie hätte es kaum anders ausgedrückt!“

Diesmal war es an Felicitas, glücklich aufzulachen, da sie seine Worte durchaus als Kompliment auffasste.

„Gute Nacht, Miss Tess.“ Wie selbstverständlich gebrauchte Landon die von Bobby Charles eingeführte Kurzform ihres Namens.

„Gute Nacht, Deputy Brown. Sie wissen ja, wo Sie alles finden!“

Sein Lächeln vertiefte sich, ehe er in dem gegenüberliegenden Raum verschwand.

Felicitas ging ins Wohnzimmer, öffnete erst die Verandatür, dann die Fliegentür und trat in die regnerische Nacht hinaus. Ein Drittel der breiten Veranda lag dank des überstehenden Daches im Trockenen, und trotz des kräftigen Niederschlags war die Luft noch immer angenehm warm. Die junge Frau sah den schnell vorbeiziehenden schwarzen Wolken nach und lauschte dem Rauschen des Regens. Landons Pferd hielt sich nahe bei der Veranda auf, beachtete Felicitas aber nicht. Dafür kam Big angelaufen, ließ sich von ihr ausgiebig kraulen und legte sich, als er genug verwöhnt worden war, zum Schlafen neben die Tür.

Wieder wanderte Felicitas’ Blick zu Landons Reittier, dabei runzelte sie nachdenklich die Stirn. Der Deputy hatte ihr Virginias Pferd mit der Begründung hergebracht, dass sie damit auch bei überschwemmten Wegen das Grundstück verlassen konnte – er selbst jedoch zog es vor zu bleiben? Müde schob Felicitas alle Überlegungen beiseite, ging zurück ins Haus und zog sorgfältig die Türen hinter sich zu.

***

Der Regen hämmerte ununterbrochen gegen die Scheibe und entlockte den Holzschindeln ein dumpfes Dröhnen. Landon drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme im Nacken und schloss die Augen. So ausgestreckt passte er mit Mühe und Not in das Bett. In seinem früheren Zimmer hing der Geruch nach Seife, ein Zeichen dafür, wie gewissenhaft Felicitas das Haus geputzt hatte, obwohl sie zumindest diesen Raum wohl kaum nutzte. Virginias Küche roch noch immer nach Gewürzen, nach Kaffeebohnen und – das bildete er sich wenigstens ein – nach dem alten Holztisch, den er für sie abgeschliffen und weiß gestrichen hatte. Die Vorratskammer war gefüllt, der Herd geputzt und die Gardinen frisch gewaschen. Die Küche, der liebste Ort von Virginia und dem Jungen, der Landon einmal gewesen war, war wieder zum Leben erwacht. Bei dem Anblick schmerzte ihn Virginias Verlust wieder fast so sehr wie nach ihrem Tod. Die Frau, die jetzt hier lebte, war eine Fremde. Wenngleich sie charmant war und größere Ähnlichkeiten mit seiner Pflegemutter aufwies, als sie haben sollte – immerhin war sie nicht mit Virginia Tampico verwandt.

Grübelnd lauschte Landon in die Dunkelheit hinein. Felicitas’ Schlafzimmer lag direkt über ihm, und er hatte sie vor gut einer Stunde zu Bett gehen hören. Das knarrende Himmelbett war ebenso von Virginia übernommen wie die vertrauten Vorhänge und das altbekannte Geschirr und das erfreute Landon ebenso wie die Tatsache, dass auch Big sich wieder hier herumtrieb. Als er sicher war, dass Felicitas fest schlief, richtete Landon sich auf, schlüpfte in seine Kleidung und holte sich den im Schrank deponierten Regenmantel. Big hob träge den Kopf von den Pfoten, als Landon die Veranda betrat, ignorierte ihn dann aber.

Nachdem Landon sein Pferd gesattelt hatte, warf er einen letzten prüfenden Blick zu den unbeleuchteten Fenstern im oberen Stock, nahm dann die Stute am Zügel und verließ das Grundstück durch das Tor. Rund fünfzig Meter hinter der Pforte überspülte leise plätscherndes Wasser die Zufahrtsstraße. Genau an der Stelle, an der die Fluten auf den Weg flossen, befand sich die erste Schleuse und der seit dem Bürgerkrieg existierende Fluchtweg. Landon bog mit den Händen die Zweige der Kiefern beiseite, die den Pfad versteckten, führte das widerstrebende Pferd hindurch und schwang sich in den Sattel.

Der Waldweg gabelte sich nach wenigen Metern. Während der eine Pfad von einer Schleuse zur nächsten führte, verlief der zweite von der ehemaligen Plantage fort und überquerte auf einer kürzlich von Landon wieder aufgebauten Holzbrücke einen kleinen Zufluss des Mississippi. Von dort gelangte der Reiter tiefer in den dichten Wald und zu einer heruntergekommenen Steinhütte. Sie hatte 1865 der weißen Familie als letzte Zufluchtsstätte vor den brandschatzenden Horden gedient.

Durch einen Spalt im Fenster, das mit einer Plane verhängt war, drang ein spärlicher Lichtschein in die Finsternis. Der Reiter atmete auf. Alles schien in Ordnung zu sein. Rasch sprang er ab, und in dem Moment, als er das Tier an einem Baum festband, schwang die Tür auf.

„Du kommst mit dem Pferd?“, fragte Sam verwundert. Er war kleiner als Landon, jedoch ebenfalls gut trainiert und hatte einen hingebungsvoll gepflegten dunklen Oberlippenbart.

„Ich kann mir keine schlammigen Schuhe und verdreckten Hosenbeine leisten.“

„Ich dachte, die Kleine sei so einfältig?“ Der Mann wich zurück, damit Landon in die von einer Kerze erhellte Hütte treten konnte.

„Hat das tatsächlich jemand angenommen, Sam? Ja, sie wirkt vielleicht naiv und tollpatschig, aber ich denke, wir dürfen sie trotzdem nicht unterschätzen.“

„Du scheinst sie zu mögen!“ Sam lachte und setzte sich auf den Baumstumpf, der bereits viele Jahre zuvor als Sitzgelegenheit hierher geschafft worden sein musste.

„Ich kenne sie kaum!“, wehrte Landon ab und stützte sich mit den Händen auf den aufgequollenen, noch aus dem Sezessionskrieg stammenden Eichentisch. Sein prüfender Blick ruhte auf der ausgebreiteten Karte, anhand derer er sich einen Überblick verschaffte, während sein Kumpan ihm von den jüngsten Entwicklungen berichtete.

***

Bodennebel waberte über die feuchte Wiese, hüllte die Sumpfzypressen und Weiden in ein weißes Kleid und verwehrte Felicitas den Blick auf den dahinter beginnenden urwüchsigen Wald. Das Lied einer Spottdrossel war neben dem gleichmäßigen Rauschen des Flusses lange Zeit das einzige Geräusch an diesem jungen Morgen. Als die ersten Sonnenstrahlen einen Weg über das einsam gelegene Haus fanden, funkelten die Regentropfen auf den Grashalmen wie Diamanten und das Grau der Magnoliensträucher verwandelte sich wie von Zauberhand in ein sattes Grün. Die Nebelschwaden lösten sich innerhalb von Sekunden auf, sodass auch dem Fluss, dem Wald und den Bäumen im Garten ihre kräftigen Farben zurückgegeben wurden.

Fasziniert betrachtete Felicitas den Wechsel zwischen Nacht und Tag von ihrer Veranda aus. Sie hielt eine Tasse mit dampfendem Kaffee in den Händen, doch er schmeckte längst nicht so gut wie der, den Landon am Vorabend zubereitet hatte. Da es noch kühl war, begann sie, auf der breiten Veranda auf und ab zu gehen. Dabei kam sie an dem Sattel vorbei, der im Schutz der Wand und des überstehenden Daches lag. Das Leder glänzte dunkel vor Nässe und um die bunt gemusterte Satteldecke hatte sich eine Pfütze gebildet.

heißes

„Ihre Muskeln werden es Ihnen danken!“, erklärte er, sprang auf und polterte über die Veranda davon.

„Heiß baden! Bei der Hitze!“ Felicitas schüttelte den Kopf über Landons abstrusen Einfall, band den Mustang in der Nähe der Stute an und betrat ebenfalls das Haus. Unschlüssig blieb sie stehen. Sie hörte Landon fröhlich vor sich hin pfeifend mit dem Kochgeschirr hantieren und war sich nicht sicher, ob es sie ärgerte oder ihr gefiel, dass er sich hier so breitmachte. Energisch verdrängte sie den Gedanken. Dies war Virginia Tampicos Zuhause gewesen, in dem auch er viele Jahre gelebt hatte. Womöglich war es schwer für ihn, dass eine Fremde jetzt darin wohnte.

Da Felicitas nichts weiter zu tun hatte, marschierte sie ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne ein.

***

Landon und Felicitas verzehrten gerade die in der Pfanne bunt zusammengewürfelte Mahlzeit aus Huhn, Kartoffeln, Brechbohnen, Zwiebeln und eingelegten Tomaten, als im Nebenzimmer das Funkgerät zu knacken und zu rauschen begann. Der Deputy verharrte mit erhobener Gabel, doch als sein Name fiel, ließ er diese auf den Teller fallen, sodass sie klappernd einen kleinen Tanz vollführte. Gelenkig und kraftvoll sprang er von der Bank auf und eilte in den Nebenraum.

Felicitas blieb sitzen, betrachtete die fast leere Pfanne und hörte eine junge Männerstimme von einem Unfall berichten. Er rief sowohl Sheriff Fraser aus Woodville als auch Deputy Brown an die Unfallstelle und bat all jene Männer, die die Zeit erübrigen konnten, ebenfalls an den Fluss bei der Bahnstrecke zu kommen. Der Aufruf klang, als benötigte man jede helfende Hand.

Landon meldete sich über Felicitas’ Funkgerät und versprach, in ein paar Minuten dort zu sein. Mit polternden Schritten kehrte er in die Küche zurück.

„Ich muss weg. Sie können dem Mustang vertrauen. Aber benutzen Sie ausschließlich den Pfad, der hinter dem Anbau beginnt, oder die Straße. Reiten Sie niemals eine andere Route. Gleich außerhalb des Anwesens wird der Boden sumpfig und gefährlich!“

„Ich habe keine Vergnügungsausritte geplant, Deputy. Kann ich vielleicht helfen?“

„Das weiß ich noch nicht. Bleiben Sie doch einfach die nächste halbe Stunde in der Nähe des Funkgerätes. Ich melde mich, falls wir Ihre Hilfe brauchen!“ Landon riss seinen schwarzen Stetson von der Garderobe und verließ, begleitet vom Zuschlagen der Eingangstür, das Haus.

Felicitas hörte, dass er lediglich eine Stufe benutzte, bevor sein beachtliches Körpergewicht den Kies zum Knirschen brachte. Durch die Küchenfenster beobachtete sie, wie er zur Veranda rannte und seine Stute sattelte. Das Tier stürmte bereits los, ehe er im Sattel saß, wobei die Hufe Gras- und Erdklumpen durch die Luft schleuderten. Big folgte dem Reiter laut bellend. Der gescheckte Mustang zerrte an dem Seil, das ihn zurückhielt, beruhigte sich aber schnell wieder.

Als die Aufregung sich gelegt hatte, machte Felicitas sich daran, die Küche aufzuräumen. Das Funkgerät knackte und rauschte unentwegt, da sich verschiedene Leute aus der Stadt und den Höfen im Umland in Mutmaßungen über den gemeldeten Unfall ergingen.

Felicitas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es war nicht verwunderlich, dass sich jede Nachricht in Sekundenschnelle verbreitete, wenn in beinahe jedem Haushalt ein Funkgerät zur Grundausstattung gehörte, über das alle Gespräche mit angehört werden konnten.

Die junge Frau warf einen Blick auf die tickende Küchenuhr mit den – vermutlich von Virginia – kunstvoll aufgemalten Zahlen. Die halbe Stunde, die sie in der Nähe des Funkgerätes bleiben sollte, war nahezu verstrichen. Sie könnte endlich einmal ihren Fotoapparat auspacken und einige Aufnahmen von ihrem Haus, dem idyllischen Garten mit dem Fluss und den Zypressen anfertigen. Diese würde sie dann an Kerstin und das Ehepaar März nach Deutschland schicken, die sicher wissen wollten, wo und wie sie inzwischen lebte. Und vielleicht würde sie auch den überflüssigen Mustang ablichten.

Als Felicitas ihren Namen im Funkverkehr hörte, wirbelte sie herum. Die leicht rauchige, tiefe Stimme, die begleitet von atmosphärischen Störungen in ihre Küche drang, gehörte unverkennbar zu Landon. Was hatte er ihr so Wichtiges mitzuteilen?

Felicitas warf das Geschirrtuch auf den weiß lackierten Küchentisch und hastete in den Nebenraum. In der Hoffnung, dass sie das Gerät korrekt bediente, nahm sie die Sprechvorrichtung und drückte den Knopf, der es ihr zu antworten erlaubte.

„Ja? Hier spricht Felicitas!“

„Miss Tess, können Sie bitte kommen? Sie finden mich an der Brücke, nahe beim Dorf!“

Felicitas nickte ungeduldig. Sie wusste längst, dass sich dort ein Autounfall ereignet hatte und alle verfügbaren Männer gerufen worden waren, weil man ein Opfer in den Fluten des Stroms vermutete.

„Ich komme!“

„Danke!“

Sorgsam schaltete sie das Gerät aus, lief in den Flur, setzte sich ihren Strohhut auf und griff nach dem Autoschlüssel. Erst da kam ihr die überflutete Auffahrt in den Sinn, und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Um Landons Bitte nachkommen zu können, blieb ihr als Fortbewegungsmittel nur das Pferd. Erwartete er das wirklich von ihr? Doch welche andere Möglichkeit hatte sie, wenn sie nicht zu Fuß gehen und dadurch wertvolle Zeit verschenken wollte, bevor sie bei der Brücke eintraf?