image image

Über das Buch

Für Sheyna gibt es nichts Schöneres, als vor der Küste von Florida zu schnorcheln und den spielenden Delfinen zuzusehen. Als sie von einer explodierten Ölplattform im Golf von Mexiko hört, glaubt sie nicht, dass der Ölteppich den Tieren gefährlich werden könnte. Bis einige tote Delfine am Strand angespült werden und das Öl die Fischgründe vor der Küste bedroht. Sie gerät in die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Fischern, Medien und Ölmanagern und muss um ihr Leben fürchten. Ihr einziger Halt in dieser ausweglosen Situation ist Andy, der freundliche junge Mann aus dem nahen Dolphin Center…

Gefährliche Spannung vom Meister des romantischen Abenteuerromans!

1

Mit Tränen in den Augen fuhr Sheyna auf die Brücke. Das vertraute Geräusch, als die Räder ihres alten Chevys über den Gitterrost zwischen dem Asphalt rollten, erlöste sie von ihren trüben Gedanken und ließ sie nach Südwesten blicken. Obwohl sie in Marathon aufgewachsen und viele Male über den Overseas Highway gefahren war, spürte sie noch immer dieses aufgeregte Kribbeln, wenn sie das Festland verließ und zu beiden Seiten der Straße das Meer auftauchte. Links der Atlantik, rechts der Golf von Mexiko und vor ihr eine Kette von winzigen Inseln, die sich wie an einer Perlenschnur aufgereiht bis ins hundert Meilen entfernte Key West zogen. Über mehr als vierzig Brücken führte der »Highway that Goes to Sea« in die »amerikanische Karibik«, wie die Leute vom Fremdenverkehrsamt die Florida Keys auch nannten.

Schon von der ersten Brücke hatte Sheyna eine spektakuläre Aussicht auf das Meer, das in der tief stehenden Sonne wie flüssiges Silber glänzte und eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte. Ein Gefühl, das sie die leicht verkrampften Hände um das Lenkrad lockern und ihren Herzschlag langsamer werden ließ. Zumindest für ein paar Augenblicke gelang es ihr, die quälenden Gedanken zu vertreiben und sich am Anblick der Keys zu erfreuen. Dem scheinbar endlosen Highway, der sich von einer winzigen Insel zur anderen wand und sich am fernen Horizont in den Hitzeschleiern zu verlieren schien. Den Palmen, die sich im schwachen Wind kaum bewegten, den Luxushotels mit ihren Privatstränden, den Restaurants und »Tropical Bars«, der heiteren Ausgelassenheit, die selbst zu Beginn der Hurrikansaison über den kleinen Inseln lag.

Sheyna klappte die Sonnenblende herunter und versuchte sich zu entspannen. Doch ihre Gedanken kehrten auch in der karibisch-heiteren Atmosphäre zu ihren Eltern zurück, die sie vor ein paar Tagen in ihrem Apartment in Hialeah angerufen hatten, ausgerechnet in dem Augenblick, als sie zum Training aufbrechen wollte. Seitdem sie in Miami wohnte, hatten ihre Eltern noch nie an einem Dienstag angerufen. Sheyna meldete sich sonntagmorgens und ihre Eltern mittwochabends, wenn sie sicher zu Hause war, so hatten sie es ausgemacht. Ein außerplanmäßiger Anruf bedeutete, dass es Probleme gab.

»Hey, Dad! Heute ist Dienstag! Hattest du Sehnsucht nach mir?«

»Sheyna«, antwortete er, und sie hörte schon am Klang seiner Stimme, dass ihn etwas bedrückte. »Was macht das College? Lernst du auch was?«

»Jeden Tag etwas Neues. Wenn ich gewusst hätte, was für ein weites Feld die Meeresbiologie ist, hätte ich es mir vielleicht noch mal überlegt. Weißt du, wie viele Fischarten es in den sieben Weltmeeren gibt? Zehn Millionen!«

»Und die musst du alle auswendig kennen?«

»Dann bräuchte ich wohl noch ein paar Jahre länger für mein Studium.« Sie trat ans Fenster und lachte verhalten. »Aber du rufst mich doch nicht an, um mit mir über Fische zu plaudern, oder? Ist alles in Ordnung bei euch?«

»Nun ja«, sagte er nach einigem Zögern, »deine Mom und ich würden gern etwas mit dir besprechen. Hier in Marathon. Es haben sich da einige Dinge ergeben …« Er dachte wohl darüber nach, ob er noch mehr sagen sollte, entschied sich aber dagegen. »Wann kommst du denn wieder nach Hause?«

»Am Donnerstag, das weißt du doch. Ich schreibe ein Referat über die Wasserbeschaffenheit vor den Keys und laufe wahrscheinlich das ganze Wochenende mit einem Messgerät am Strand herum.« Sie blickte auf den Interstate Highway, der einige Blocks von ihrem Apartment entfernt die Vorstädte von Miami zerteilte, und blinzelte in die untergehende Sonne. »Was denn für Dinge, Dad? Ist irgendwas mit dir und Mom? Mom geht es doch gut, oder?«

Sie hörte, wie er tief durchatmete. »Wir haben finanzielle Probleme, Sheyna. Die Besucherzahlen auf den Keys sind zurückgegangen, und die Touristen, die kommen, geben weniger Geld aus. Wir hätten einen Burger King oder einen Dairy Queen aufmachen sollen, dann ginge es uns wesentlich besser.«

»Ist es so schlimm?«

»Leider, Sheyna. Lass uns am Donnerstag darüber reden.«

»Muss … muss ich das College aufgeben, Dad?«

»Nein, wo denkst du hin? Aber … wir finden eine Lösung, Sheyna.«

Die Nachricht war keine wirkliche Überraschung für sie. Obwohl der Präsident in jeder zweiten Rede davon sprach, dass sich die Wirtschaft im Aufschwung befinde und Amerika keine Angst vor der Zukunft zu haben brauche, waren die Leute vorsichtig geworden und gaben lange nicht mehr so viel Geld aus wie früher. Viele aßen lieber Fast Food, als in ein Restaurant wie den »Happy Pelican« zu gehen, da konnten ihre Eltern noch so sehr darauf verweisen, dass sie nur frischen Fisch und frische Schalentiere verarbeiteten.

Es war nicht schwer zu erraten, worüber ihre Eltern mit ihr sprechen wollten. Selbst wenn sie das College weiter bezahlten, würden sie eine stärkere Beteiligung von ihr erwarten. Kein Mietzuschuss mehr, kein monatlicher Scheck, kein Extraschein für das Benzin, wenn sie nach Hause kam. Statt an zwei oder drei Abenden würde sie jeden Abend im Starbucks an der Ecke arbeiten müssen, vielleicht müsste sie sogar noch einen zusätzlichen Job annehmen.

Was soll’s, versuchte sie sich zu beruhigen, es gab viele junge Frauen, die auf diese Weise ihr Studium finanzierten. Kein Grund, gleich Trübsal zu blasen. Wenn der Vermieter ihr erlaubte, eine weitere Studentin in ihrem Apartment wohnen zu lassen, könnten sie sich die Miete teilen und auch beim Essen sparen. Für zwei Personen kochte es sich leichter als für eine und preiswerter war es auch. Es gab immer Mädchen, die ein günstiges Zimmer suchten.

Sie könnte es sich auch einfach machen, zu Timmy zurückkehren und bei ihm einziehen. Er würde sie mit Kusshand aufnehmen. Seine Eltern besaßen mehrere Münzwäschereien, ein wesentlich einträglicheres Geschäft als ein Restaurant, und er hatte genug Geld. Sie würde nicht mal fürs Essen bezahlen müssen. Aber das kam natürlich nicht infrage. Sie war nicht der Typ, der sich aus finanziellen Gründen an einen Mann hängte, selbst wenn er der Quarterback des College-Footballteams war. Der ErsatzQuarterback, wenn man es genau nahm, die letzten vier Spiele hatte der Neue aus Fort Lauderdale auf seiner Position gespielt. Zugegeben, er sah gut aus, besonders mit freiem Oberkörper, und anfangs war sie auf seine fröhliche Unbekümmertheit hereingefallen. Sie hatte sich in sein Cabrio gesetzt und ihre dunkelblonden Haare wehen lassen, war mit ihm zum Schnorcheln rausgefahren und hatte sich von ihm in diesen schicken Klub in South Beach einladen lassen.

Ein »Augenblick der Schwäche«, wie sie diese Zeit inzwischen nannte. Denn was sie für gute Laune und fröhliche Unbekümmertheit gehalten hatte, war nichts weiter als das kindliche Gemüt eines dummen Jungen, der nur wegen seiner sportlichen Leistungen ans College gekommen war und sich weder für Meeresbiologie noch für irgendetwas anderes interessierte. Vier Wochen hatte es gedauert, bis sie ihn durchschaut und sich von ihm getrennt hatte, wenige Stunden vor ihrem entscheidenden Spiel gegen ein College aus Jacksonville. Sie spielte Fußball, auf der Sechserposition, wie sie gerne betonte, obwohl das keiner außer ihrem Trainer und ihren Mitspielerinnen verstand. Mit anderen Worten, sie war die Abräumerin vor der Verteidigung und inszenierte das Spiel nach vorn. »So was wie Quarterback?«, hatte Timmy gelästert. »Seit wann ist das was für Mädchen? Warum bist du keine Cheerleaderin?«

Und natürlich hatte er sich auch geweigert, sie zu dem Spiel zu begleiten. »So ’n Weiberkram mach ich nicht mit«, hatte er abfällig gesagt. Die üblichen Machoallüren, die sich einige Mädchen im Team von ihren Freunden anhören mussten. Sie war allein zum Spiel gefahren und so wütend aufgelaufen, dass sie sich schon nach drei Minuten eine Gelbe Karte eingefangen hatte. Dann hatte sie mitgeholfen, die Mädels aus Jacksonville mit 4:1 vom Platz zu fegen und in die Endrunde der Meisterschaft einzuziehen. Man hatte sie sogar zum »Player of the Game« gewählt, eine Auszeichnung, auf die sie mächtig stolz war. Zur Profispielerin würde es bei ihr zwar niemals reichen, dazu war ihr die Meeresbiologie auch viel zu wichtig, aber als Amateurin konnte sie sich sehen lassen.

Sie war froh und regelrecht erleichtert, mit Timmy Schluss gemacht zu haben, obwohl er sie noch wochenlang genervt hatte und es offensichtlich nicht ertragen konnte, von einem Mädchen den Laufpass zu kriegen. »Du wirst noch auf Knien angekrochen kommen«, war seine harmloseste Bemerkung, an die sie sich erinnerte. »Aber nur in deinen Träumen!«, flüsterte sie entschlossen. Sie hatte erst mal genug von Männern, wollte sich ganz auf ihre Collegearbeit konzentrieren, um einen ordentlichen Abschluss zu erreichen.

Wo sie später arbeiten würde, wusste sie nicht. Das war auch noch einige Jahre hin. Vielleicht auf den Florida Keys, im Dolphin Research Center, der Delfin-Forschungsstation, die nur ein paar Blocks vom Restaurant ihrer Eltern entfernt lag, oder in Miami oder Fort Lauderdale. Oder auf einem der großen Forschungsschiffe, die auf den Weltmeeren kreuzten, das wäre wirklich spannend, auch wenn diese Fahrten extrem lange dauern konnten. So wie bei dem Meeresforscher Jacques Cousteau, der auf der ganzen Welt geforscht hatte und nur alle paar Jahre nach Frankreich gekommen war. Sie hatte sich die DVDs mit seinen Filmen mehrmals angesehen. Als Mitglied eines solchen Teams würde sie sich wohlfühlen.

Vor ihr tauchten die ersten Häuser von Islamorada auf, der einzigen größeren Siedlung zwischen Key Largo und Marathon. Die übliche Einkaufsmeile mit Fast-Food-Restaurants, einigen Hotels und Bungalow-Siedlungen, dem kleinen Chinesen, zu dem sie manchmal zum Essen gingen, wenn sie genug von Fisch und Schalentieren hatten. Nur für wenige Minuten verschwand das Meer hinter den flachen Häusern der Innenstadt und einem mehrstöckigen Hotel, dann leuchtete das Wasser wieder, und der Highway führte an einem großen Hafenbecken mit mehreren Fischerbooten und Jachten vorbei. Die weißen Jachten glänzten rotgolden in der sinkenden Sonne, ein Anblick, der sie immer begeistern würde. Auf den Holzpfählen saßen braune Pelikane in der Hoffnung, ohne Anstrengung an ein Abendessen zu kommen.

Die nächste Brücke, und wieder kam es ihr so vor, als würde sie übers Meer gleiten, ein Gefühl, das etliche Touristen, die zum ersten Mal über den Overseas Highway fuhren, erschreckte. Sheyna war jeder Zoll der Strecke vertraut, selbst mit verbundenen Augen hätte sie nach Hause gefunden. Sie entspannte sich ein wenig, aß einen der Äpfel, die sie als Proviant mitgenommen hatte, und überzeugte sich durch einen schnellen Blick in den Innenspiegel davon, dass sie keine roten Augen mehr hatte. Sie wollte ihren Eltern nicht als weinendes Nervenbündel gegenübertreten. Wenn es ihnen finanziell so schlecht ging, brauchten sie eher eine Aufmunterung, eine Tochter, die sich nicht darum scherte, dass sie kein Geld mehr bekam, und ihnen sagte: »Keine Angst, Leute, ich komme auch so zurecht. Wäre doch gelacht, wenn ich das College nicht mit Auszeichnung abschließen würde. Und dann bekomme ich meine eigene Fernsehsendung wie damals Jacques Cousteau, werde stinkreich und kaufe euch eine der teuren Villen unten in Key West.«

Sie konnte schon wieder lachen. Okay, im Spiegel lachte ihr keines dieser Püppchengesichter entgegen, auf die manche Männer so flogen, dazu war sie schon während ihrer Kindheit zu oft im Freien und auf dem Meer gewesen. Sie wirkte eher frisch und natürlich, und in ihren braunen Augen glomm ein Feuer, das immer dann aufflackerte, wenn sie sich besonders freute oder ärgerlich war. Nein, zur Cheerleaderin hätte sie nicht getaugt, auch wenn Timmy das gern gesehen hätte. Er war während des Collegeballs auf sie aufmerksam geworden, als sie ihre Haare kunstvoll frisiert und Makeup aufgelegt hatte, etwas, was sie sonst höchst ungern tat, weil es in der Hitze auf den Keys leicht verschmierte und beim Tauchen oder Schnorcheln nur störte. Sie brauchte nicht mal Wimperntusche. Und ihre Haare trug sie meist zu einem hochgesteckten Pferdeschwanz gebunden wie Detective Lilly Rush in Cold Case, der bekannten Krimiserie, die allerdings nur noch in Wiederholungen lief.

Sie schaltete das Radio ein und lachte laut, als die letzten Takte von Jimmy Buffetts »Margaritaville« erklangen, einem Song, der zwei Jahrzehnte vor ihrer Geburt herausgekommen war und noch immer als »Nationalhymne« der Keys galt. »Wastin’ away again in Margaritaville«, sang er, »du lässt dich hängen und hast endlich mal Zeit, die Seele baumeln zu lassen«. Das Lebensgefühl der Tropen, und näher als auf den Keys kam man den Tropen in Amerika nirgendwo, von Hawaii mal abgesehen. Aber wer will schon nach Hawaii, wenn er das Paradies direkt vor der Haustür hat, zumindest jetzt noch.

»Und jetzt zu den Nachrichten«, meldete sich eine kernige Stimme aus dem Autoradio. »Auch zwei Wochen nach der Explosion auf der Bohrinsel Ocean Queen, bei der vier Arbeiter ums Leben kamen, gelang es International Oil noch nicht, den Ausfluss des Öls zu stoppen. Wie uns ein Sprecher des Konzerns mitteilte, will man nun versuchen, den sich immer weiter ausbreitenden Ölteppich im Golf von Mexiko mit Chemikalien aufzulösen. Namhafte Umweltschützer kritisieren jedoch, dass diese Chemikalien hochgiftige Wirkstoffe enthalten, die sich ebenso vernichtend auf das Leben im Meer auswirken wie das Öl. Außerdem warnen sie vor der Möglichkeit, große Mengen des ausgetretenen Öls könnten auch unter der Wasseroberfläche zur Küste getrieben werden. Im südlichen Alabama wurden bereits weite Abschnitte durch das Öl in Mitleidenschaft gezogen, der Strand von Dauphin Island musste gesperrt werden. Inzwischen wird nicht mehr ausgeschlossen, dass ein Teil des Ölteppichs durch die starken Strömungen nach Florida abgetrieben werden und dort die Touristenstrände der Florida Keys beeinträchtigen könnte «

Obwohl sie sich mitten auf einer Brücke befand, hätte Sheyna vor Schreck beinahe auf die Bremse getreten. »Das fehlte gerade noch!«, schimpfte sie leise. Sie schaltete das Radio aus und fuhr zur nächsten Insel, sah das im Schein der untergehenden Sonne blutrot leuchtende Meer an die Küste schwappen und geriet bei dem Gedanken, statt des Wassers würde sich ein klebriger schwarzer Brei an Land wälzen, kräftig ins Schwitzen. Natürlich hatten sie diese Möglichkeit schon vor zwei Wochen in Betracht gezogen, jeder auf den Keys war nervös geworden, als die Nachricht von der explodierten Bohrinsel vor der Küste von Alabama gemeldet wurde. Alabama war näher als Louisiana, und die Möglichkeit, etwas von dem Öl abzubekommen, war wesentlich größer als damals bei der Explosion der Deepwater Horizon. Dennoch war die Meldung einer möglichen Ölpest ein Schock. International Oil behauptete doch, aus der damaligen Katastrophe gelernt zu haben und das ausfließende Öl wesentlich schneller unter Kontrolle bringen zu können.

»Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten«, sagte sie. Wenn sie allein unterwegs war, sprach sie öfter mit sich selbst oder dem kleinen Bären, der an ihrem Innenspiegel hing. Ein Geschenk von Inter Mailand, dem berühmten italienischen Fußballverein, der im letzten Sommer auf dem Collegegelände trainiert und ein Vorbereitungsspiel gegen die amerikanische Nationalmannschaft ausgetragen hatte. Sie hatten Spalier für die einlaufenden Spieler gestanden und von ihnen einen kleinen Bären im blau-schwarz gestreiften Inter-Trikot bekommen. Seitdem war Sheyna InterFan. Sie hatte das Champions-League-Endspiel auf ESPN2 gesehen und sich Aufzeichnungen von wichtigen Spielen über E-Bay besorgt. Männer wie Timmy hatten dafür kein Verständnis. Vielleicht sollte ich nach Italien auswandern, dachte sie, im Mittelmeer gibt’s auch keine Ölplattformen, und Fußball spielen sie dort noch viel besser.

Sie erreichte die Brücke hinter Duck Key und fuhr von der Straße auf den sandigen Parkplatz, der zwischen einem kleinen Palmenhain und der Brücke zum Wasser abfiel. Das Schauspiel des Sonnenuntergangs, der an diesem Abend besonders farbenprächtig ausfiel, wollte sie in Ruhe genießen, vielleicht auch, um ihre Nerven zu beruhigen, bevor sie nach Hause fuhr und sich auf das wichtige Gespräch mit ihren Eltern einließ. Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie immer bei sich hatte, und stieg aus. Lauer Wind schlug ihr entgegen, wesentlich stärker als noch vor einer Stunde, als sie sich in Homestead einen Cheeseburger gegönnt hatte.

Außer ihr parkten noch zwei andere Wagen auf dem Parkplatz. Ein älteres Ehepaar, das sich wie ein junges Liebespärchen an den Händen hielt und versonnen lächelte, und ein jüngeres Paar, das sich im Wasser tummelte. »Wir haben auf den Keys geheiratet«, erfuhr Sheyna von dem älteren Ehepaar, als sie die beiden mit einem freundlichen Nicken begrüßte. »Ist eine ganze Weile her.«

Sheyna trat bis dicht ans Wasser heran und kniff die Augen gegen den böig auffrischenden Wind zusammen. Dieses Wetter war wie geschaffen für die Segelboote vor der Küste, und das Rauschen der Palmen war die ideale Begleitmusik für die blutrote Sonne, die rasend schnell am fernen Horizont versank.

Gerade als sie verschwand und nur noch ihr roter Widerschein die Wolken färbte, tönte ein spitzer Schrei über das Wasser. Die junge Frau stieg in panischer Angst aus dem Meer, so schnell, als wäre sie gerade einem weißen Hai begegnet, gefolgt von ihrem gut aussehenden Freund, der ebenso verstört wirkte und rief: »Abbie! Was ist passiert? Sag doch was, Abbie!«

Das Mädchen hielt ihre Arme in die Höhe. »Sieh dir das an! Lauter Ölflecken! Daran ist diese Bohrinsel schuld! Das krieg ich doch nie mehr ab!«

»Unsinn! So schnell kann das Öl gar nicht hier sein, selbst wenn der Wind es nach Florida treibt.« Er betrachtete die Arme seiner Freundin und schüttelte den Kopf. »Das kommt bestimmt von einem Außenborder oder von einem der Jet-Skis, die vorhin hier vorbeigekommen sind. Die verlieren öfter Öl.«

»Das Zeug klebt wie verrückt!«

Er nahm sein Handtuch, tauchte es ins Wasser und rieb ihr das Öl von den Armen. Nur ein paar Flecken, mehr waren es tatsächlich nicht, aber genug, um Sheyna erneut aus der Ruhe zu bringen. Sie verabschiedete sich von dem älteren Ehepaar, das ebenfalls ernst geworden war, und stieg in ihren Wagen.

2

Im »Happy Pelican« saßen nur ein paar Touristen, als sie ihre Eltern begrüßte. Das mochte daran liegen, dass die Hurrikansaison bereits begonnen hatte und im September immer weniger Gäste kamen, es hatte aber sicher auch mit der wirtschaftlichen Lage und der Bedrohung durch das auslaufende Öl zu tun. Die Katastrophe im Golf war das Schlimmste, was den Küstengebieten im Süden passieren konnte, auch wenn Florida noch gar nicht betroffen war.

»Hast du gehört, dass der Ölteppich auf unsere Küste zu treiben soll?«, klagte ihr Vater, nachdem er sie in die Arme geschlossen und begrüßt hatte. Bobby Kendall war ein übergewichtiger Mann mit gerötetem Gesicht und wachen Augen. Über seinem Bauch spannte sich die weiße Kochjacke. »Als ob wir mit der Krise noch nicht genug am Hals hätten! Aber nein, dann muss auch noch diese blöde Bohrinsel explodieren. Und wer bezahlt uns den Ausfall?«

»Jetzt überfall sie doch nicht gleich mit unseren Problemen«, erwiderte ihre Mutter. Crystal Kendall war eine selbstbewusste Frau mit kurzen Haaren, die sich manchmal wie eine Mutter um ihren in praktischen Dingen eher unbeholfenen Mann kümmerte. Den Bootsverleih hatte sie ganz allein auf die Beine gestellt. »Lass uns morgen darüber reden. Kümmere dich lieber um deinen Barsch, sonst laufen uns die letzten Gäste auch noch davon.« Sie sagte es mit einem gewissen Galgenhumor, der aber keinen zum Lachen brachte.

Bobby Kendall nickte betrübt. »Du hast recht, wir reden morgen früh. Wie wär’s mit frischem Grouper, Sheyna? Oder magst du keinen Zackenbarsch mehr? Leicht paniert, mit Brokkoli und Mais?«

Sie aß an diesem Abend nur wenig, unterhielt sich mit ihrer Mutter über belanglose Dinge und amüsierte sich über die neugierigen Blicke der Gäste, die vermutlich darüber rätselten, zu welchem Football- oder Baseballverein die Farben ihres T-Shirts passten. Als einer der Männer von der Toilette kam, blieb er an ihrem Tisch stehen und sagte: »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche, Miss, aber so ein Trikot habe ich noch nie gesehen. Kanadisch?«

»Italienisch«, erwiderte sie lächelnd. »Inter Mailand, einer der erfolgreichsten europäischen Fußballklubs. Sie haben die Champions League gewonnen.«

»Champions League?« Davon hatte er anscheinend noch nie gehört. »Sorry, aber ich bin Football-Fan. Miami Dolphins. Spielen Sie auch … Fußball?«

»Offensives Mittelfeld … Miami-Dade«, antwortete sie.

In dieser Nacht schlief Sheyna nur wenig. Die aufgesetzte Fröhlichkeit ihrer Eltern ließ vermuten, dass ihre finanzielle Lage noch bedrohlicher war, als sie angenommen hatte, und eine weitere Beeinträchtigung durch die Ölpest sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnte. Weder ein Restaurant noch ein Bootsverleih florierten, wenn ölverseuchtes Wasser ans Ufer schwappte.

Sie öffnete die Augen. Ihre Eltern hatten ihr Zimmer nicht verändert, sogar die Poster der Black Eyed Peas und der amerikanischen Fußballnationalmannschaft der Frauen hingen noch an der Wand. »Damit du immer ein Zuhause hast, wenn du auf die Keys kommst«, hatte ihre Mutter gesagt. Sie ließ ungern los, hing nicht nur an ihrem Mann und ihrer Tochter, sondern auch an unscheinbaren Dingen wie ihrem alten Wecker und dem Plüschdelfin, den sie vor vielen Jahren aus Sea World mitgebracht hatte. Ein Bankrott und ein Umzug in eine kleinere Wohnung würden ihr schwer zu schaffen machen.

Von diesen quälenden Gedanken geplagt schlug Sheyna die Decke zurück und stand auf. Die Wohnung ihrer Eltern lag über dem Restaurant im ersten Stock des modernen Blockhauses und hatte den einzigen Fehler, dass selbst spätnachts noch der intensive Duft von gebratenem Fisch aus der Küche heraufzog, entweder durch die offenen Fenster oder die Klimaanlage. Dafür war sie sehr geräumig, und von den Fenstern auf der Westseite hatte man einen grandiosen Ausblick auf den Golf von Mexiko. Manche Gäste kamen nur wegen des Sonnenuntergangs oder um den Pelikanen am Bootsanleger zuzusehen. Das Restaurant hatte riesige Panoramafenster. Ihr Vater hatte sogar einen Cocktail für die Sonnenanbeter kreiert: den Sundown Special.

Bei dem Gedanken an ihren ersten Sundown Special und ihren ersten Schwips musste sie lächeln. Es war schon einige Jahre her, aber wenn sie die Augen schloss, sah sie die Bilder noch genau vor sich: ihr Vater, wie er sagte: »Aber nur einen winzigen Schluck!«, und ihre Mutter, die ihm das Glas aus den Händen nahm und schimpfte: »Lass den Unsinn, Bobby! Sie ist doch noch ein Kind! Das Zeug ist stark genug, um einen Elefanten zu fällen!« Was dazu führte, dass er die Alkoholmenge in dem Drink um die Hälfte reduzierte.

Sie trat ans Fenster und blickte auf das dunkle Meer hinaus. Das Holzhaus stand auf einer Landzunge und war an drei Seiten von Wasser umgeben, es gab einem das Gefühl, auf einer einsamen Insel in der Karibik zu sein. Auf dem schmalen Strand vor dem Haus wuchsen Palmen, und im schwachen Licht einer Straßenlampe ließen die Bougainvilleen ihre Farbenpracht erahnen.

Doch das Meer war schwarz, erstreckte sich dunkel und bedrohlich unter dem bewölkten Himmel, an dem selbst der Mond sich bedeckt hielt und nur einen schwachen hellen Fleck auf das Wasser zauberte. Die Wolken waren am frühen Nachmittag aufgezogen wie fast an jedem Tag im Herbst, hielten sich aber hartnäckiger als sonst und ließen das Meer kalt und bedrohlich erscheinen. Nachts änderte sich der Charakter des Meeres. Tagsüber noch grünblau und verlockend, wurde es nachts zu einer dunklen Wüste, die nach Meinung der alten Seefahrer bis in den Schlund der Hölle führte. Wie der dunkle Ölschlamm, der an die Küste von Alabama schlug, wälzten sich die Wassermassen durch die Nacht, schwappten gegen die steinerne Begrenzungsmauer.

Am Labor-Day-Wochenende vor drei Jahren war sie mit ihren Eltern in Alabama gewesen. Auf dem Weg nach New Orleans hatten sie in Mobile übernachtet und waren am frühen Morgen über Dauphin Island gefahren. Die Autofähre war dicht an den Bohrinseln vorbeigeglitten, stählernen Skeletten, die das »schwarze Gold« aus der Tiefe pumpten und bedrohlich aus dem Wasser ragten. Kaum vorstellbar, welches Chaos die Explosion eines dieser Ungetüme angerichtet hatte, auch die Bilder im Fernsehen konnten es nicht vermitteln. Der Strand, bisher einer der schönsten in Alabama, wurde von pastellfarbenen Ferienhäusern gesäumt, und sie erinnerte sich noch an die Worte ihres Vaters: »Hier sollten wir ein Restaurant aufmachen.« Jetzt war der Strand gesperrt und im weißen Sand verendeten ölverklebte Möwen und Pelikane.

Sie riss sich vom Anblick des Meeres los, zog ihren Bademantel und ihre Hausschuhe an und stieg ins Restaurant hinunter. Wie meist, wenn sie zu Hause war und Durst verspürte, zapfte sie sich eine eiskalte Cola. Sie lehnte sich an den Tresen der langen Bar und ließ ihren Blick nachdenklich durch das leere Restaurant schweifen. Vor einer der Lampen, die vor den Panoramafenstern aus dem Boden ragten, bewegten sich die Blätter einer Palme im Nachtwind und ließen das Licht in unruhigen Mustern über den Holzboden flackern. Weit draußen auf dem Meer leuchteten die Positionslichter eines Frachters.

»Trinkst du immer noch so gerne Cola?«, erklang die Stimme ihrer Mutter in der offenen Tür. Auch sie trug ihren Bademantel. »Ehrlich gesagt wäre mir eher nach einem Kaffee zumute, aber dann schlafe ich überhaupt nicht mehr ein.« Crystal Kendall kam herein und setzte sich auf einen der Barhocker. Ihre Stimme klang bedrückt. »Weißt du noch? Früher, wenn alle Tische besetzt waren, warteten hier manchmal dreißig Leute. Es ging uns immer gut, nicht wahr?«

»Ja, Mom, und manche Leute würden sich noch jetzt alle zehn Finger danach lecken, wenn sie auf den Keys wohnen und täglich hier essen könnten. Geh mal nach Miami, da hetzen sie den ganzen Tag von einem Ort zum anderen. Wie die Leute in New York. Für die leben wir in den Tropen. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, will ich auf jeden Fall wieder dicht am Meer wohnen. In Hialeah hab ich zwar nur ein paar Blocks bis zum Strand, aber wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nur Häuser, einen Spielplatz, eine Tankstelle und einen Burger King.«

»Du willst wieder auf die Keys ziehen?«, fragte ihre Mutter hoffnungsvoll.

»Auf die Keys, in die Carolinas, nach Kalifornien, vielleicht sogar ganz aufs Meer, auf eines dieser Forschungsschiffe.« Sheyna merkte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, und fügte schnell hinzu: »Aber ich besuche euch, so oft es geht, versprochen. Wo kann ich mir sonst nachts eine Cola zapfen?«

»Wenn wir das Restaurant dann noch haben«, erwiderte ihre Mutter mit einem weinerlichen Unterton. Sie blickte auf den großen Plastikfisch über dem Tresen. »Ich beschwere mich nicht, Sheyna. Wir leben seit vielen Jahren auf den Keys und kamen immer gut über die Runden. Sogar das Geld für dein College konnten wir zusammensparen. Ich liebe die Keys. Du weißt, ich komme aus Nebraska, und da kennt man das Meer nur vom Hörensagen, aber als ich die Keys zum ersten Mal sah, wollte ich nicht mehr weg, auch wenn sie sich in den letzten Jahren sehr verändert haben. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir in Schwierigkeiten stecken, an den vielen Imbissbuden und All-you-can-eat-Restaurants, die inzwischen aufgemacht haben.« Sie seufzte leise. »Dennoch wäre es schade, wenn wir alles verlieren würden.«

»Das wird wieder«, versuchte Sheyna ihr Mut zu machen. »Du solltest die Eltern der anderen Studenten hören. Egal in welcher Branche sie sind … alle jammern. Stell dir vor, ihr wärt Immobilienmakler, die sind fast alle pleite.«

»Ich weiß, Sheyna. Aber das hilft uns auch nicht weiter.«

Sie gingen zu Bett, beide entschlossen, wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen, und tatsächlich schlief Sheyna schon wenige Minuten später ein. Sie träumte wirres Zeug, an das sie sich schon beim Aufwachen nicht mehr erinnerte, und vertrieb die bösen Geister unter einer heißen Dusche. Sie zog ihre Jeans und ein frisches T-Shirt an, diesmal mit dem Logo des Miami-Dade-Colleges, und half ihrer Mutter beim Zubereiten des Frühstücks. Ihre Eltern hatten die Aufgaben klar verteilt: Der Vater, obwohl gelernter Koch, stand erst ab Mittag in der Küche, Mutter und Tochter kümmerten sich um das Frühstück.

An diesem Morgen fiel es besonders üppig aus. Rühreier mit Speck, Pfannkuchen mit Sirup und exotische Früchte standen auf dem Tisch, dazu gab es kubanischen Kaffee, kalte Milch und Orangensaft. »Bei mir gibt’s meistens nur einen Becher Kaffee und eine Scheibe Toast«, sagte Sheyna, als sie den ersten Bissen von den Pfannkuchen genoss. »Die bescheren mir mindestens ein Kilo mehr, wisst ihr das? Und ich hatte gerade so schön abgenommen.«

Sie saßen auf der Terrasse ihres Restaurants, das erst mittags öffnete, und genossen den Anblick des Meeres, das im Licht der aufgehenden Sonne schon wieder viel freundlicher aussah. Auch wenn der Himmel noch immer bewölkt war und die Sonne noch nicht ihre volle Kraft entfalten konnte. Der frische Morgenwind ließ den überhängenden Stoff der Sonnenschirme flattern und rauschte in den Palmen am Strand. Wie fast überall auf den Keys war der Strand nur schmal und kaum zum Baden geeignet, aber das Riff, das anderthalb Meilen vor der Küste lag, zog zahlreiche Taucher und Schnorchler an.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Bobby Kendall, während er sich einen zweiten Becher Kaffee einschenkte. »Aber es geht uns wirklich nicht besonders. Vor ein paar Tage waren wir bei unserem Steuerberater, und der sagte uns klipp und klar, dass wir zumachen können, falls es uns nicht gelingt, einen höheren Umsatz zu machen. Ich musste bereits einen Koch und eine der beiden Bedienungen entlassen und die Speisekarte verkleinern. Mom hilft, wo sie kann, aber sie hat mit dem ganzen Bürokram genug am Hals. Ich weiß, ich weiß, die Wirtschaftskrise ist noch lange nicht zu Ende, auch wenn die Politiker was anderes sagen, und die Leute jammern überall, außer bei den Fast-Food-Ketten. Aber dass die anderen leiden, macht es auch nicht besser. Fakt ist, dass die Touristen wegbleiben, du brauchst dir nur die Buchungen der Hotels anzuschauen, und was glaubst du, wie viele Leute ihre Reservierung stornieren, wenn wir erst das Öl hier haben. Sobald das Öl an der Küste von Florida auftaucht, kannst du die Keys vergessen … und uns dazu.«

Sheyna trank einen Schluck Kaffee. »Ihr macht das schon, Dad. Zur Not stellst du auf All-you-can-eat für fünf Dollar fünfundneunzig um, das lockt Kunden an, und abends gibt’s den ersten Cocktail gratis, das zieht immer. Wie wär’s montagabends mit Football im Fernsehen? Ist zwar ein bescheuerter Sport, aber die Männer trinken eine Menge Bier, wenn die Spiele laufen, und Hamburger und Chicken-Nuggets hast du sowieso drauf. Den ›Happy Pelican‹ wird’s immer geben, da bin ich ganz sicher, und ich bin ja auch noch da. Ich könnte während der Semesterferien beim Bedienen helfen, und wenn es hart auf hart kommt, könnte ich auch mal ein Semester aussetzen und bei euch arbeiten …«