@dieserdad

 

 

Willkommen in Neuland

 

Ein Reiseführer durch YouTube, Instagram & Co. für Eltern und andere Digital Immigrants

 

 

Kreutzfeldt digital

 

 

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ISBN 978-3-86623-606-6

© 2019 Kreutzfeldt digital, Hamburg

Illustration Umschlag: iStock/tomass2015

Foto Umschlagklappe: privat

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Willkommen in Neuland

Warum und für wen ich dieses Buch schreibe

 

1 Vom Testbild zu Steve Jobs

Die Entstehung von Neuland

       Interview: Charles Bahr

 

2 Bleibt alles anders

Was an Neuland wirklich neu ist und was nicht

       Interview: Oskar

 

3 Was machen die da eigentlich?

Die wichtigsten sozialen Plattformen und welche Bedürfnisse sie befriedigen

       Interview: Leoobalys

 

4 Chancen, Nebenwirkungen und Kritik

Helle und dunkle Seiten einer vielfältigen Welt

       Interview: Christian Behrens

       Interview: Christian Solmecke

 

5 Zwischen Kreativität und Kommerz

Verdienstmöglichkeiten von Affiliate-Link bis YouTube-Money

       Interview: Felix von der Laden

 

6 Schattenseiten der Aufmerksamkeitskultur

Was einem Creator das Leben schwer macht

       Interview: Johann Griebl

       Interview: Oskar

 

7 Gesellschaftliche und politische Auswirkungen

Die Zerstörung der kontrollierten Meinungsäußerung

       Interview: Axel Voss

       Interview: Tiemo Wölken

 

8 Mein Fazit und die „Dos and don’ts“

Ergebnisse, Erkenntnisse und offene Fragen

 

9 Sprachführer

Die wichtigsten Begriffe aus Neuland kurz erklärt

 

10 Reisetipps

YouTube-Kanäle, die einen Besuch wert sind

 

Danke

 

QR-Codes

 

Bildnachweis

 

 

Willkommen in Neuland

 

Warum und für wen ich dieses Buch schreibe

 

 

Mein Sohn Oskar ist 17 und YouTuber. Spätestens seit er zwölf ist, lebt er in zwei Welten gleichzeitig: Bei uns zu Hause am Bodensee und parallel dazu auch in Neuland. Dieser sagenumwobene virtuelle Ort, um den es in diesem Buch geht, scheint bei vielen Menschen meines Alters gleichzeitig in aller Munde und dennoch völlig unbekannt zu sein.

 

Als ich 2018 die Chance hatte, das faszinierende Land selbst kennenzulernen, wurde mir ein möglicher Grund dafür klar: Vielleicht ist Neuland für Menschen meiner Generation deshalb so schwer zu bereisen, weil sie glauben, schon dort zu sein. Dabei haben sie noch nicht einmal die Eingangstür gefunden.

 

Als Oskar diese Tür für mich öffnete, hatte ich bereits über 50 Jahre in Analogland verbracht. Als jüngster Spross einer evangelischen Pfarrersfamilie begann ich mit fünf Jahren Klavier zu spielen, machte mein Abitur am humanistischen Gymnasium, studierte danach klassische Musik und Dirigieren und verbrachte 20 Jahre als musikalischer Leiter und Bühnenkomponist auf, neben und unter den Brettern, die die Welt bedeuten.

 

Mit fünf faszinierte mich die neue elektrische Schreibmaschine im Arbeitszimmer meines Vaters. Als ich neun war, bekamen wir ein Tastentelefon. Im Wohnzimmer meiner Eltern stand ein Röhrenfernseher, der in meiner Kindheit allerdings meist in einem TV-Schrank eingeschlossen war.

 

Das Wort „digital“ las ich vermutlich zum ersten Mal mit 16, als ich mir vom Verdienst meines ersten Ferienjobs den sündhaft teuren Yamaha DX7-Synthesizer leistete. Später programmierte ich mit 21 auf meinem ATARI-Computer die Arrangements für meine erste Langspielplatte. In den folgenden Jahren lernte ich, im Tonstudio mit professionellen Samplern wie dem AKAI S 1000 umzugehen, mit denen man Naturklänge aufnehmen und damit Musik machen konnte.

 

Ich gehöre also zur Generation derjenigen, die in die digitale Welt hineingewachsen sind, den echten „Digital Immigrants“. Und wahrscheinlich bin ich auch das, was man einen „Early Adopter“ nennt, zumindest gehöre ich zur „frühen Mehrheit“ bei Innovationsprozessen. Mich hat Technik schon immer interessiert, und Kommunikation noch mehr. Das Tastentelefon und die elektrische Schreibmaschine waren für mich erste Sinnbilder dieser Faszination. Und heute sind es eben der Laptop und das Smartphone, die vor mir auf dem Schreibtisch liegen.

 

Viele der heute 35- bis 55-Jährigen haben sicher ähnliche Erfahrungen gemacht. Der große Trugschluss unserer Generation ist jedoch, zu glauben, dass wir deshalb Ortskundige in Digitalland wären. Wir sind es so wenig, wie wir Amerika kennen, nur weil wir mal eine Woche in New York verbracht haben. Denn Digitalland ist groß und beinhaltet ebenso viele unterschiedliche Kulturen und Landschaften wie die USA.

 

 

Abbildung 1: Erster Instagram-Feed-Post mit Oskar, 31. Juli 2018

 

Am 31. Juli 2018 beschloss mein Sohn Oskar, dass ich einen Instagram-Account haben sollte. Als Bühnen- und Fernsehmensch ist mir Öffentlichkeit nicht fremd, deshalb stimmte ich zu. Da er mit heute 450.000 Abonnenten ein erfolgreicher YouTuber ist und auf Instagram @dieseroskar heißt, war für mich der Name @dieserdad naheliegend. Oskar, damals 16, postete ein erstes Foto, das uns beide in einer für mein Alter ungewöhnlich coolen Pose zeigte. Einen Tag später hatte das Foto 13.000 Likes und mein Account 10.000 Abonnenten.

 

Man muss dazu wissen, dass ich damals schon seit einigen Jahren auf Social-Media-Plattformen unterwegs war. Ich hatte sogar bereits ein ganzes Jahr lang einen YouTube-Kanal betrieben, auf dem ich wöchentlich Interviews mit teilweise namhaften Persönlichkeiten wie Gabor Steingart, Günter Oettinger, Ralph Caspers, aber auch YouTube-Größen wie Unge, Christoph Krachten oder DieLochis veröffentlichte. Dennoch hatte ich es mit 52 Videos und einem Jahr Arbeit nur auf demütigende 200 Abonnenten gebracht. Und dabei vor allem eine ganze Menge darüber gelernt, wie es nicht funktioniert. Insofern war ich mit einer gewissen Erfahrung (und vor allem Demut) ausgestattet, als ich an diesem letzten Julitag von meinem Sohn quasi die Eintrittskarte für Neuland und 10.000 Abonnenten obendrauf geschenkt bekam.

 

Ab diesem Tag lernte ich Neuland kennen und lieben. Aber warum war es so schwer, die Eingangstür zu finden? Es ist wie mit dem berühmten Gleis 9 ¾ im King’s Cross Bahnhof aus J. K. Rowlings Harry Potter. Wer es nicht kennt, sieht es nicht und hält die eigene Realität für die einzige. Wer es gefunden hat, betritt eine völlig andere Welt: Willkommen in Neuland!

 

Zugegeben, den Begriff „Neuland“ habe ich nicht erfunden. Und natürlich hat Angela Merkel mit ihrem berühmten Ausspruch „Das Internet ist für uns alle Neuland“ etwas ganz anderes gemeint. Sie prägte ihn auf einer Pressekonferenz anlässlich Barack Obamas erstem Deutschlandbesuch im Juni 2013. Der Anlass damals war ihre Überraschung darüber, dass der US-amerikanische Geheimdienst Telefon- und Internetverbindungen auch in Deutschland überwachte. Diese digitale Spionage von Freundesseite zeigte der Bundeskanzlerin, wie wenig Deutschland – und sie selbst – sich offenbar in der Welt des Digitalen auskannten.

 

Das „Neuland“ von dem ich in diesem Buch spreche, ist vielleicht ebenso unbekannt und überraschend. Aber – um im Bild zu bleiben – auf dem digitalen Kontinent namens Internet meine ich mit „Neuland“ nur einen bestimmten Teil, das Land, in dem vorwiegend die Unter-30-Jährigen, Juso-Chef Kevin Kühnert nannte sie auch mal #diesejungenleute, das Internet auf ihre spezielle Weise zu Informations- und Unterhaltungszwecken nutzen.

 

Natürlich sind die Grenzen zur „normalen“ digitalen Welt, in der wir alle mehr oder weniger zu Hause sind, fließend. Auf meiner Reise durch Neuland sind mir jedoch so viele Besonderheiten und kulturelle Kostbarkeiten begegnet, denen in der öffentlichen Wahrnehmung gleichzeitig so viele Missverständnisse, Vorbehalte und Vorurteile gegenüberstehen, dass ich mich entschieden habe, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte Sie, meine Leserinnen und Leser, gerne in einer Art subjektivem Reiseführer an meinen Erfahrungen und Erlebnissen teilhaben lassen. Wobei es weniger ein Reiseführer im Sinne einer konkreten Anleitung geworden ist, sondern eher eine Art Reisebericht, der Lust machen soll, Neuland selbst zu bereisen.

 

Meine Erkenntnisse über Neuland speisen sich aus verschiedenen Quellen: Mein Sohn Oskar ist seit seinem zwölften Lebensjahr bei YouTube aktiv. Als sein Vater konnte ich in den letzten sechs Jahren beobachten, welche fantastischen kreativen Möglichkeiten das Videoportal bietet – und welche Risiken damit verbunden sind. Seit etwa drei Jahren unterstütze ich Oskar dank seines wachsenden Erfolgs zudem als Manager und lerne Neuland auch von seiner wirtschaftlichen Seite kennen. Als Kreativer schließlich habe ich auch selbst mit meinen Kanälen als @dieserdad auf Instagram und YouTube inzwischen erste Erfolge, was mir noch einmal eine ganz andere Sichtweise eröffnet.

 

Aufschlussreich waren bei meiner Reise nach Neuland natürlich – wie auf jeder anderen Reise auch – die Gespräche mit Einheimischen. Für mein Buch habe ich mit digitalen Ur-Einwohnern (Oskar, Felix von der Laden, Charles Bahr, Leoobalys) und Zugereisten (Christian Solmecke, Christian Behrens, Johann Griebl) gesprochen. Auszüge aus diesen Interviews finden sich im jeweils passenden Kapitel. Für einige der Gespräche sind dort auch Videos der Langfassung über QR-Codes verlinkt (mehr dazu auf S. 125). Einen wichtigen Beitrag zu diesem Buch leistete darüber hinaus der ständige Austausch mit meiner Community, die z.B. beim „Sprachführer“ oder den „Reisetipps“ aktiv eingebunden war.

 

Durch diese vielen Perspektiven – Vater, Manager, Creator (so heißen die Kreativen auf den sozialen Plattformen), Eingeborene, Community – habe ich ein sicher subjektives, aber wie ich denke doch recht umfassendes Bild von Neuland gezeichnet. Es unterscheidet sich in manchem von dem, was ich in den Darstellungen von Presse, Rundfunk und Fernsehen finde. Auch hier greift die geografisch-kulturelle Analogie, denn ebenso erging es mir, als ich das erste Mal nach Afrika kam, das erste Mal die arabische Halbinsel besuchte oder meine allererste Reise in die USA unternahm: Selten fand ich die vorher angelesenen Stereotypen und Klischees bestätigt, immer bot sich mir ein differenziertes Bild. Auch auf Neuland bezogen gilt wohl der Satz Alexander von Humboldts: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

 

Ein Reisebericht ist dieses Buch auch deshalb geworden, weil ich weder Medienwissenschaftler noch Soziologe bin. Auch wollte ich keinen Elternratgeber darüber schreiben, wie viele Stunden Smartphonegebrauch für eine 13-Jährige angemessen sind. Sicher klingen solche Überlegungen auch immer wieder an. In erster Linie will ich aber meine persönlichen Erfahrungen teilen, differenzierte Informationen bieten, Neugier und Reisefieber wecken.

 

Denn von einem bin ich überzeugt: Weder schulterzuckende Gleichgültigkeit noch reflexhafte Ablehnung oder verständnislose Überregulierung werden Neuland gerecht. Notwendig ist ein umfassendes Verständnis bei Eltern, Lehrern, Politikern, aber auch den Jugendlichen selbst. Und dazu möchte ich als „Wanderer zwischen den Welten“ gerne etwas beitragen.

 

Auf geht’s!

 

 

Abbildung 2: Internet von 1991 bis heute

 

 

1 Vom Testbild zu Steve Jobs

 

Die Entstehung von Neuland

 

 

Im Analogland meiner Kindheit war der Zugang zu audiovisuellen Verlockungen streng geregelt: Als uns meine Großeltern in den 70er-Jahren den ersten Farbfernseher schenkten, gab es dazu einen TV-Schrank mit abschließbarem Rollladen, hinter dem der attraktive Bildschirm die meiste Zeit über verborgen blieb. Am Samstagabend schauten wir gemeinsam Rudi Carells Am laufenden Band, sonntags die Sendung mit der Maus, später gelegentlich unter der Woche ausgewählte Programme wie Scheibenwischer, Loriot oder Fast wia im richtigen Leben mit Gerhard Polt. Wenn wir selbst etwas sehen wollten, z.B. die Sportschau oder Dick und Doof, dann mussten wir meine Mutter fragen. „Darf ich fernsehen?“ reichte nicht, wir mussten ihr die genaue Sendung und Uhrzeit nennen.

 

Natürlich war die Verlockung des Fernsehers schon damals sehr groß. Und ebenso groß war der Wunsch, die lästigen Verbote und Einschränkungen zu umgehen. Zum Beispiel durch den Besuch bei Klassenkameraden, die weniger strenge Eltern hatten. Oder durch einen Wochenend-Aufenthalt bei meiner Oma, der mir gleichzeitig den Ruf eines braven Enkels und ein paar Stunden mit Denver-Clan, Dallas, Musik ist Trumpf und zahlreichen anderen von meinen Eltern verschmähten Sendungen bescherte.

 

Was meine Eltern in der Kindheit durch einen abschließbaren Schrank noch hatten verhindern können, brach sich später in der Studentenzeit in der eigenen Wohnung Bahn: Es gab zwar noch kein Binge-Watching, bei dem man sich heute die Folgen einer Serie absichtlich „aufspart“, um sie dann am Stück hintereinander zu verschlingen, aber der kleine Fernseher an meinem Bett hatte doch jede Menge zu tun, um mich bis tief in die Nacht mit Filmen, Musikvideos (MTV), Nachrichten und Sportsendungen zu versorgen. Auch die einschläfernde Wirkung einer Golf-Übertragung nachts um vier gehörte zu meinen regelmäßigen Erfahrungen, was sich nicht unbedingt positiv auf meine Aufmerksamkeit bei der Musikwissenschafts-Vorlesung am nächsten Morgen auswirkte.

 

Irgendwann hatte ich die in meiner Kindheit versäumten Fernsehstunden endlich aufgeholt und gelernt, dass es weder dem Schlaf noch der Konzentration förderlich ist, der Attraktivität von Medien ungebremst nachzugeben. Und kurz danach wechselte ich die Rolle: Ich lernte meine Frau kennen, 1996 wurde unsere Tochter geboren. Wir waren Eltern und standen in den folgenden Jahren immer wieder vor genau dieser Frage: Wie gehen wir unter sich verändernden Umständen mit dem Reiz und dem Suchtpotential medialer Unterhaltung um?

 

Am Anfang war alles ganz einfach. Anstelle des abschließbaren TV-Geräts beschlossen wir, einfach komplett auf einen Fernseher zu verzichten. Kein Fernseher, keine Diskussion. Für den Notfall kauften wir eine kleine TV-Box, mit der wir den Monitor des Gäste-Computers bei besonderen Anlässen – etwa bei Fußball-Weltmeisterschaften – umfunktionieren konnten. Später saß dann immer sonntags nach dem Brunch die ganze Familie auf dem Gästebett und schaute zusammen die Sendung mit der Maus – über viele Jahre die einzige Sendung, die unsere Kinder wirklich kannten.

 

Auch für die Gefahr sozialer Isolation unserer fernsehfernen Tochter fanden wir eine kreative Lösung: Da sich die Kinder in der Kita gerne über die damals aktuellen Teletubbies austauschten, schauten wir mit ihr zusammen genau eine Folge davon an. Sie hatte das Prinzip sofort verstanden und war informiert genug, um an Gesprächen darüber teilzunehmen. Dadurch erfuhr sie weitere Details, die sie dann wieder in den Austausch einbringen konnte, und so weiter …

 

Dann kam das Interesse an Computerspielen auf, das sich bei unserer Tochter Gott sei Dank eher auf belanglose, unterhaltsame oder sogar lehrreiche Spiele beschränkte. Auch Oskar, der sechs Jahre jünger als seine Schwester ist, entdeckte den Computer natürlich bald, und so spielten sie zusammen das legendäre Spiel Tom und das Erdbeermarmeladebrot mit Honig.

 

Insgesamt galt die pädagogische Regel, dass Fernsehen und Computerspiel nur nach Rücksprache erlaubt waren und an einem gut sichtbaren Ort bei geöffneter Tür stattzufinden hatten. Dadurch, dass weder Fernseher noch Computer in unserer Wohnung große Präsenz hatten, war die Nachfrage der Kinder insgesamt nicht sonderlich hoch und nicht viel Regulierung nötig.

 

In dieser Zeit war der Medienkonsum also dadurch geprägt, dass er an einem bestimmten Ort und zu einer definierten Zeit stattfand, also gut kontrolliert und reguliert werden konnte. Auch mit der zunehmenden Zahl an Online-Angeboten, die über das WLAN genutzt werden mussten, kamen wir als Eltern gut zurecht. Da ich eher technikaffin bin, kannte ich die Möglichkeiten, für bestimmte Geräte den Zugang ins Netz auch zeitlich zu beschränken. Was in meiner Kindheit der Rollladenschrank gewesen war, leistete nun der WLAN-Filter unseres Routers. Bis hierhin konnte ich mich bei der Erziehung noch im weitesten Sinne an den Grundsätzen orientieren, die ich selbst als Kind erlebt hatte. Doch das sollte sich bald drastisch ändern.

 

 

Abbildung 3: Steve Jobs mit dem iPhone 4 bei der Worldwide Developers Conference 2010.

 

Wenn man sich den Unterschied der Jahre 2006 und 2012 vergegenwärtigt, in denen unsere beiden Kinder jeweils zehn Jahre alt waren und ins Gymnasium kamen, wird klar, welche Herausforderungen die dazwischen liegende, disruptive Entwicklung für Eltern, Lehrer aber natürlich auch die Kinder gebracht hat: Während unsere Tochter 2006 noch hauptsächlich am PC oder Fernseher in der kontrollierten häuslichen Umgebung schaute und spielte, sparte Oskar sechs Jahre später schon auf sein erstes Smartphone.

 

Denn bereits am 9. Januar 2007 hatte Steve Jobs mit dem berühmten Satz „Today Apple is going to reinvent the phone“ das erste iPhone vorgestellt, eine innovative Kombination von Telefon, iPod und Webbrowser im Hosentaschenformat. Dieses Gerät entwickelte sich seit der Präsentation des App Stores 2008 zu einer Art Schweizer Taschenmesser der Neuzeit, das ich heute ebenso als Stimmgerät, Kompass und Wasserwaage nutze wie zum Bezahlen von Parkgebühren oder Bustickets. Und natürlich setze ich es für Kommunikation auf allen Ebenen ein, als Buch, Fernseher, Fotoapparat, Videokamera, usw. – Ich brauche die Möglichkeiten eines Smartphones vermutlich nicht aufzuzählen, denn Sie können in Ihre eigene Hosentasche schauen: Rund 95 Prozent der 14- bis 49-Jährigen nutzen heute ein Smartphone, zwischen 50 und 64 Jahren sind es immerhin noch 88 und darüber 41 Prozent.1

 

Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Erziehungsaufgabe für uns Eltern völlig verändert. Durch das Smartphone und seine fortwährende Anbindung ans Internet wurde nicht nur Medienkonsum plötzlich zeitlich, räumlich und inhaltlich unbeschränkt möglich, sondern es funktionierten auch bewährte Verfahren der Einschränkung und Reglementierung nicht mehr: Das Smartphone wurde ja zugleich auch als Telefon, Bahnfahrplan und Busticket benötigt. Also war Wegnehmen und Wegschließen der Geräte keine dauerhafte Lösung, und Apps, die Eltern heute eine Kontrolle der Nutzungszeit sogar aus der Ferne ermöglichen, gab es damals bedauerlicherweise noch nicht.

 

Im Nachhinein glaube ich, dass sehr viele Eltern von der Smartphone-Entwicklung Ende der 2010er-Jahre pädagogisch schlichtweg überrumpelt worden sind. Das „Prinzip Rollladenschrank“ war am Ende. In faszinierender Geschwindigkeit wuchsen das verfügbare mediale Angebot und gleichzeitig der Wissens- und Erfahrungsvorsprung zumindest der etwas älteren Kinder vor ihren Eltern. Und in diesem Vakuum elterlicher Kompetenz entstand Neuland. Ein Ort der Jugendkultur, der rasch seine eigene Sprache fand, eigene Kulturtechniken entwickelte und dessen Eingangstür so schwierig zu finden ist wie das Gleis 9 ¾ in King‘s Cross Station.

 

 

Interview

 

 

 

Charles Bahr (17) gründete bereits mit 14 Jahren tubeconnect, eine Marketingagentur im Social-Media-Bereich. Heute berät er mit Project Z Unternehmen zu integrativen und ganzheitlichen Kreativprojekten, die Teenager ansprechen sollen.

 

 

@dieserdad: Charles, inwiefern lebst du selbst eigentlich noch in der Welt der jungen Leute und inwiefern in der Erwachsenenwelt?

 

Charles Bahr: In vielen Fällen bin ich einfach Übersetzer zwischen den Generationen. Das große Talent, das wir bei Project Z haben, ist, dass wir vielleicht den „Sprech“ von den Erwachsenen haben, aber die Inhalte und die Impulse unserer Generation verkörpern können.

 

@dieserdad: Was ist denn nun wirklich der wesentliche Unterschied zwischen dem, wie Junge das Internet oder die sozialen Plattformen nutzen und dem, wie vielleicht meine Generation oder generell die Ü35er es nutzen?

 

Charles Bahr: Für mich sind die jungen Leute, die Generation Z, gar nicht mehr unbedingt Digital Natives. Sie sind vor allem Social Natives. Wir sind mit den Social Media aufgewachsen und nehmen das Internet als natürlichen Teil unseres Lebens wahr. Vor allem kann die Generation Z die Medienlandschaft und die Kommunikation untereinander ganz anders mitgestalten als früher. Plötzlich haben junge Leute genauso viel Einfluss wie eine große Tageszeitung!

 

@dieserdad: Wo fangen Social Natives altersmäßig an?

 

Charles Bahr: Man kann eine Generation vielleicht gar nicht nur nach dem Alter definieren, sondern vor allen Dingen nach ihrem Mindset. Es ist eben extrem wichtig, sich mit neuen Plattformen und Technologien auseinanderzusetzen, auch wenn sie einen persönlich gar nicht so ansprechen. Ich kenne viele Leute, die 35 oder 40 sind und trotzdem wissen, wie TikTok funktioniert, weil sie den eigenen Kindern über die Schulter schauen und sich aktiv hineinversetzen, was diese Generation daran so begeistert.

 

@dieserdad: Du hast vorhin Generation Z gesagt. Hilf mir noch mal: Welche Generationen gibt's noch? Und wie grenzt man die voneinander ab?

 

Charles Bahr: Also, die Generation Z ist heute 10 bis 23 Jahre alt, alle Jüngeren sind für mich die Generation Alpha. Darüber kommen die Millennials [auch Generation Y genannt], das sind für mich alle so ab Mitte 20 bis Anfang, Mitte 30. Und alle darüber sind für Jugendliche schon alt, weil sie halt vom Konsumverhalten und von den Interessen her ganz anders aufgestellt sind. Das ist dann quasi Generation X.

 

@dieserdad: Die meisten Kreativen auf den Plattformen – vor allem die Erfolgreichen – sind ja doch deutlich älter als ihre Zuschauer. Siehst du eine Altersgrenze, bis wann ein Kreativer glaubwürdig sein kann?

 

Charles Bahr: Gute Frage. Ich glaube, das kommt sehr stark auf die Themen an. Für mich sind die coolsten Influencer2 die Youngfluencer, besonders diejenigen, die aus dem Alter ihrer Zielgruppe stammen. Die zeigen einfach, wie sie ihr Zimmer aufräumen, also Dinge, die alltäglich sind. Für ältere Leute mag das vielleicht belanglos klingen. Aber ich glaube, für die Generation Z ist ein Influencer oder Youngfluencer mehr wie ein großer Bruder oder der beste Freund, der Empfehlungen gibt, und nicht ein Weltstar, der einem sowieso nie auf Instagram antworten würde.

 

@dieserdad: Welches sind die größten Fehler, die Marken oder Unternehmen in den Social Media machen?

 

Charles Bahr: Also ich glaube, ein großer Fehler ist es, auf Jugendsprache zu setzen. Das haben sowohl die Sparkasse als auch Vodafone gemacht und diese „Form-Jugendsprache“ in ihre Werbeanzeigen integriert. Und zehn von zehn Jugendlichen in unseren Befragungen haben die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen und gesagt: „Das kann so nicht funktionieren“, weil man sich einfach fremdschämen muss.

 

@dieserdad: Vielen Dank, Charles!

 

 

 

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1 Laut Bitkom e.V. (Hrsg.): Zukunft der Consumer Technology – 2017. Marktentwicklung, Trends, Mediennutzung, Technologien, Geschäftsmodelle, August 2017, S. 15.

 

2 Der kleine Pfeil zeigt an, dass dieser Begriff im Sprachführer ab S. 112 erklärt ist.