Denise Reichow

Heitlinger Hof 7b

30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

Killing Zombies and Kissing You

Text © Magret Kindermann, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat & Korrektorat: Marie Weißdorn

Satz & Layout: Nadine Reichow

eBook: Grittany Design

ISBN 978-3-947147-00-7

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Es ist dunkel. Und still. Aber irgendetwas muss sein, ich bin hochgeschreckt. Der Staub kitzelt in meiner Nase und ich niese.

»Bea?«, flüstert Simon von irgendwo so laut, dass es wahrscheinlich noch ein Astronaut im All hören könnte.

Hastig rapple ich mich auf und lausche.

Es klopft vorsichtig an der Tür.

»Simon!«, flüstere ich ebenso laut zurück.

Die Tür geht auf und ein blonder Lockenkopf schaut herein. »Großer Gott, ich hab mich fast eingeschissen. Zum Glück hab ich die richtige Tür erwischt.«

Fassungslos starre ich ihn an. Was macht er hier? Will er mich holen? Warum hat ihn niemand erwischt? Die Fragen überschlagen sich in meinem Kopf, aber zuerst gibt es Wichtigeres: Ich falle in seine Arme.

Habe ich ihn nicht für feige gehalten? Warum eigentlich? Meine vorherigen Gedanken sind weggewischt, mein Körper hat die Kontrolle übernommen.

Er grinst und ich boxe ihn, weil ich seine Selbstgefälligkeit blöd finde. Aber er hat recht, ja, ich habe gerade alles um mich herum vergessen, weil er den Raum betreten hat. Um den Moment zu verlängern, ziehe ich seinen Kopf zu mir herunter und küsse ihn. In meiner Brust glüht ein Hunger auf. Wie herrlich, dass ich ein solches Feuer habe, das mich von endlosem Grübeln abhält.

»Wie bist du an den anderen vorbeigekommen?«, frage ich mit heißem Atem.

Seine Wangen glühen. »Was?« Er schüttelt den Kopf, als wolle er einen Nebel loswerden. »Sorry. Ich bin ganz überrumpelt von deinem Empfang.«

Ist ja auch eigentlich egal, ich küsse weiter, ich küsse die Welt in Schutt und Asche.

Simon windet sich. Nein, hör auf, dich zu winden. Es ist so schön.

»Ich hab hier niemanden umgelegt oder so«, flüstert er. »Es kann also jederzeit jemand kommen. Komm mit, raus aus der Burg. Ich bringe dich später zurück.«

»Raus?«, frage ich ungläubig. »Es ist doch dunkel.«

»Na und?«

Ich zucke mit den Schultern, will nicht sagen, dass ich mich im Dunkeln nicht traue. Schon tagsüber sind Zombies gruselig. Da wird es nicht besser, wenn man nicht gut sieht.

»Wegen der Untoten?«, fragt Simon, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die sind nachts so gut wie harmlos. Die sehen so schon schlecht, im Dunkeln gar nichts. Total blind stehen sie rum und sind hilflos. Sie dürfen dich nur nicht hören. Ich bin früher fast nur nachts unterwegs gewesen.«

Vielleicht sind wir uns deswegen nie begegnet. Trotzdem zweifle ich an der Harmlosigkeit der Dinger. Jeder Horrorfilm nimmt nachts erst recht an Fahrt auf.

»Ich pass auf dich auf«, sagt er.

Sein Satz gefällt mir und gleichzeitig nicht. Ich will auf mich selbst aufpassen können. Aber beschützt zu werden, ist wunderschön. »Dann schnell, bevor jemand was merkt.«

Simon nickt. »Es gibt niemanden, der großartig Wache hält. Sie sitzen drei Räume weiter um ein Feuer rum. Aber wir müssen trotzdem leise und schnell sein. Ich will hier fix wieder raus.«

Er geht voran. Im Zimmer hatten wir ein wenig Mondlicht von draußen, doch im Gang gibt es keine Fenster. Entfernt flackert es und wir hören leise Stimmen. Wir tasten uns an der jahrhundertealten Steinwand entlang auf den Lichtschein zu. Ich sehe mittlerweile wieder so gut, dass ich Simons Nacken erkenne. Brooke hatte ihm den freigeschnitten.

Plötzlich ertönt Fatihs donnernde Stimme: »Mögest du Frieden finden!«

Vor Schreck bleibe ich stehen und presse mich an den Stein. Simon dreht sich zu mir, seine Augen sind wie schwarze Kieselsteine. Er presst einen Finger auf den Mund. Habe ich einen Ton von mir gegeben?

Wir nähern uns dem Raum mit dem Kaminfeuer. Die große Flügeltür steht offen. Wieder wendet sich Simon zu mir. Er weist auf die andere Seite und presst den Mund zusammen.

Ich nicke. Ja, da müssen wir hin, schon klar.

Er überlegt, doch scheint zu keiner guten Lösung zu kommen. Anscheinend war die Tür auf seinem Hinweg noch zu. Dann sehe ich wieder nur seinen Nacken. Er bewegt sich nicht und lauscht. Ob er sich nicht traut, loszurennen?

»Mögest du Frieden finden!« Wieder Fatihs unheilvolle Predigt.

Ich zucke zusammen. Meine Nerven drohen durchzudrehen, und ich merke, dass jeder Muskel angespannt ist. Fatihs Echo hallt durch die Burg: Frieden finden, Frieden finden!

Wie im Windschatten des Echos flitzt Simon los und überwindet die offene Tür. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Ich bleibe zurück und nehme seinen Platz am Türrahmen ein. Wir lauschen, ob jemand ihn bemerkt hat. Niemand spricht mehr, aber ich höre Ketten rasseln und ein seltsames Gurgeln, das ich nicht zuordnen kann.

Ich renne nicht, stattdessen schlendere ich an der Öffnung vorbei wie ein Tourist. Falls sie mich sehen, bin ich damit weniger verdächtig, als wenn ich renne. Der Raum vor mir ist überfüllt mit Schatten der anwesenden Personen, die das Feuer an die Wände wirft. Jeder hat mir den Rücken zugewandt. Bis auf eine Gestalt, die auf dem Boden kauert. Und jetzt verstehe ich auch, woher das Gurgeln kommt. Fatih stopft ihr einen Backstein in den Mund. Die Gestalt sieht mich und windet sich gierig in meine Richtung. Es ist ein Untoter, dessen Arme auf den Rücken gefesselt sind.

Da bin ich schon vorbei.

»Mögest du Frieden finden!«

Simon umfasst mich, er strahlt aus mir unerklärlichen Gründen, und wir hasten weiter, bis wir eine Treppe erreichen, die auf den Hof führt.

»Hast du das gesehen?« Ich ringe um Luft. »Heilige Scheiße! Hast du das gesehen?«

Er bedeutet mir, noch leise zu sein, und zieht mich mit sich. Links und rechts stehen alte Wägen, Tongefäße und Ritterrüstungen, um Schaulustige zu beeindrucken. Die Dekoration wirkt unschuldig wie ein Kindergeburtstag in einem Horrorfilm. Trotz der Angst in mir verspüre ich keine Panik. Tatsächlich beruhigt es mich, die Menschen hinter uns zu lassen und hinaus zu den Zombies zu gehen.

Die Zugbrücke ist unten. Niemand scheint mit Eindringlingen zu rechnen. Im Wald verengt sich mein Brustkorb und ich stolpere. Simon kommt zu mir zurück und kniet sich neben mich.

Die Fichten stehen dicht, in meinen Ohren rauscht das Blut und ich kann weder hören noch sehen, ob sich etwas nähert. Also bleiben wir auf dem modrigen Waldboden sitzen und als das Rauschen nachlässt, wird mir kalt.

»Geht’s wieder?«, fragt Simon. Er ist dicht bei mir.

»Woher wissen wir, ob einer in der Nähe ist?«

»Sie hören und sehen schlecht. Im Dunkeln sind sie wie erstarrt, solange sie keinen Impuls von etwas Lautem kriegen.«

Ich mag, dass er geduldig mit mir ist. Obwohl er es mir schon einmal erklärt hat.

»Wir könnten in einen hineinrennen«, sage ich.

»Aber für uns ist die Nacht hell. Schau.« Er zeigt auf den Mond, der über der Burg steht. »Und wir hören fantastisch im Gegensatz zu ihnen. Im Wald hört man sie schon Hunderte Meter entfernt.« Er sammelt einen Zweig auf und zerbricht ihn. Das Knacken ist laut und ich zucke zusammen. »Wir gehen nicht weit.«

»Bleiben wir im Wald?«

Er schüttelt den Kopf. Dann nickt er zögernd. »Also, wie du willst. Ich halte es im Wald für sicherer. Aber wenn du dich fürchtest, können wir auf der Straße bleiben. So weit oben gibt es sowieso kaum Untote. Sie gehen gerne bergabwärts.«

»Dann der Wald. Was nützt mir die Illusion von mehr Sicherheit?«

Im Mondlicht sehe ich seine blitzenden Zähne. Er steht auf und ich folge. Wir klopfen uns die Nadeln ab. Die ersten Minuten bleibe ich hinter ihm, dann gewöhne ich mich an den Frieden des Waldes. Nachts ist er aktiv, doch es sind nur die Tiere. Nichts Schweres hält sich in unserer Umgebung auf. Auf einer schmalen Holzbrücke machen wir Halt, setzen uns und lassen die Beine hinunterbaumeln.

Ich berichte, was ich in der Burg beobachtet habe, als ich an dem Kaminraum vorbeigegangen bin.

Auch Simon kann sich keinen Reim darauf machen. »Vielleicht glauben sie, dass die Untoten so geheilt werden können. Es gibt genug Spinner da draußen.«

»Meine Theorie ist ja, dass ausschließlich die Spinner überlebt haben. Ein normaler Mensch kann unmöglich hart genug für das hier sein.«

Er verschluckt sich beim Lachen und hustet. »Die Frage ist dann: Was ist mit dir? Bist du nur aus Versehen hier oder gehörst du zu den Spinnern?« Er fragt zärtlich und ich lehne mich seiner Stimme entgegen.

»Es hilft definitiv, dass du hier bist«, sage ich.

»Das schmeichelt mir.«

»Nein, so meine ich es gar nicht. Also klar, doch … und so. Aber es hilft, diese Spannung zwischen uns zu spüren. Die macht Lust auf das Leben.« Meine Ehrlichkeit macht mir Angst.

»Geht mir auch so«, sagt er.

Ich schaue auf den Waldboden aus Nadeln, Laub und Zweigen unter mir. An besonders regenreichen Tagen entsteht hier ein kleiner Bergbach. In Simons Augen will ich nicht schauen, aus Angst davor, zu viel Gefühl darin zu sehen.

»Henrick ist wahnsinnig vor Wut«, sagt er.

Jetzt blicke ich doch auf und entdecke nur noch Besorgnis.

»Er will nicht mehr morgen nach Bruchsal fahren, sondern die Burgleute aufspüren. Keine Ahnung, was das bringen soll. Er ist durchgeknallt.«

»Du verrätst ihnen doch nicht, wo sie sind?«

»Quatsch! Aber du bleibst besser bei ihnen, auf dich ist er besonders scharf. Ich denk mir was aus. Wir können nicht bei den einen oder anderen bleiben, aber wir schaffen es unmöglich allein.«

Er ist doch nicht feige! Mein Herz tanzt, weil der Typ, den ich mag, kein Blödmann ist.

»Bist du uns direkt gefolgt? Du kannst doch unmöglich gewusst haben, dass die in der Burg sind.« Ich halte inne. Vielleicht doch und er weiß viel mehr von irgendwelchen Plänen, als ich dachte.

»Ich bin über den Balkon rausgeschlüpft und euch nach. Schon am Waldrand hab ich euch eingeholt, die schleichen ja vielleicht! Und laut wart ihr, ich hab euch leicht entdecken können.«

»Mhh«, mache ich und zögere. »Ich dachte, dass du auch mitkommen würdest. Weg von Henricks unmoralischen Spielchen. Und, na ja, mit mir.«

»Ich kenne die Burgleute nicht. Henrick ist ein Arsch, ja, aber immerhin weiß ich nun schon, auf welche Weise. Das ist viel wert, findest du nicht?« Er spricht gleich weiter. »Dann ist da noch Bruchsal.«

»Ich will auch nach Bruchsal!«, sage ich laut. »Nur deswegen bin ich nicht gleich wieder vor euch abgehauen.« Das stimmt nicht und ich weiß es. Ich denke an Brooke und ihren Kakao, den schnarchenden Nils, die umsorgenden Hände von Bernd, das Gelächter beim Kartenspielen …

»Du zitterst«, sagt Simon.

»Wusstest du, dass man Gänsehaut davon bekommen kann, Musik zu hören? Es gibt die Theorie, dass nur Menschen, die offen sind, welche bekommen.«

Simon drückt mich an sich und reibt meinen Arm. »Und?«

»Mhh?«

»Bist du offen?« Seine Frage klingt, als meine er mehr als nur für Musik. Sie klingt versaut.

Ich will gleichsam versaut und zweideutig antworten, aber bin nicht schlagfertig genug. Stattdessen drücke ich ihm meine kalten Lippen auf den Hals.

Er zuckt kichernd zusammen. »Komm, ich bringe dich zurück.«

Als wir stehen, drücke ich mich an ihn. »Warum bist du in die Burg gekommen?«

Simon scheint verwirrt. »Ich bin euch direkt gefolgt.«

»Nein, das meine ich nicht. Warum?«

»Ich wollte es einfach.«

Ich höre ihn atmen. Mehr Antworten hat er auch nicht.

Auf dem Weg zurück verabreden wir uns für die nächste Nacht auf dem Dach unweit des Solarhauses.

»Bis dahin hab ich einen Plan, wie wir allein nach Bruchsal kommen. Henrick hat bestimmt eine Karte.«

Wir allein nach Bruchsal? Ja, bitte! Wie beiläufig er das sagte. Als sei es klar gewesen, nichts war klar! Er will mit mir nach Bruchsal!

Simon lacht und ich merke, dass ich an seinem Arm hänge und auf und ab hüpfe.

»Willst du denn überhaupt noch mit mir nach Bruchsal?«, fragt er.

»Am liebsten gleich jetzt. Ich bin hier fertig.«

»Ich versuche noch, so viel wie möglich herauszufinden. Irgendjemand verrät bestimmt was. Wenn ich keine Karte kriege, kriege ich bestimmt wenigstens eine Wegbeschreibung.«

»Versuch es bei Bernd oder dem Jungen«, sage ich. »Sie sind treuselig.«

Simon schüttelt den Kopf. »Sie sind vor allem loyal gegenüber Henrick. Sie fühlen sich von ihm beschützt.«

An der Zugbrücke küssen wir uns wie ein Paar, das sich morgens trennt, um zur Arbeit zu gehen. Als ich ihn weggehen sehe, muss ich lächeln. Es ist erstaunlich, wie schnell das Ungewöhnliche alltäglich wird.

Der Weg allein zurück durch den Burghof ist nicht mehr so kurz wie zuvor. Hinter jedem Dekoelement erwarte ich einen Feind. Dabei ist die Nacht still und friedlich.

»Hallo, Missy.«

Ich mache einen Satz, mein Herz setzt aus.

Einer von Fatihs Männern, ich kenne seinen Namen noch nicht, steht auf der ersten Treppenstufe und raucht. »Nächtlicher Spaziergang?«

»Ich hab mir die Burg angesehen.«

»Klar.« Er klingt beiläufig.

Wer stark sein will, tut furchtlos. Richtig? Also gehe ich auf ihn zu, räuspere mich bedeutend und warte höflich, aber bestimmt, bis er mich durchlässt. Er riecht nach Tabak und Pisse.

»Ach ja!«, sagt er, als ich schon fast außer Sicht bin.

Ich drehe mich um, mir jeder Bewegung bewusst.

»Es wäre besser, du sagst Bescheid, wenn du wegwanderst. Fatih weiß gerne, ob wir in Sicherheit sind.« Es klingt nicht bedrohlich, wenn auch gruselig. Ich verstehe endlich, dass dieser Typ mich nicht bedroht. Er ist bloß dumm.

»Klar«, sage ich im selben Tonfall wie er vorher. Als er sich wieder der klaren Nachtluft zuwendet, füge ich hinzu: »Ach ja!«

Er dreht sich um.

»Wie kriege ich hier was zu essen?«

Ob ihm meine Dreistigkeit auffällt, erkenne ich nicht. Aber er braucht einen Moment, bis er den Inhalt meiner Frage erfasst. »Frag mal Fatih.«

Im Kaminzimmer hält sich niemand mehr auf, das Feuer ist heruntergebrannt, nur ein paar Kerzen brennen noch. Auch gibt es keine Backsteine oder Untoten. Stattdessen finde ich mehrere Taschen mit Essen. Ich klaue mir einen eingepackten Marmorkuchen und eine Dose Pfirsiche.

In meinem Zimmer ist mein Rucksack und auch Henricks Waffe unberührt. Die Schlampigkeit der Truppe gibt mir eigenartigerweise ein sicheres Gefühl. Sie sind stark und mutig, aber keine langfristigen Denker. Ich bin ihnen überlegen.

Trotzdem schiebe ich den langen Stehkerzenständer vor die Tür. Der hält zwar nicht auf, würde aber umfallen, wenn jemand hereinkommt.

Die Burgbewohner schlafen noch tief und fest. Ich entdecke mehrere Flaschen Hochprozentiges überall verstreut in der Burg. Über einem alten Gemälde von Jesus Christus klebt ein benutztes Kondom. Anscheinend hab ich die Sith gegen einen Haufen Piraten eingetauscht. Ich nutze meine freie Zeit, klaue noch mehr Essen und durchstöbere die Burg.

Auf dem Platz hoch oben auf einem Turm mache ich die größte Entdeckung. Ein großer, selbstgenähter Ballon liegt ausgebreitet vor mir, daneben steht ein stabiler Korb aus Zweigen, der locker fünf bis zehn Menschen fassen kann.

Ich untersuche die Nähte, die alle fest und ordentlich wirken. Der Ballon scheint fertig. Unter einer Plane entdecke ich mehrere Gaskartuschen.

Wohin wollen sie damit? Ob sie von Bruchsal wissen? Zumindest waren sie wohl noch nicht da, sonst hätten sie Henrick und die anderen erkannt. Oder sind dort so viele Leute, dass das nicht zwangsläufig der Fall sein muss?

Nachdem ich mir noch die Schätze angeschaut und einen Ritterhelm probegetragen habe, gehe ich zurück zum Kaminzimmer. Die Sonne steht hoch und jetzt erst werden die Ersten wach. Sie nicken mir zu und reiben sich die Augen. Alex streitet sich mit einem hochgewachsenen Blonden. Ich denke, es hat etwas mit dem Kondom zu tun.

Ich begebe mich wieder in das mir zugewiesene Zimmer, um ihnen zu entgehen. Kaum habe ich zwei Seiten Cecilia Ahern geschafft, kommt Fatih mit zwei Dosen Cola zu mir. Er setzt sich auf den Bettrand und öffnet seine Dose. Meine liegt wie ein Angebot zwischen uns.

»Du musst ein unsagbares Trauma erlebt haben«, beginnt er.

»Wie wir alle.«

»Dass du nicht die Einzige bist, die Schlimmes erlebt hat, macht deine Erfahrung nicht weniger schlimm.« Er lächelt wohlwollend.

Ich runzle die Stirn. »Ich schlafe wunderbar. Wie sieht es mit dir aus?«

Seine weiche Mimik verschwindet nicht. Er schlägt die Beine übereinander. »Wir kümmern uns hier alle umeinander. Du hast schwere Zeiten hinter dir. Das hat sich geändert. Du musst dich nicht mehr fürchten. Es ist vorbei.«

»Weil ich nun eine Familie habe?«, frage ich vorsichtig. Ich wünsche mir, er würde nicht auf meinem Bett sitzen.

Er wiegt den Kopf von einer Seite zur anderen, als wägt er ab. »Wir haben den richtigen Weg, deswegen.«

»Deswegen ist die Hälfte von euch vor ein paar Tagen erschossen worden, was?« Ich hoffe, dass mir meine Zunge nicht zum Verhängnis wird. Aber ich kann es nicht ertragen, zu einem Schoßhündchen bestimmt zu sein.

»Der Tod ist nicht das Schlimmste, was wir befürchten können.«

Laut schnaube ich. »Ob Zombie oder tot, was juckt es mich noch?«

Fatih steht auf und kratzt sich die Brust. Er geht zum Kopfende des Bettes und hebt ein Buch der alten Bewohnerin des Zimmers auf, das ich nicht bewegt habe. »Vor dir gehörte dieses Zimmer Sandra. Wir haben viel getan, damit sie sich bei uns wohlfühlt. In ihrem früheren Leben war sie verschlagen und immer auf ihren Vorteil aus. Leider hat sie sich dafür entschieden, das beizubehalten. Sie wurde zur Untoten.« Er senkt den Blick, als gehöre es sich so.

Ich greife nach der Dose und öffne sie zischend. Ich bin nicht durstig, aber brauche die Handlung, um zu überdecken, wie genervt ich bin. »Bestimmt hat sie sich nur verwandelt, weil sie so böse war.« Ich möchte ein Lachen hinterherschieben, doch er nickt bekräftigend.

Mit einem neuen Schwung Energie setzt er sich wieder und klopft auf das Buch. »Es ist das Resultat unserer Taten. Siehst du das denn nicht? Wer ein reines Gewissen hat, braucht sich nicht zu fürchten.«

Seine Nähe ekelt mich an und ich springe auf. Ich zupfe die schwere Bettdecke zurecht.

»Gehört das Ritual, das ihr gestern gemacht habt, dazu?«, frage ich.

»Da hat wohl jemand gelauscht!« Er klingt fröhlich und legt die Hände auf sein Knie. »Das machen wir mit denen, die zu uns gehört haben. Wir mischen uns nicht in ihre Strafe ein, aber wir schützen die Lebenden, für die das Urteil noch nicht gesprochen ist.«

Er ist bekloppt, völlig abgedreht! Ich merke erst jetzt, dass ich zurückgewichen bin.

»Hab keine Angst. Ich gehe bei jedem davon aus, dass er rein ist. Und ich glaube auch, dass man sich jederzeit bessern kann.«

»Wie schützt ihr die Lebenden?«

»Die Hände der Toten werden auf dem Rücken gefesselt und der Mund mit einem großen Stein verschlossen. So können sie weder zubeißen noch kratzen. Wir überlassen sie aber ihrer Strafe, wir richten nicht, wir erlösen nicht.«

Das große Bett steht zwischen uns. »Was ist, wenn ich daran nicht glaube?«

Fatih winkt ab. »Ich kann nicht in den Glauben eines Menschen eingreifen. Aber ich kann dir Zeit geben, es zu verstehen.«

Es gruselt mich, wie gerade seine Zähne sind. Das Grünzeug zwischen zwei Schneidezähnen beruhigt mich. Als würde es ihn angreifbar machen.

Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. Er soll gehen und mich allein lassen.

»So!« Er haut sich schelmisch auf die Oberschenkel und springt auf. »Jetzt brauchen wir deine Hilfe. Wir haben ein Geheimnis.« Er zwinkert und winkt mich mit sich.

Den restlichen Tag koche ich mit Wasser aus einem mittelalterlichen Brunnen auf einer Feuerstelle. Abends soll es ein Fest geben, warum, wird mir nicht verraten. Ich werde es zumindest nicht abwarten.

Als es dämmert, schleiche ich mich in mein Zimmer. Mit einem geklauten Krug abgekochtem Wasser wasche ich mich untenrum. Ich ziehe mir den Tampon raus, der keine Blutflecken mehr zeigt. Rauswerfen will ich ihn nicht, weil ich dieses Mal umgeben von Natur bin. Also kicke ich ihn unter das Bett. Meinen Rucksack lasse ich aus dem Fenster fallen und schleiche mich aus der Burg. Den Rucksack suche ich eine halbe Ewigkeit in dornigen Zweigen. Auf der Burg höre ich die anderen johlen und Feuerschein flackert auf. Was für ein verrückter Haufen. Egal ob Simon und ich direkt fliehen oder nicht, bei denen bleibe ich keine Sekunde mehr.

Allein traue ich mich im Dunkeln nicht in den Wald, deshalb nehme ich die Straße. Der Mond scheint heute schwächer, weil trübe Wolken vor ihm hängen. Zombies sehen jetzt gar nichts! Immer wieder sage ich mir diese Worte. Sie sehen nichts, gar nichts, nada, blinde Trottel sind sie. Ich bin hier das Raubtier, ausgestattet mit Elbenaugen und einem Wahnsinnsgehör. Ständig bleibe ich stehen und versichere mich, dass mir niemand folgt. Bergab komme ich gut voran und bald sehe ich die Kreuzung, von der es nur noch zehn Minuten bis zur Dachgeschosswohnung sind.

Plötzlich höre ich ein Grunzen und erstarre mitten im Schritt. Dort im Baumschatten ist ein Untoter. Er steht nicht, sondern macht wahllos mal einen Schritt zur Seite, mal vorwärts. Sein Kopf hängt, als sei er nutzlos. Seine Arme schwingen leicht im Wind. Hat er mich gehört?

Da sehe ich einen zweiten. Er steht halb hinter seinem Kumpel im Brombeerbusch.

Scheiße. Jetzt beweist mir mal, was für blinde Fische ihr seid! Versuchsweise mache ich zwei Schritte und warte. Sie hätten meine Bewegung bei Tag auf jeden Fall sehen müssen, aber sie führen ihren ziellosen Tanz fort. Ein Schritt in die eine Richtung, dann wieder in die andere. Wie in Trance eiern sie umeinander herum. Vielleicht irritieren sie die Geräusche, die der andere macht.

Mit angehaltenem Atem schleiche ich mich an ihnen vorbei. Noch immer rühren sie sich nicht. Jetzt darf nur kein Windstoß kommen und meinen Geruch zu ihnen tragen.

Schon bin ich in der Solarhausstraße. Statt daran vorbeizugehen, mache ich einen großzügigen Bogen. Im Gegensatz zu den Rüpeln auf der Burg haben Henricks Leute Wachen, das weiß ich.

Jetzt stehen alle paar Meter Zombies rum. Natürlich, die Explosion muss sie angelockt haben. Ich kann nur noch vorwärts, also schlängle ich mich zwischen den Kreaturen hindurch. Hier und da röchelt einer, aber größtenteils bleiben sie still. Fast erscheinen sie, als schliefen sie. Ein paar erkenne ich sogar, alte Lehrer, Mitschüler und Ladenbesitzer haben sich um mich herum versammelt. Sie erschrecken mich nicht mehr. Ich habe mich an ihre neuen Gesichter gewöhnt.

Die Haustür geht zuerst nur einen Spalt auf, als ich mich dagegen drücke. Panik steigt in mir auf, dann entdecke ich den neuen Kabinenhaken, den ich nur aushaken muss. Simon muss ihn angebracht haben, damit sich kein Untoter aus Versehen ins Treppenhaus verläuft. Ich öffne die Tür und verriegle sie wieder hinter mir.

Die Stufen jage ich hinauf. Ich brauche ein fröhliches Gesicht, bei dem ich mich nicht ständig fragen muss, ob es nur wahnsinnig ist oder mich auch in die Pfanne hauen will.

Die Wohnung hat sich verändert. Dicke schwarze Tücher hängen vor den Fenstern, um das Licht von zwei batteriebetriebenen Lampen nicht nach draußen zu lassen. Dazu steht auf der Küchenanrichte eine Box, die wohl ebenfalls über Batterie läuft. Daran hängt ein veralteter iPod. Irgendein Oldie läuft, Neil Young oder Eric Clapton oder so was. Der iPod jagt mir einen Schauer über den Rücken. Jedes technische Gerät dieses Jahres ist ab der Apokalypse für immer das Neuste. Keiner fragt mehr, ob es Apple oder Samsung ist. Eine Packung Haferflocken ist mehr wert als ein Smartphone. Hast du kein iPhone, hast du kein iPhone.

Simon sehe ich nicht, doch ich ahne schon, wo ich ihn finde.

Im Schlafzimmer steht das Dachfenster offen und davor der Hocker. Ich steige drauf, lasse den Rucksack daneben fallen und beuge mich nach draußen. Über mir sitzt Simon neben dem Schornstein. Er trägt eine gigantische Daunenjacke, die ich noch nicht kenne. Es ist kalt geworden.

»Oh, hey!«, sagt er, als sei ich eine Überraschung.

»Ich bin enttäuscht, ich habe ein Vier-Gänge-Menü erwartet. Das hier ist doch kein anständiges Date!«

Er grinst. »Ich bin eben kein guter Freund. Alles, was ich habe, ist eine Thermoskanne Tee. Komm hoch!«

Ich klettere zu ihm und schiebe mich mit unter seine Jacke. Bald will ich ihm von dem Ballon und meinem Mut, nachts draußen zu sein, berichten, doch erst will ich ankommen. Dazu brauche ich länger als sonst und ich genieße es. Von allen Überlebenden komme ich mir vor wie ein Glückspilz. Ein Abend auf einem Dach unter derselben Jacke mit jemand anderem! Was ein toller Grund, um am Leben zu bleiben. Es sind doch immer dieselben Dinge, die einem ein warmes Gefühl geben, egal ob auf der Straße Zombies herumlaufen oder nicht.

Die Sterne sind kaum zu sehen. Dafür flackert die Stadt wieder in ihrem dramatischen Reststrom wie ein Gewitter. Was würde ich dafür geben, zu verstehen, wie das Stromnetzwerk funktioniert und warum noch nicht alles zusammengebrochen ist.

»Glaubst du, die Menschheit findet jemals die Ursache heraus?«, fragt Simon. Auch er starrt zum Lichterspektakel.

»Wahrscheinlich, mhh, ist das Netzwerk in Teilabschnitten geordnet und jedes bezieht den Strom von woanders. Und irgendeine Quelle ist noch aktiv.«

Seine Locken kitzeln meine Nase, als er sich herumdreht. »Ich meinte die Untoten. In Filmen geht es früher oder später immer darum. Ein Virus, der von abartigen Wissenschaftlern freigesetzt wurde. Die Rache der Natur. Eine neue Form der Pest. Verrückte Experimente, die schiefgehen.« Er zuckt mit den Schultern. »Mir gehen die Ideen aus. Aber jede klingt zu abgefahren für die Realität.«

»Die Realität ist unrealistischer, als man denkt«, sage ich, dann nichts mehr. Erst als er mir Minuten später den Thermoskannendeckel mit Pfefferminztee reicht, habe ich noch einen neuen Gedanken dazu: »Ich glaube, wir sind zu nichtig. Warum sollten wir jemanden kennenlernen, der die Wahrheit kennt? Wenn überhaupt noch jemand davon lebt. Wenn überhaupt jemand je etwas vom großen Ganzen gewusst hat.«

Simon nickt nachdenklich. »Ich frage mich trotzdem, was es ist. Es ist zu verrückt, dass die Horrorgeschichten aus Büchern und Filmen echt geworden sind.«

»Wenigstens gibt es keine Mutanten.«

Er lacht, dann schweigt er abrupt. »Oh Gott, ich hoffe, es gibt keine Mutanten.« Er drückt mich dicht an sich. Mit dem Knie kommt er aus Versehen an den Thermoskannendeckel zwischen uns und er fällt klappernd die Ziegel hinunter. Fast schafft er es über die Regenrinne, doch dann verschwindet er darin. »Schade«, sagt Simon. »Die Kanne hat mir gute Dienste geleistet.«

»Kauf dir halt ’ne Neue.«

Mit zuckenden Mundwinkeln schaut er mich an. Da ist er, der leichte Moment, den wir so dringend brauchen. So albern er auch ist. Wir brechen in Gelächter aus. Ich habe Tränen in den Augen.

»Warum lachen wir?«, frage ich und ziehe die Nase hoch.

»Warum auch nicht?«

Und wir lachen weiter, bis uns die Nacht einholt. Sie ist unser Freund. Mein Herz ist leicht. Erst als auch die dicke Daunenjacke nichts mehr bringt, gehen wir zurück in die Wohnung.

»Ich habe Rotwein!«, verkündet Simon, strahlt und präsentiert mir eine schicke Flasche. »Erst dachte ich, ich hätte es voll versaut. Natürlich hab ich nicht an einen Korkenzieher gedacht.«

»Aber hier ist einer?«

»Hier ist einer. Dann habe ich allerlei Diebesgut.« Mit dem Fuß schiebt er so einen kastenförmigen Hipster-Rucksack in mein Sichtfeld, aus dem Gläser und Plastikverpackungen herausragen. Ganz oben liegen eingemachte Preiselbeeren. »Keine Ahnung, ob man daraus was zaubern kann, aber es macht satt. Und für die Magie ist ja der Rotwein zuständig.« Wie ein Zauberer breitet er die Arme aus. »Und dann habe ich den Saturn geplündert!«

»Ganz allein?«

Simon verkneift sich ein stolzes Lächeln. »Ach, ich hatte Hilfe von einer Horde Zombies. Alles läuft mit Batterie und das Beste ist –« Er entstöpselt den iPod und überreicht ihn mir. Die Musik hat gestoppt. »Dann musst du keins deiner verhassten Bücher mehr lesen, sondern hast ein Medium, das du liebst.«

Ratlos schaue ich auf das Ding in meiner Hand. Wie seltsam, dass mich die Masse an Strom nicht verwundert, die wir heute Abend nutzen. Doch es fühlt sich noch gewöhnlich an. Als könnte ich jederzeit in mein verwöhntes Teenagerleben zurückkommen, als ich nie ohne Smartphone das Haus verlassen und Panik bekommen habe, wenn der Akku einstellig wurde.

Der Bildschirm zeigt mir das Albumcover, den Liednamen und den Interpreten an. Es ist tatsächlich Neil Young. Sein Lied »Heart of Gold« kenne ich sogar und ich freue mich. Ich sollte mehr solcher Klassiker kennen. Tzz, denke ich. Ob das jetzt noch eine Rolle spielt? Ich bin blöd, es hat wohl nie eine Rolle gespielt. Hauptsache, einem gefällt, was man hört. Doch es ist schön, zu denken, so etwas sei wichtig. Für’s Image. Das hat sich nun immerhin geändert, das Image ist nur noch wichtig, damit andere mich für hart halten und nicht abstechen. Obwohl … Eigentlich hat sich doch nichts geändert. Aus ausschließen wurde abstechen, das ist alles.

»Ich weiß, was du denkst! Aber ich hab noch mehr.« Simon bückt sich, kramt im Hipster-Rucksack und hält mir schließlich einen flachen, silbernen Kasten hin.

»Ein Solar-Ladegerät?«, frage ich begeistert. Prüfend wiege ich das Geschenk. Es ist nicht zu schwer. Das macht den iPod attraktiv. Ich könnte zum Einschlafen Neil Young hören.

»Ich hab alles draufgespielt, was ich auf einem Laptop mit halbwegs gutem Geschmack gefunden habe. Kann sein, dass es dir nicht gefällt, aber ich hab’s versucht.«

»Er ist toll!«

»Erst wollte ich dir ein Gemälde von Vermeer klauen, aber das nächste Museum war zu weit weg.«

»Du weißt, dass ich Vermeer mag?«

Er zuckt die Schultern. Mir fällt nur ein, dass ich vor den letzten Weihnachtsferien ein Referat über den Künstler gehalten hab. Aber Simon war nicht in meiner Klasse. Ich verenge die Augen und beschließe, das Geheimnis ruhen zu lassen.

Das Solar-Ladegerät lege ich neben den iPod auf die Küchenanrichte und ziehe Simon am Gürtel zu mir.

»Danke«, sage ich.

»Nicht dafür«, sagt er fast unhörbar.

Er hebt die Arme und ich streife ihm Grumpy Cat über den Kopf. Furchtbar abgemagert ist er. Ich denke an die vergangenen Monate, in denen ich mich durch den Supermarktvorrat der Waldmanns gefressen habe. Wo war er da? Der Anblick seiner Rippen schickt mir eine traurige Welle der Zuneigung. Ich verstecke meine wässrigen Augen nicht und blicke ihn an. Er will was sagen, doch ich küsse seine Worte fort. Nicht jetzt. Am liebsten nie wieder.

Was habe ich nur zu beweisen versucht? Dass ich zu stark für Gefühle bin? Dass niemand an mich rankommen kann? Musste erst die Menschheit untergehen, damit ich erkenne, dass ich ein Teil von ihr bin?

Simon öffnet meine Hose.

Es gab Zeiten, in denen ich mit jemanden rumgemacht habe, während ich daran dachte, was andere denken werden. Und dann kam die Zeit, in der ich mich versteckte, damit niemand mehr etwas über mich dachte.

»Lass uns unter die Bettdecke kriechen«, flüstere ich. Es ist in der Wohnung kaum wärmer als draußen.

In die Ecke, in der das Bett steht, reicht das Lampenlicht nur noch schwach hin. Ich lasse meine Jacke fallen und ziehe meine Jeans von den Beinen. Stumm beobachtet Simon mich, dann öffnet auch er seinen Gürtel. Unter meinem Outdoor-Pulli trage ich keinen BH und so stehe ich mit nackten Brüsten vor ihm. Er greift nach dem Bund seiner Boxershorts und ich tue es ihm nach. Gleichzeitig ziehen wir uns das letzte Kleidungsstück hinunter.

Unsere Entkleidung hat etwas Heiliges und ich bin froh darüber. Mein Körper ist wertvoll und so will ich ihn verkaufen.

Unter der Bettdecke fühlen wir die Kälte erst stärker und klammern uns aneinander. Seine Küsse wärmen mich und schließlich seine Hand zwischen meinen Beinen.

Er liegt schon auf mir, ich küsse seinen Hals, dort wo die Locken beginnen, da sagt er: »Warte, ich habe ein Kondom.« Er huscht davon und ich genieße den wohligen Schauer der Vorfreude. Als er zurückkommt, erkenne ich die geschmeidige Bewegung eines Schwimmers wieder. Obwohl er durch das Hungern zu schwach für viele Bahnen im Wasser geworden ist.

Sein abgekühlter Körper wärmt sich schnell an meinem auf; neben meinem Ohr knistert das Kondom in seiner Hand.

Und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher. Seine Berührungen vergehen unbemerkt und mein Atem wird geräuschlos. Nichts hat sich geändert, aber ich kann mir nichts Fremdartigeres vorstellen als ihn in mir.

Darf ich überhaupt noch nein sagen? Habe ich nicht gerade Ewigkeiten laut ja geschrien? Habe ich nicht sogar den Anfang gemacht? Er ist nicht Emil, er befummelt nicht ungefragt meine Brüste, während ich schlafe. Er erwidert meinen sehr wachen Flirt. Darf ich noch nein sagen? Mein Unterleib zuckt vor seiner Hand zurück.

Er hält inne.

»Nein«, sage ich.

»Okay«, sagt er und streicht mir über das Haar. Seine Hand riecht nach meiner Vagina.

»Tut mir leid.«

Lange schaut er mich an. Ich glaube nicht, dass er etwas von meinem Gesicht erkennen kann. Dann: »Spinnst du?«

»Was?« Keine Ahnung, was er meint.

»Entschuldige dich dafür bitte nicht.« Er bettet seinen Kopf neben meinen. Sein Knie liegt noch zwischen meinen Beinen, seine Hand zwischen meinen Brüsten. Ich mag, dass er mein Nein nicht als Verbot versteht, mich anzufassen. Unter seinen Fingerspitzen spüre ich mein Herz klopfen. Er spielt mit dem Streitaxt-Anhänger, den ich meiner Klavierlehrerin abgenommen habe. Die Kette macht mich stolz, sie erscheint mir wie eine Auszeichnung für meinen Überlebenswillen. Ja, denke ich. Ich habe es weit gebracht. Ich bin stark. Im Mauerwerk raschelt es, vermutlich eine Maus.

»Ich vermisse das Schwimmen«, sagt Simon nach einer langen Weile. »Es hat mir einen Rhythmus vorgegeben, eine Routine, die jedes Problem in seine Schranken gewiesen hat. Das war wunderbar, aber deswegen hab ich nie gelernt, etwas zu lösen. Alles blieb ein Problem, bis es weggeschwiegen wurde. Weggeschwommen. Ich hab keine Ahnung, wie ich jetzt mit allem umgehen soll.«

»Ich beneide dich, dass du damals ein Ventil hattest. Erzähl mir vom Schwimmen. Wie ist es?«

Simon stützt seinen Kopf auf der Hand ab. »Wenn du durch das Wasser ziehst, wird die Zeit dickflüssig. Am schönsten ist es am Rand des Beckens, wenn man den Fenstern nahe kommt. Dann scheint das Licht durch das Wasser. Es ist pure Vollkommenheit und du bist ein Teil von ihr. Jeder Zug unter Wasser zwischen dem Luftholen wäscht die Sorgen von dir ab. Es gibt nur noch deine Bewegungen und das Wasser. Alles andere wird egal. Alles andere lässt man gehen.« Er überlegt und klopft auf meiner Haut eine unvollständige Melodie. »Ich rede Unsinn, oder?«

»Nein! Ich habe selten Schöneres gehört.«

Er schweigt. Ich glaube, er ist verlegen. Das war er nicht mal, als er nackt vor mir stand.

»Wenn so was in Büchern stehen würde, würde ich mehr lesen«, sage ich. »Du bist wortgewandt.«

»Aber so was steht in Büchern! Also Ähnliches. Großartige Erkenntnisse habe ich aus Büchern gezogen.«

Ich fahre ihm durch die Locken. Überrascht stelle ich fest, dass ich das schon lange machen wollte. »Eines Tages gibst du mir eine lange Liste mit Buchtiteln und ich lese alle.«

»Und dann werde ich auch wieder ein Schwimmbad haben.«

»Und solange passe ich auf dich auf«, sage ich, ohne darüber nachzudenken.

»Ja. Bitte!« Die Heftigkeit seiner Antwort überrascht mich.

Einer Entgegnung unfähig drücke ich ihn an mich. Wir liegen nicht lange so da, meine Hände auf seinem Rücken, und er springt auf.

»Ich hab fast das Beste vergessen!« Wieder huscht er in die Küche und kommt mit dem iPod und dem offenen Rotwein zurück. Er wirft mir das Gerät hin, holt zwei bauchige Gläser und setzt sich zurück zu mir ins Bett. »Geh mal auf die Playlists.«

Ich folge seinen Anweisungen. Ganz oben finde ich: Die ultimative Zombie-Playlist.

»Gestern Nacht konnte ich nicht schlafen«, sagt er, »weil die mega laut versucht haben, das Loch im Eingang zuzukriegen.«

Ich scrolle durch die Titel. Cat Power, The Gorillaz, Laura Mvula, Santigold, Billie Eilish, Broken Bells, Air, Alt-J. Den Rest kenne ich nicht. »Sehr ausgewählt.«

»Es geht. Hätte ich das Internet gehabt, wäre die Playlist besser.«

»Hätte ich das Internet, wäre ich schon wie Will Smith ausgebildet, hätte den Antivirus und einen selbstgebauten Bunker.«

Jeder steckt sich einen Stöpsel ins Ohr und wir starten das erste Lied. Musik. Was für ein Wohlstand. Ich linse auf die Akkuanzeige. 76 Prozent, wie viel Zeit ist das? Genieße es einfach, Bea! Noch hast du viele Lieder vor dir.

Simon schenkt Rotwein ein und der Abend fühlt sich plötzlich an, wie es der eines 18-jährigen Mädchens tun sollte. Ich lächle stumm. Wenn dieser Moment wüsste, dass ich einem Zombie, der auf mir lag, ein Messer in den Kopf gerammt habe …

»Warum lächelst du?«

»Ich bin überrascht, dass es so etwas wie das hier noch in meinem Leben gibt.«

Wir stoßen an, teilen unser geklautes Essen und reden lange Zeit über nichts anderes als über die Sämigkeit von Preiselbeeren, belgische Schokolade und ob Rotwein besser ist als weißer. Wir essen alles auf. Es fühlt sich an, als erwarte uns morgen wieder ein voller Kühlschrank. Satt, angetrunken und nackt liegen wir schließlich mit roten Mundrändern nebeneinander und schlafen ein.