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Über das Buch

Ein Weißer Hai vor Hummerstrand?! Im Haus Horizont herrscht große Aufregung! Einzig Jem genießt lieber sein Tiramisu. Doch als dem 11-Jährigen plötzlich ein Stück Papier zwischen die Zähne gerät, ist es auch mit seiner Ruhe vorbei. Wer hat ihm eine Nachricht in sein Essen gesteckt? Und weiß der geheime Nachrichtenschreiber tatsächlich etwas über den Hai? Zusammen mit dem cleveren Erfinder Bernd und der mutigen Rollstuhlfahrerin Flo versucht Jem, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Als die drei dabei auf eine gruselige Entdeckung stoßen, wird aus dem angenehmen Nervenkitzel plötzlich ein echtes Abenteuer!

Inhalt

Über das Buch

Hai-Alarm

Fliegen oder schwimmen

Hähnchens Folterkammer

Die letzten Heuler

Haus ohne Horizont

Das Schoko-Minus

Da oder nicht da

Jäcki voll in Fahrt

Bei den Felsen

Graues Meer, schwarzer Strand

Bären und Zombies

Fatelko Nr. 1

Operation Weißer Hai

Retter

Das Monster lebt!

Dietmar

Die Polizei…ei…ei…ei

Fatelko Nr. 2

Cäcie und die Streichhölzer

Oh, Fiona

Das Appartement

Der Fall Severin

Verraten und verkauft

Bernds Plan

Auf der Flucht

Gabba, gabba, hey!

Der Code

Ralfs Kiste

H wie Horizont

Das Geständnis

Seekrank

Über den Autor

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»Aufgepasst, Leute!« Mit ihrem K3-Hurricane rast Flo in den Speisesaal, rammt mit dem Rad fast meinen Stuhl, stößt atemlos »Sorry, Jem!« hervor und legt dann eine harte Vollbremsung hin. Wären ihre Räder aus Stahl, hätte es jetzt Funken geschlagen. Sie holt tief Luft und stemmt sich mit den Armen in die Höhe, damit die anderen sie in ihrem Sportrolli besser sehen können. Dann ruft sie: »Ich erklär noch mal die Tischregeln!«

Kurz halten alle ihre Klappen. Nur Brabbel brabbelt einfach weiter. Manchmal pfeift er auch wie eine Amsel, das klingt lustig.

»Eigentlich«, fährt Flo fort, »gibt’s nur eine Regel: Wer zuerst einen fahren lässt, räumt die Teller ab! Kapiert?«

»Wissen wir doch«, murmeln die »alten Hasen«. Also die, die wie ich nicht zum ersten Mal im Haus Horizont sind. Oder sie nicken zustimmend. Nur in den Gesichtern der Frischlinge sehe ich Verwirrung – heute sind acht Neue eingetroffen –, aber dann hat auch der Letzte begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Pupsen verboten!

Flo rollt an den Tisch, rastet die Bremsen ein und beugt sich über ihren abgedeckten Teller. Alles wartet auf ihr Zeichen. Sie zupft noch kurz an den langen Stacheln, zu denen sie ihre blauen Haare mit viel Gel geformt hat. Dann brüllt sie: »Gabba, gabba, gabba, hey! Rülpsen, Schmatzen ist okay!«, und wir reißen die Plastikdeckel herunter.

Das macht ein ploppendes Geräusch. Von allen Seiten ploppt es wie wild. Flo schiebt sich einen Stöpsel ins Ohr und beginnt mit dem Kopf zu wippen. Das andere Ohr bleibt offen, damit sie nichts verpasst. Am liebsten hört sie Punk-Musik, und das so laut, dass ihr Nachbar jeden Ton mitkriegt. Dieses Gabba, gabba, hey! ist ein Schlachtruf aus einem ihrer Lieblingslieder von einer Band, die sich »Ramones« nennt. Heute sitzt Severin neben ihr. Von gegenüber sehe ich, wie er eine Kartoffel zerquetscht.

»Schau mal, Jem, viel zu matschig. Die ist mit Hass gekocht!«

Der spinnt doch!, finde ich. »Stell dir einfach vor, es wäre Kapü.« Denn auf Kartoffelpüree fährt er normalerweise voll ab.

Sevi ist genau wie ich quasi Stammgast im »Hoz« – so kürzen wir den langen Namen des Kurheims ab. Wir sind also die Hozis – und Sevi meckert bei jeder Mahlzeit, egal wie es schmeckt. Dabei weiß ich, dass es ihm hier eigentlich super gefällt, ganz im Gegensatz zu mir. In diesen Ferien teilen wir uns das Zimmer am Ende von Flur 4, also im vierten Stock. Drei Wochen lang. Das sind einundzwanzig Tage, im Ganzen 504 Stunden, oder auch 30.240 Minuten. Mir wird übel, wie soll ich das überstehen? Einen Tag kann ich immerhin schon abziehen, bleiben also noch  … ich versuche die restlichen Stunden im Kopf auszurechnen, da ruft plötzlich einer:

»Hai! Da schwimmt ein Hai!«

Ich bin von Verrückten umzingelt, kein Zweifel, und jetzt schreit sogar noch ein zweiter: »Hai-Alarm! Unten beim Strand!«

Sekunden später drücken alle ihre Nasen an der Panoramascheibe des Speisesaals platt. Es gibt Dunstflecken in jeder Höhe. Den starren Elvis haben sie auf seiner Liege so dicht ans Glas geschoben, dass seine Nasenspitze nach oben zeigt, wie der Zinken einer Spitzmaus. Er muss ständig auf dem Bauch liegen, denn er hat Hüfte. Flo drückt sich so weit aus ihrem Hurricane, dass ich befürchte, sie liegt gleich auf dem Boden. Einige sabbern. Lisa, eine Fünfjährige aus dem zweiten Stock, die immer eine dicke Pudelmütze trägt, hat vor Aufregung eingestrullt. Sogar Brabbel ist still. Nur Bernd, den alle hinter seinem Rücken Spasti nennen, schlurft umständlich heran und braucht natürlich wieder extralange.

Und warum das alles? Ein Hai vor Hummerstrand … na klar! Ohne mich. Seelenruhig untersuche ich den runzeligen Hering auf meinem Teller nach Gräten. Ich hasse Gräten. Sollte mir mal eine in den Hals geraten, ist es garantiert sofort aus mit mir: Hechel, hust, hechel – finito. Bin gespannt auf den Nachtisch! Hoffentlich ist es was mit Schoko, sonst rühr ich ihn nicht an. Cäcilie hat sich auch nicht hochnehmen lassen. Aber die kriegt ja eh nichts mit. Sie hockt auf ihrem Stuhl, knabbert an dem Dessertlöffelchen und starrt den kreisenden Ventilator über ihrem Kopf an. Irgendjemand wird sie füttern müssen.

Spasti schirmt sein Gesicht mit den Händen ab, sodass ich nicht erkennen kann, ob an der Hai-Geschichte wirklich was dran ist. Wenn einer weiß, was Sache ist, dann er. Er hat den Ruf, so eine Art »verrückter Professor« zu sein. Jetzt schnalzt er mit der Zunge. Das macht er, wenn er angestrengt nachdenkt, also eigentlich immer. Und schniefen. Schnief, schnalz, schnief. Spasti hält sich für einen genialen Forscher. Er entwirft im Kopf ganze Raumschiffe, die er dann auf die Rückseite einer Tapetenrolle zeichnet und anschließend an die Wände seines Zimmers im Hoz pinnt. Skizzen über Skizzen, und an allen Möbeln kleben kleine Zettel mit Notizen. Der Fußboden ist ein Meer aus wissenschaftlichen Zeitungen. Außerdem ist er verknallt in Fiona Steinburger, die Star-Blondine aus dem TV. Er folgt ihr auf Twitter, Facebook und Instagram und verpasst keine ihrer Sendungen. Das hat er Sevi verraten, nachdem der im letzten Jahr einmal bei Spasti zu Besuch war, und Sevi hat es mir erzählt.

Inzwischen macht Sevi – wie die meisten Hozis – einen Bogen um Spasti, denn er nervt! Sobald sein Mund aufgeht, plappert er drauflos von Warp-Schleifen, Urknall, Ausdehnung des Universums und Reisen in x-facher Lichtgeschwindigkeit. Dabei sind seine Beine so krumm, dass er von seinem Zimmer bis zur Schwimmhalle eine ganze Viertelstunde braucht. Ein Glück für ihn, dass die Rücken, Rollis und Spastis im ersten Stock wohnen. Dort gibt es eine Rollirampe runter ins Erdgeschoss, wo sich der Speisesaal befindet. Sonst wäre er längst verhungert.

Jetzt bewegen alle am Fenster ihre Köpfe, als verfolgten sie ein Tennismatch in Superzeitlupe. Entweder wollen die mich verkohlen, oder da draußen ist tatsächlich etwas im Gange. Ah, Tiramisu! Sieht lecker aus. Sorry, euer Hai muss warten. Noch immer zischeln die Schaulustigen, und auch das Hai-Wort kann ich wieder und wieder heraushören. Wie, zum Tintenfisch, soll ich so in Ruhe meine italienische Nachspeise genießen?

Spasti gibt einen lang gezogenen Schniefer von sich, auch das noch! Ein klarer Beweis, dass sein wissenschaftliches Interesse in Flammen steht. Ich hatte geglaubt, erst müssten grünohrige Aliens in einem qualmenden Ufo aus Pizzateig vor dem Hoz landen, bevor Spasti auch nur mit der Wimper zuckt. Wir Erdlinge sind ihm nämlich völlig schnuppe.

Ich dagegen interessiere mich null für diesen ganzen Weltraumkram. Am liebsten sehe ich fern bis spät in die Nacht, wenn alle anderen schlafen. Die Ärzte sagen, das sei ungesund. Hallo?! – Für einen, der wie ich Lunge hat, ist doch das ganze Leben ungesund!

Jetzt schnalzt Spasti wieder. Und schnieft. Soll ich doch mal einen Blick riskieren? Die von CSI reden einem ja in jeder Folge ein, dass nichts unmöglich ist. Nein, erst der Nachtisch! Ich fummele den durchsichtigen Plastikdeckel herunter, als jemand ruft:

»Schwester Wencke! Kommen Sie! Schwester! Der muss riesig sein!«

Zwischen dem Speisesaal und dem Dienstzimmer gibt es eine Glasscheibe, und ich kann sehen, wie ein weißer Kittel und lange feuerrote Haare daran vorbeifliegen. Kurz darauf pustet auch Schwester Wencke zwischen all den anderen Neugierigen einen großen Dunstflecken auf das Fenster. Sie ist übersät mit kleinen roten Punkten. Nicht nur im Gesicht. Am Hals, auf den Armen, Beinen, überall. Ich liebe Sommersprossen – hätte gerne ein paar davon, schneeweiß wie ich bin. Bei ihr liegen sie so dicht beieinander, dass ihre eigentliche Hautfarbe kaum zu erkennen ist. Sevi hat mal behauptet, Schwester Wencke sei »hübsch-hässlich«. Aber ich kann gar nicht wegsehen, für mich ist sie nur hübsch ohne hässlich. Außerdem finde ich, dass ihre roten Haare super zu meinen dunkelbraunen passen, so wie Kirschen zu einer Schokotorte.

»Das glaub ich jetzt echt nicht!«, haucht Wencke und wischt mit dem Arm über das Glas. Sommersprossen  – sogar auf ihren Fingern! »Wo kommt denn der her? Hier gibt es doch gar keine Haie!«

Jetzt packt mich die Neugier, der Nachtisch läuft ja nicht davon. Ich stelle mich an den einzigen freien Platz zwischen Spasti und Sevi. Nichts zu sehen. Nur Wasser, Wasser und dahinter … tatata! … noch mehr Wasser. Wusste ich’s doch. Aber Moment, da ist was! Könnte der Kopf einer Robbe sein. Die drehen gerne ihre Runden um Hummerstrand, ist schließlich ihr Zuhause. Für einen Kopf ist das Ding, das da aus dem Wasser ragt, allerdings zu spitz und zu groß. Aber so genau kann ich es auch nicht erkennen aus etwa zweihundert Metern Entfernung. Und jetzt sehe ich gar nichts mehr.

»Wo ist er hin?«, flüstert einer.

»Sieht ihn noch jemand?«

»Ein Fernrohr müsste man haben!«

»Hat einer gefilmt?«

Niemand antwortet. Eine Weile ist nichts zu hören. Dann ein lang gezogenes Pfffffffft und ein richtiger Ton kommt auch noch. Sevi! Ich bin froh, als er davonschleicht, aber die Duftmarke verzieht sich noch langsamer als ihr Verursacher.

»Sevi war’s!«, bestätigt Flo und klatscht vor Freude in die Hände.

Na, da wird sich das Teller-Abräumen aber hinziehen. Sevi hat nämlich auch Lunge und erledigt deshalb alles im Schneckentempo. Er glaubt, je langsamer er sich bewegt, umso länger hat er was von seinem kraftlosen Atmungsorgan. »Wenn ich ihr keinen Grund zum Heulen gebe, ist meine Lunge meine beste Freundin!«, hat er mal erklärt.

Ich mache ein paar seitliche Schritte auf Schwester Wencke zu, wo die Luft eindeutig besser ist, und tue so, als beobachtete ich einen Jogger, der den Strand entlangflitzt. Das sollte mir mal einfallen, einfach so durch den Sand sausen und schwitzen … Ich besitze ein kleines Notizheft, in das ich alles eintrage, was ich nicht tun kann, weil ich Lunge habe. Ich nenne es die »No-Go-Liste«. Joggen steht schon drin. Dieses Heft reibe ich allen unter die Nase, die meinen, ich stelle mich an.

Wencke riecht ein bisschen wie Mama. Nach frischer Wäsche und Handcreme. Dabei wird mir ganz warm im Bauch. Ich habe mir sogar heimlich die Handcreme meiner Mutter besorgt – nicht für meine Finger, das ist mir zu glitschig – aber ich schnüffele gerne an der offenen Dose. Das wirkt besser als jeder Einschlaftee, ich schwöre!

Leider ist Wencke nun schon auf dem Weg zurück ins Dienstzimmer. Kurz darauf telefoniert sie so laut mit der Polizei, dass alle es mitkriegen. »Das ist kein Witz, Herr Nissen! Ehrlich, ein Hai, so wie im Kino!«

Ich löse die Bremse von Elvis’ Liege und schiebe ihn zu den anderen Hüften. Seine Nasenspitze ist immer noch ganz rot.

»Haste das gesehen, Jem?«, fragt er mich mit großen Augen.

»Jetzt fängst du auch noch damit an. Nein, ich habe nichts Spannendes gesehen, echt nicht«, antworte ich gelangweilt, während er den Kopf von einer Seite zur anderen dreht, um zu mir nach hinten zu schauen. Ich verkneife mir ein Grinsen, denn er sieht dabei aus wie ein Wackeldackel.

»Könnte schwören, da war ein Weißer Hai«, sagt er bedeutungsvoll.

»Ach, ›weiß‹ war er also auch noch«, pruste ich los, die Geschichte wird echt immer krasser.

»Die Weißen sind nur am Bauch weiß, aber es sind die größten. Unserer war so groß wie ein Segelboot!«, ruft Elvis und nickt aufgeregt.

Ich postiere ihn bei seinen steifen Kumpels, denn ich will jetzt endlich meinen Nachtisch essen. Genug von Weißen Haien! Außerdem bin ich enttäuscht, dass Wencke so schnell verschwunden ist.

»Bis später mal, Elvis.«

»Wie ein Segelboot!«, ruft er mir hinterher.

Voller Vorfreude schiebe ich den Löffel durch die obere Schicht Kakao, da entdecke ich gerade noch rechtzeitig ein kleines Stück Papier. Das war doch eben noch nicht da! Es hat die Form von einem Glückskeks-Zettelchen, wie man es, versteckt in einem trockenen Keks, im China-Restaurant bekommt. Das Gebäck schmeckt meistens wie Spekulatius aus der Steinzeit, trotzdem lese ich jedes Mal gespannt, welche Überraschung die Zukunft für mich bereithält. Leider ist bislang noch keine Vorhersage wahr geworden. Außer: Sie werden eine weite Reise antreten. Damit hatten die Glückskeks-Schreiber wohl Hummerstrand gemeint. Vielen Dank auch!

Misstrauisch schaue ich in die Runde. Wer hat meinen Nachtisch ruiniert? Niemand verrät sich durch ein Kichern oder Räuspern. Der Appetit ist mir vergangen. Mit spitzen Fingern fische ich den Zettel heraus, er ist fettig und verschmiert. Ich falte ihn auf und staune, denn darauf steht kein Spruch, sondern eine Zahlenreihe:

-01/34/24-7/2330

Was, zum Tintenfisch, soll das bedeuten?

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Gestern bin ich gleich am ersten Tag der Sommerferien mit dem Flugzeug nach Hummerstrand geflogen. Wie immer in den letzten vier Jahren hätte ich viel lieber die Fähre genommen. Doch mein Vater Benno ist der Meinung, Schiffe und Züge seien was für Rentner und Faulpelze, die es nicht eilig haben. Er hat es nämlich immer eilig.

»Um erfolgreich zu sein, muss man stets der Erste sein«, ist sein Motto. Könnte er Geschäfte auf dem Mond machen, säße er wohl regelmäßig in einer Rakete, wo er seine schwerelos umherfliegenden Papiere ordnen und ungeduldig auf seine Schweizer Armbanduhr schauen würde.

Wenige Kilometer vor unserer Stadt liegt ein winziger Flughafen. Als Startbahn dient eine holprige Wiese, an deren Rand ein alter Hubschrauber geduldig auf Gewinner von Rundflügen wartet. Ansonsten startet von dort nur eine klapprige Cessna Richtung Hummerstrand. Als Terminal dient ein kleines Partyzelt vom Baumarkt.

Während Papa seine goldene Kreditkarte durch das Gerät zog, das Johann, der Cessna-Pilot, ihm höchstpersönlich unter die Nase hielt, stöhnte er genervt: »Der Preis ist ja höher, als ihre Kiste fliegen kann.«

Erst wollte ich etwas erwidern, aber dann ließ ich es doch bleiben. Denn es wäre völlig sinnlos gewesen, ihn noch einmal zu fragen, warum er und Mama mich nicht mit nach Griechenland nehmen wollten. Die Antwort kannte ich nämlich schon:

»Du weißt doch, Jem, dass ich gerne Extremsport mache, und Mama braucht einmal im Jahr ihre wohlverdiente Ruhe. Für deine Lunge ist Hummerstrand wirklich das Allerbeste!«

Stattdessen stürzte ich mich im Flugzeug wortlos auf das Frühstück: Schnittchen mit grober Wurst und Harzer Käse. Außerdem gab es wie immer Kaffee und Tee aus der Thermoskanne, Kuchen, den Johanns Tante Engeline gebacken hatte, und Capri-Sonne. Tee und Kaffee sind nicht mein Ding, daher saugte ich an der Fruchtsafttüte aus Alu, bis sie ganz platt war und schnorchelnde Geräusche von sich gab. Am Ende pfiff sie einmal kurz. Genau wie meine Lunge, wenn ich sie herausfordere.

Nachdem wir rumpelnd gestartet waren, winkte mir Papa aus seinem davonrasenden Audi heraus zu, und von Mama kam kurz darauf die übliche Abschieds-SMS. »Gute Reise, Schatz. Sei vorsichtig und überanstrenge dich nicht. Deine dich liebende Mama!«, stand wie jedes Jahr da drin, brauchte ich gar nicht nachzuschauen.

In der kleinen Propellermaschine hatte direkt in der Reihe hinter mir ein dicker Typ gesessen, ungefähr so alt wie meine Opas, mit einer winzigen goldenen Kette, die größtenteils in den Wülsten seines Halses verschwand. Im Arm hielt er eine blonde Frau – etwas jünger als Mama –, die ständig quiekte. Sie sah aus wie der TV-Star Fiona Steinburger, aber nur fast. Der Dicke drückte die Blonde bei jedem Schrei dicht an sich, und sie wölbte zum Dank die Lippen wie ein Karpfen. Echt eklig. Ein paarmal schüttelte ich demonstrativ vor ihnen den Kopf, aber das brachte überhaupt nichts.

Noch schnell einen Hub aus dem Lungenspray, dann versuchte ich die Geräusche hinter mir für den restlichen Flug nach Hummerstrand auszublenden.

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Es ist nach Mitternacht, Haus Horizont schläft. Ich schalte die Taschenlampen-App ein, und sofort blinkt mein Handy hektisch auf. Blöder Touchscreen! Manchmal hätte ich gerne echte Knöpfe zum Drücken, so wie an dem alten Kassettenrekorder, der bei Oma und Opa rumsteht.

Logisch, dass Sevi zu knurren beginnt: »Mensch, Jem, wem gibst du denn zur Geisterstunde Morsezeichen? Ich will schlafen!«

»Sorry, Sevi.«

»Ist schon oki!«

»Es heißt okay!«

»Sag ich doch.«

Pffffffffffft.

»Du hast schon wieder gepupst!«

»Sorry, Jem.«

»Gute Nacht.«

Unter der Decke studiere ich die Zahlenreihe: -01/34/24-7/2330

Für mich bleibt es ein Zettel mit einem Dutzend Fragezeichen. Vielleicht ist er auch nur zufällig bei mir gelandet. Dagegen spricht natürlich, dass die Nachricht fest auf meinem Tiramisu klebte, als ich zurück an den Platz kam. Irgendjemand aus dem Speisesaal hatte sie dort hingepappt. Außer den Rücken und den Hüften ist jeder verdächtig. Wencke und Cäcilie schließe ich auch aus, logisch.

Ich beginne zu schwitzen. Selber schuld! Hochsommer auf Hummerstrand, und ich liege unter der Decke und zerbreche mir den Kopf. Ich muss gähnen und schließe für einen Moment die Augen.

Als ich wieder aufwache, bin ich klitschnass. Die App blinkt, und der Akku meines Handys ist fast leer. Ich brauche einige Sekunden, um klar im Kopf zu werden, dann schalte ich die App aus. Dabei fällt mein Blick auf die Datumsanzeige: 25. Juli. Es ist Viertel vor vier.

Das ist es! In dem klammen Wirrwarr aus Laken, Kissen und Bettdecke suche ich hektisch nach dem Zettel. Doch erst als ich mich kratze, finde ich ihn. Er klebt dort, wo mein Rücken zum Po wird.

Ich brauche die Ziffern nur noch als letzten Beweis. Denn soeben ist mir klar geworden: Gestern, am 24.7., sollte »-01/34/… …/2330« passieren!

Okay, ich gebe zu, das klingt bescheuert. Trotzdem habe ich einen Teil der Kombination geknackt. Vielleicht stehen die anderen Zahlen für die Uhrzeit und den Ort? Papas Bruder Michael ist ein hohes Tier bei der Bundeswehr, und wenn ihn jemand fragt, wie spät es ist, antwortet er jedes Mal wie aus der Pistole geschossen: »1830« oder »1445«. Das bedeutet halb sieben oder Viertel vor drei. Dann ist mit 2330 möglicherweise halb zwölf gemeint. Mist, ich habe etwas verpasst, das »-1/34« stattfinden sollte.

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sevi und ich wohnen im vierten Stock, Zimmer 29. Die eins mit dem Minus muss sich auf die Etage, die 34 auf den Raum beziehen. Übersetzt heißt die Botschaft also: Treffen um halb zwölf am 24. Juli im Keller, Raum 34, denn das Minus kann nur für ein Untergeschoss stehen.

Zu spät, stelle ich enttäuscht fest, die Party hat ohne mich stattgefunden. Doch an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Dieses Rätsel will ich lösen, oder wenigstens eine Spur finden. Vielleicht hat der geheimnisvolle Zettelschreiber mir ja eine weitere Botschaft hinterlassen.

Sevi befindet sich im absoluten Tiefschlaf. Die Brille hängt ihm schief über der Nase. Während ich mich anziehe, frage ich mich, ob man gleichzeitig schnarchen und pupsen kann. Sevi kann! Beinahe stolpere ich beim Hinausgehen über das Stativ des Fernrohrs, mit dem er regelmäßig den Himmel nach unbekannten Sternen absucht. Nichts wie raus hier.

Der Flur wirkt unheimlich, so verlassen und dämmerig, kurz überlege ich umzukehren. Doch das leise Gemurmel der versammelten Nachtwachen im Dienstzimmer beruhigt mich ein wenig, auch wenn ich nur ungern von ihnen erwischt würde. Wie ein Indianer schleiche ich gebückt unterhalb der Sichtscheibe entlang und schaffe es – vorbei an den geparkten Rollis und Liegen – bis ins hintere Treppenhaus. Erst in dem kleinen Vorraum mit der Aufzugstür merke ich, wie lange ich die Luft angehalten habe. Als ich meine Lungenflügel wieder auffülle, pfeift es laut. Zum Glück hat es keine der Nachtwachen mitbekommen. Einige Atemzüge lang schaue ich durch das Flurfenster über die schlafende Insel. Haus Horizont liegt auf einem Hügel. Von hier aus kann ich links die schaukelnden, leuchtenden Bojen draußen vor der Hafeneinfahrt erkennen. Über dem Dorf fehlt der übliche Lichtkegel, wie er Ortschaften in der Nacht überspannt, denn sobald die Ausflugsschiffe am späten Nachmittag zurück zum Festland fahren, ist es wie ausgestorben. Rechts liegen der Strand und das tintenschwarze Meer, in dem angeblich seit heute ein Hai herumschwimmt.

Nachdem ich wieder etwas zu Atem gekommen bin, geht es weiter. Über die Treppe schaffe ich es unbemerkt in den Keller.

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gleich null ist, lausche ich einige Sekunden, ob schon jemand von der Küchenmannschaft eingetroffen ist. Nichts zu hören, die Suche nach Raum 34 kann also losgehen. Links von mir erstreckt sich der lange Flur, zu meiner Rechten befindet sich die Tür zum Hof, auf dem die Lieferautos halten. Gleich zu Beginn des Gangs liegt die Großküche, an der Tür steht: 01. Demnach muss sich mein Ziel am hinteren Ende des Flures befinden. Ich schleiche vorbei am Küchenbüro, den Lager- und Technikräumen und dem Eiskeller. Dann kommt ein scharfer Rechtsknick, und nach weiteren drei Räumen, auf denen jeweils »Archiv« steht, finde ich die gesuchten Zahlen. Nichts unterscheidet diese Tür von all den anderen.

Vorsichtig und so leise wie möglich drücke ich die Türklinke herunter. Der Raum ist unverschlossen. Ich taste nach dem Lichtschalter, das Neonlicht surrt, flackert kurz, dann ist es hell und ich blicke in eine Rumpelkammer. Ringsum an den Wänden stehen Regale, deren Böden sich unter der Last vieler Kartons und Kisten bedrohlich biegen. In der Mitte des Raumes stapeln sich weitere unzählige Kartons zu einer verstaubten Insel aus Pappe. Zwischen der Insel und den Regalen bleibt gerade genug Platz für einen Rundgang. Warum sollte mich jemand hierher bestellen?

Annegret Denker, nicht abgeholt. September 77