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TEXT+KRITIK


TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle,
Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-468-7
E-ISBN 978-3-86916-527-1

Umschlagabbildung: Isolde Ohlbaum (Foto: 2009)

Preis für dieses E-Book € 23,99

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2016 Levelingstraße 6a, 81673 München
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Inhalt

Katja Lange-Müller

Der Hund und die Kälte – Das ist doch mal ein Anfang!

Ortrud Gutjahr

Inszenierungen eines Rollen-Ich. Emine Sevgi Özdamars theatrales Erzählverfahren

Azade Seyhan

Unübersetzbare Schicksale. Umschreibungen von Exil, Schweigen und sprachlichen Zielorten im Werk Özdamars

Bettina Brandt

Emine Sevgi Özdamar als Theatermacherin. Eine Vorstudie zu »Karagöz in Alamania«

Müzeyyen Ege

Stadt und Sprache als Transiträume bei Emine Sevgi Özdamar. Interkulturelle Einblicke in narrative Topografien

Cornelia Zierau

»Die Mädchen (…) wurden rot und kicherten amüsiert unter ihren Kopftüchern«. ›Verstörende‹ Begegnungen mit Emine Sevgi Özdamar

B. Venkat Mani

Weltliteratur als bibliomigrancy. Auf Emine Sevgi Özdamars »Sprachzügen«

Yasemin Dayıoğlu-Yücel

»Una auténtica bomba literaria«. Schriftstellerkollegen über Emine Sevgi Özdamar

Yasemin Dayıoğlu-Yücel / Emine Sevgi Özdamar

»Das mutigste Mädchen, das diese steile Straße hochläuft«. Gespräch mit Emine Sevgi Özdamar über ihre Begegnungen mit Schriftstellern

Yasemin Dayıoğlu-Yücel

Auswahlbibliografie

Biografische Notiz

Notizen

[97|98] Notizen

Bettina Brandt, Dr., ist Fellow am Netherlands Institute for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences, Institute of the Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences, und lehrt an der Pennsylvania State University. Mit den Texten von Emine Sevgi Özdamar setzt sie sich auseinander, seitdem sie 1995 am deutschen Institut der Columbia University ein Seminar zum Thema »Literatur und Migration« anbot.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel, Dr., ist DAAD-Lektorin an der Istanbul Universität. Als ihr späterer Doktorvater Prof. Dr. Horst Turk sie 1998 mit dem Roman »Das Leben ist eine Karawanserei« von Emine Sevgi Özdamar bekannt machte, wusste sie noch nicht, dass sich daraus eine anhaltende Beschäftigung mit Nationen überschreitenden Themen im Allgemeinen und eine Begeisterung für das Werk Özdamars im Besondern entwickeln würde.

Ortrud Gutjahr hat die Professur für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg inne und leitet die Arbeitsstelle für Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Werk Emine Sevgi Özdamars, leitete mit der Autorin u. a. 2008 ein Stipendiatenseminar bei der Alfred Toepfer Stiftung F. V.S., lud Özdamar2014 auf die von ihr begründete Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik ein und veranstaltete in diesem Rahmen eine internationale Tagung zu Özdamars Werk.

Müyezzen Ege, Dr., Assistant Professor, ist Dozentin für Literaturwissenschaft und -didaktik an der Deutschabteilung der Marmara Universität in Istanbul. Sie forscht u. a. zur interkulturellen Großstadtliteratur und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Berlin-Istanbul-Trilogie von Emine Sevgi Özdamar. Die Autorin lernte sie 2008 bei einer Lesung auf der deutsch-türkischen DAAD-Germanistentagung in Mannheim persönlich kennen. Seitdem begeistert sie die vielseitige Künstlerin und ihr Werk.

B. Venkat Mani ist Professor am Department of German an der University of Wisconsin-Madison (USA). Mit Emine Sevgi Özdamar verbindet ihn die Vielfalt von sprachlichen und kulturellen Lebenswelten, die ihre Werke anzubieten haben. »Das Leben ist eine Karawanserei« entdeckte er in der Green Library der Stanford University, »Die Brücke vom goldenen Horn« während einer Lesung im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Seitdem beschäftigt er sich im Rahmen seiner Forschung zu Migration, Kosmopolitismus und Weltliteratur mit Özdamars Werken.

[98|99]Azade Seyhan, Fairbank Professor in the Humanities, ist Professorin für Germanistik und Literaturwissenschaften am Bryn Mawr College, Pennsylvania (USA). Sie gehört zu den ersten Wissenschaftlerinnen, die zu Emine Sevgi Özdamar arbeiteten. Özdamars erstes Werk entdeckte sie vor 30 Jahren während ihrer Forschung zur deutsch-türkischen Literatur.

Cornelia Zierau, Dr., ist Oberstudienrätin im Hochschuldienst am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn mit Zuständigkeit für die Bereiche Literaturwissenschaft und Didaktik. »Das Leben ist eine Karawanserei« lernte sie Ende der 1990er Jahre kennen. Stil, Sprache und die darin verarbeiteten Erfahrungen und Beschreibungen von Binnenmigration faszinierten sie so, dass sie sich mit diesem Roman unter postkolonialer Perspektive intensiv in ihrer Doktorarbeit beschäftigte.

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[2|3] Katja Lange-Müller

Der Hund und die Kälte – Das ist doch mal ein Anfang!

Es gibt erste Sätze, Textanfänge, deren Echo man jahrelang, wahrscheinlich sogar bis zum Ende des Lebens hört und fühlt, nein, mehr fühlt als hört (denn das Wort Echo bezieht sich ja eher auf Geräusche), von solch einprägsamem Klang (beim Mitflüstern) und bildhafter Tiefe sind sie. So etwas gelingt – wie nur wenigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ganz gleich welcher »Mutterzunge« – Emine Sevgi Özdamar. Womit ich nicht gesagt haben will, dass jene Zeilen, die den Anfängen folgen, nicht ebenfalls nachhaltig wären. Dennoch bestimmen gerade die Anfänge fast immer den Grundton und das Atmosphärische, in das sich das Folgende fügt, selbst wenn es sich nicht fügt, sondern das Widersprüchliche verteidigt, das die Unverwechselbarkeit aller Dinge und Wesen ausmacht, natürlich auch die der Emine Sevgi Özdamar. Der stärkste ihrer starken Anfänge ist, meine ich, der des Tagebuch-Romans »Seltsame Sterne starren zur Erde«, der sich zudem als Hommage an die Dichterin Else Lasker-Schüler versteht; deren Worte erkor Emine Sevgi Özdamar zum Titel dieser Geschichte, ihrer Geschichte – und einer der besten, die ich jemals las.1

»DER HUND BELLTE UND HÖRTE NICHT AUF« (S 9), so lautet (im wahrsten Sinne des Wortes) der Satz, mit dem das ungeheure, doch eben nicht unbeschreibliche Frieren beginnt – und Weihnachten endet. Die Ich-Erzählerin, eine junge Schauspielerin aus Istanbul, die Emine Sevgi Özdamar ähnelt, aber nicht gleicht (weil dieses Tagebuch ein durch und durch literarisches ist), und die in jener letzten Weihnachtsnacht von diesem Hinterhofhund geweckt wird, ist allein wie er; keiner da außer ihr und ihm. Dort, wo die junge Frau herkam, kennen die meisten Menschen weder eine derartige, reale Kälte (die metaphorische hingegen sehr wohl) noch das Weihnachtsfest. Um sich des Gebells, der Kälte und der Einsamkeit zu erwehren, liest, nein, rezitiert sie nun Else Lasker-Schüler. Ihr Mund steht offen dabei, ihre Lippen bewegen sich; nur deshalb kann sie verhindern, dass ihr die Zähne klappern, doch nicht das Hundegebell, das sie zu übertönen hofft – mit einem Gedicht (!), genauer, indem sie dies Gedicht spricht, lauter und lauter, bis sie schreit. Oder schreit der Hund und die Frau bellt? Jedenfalls ist Bellen seine Art zu schreien; eine andere Sprache, oder überhaupt eine Sprache, ist ihm ja nicht gegeben – im Unterschied zu den AA-Kommunarden, die vor der jungen Türkin und deren sieben, jetzt allerdings [3|4]abwesenden Wohngenossen auf dieser umgebauten Weddinger Fabriketage gehaust hatten, also gerade dort, wo sie während dieser letzten Weihnachtsnacht keinen Schlaf mehr findet, des Hundes und der Kälte wegen. Die AA-Kommunarden, kahlgeschoren zurückgekehrt von einem Selbsterfahrungsseminar bei dem österreichischen Aktionskünstler Otto Muehl, hatten beschlossen, nicht bloß jeglichen Privatbesitz und engere Bindungen zwischen Frauen, Männern und Kindern abzuschaffen, sondern auch die Sprache. »(W)eil die Sprache Klassenunterschiede aufbaute. Die Sprache war ein Machtinstrument, deswegen zurück zum Urschrei. Nur das physische Muß und Elend sollte herausgeschrien werden, wie bei Kindern.« (S 10) – Und Tieren, etwa Hunden, möchte man hinzufügen … – Dieser Assoziation allerdings enthält sich Emine Sevgi Özdamar, oder sie überlässt sie absichtlich ihren Lesern (denen auch mit jeder Zeile kälter wird), denn die folgende, ihr sehr bewusste und dramaturgisch genau gesetzte Assoziation, die ich als große, ironische Metapher verstehe, ist ihr wichtiger: Die Ich-Erzählerin, eine Schauspielerin (und eine gute Zeichnerin, wie Else Lasker-Schüler eine war), liebt nämlich gerade das, was die Muehl-Groupies durch Geschrei (oder Gebell) ersetzen wollten, die Sprache, und besonders die Sprache der Dichterinnen und Dichter, jetzt eben die der deutschen Dichterinnen und Dichter. Weil sie die besser verstehen und in deren Heimat spielen wollte auf den Brettern, die – ihr ganz gewiss immer noch und immer wieder – die Welt bedeuten, kam sie nach Berlin. Es waren die 1970er Jahre, jene Jahre also, in denen sich nicht nur AA-Kommunarden der Sprache, der Literatur, der konventionellen Kunst überhaupt, verweigerten, mithin eine Zeit, in der, um sich Gehör zu verschaffen, viel geschrien und den Massen, na, zumindest den studentischen Westberliner Demonstranten, manche Agitationsparole durchs Megaphon entgegengebellt wurde.

Traditionelles und ohnehin jedwede Art von Brauchtum waren in Verruf geraten, trotzdem stand in dem »großen Raum (…) neben der Tischtennisplatte und den kaputten, hinkenden Sesseln ein Weihnachtsbaum, an dem farbige Glühbirnen leuchteten« (S 13), weil ja auch die 68er-Revolutionäre eine von mehr oder minder christlichen Ritualen geprägte Kindheit hatten und die Kindheit immer irgendwie anfällig macht für gewisse Inkonsequenzen. All dies beschreibt die Autorin aber lediglich wahrnehmend, nicht wertend, und mit feiner, melancholischer Ironie. Und dann schickt sie ihre Protagonistin (oder eben noch einmal sich selbst) durch die sieben, nur mittels dünner Pappwände voneinander getrennten Zimmer der auf Weihnachtsbesuch bei ihren spießigen Eltern weilenden Wohngenossen. Das Wort Einsamkeit fällt in diesem Romananfang nicht ein einziges Mal; selbst davon, dass die Schauspielerin die anderen vermisst, ist nicht die Rede. Emine Sevgi Özdamar geht wesentlich subtiler vor; sie erzählt von der Kälte und dem Atem, der die Kälte sichtbar und damit weniger spürbar machen würde, [4|5]wenn, ja, wenn sie nicht allein, sondern in (redseliger oder gar schreiender) Gesellschaft wäre. Sie schildert die Situation so, dass der Eindruck entsteht, die junge Frau folge ihrer eigenen Erscheinung in einem Film, der sich vor ihr abspult, obwohl er doch – mit ihr in der Hauptrolle – gerade erst gedreht wird. Genau darin, in dieser beteiligten Distanz, zeigt sich Özdamars ganz spezielles Können, ihre besondere Art der Wahrnehmung, die sozusagen eine osmotische ist, in dem Sinne, dass die äußere der inneren entspricht. Und schon begeben sich die Leser, quasi an der Seite der jungen Frau, auf Wanderung durch die Fabriketage, klappern in ihrer Begleitung mit den Zähnen und die Zimmer ab, hören den Hund kläffen, sehen das Laissez-faire, das so wirkt, als seien alle davongelaufen wie die Sau vom Trog, riechen den kalten Zigarettenrauch, schmecken die eisige Schokolade. Die Leser sind, ihre fünf Sinne gebrauchend, dabei, werden eins mit Emine Sevgi Özdamars Protagonistin, vielleicht sogar mehr als die Autorin selbst. »Ich ging durch den langen Korridor und den großen Raum zur Küche. Dieser Weg war so lang, daß Inga an kalten Tagen mit dem Fahrrad zur Toilette fuhr, ihr Atem fuhr mit. Ich machte in allen Zimmern die Lichter an. In Jens’ Zimmer lag ein Stofftier auf dem Bett. Ein Bär, seine Glasaugen waren beschlagen. In Susannes Zimmer stand neben der Schreibmaschine ein Aschenbecher voller gefrorener Kippen, in Ingas Zimmer eine offene Wasserflasche, das Wasser war gefroren. Bei Janosch lag eine angebissene Schokolade gefroren auf der Tastatur der Schreibmaschine, ich sah auf den Abdruck seiner Zähne und dachte, er lächelt mich an. Als ich die Tür zu Rainers Zimmer aufmachte, ging plötzlich das Radio an. Wie warm die Stimme des Mannes war, der gerade sprach! Ich legte meine Hände auf das Radio, aber die Kälte des Metalls brannte. Auf einem Teller lag eine angebissene Bockwurst mit gefrorenem Ketchup und sah aus wie Popkunst. In Barbaras Zimmer stand eine Kiste voller zusammengefrorener Bonbons und Schokolade neben ihrer Schreibmaschine, und es kam mir so vor, als ob die Bonbons vor Kälte grinsten. Vor allen Zimmertüren standen Schuhe, die mit Barbaras Schokolade und Bonbons gefüllt waren. Aus Peters Stiefeln nahm ich im Vorbeigehen ein Stück Schokolade. (…) Auf dem runden Küchentisch lagen Reste von Lebkuchen, eingewickelt in Plastikfolie, die beschlagen war. Ingas Mutter hatte sie mitgebracht. Mit ihrem Vater wollte Inga nichts zu tun haben, weil der ein Nazi gewesen war, nur die Mutter durfte sie besuchen. Das lange Fabrikwaschbecken mit fünf Wasserhähnen war voll mit ungespültem, vereistem Geschirr. Von der Küche ging es ohne Tür ins Bad, in dem eine dreibeinige Badewanne stand, voll mit altem Badewasser. Ich steckte meinen Finger in das kalte Wasser und sagte ›Peter‹. Er hatte als letzter gebadet, bevor alle zu ihren Familien gefahren waren. Auf dem Badewannenrand lag noch ein aufgeschlagenes Buch: Karl Marx, Das Kapital. Auch das Buch war hart gefroren, so wie die Handtücher, die dort an den Haken hingen. Am Dachfenster [5|6]draußen sah ich Eiszapfen. Man konnte sich nicht auf die Klobrille setzen, die Kälte würde einem die Haut aufreißen. Auf dem Toilettenboden lagen viele Zeitungen der letzten Wochen und Monate. Auch die Schlagzeilen sahen aus wie gefroren:

NACH FRANCOS TOD WIRD JUAN CARLOS I.

KÖNIG VON SPANIEN

ANGOLA WEITER IM BÜRGERKRIEG

VIETNAM STEHT VOR DER WIEDERVEREINIGUNG

GEWALTSAMER TOD DES REGISSEURS PASOLINI

DREIZEHN JAHRE HAFT FÜR KANZLERSPION GUILLAUME

KISSINGER ZU GAST IN FÜRTH« (S 12–14)

Spätestens jetzt sind die Leser zeitlich, räumlich und örtlich orientiert, wie die Psychiater sagen. Die soeben zitierten, vergleichsweise wenigen Zeilen sind genauer und plastischer als manches dicke Buch über jene wilde, widersprüchliche Ära der westlichen Halbstadt Berlin, die ja, anders als Vietnam, noch nicht vor der Wiedervereinigung mit der östlichen Halb- und DDR-Hauptstadt stand; in diesen Zeilen ist, atmosphärisch zumindest, alles enthalten: Das gesamte Jahr 1975, jedenfalls das, was es im Wesentlichen ausmachte, die enorme Kälte, die (nicht nur meteorologisch) dort herrschen konnte, als es noch richtige Winter gab, der fast immer von Worten, meist laut geschrienen, begleitete, manchmal, in eisigen Wintern etwa, sogar sichtbare, Atem einer längst verwehten Epoche des Aufbruchs, der Improvisation und des Lernens – und auch der Poesie – wenigstens für diese junge türkische Schauspielerin: »Ich nahm Elses Gedichtbuch (…) und las laut den Klappentext. Meine Hände, meine Stimme und das Buch zitterten. ›Dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch …‹ Der Hund bellte und hinderte mich am Lesen, ich schrie ein Gedicht:

Warum suchst du mich in unseren Nächten,

In Wolken des Hasses auf bösen Sternen!

Laß mich allein mit den Geistern fechten. « (S 15)

Sie hält es nicht mehr aus. Sie nimmt den Parka von Rainers Bett, denn da sie in Istanbul nie einen Wintermantel brauchte, hat sie auch keinen, und bricht auf nach Ostberlin, wo sie anderentags sowieso hinwollte. »Es ist 5 Uhr 30 am Morgen.« (Ebd.)

Aber der Teil der Geschichte, der nun beginnt, ist ein anderer Teil der Geschichte der jungen Schauspielerin und des anderen Teils der Stadt Ber[6|7]lin, in der Emine Sevgi Özdamar sich wiederfand auf der einen und der anderen Seite und dann wiedererfand als Romanfigur, weil sie beide (oder alle drei) ähnlich zerrissen und trotzdem eine waren. Doch im Unterschied zu Emine Sevgi Özdamar ist die Stadt Berlin, von der diese große Schriftstellerin so unvergessliche (Sprach-)Bilder geschaffen hat, mittlerweile ja nur noch eine und nennt sich deutsche Hauptstadt und Metropole, was ihr – unter literarischem Aspekt – womöglich nicht zum Vorteil gereicht.

1  Seitenzahlen in Klammern mit Sigle S sind zitiert nach Emine Sevgi Özdamar: »Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding – Pankow 1976/77«, Köln 2008.

[7|8] Ortrud Gutjahr

Inszenierungen eines Rollen-Ich

Emine Sevgi Özdamars theatrales Erzählverfahren

Eine langjährige Theaterpraxis ist schöpferischer Antrieb und praller Fundus für das literarische Schreiben von Emine Sevgi Özdamar. Die in der Türkei geborene Autorin stand bereits als Schülerin in Bursa auf der Bühne, erlebte Mitte der 1960er Jahre während eines Arbeitsaufenthaltes in Berlin die dortige Theaterszene, besuchte anschließend die Schauspielschule in Istanbul und übernahm erste Theaterrollen. Sie kehrte dann infolge des Militärputsches 1971 erneut nach Deutschland zurück und hospitierte an der Volksbühne in Ostberlin, nahm nun als Schauspielerin und Regieassistentin am Schauspielhaus Bochum ein Engagement an und gastierte an weiteren Häusern. Weit entfernt von derzeitigen Bestrebungen des postmigrantischen Theaters, Schauspielern mit Migrations- oder Fluchterfahrungen auf der Bühne eine Stimme zu geben, erhielt Özdamar in Deutschland zunächst kleinere oder auch stumme Rollen, wie die der türkischen Putzfrau oder der trojanischen Königstochter Andromache.1 Der Film besetzte sie zunächst für die Figur der vornehmlich kopftuchtragenden Ehefrau und Mutter, die sie in frühen Filmen wie Konrad Sabrautzkys »Freddie Türkenkönig« (1978), Thomas Draegers »Metin« (1979), Hark Bohms »Yasemin« (1988) und Jürgen Haases »Eine Liebe in Istanbul« (1990) gab.

Als Dramatikerin stellte sich Özdamar erstmals mit der Burleske »Karagöz in Alamania« vor, die 1986 unter ihrer Regie am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde. Das bereits 1982 publizierte Stück erschien in einer zur Rollen-Prosa umgearbeiteten Fassung, wie auch der 1988 schon anderweitig veröffentlichte Monolog »Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland«2, in Özdamars erster Erzählsammlung »Mutterzunge« (1990). Mit diesem gleitenden Übergang vom dramatischen zum epischen Schreiben transformiert Özdamar nicht allein eigene Theatererfahrungen in Erzählform, sondern entwickelt dabei auch ein genuin theatrales Schreibverfahren. Von daher ist der für Özdamars Werk entscheidende Sprachwechsel nicht, wie häufig angenommen, der Übergang vom Türkischen ins Deutsche, sondern der Wechsel in eine Literatursprache, mit der die Inszenierung kulturell heterogener Sprach- und Darstellungselemente auch erzählerisch gelingt.

Özdamars episches Werk umfasst drei Romane, die unter der Bezeichnung »Istanbul-Berlin-Trilogie« firmieren, und zwei Erzählsammlungen. In diesen [8|9]Texten ist die Narration durchweg einer namenlosen Ich-Erzählerin überantwortet. Diese bringt sich nach dem Biografie-Modell durch eine chronologische Erinnerungserzählung früherer Lebensphasen als ein Ich mit individueller Geschichte selbst hervor. Nach dem Muster des Künstlerromans sind Stationen einer Entwicklung zum und im Theater vergegenwärtigt und der Beginn des literarischen Schreibens angedeutet. Dabei fällt auf, dass einzelne Lebensepisoden in den Romanen und Erzählungen leicht variiert Wiederholung finden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass diesen Ereignissen ein Wahrheitskern inhärent ist, der sich durch Bearbeitungen und Transformationen erst deutlich herauskristallisiert. Im Hinblick auf die zumindest partiell offensichtliche Übereinstimmung von Erzähltem und Biografie der Autorin unterstützt diese leitmotivische Form der Narration zusätzlich die Vorstellung, dass hier eine autofiktive Lebensgeschichte entlang des Geländers einer faktual-authentischen gestaltet ist.

Unzweifelhaft hat Özdamar mit ihrem überschaubaren wie in sich vernetzten Erzählwerk ein unvergleichliches türkisch-deutsches Migrations- und Theaterepos mit Reminiszenzen an die eigene Lebensgeschichte vorgelegt. Doch wird eine auf biografische Aspekte verkürzende Lesart dem inszenatorischen Charakter ihrer Texte nicht gerecht. Schon allein die narrative Figuration einer Erzählerin, die nach dem Credo »Theater ist mein Leben« (B 12)3 ihr früheres Selbst gleich der »Protagonistin« ihres Lebensspiels in unterschiedlichen Rollen performiert, verdeutlicht, dass hier von einer artifiziellen Inszenierung biografischen und zeitgeschichtlichen Materials zu sprechen ist und erst ästhetische Formgebung den Authentizitätscharakter des Erzählten verbürgt.

Bekannt wurde Özdamar mit ihrer Erzählsammlung »Mutterzunge« (1990), in der sie bereits die Auseinandersetzung ihrer Ich-Erzählerin mit Theaterrollen und der Muttersprache im Prozess des Fremdsprachenlernens thematisiert. Der Durchbruch gelang ihr dann mit dem Erstlingsroman »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus« (1992), der ihr schon vor Erscheinen – allein für einen Leseauszug – den Ingeborg-Bachmann-Preis einbrachte. Hier gestaltet die Erzählerin ihr Heranwachsen in verschiedenen Orten der Türkei als auktoriale Erinnerungsinstanz, die einer kindlich-naiven Weltsicht und damit auch dem phantasiebegabten Kind, das sie einmal war, Raum gibt. Mit dieser Konzeption ihrer Ich-Erzählerin folgt Özdamar gerade nicht dem Modell der autoreflexiven Erinnerungserzählung, bei der ein gegenwärtiges Ich seine Erzählhoheit gegenüber dem früheren Ich kritisch hinterfragt wie auch behauptet und damit auf Distanz zu überwundenen Denk- und Verhaltensweisen geht. Ganz im Gegenteil ermöglicht ihre theatral-dialogische Aufspaltung der Erzählerin in einen erinnernden und einen vergegenwärtigten Anteil eine dichte Annäherung an das eigene Selbst in seinen [9|10]unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Denn Özdamar lässt die Sprache ihrer jeweiligen Texte zu einer Bühne werden, auf der die Erzählerin mit sich als einem jeweils anderen Selbst ins Spiel kommt.

So wechselt die Ich-Erzählerin schon im Folgeroman »Die Brücke vom Goldenen Horn« (1998) verstärkt in einen ironisch-humoresken Erzählgestus, wenn sie sich zunächst in der Rolle einer jungen türkischen Gastarbeiterin inszeniert, die sich im Arbeiter- und Studentenmilieu Berlins orientiert, und dann als Schauspielschülerin, die in Istanbuls Boheme verkehrt. Aspekte ihrer Entwicklung greift sie teilweise in der Erzählsammlung »Der Hof im Spiegel« (2001) wieder auf und gibt über imaginäre Vergegenwärtigungen einer tiefen Trauer über den Tod der Mutter Ausdruck. Im tagebuchförmigen Roman mit dem Titel »Seltsame Sterne starren zur Erde« (2003) schlüpft sie in eine Beobachter-Rolle bei Theaterproben und verfasst ein Arbeitstagebuch, in dem sie über die Bühnenkunst und eigene Inszenierungsideen reflektiert. Der Ich-Erzählerin in Özdamars Werk kommt also einerseits eine identifizierbare, biografische Geschichte zu, die in den Romanen der »Istanbul-Berlin-Trilogie« und flankierend in den Erzählungen Gestalt gewinnt. Andererseits erscheint dieses einzigartige »Ich« in einer Vielheit von Emanationen, denn es ist nichts weniger als ein »Rollen-Ich«, das sich in jedem Text in eine andere Protagonistin hinein entwirft. Erst mit der Erfindung dieser – als Rollen-Ich angelegten – Erzählinstanz bringt sich die Theater- und Filmschauspielerin, Dramatikerin und Regisseurin Özdamar auch als Epikerin hervor.

Zur-Sprache-Kommen

Özdamars Erzählerin entwickelt im Fortgang der Narration ihre »Biographie künstlerischer Auseinandersetzung«. Durch den Verweis auf Werke der Weltliteratur und global zirkulierende Filme wie auch die Erinnerung an Begegnungen mit bedeutenden Theaterschaffenden, Schriftstellern, Malern und Intellektuellen inszeniert sie sich memoirenhaft als Kennerin wie Mitglied von Künstlerszenen in Istanbul und Berlin. Mit einer Vielzahl von Zitaten aus Romanen, Gedichten, Liedern, Theaterstücken und theoretischen Texten, die den Fluss ihres Erzählens unterbrechen wie vorantreiben, gibt sie darüber hinaus Quellen ihrer Inspiration an. Sprachlich stellt sich die Erzählerin jedoch über ein Deutsch aus, das jenseits lektorierender Zensur durch grammatikalische und idiomatische Verwerfungen gekennzeichnet ist. Ihr Erzählen ist durch Stakkatosätze, Ellipsen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen geprägt und integriert türkische Ausdrücke, Redewendungen, Witze und Sprichwörter, die teilweise direkt übersetzt und damit in verfremdeter Form ins Deutsche übertragen sind. Die Narration gibt sich [10|11]damit als mehrsprachiger Arbeitsprozess am Deutschen als interkultureller Literatursprache zu erkennen.

Die Erinnerungserzählung ist als Reihung von Episoden angelegt, die nicht selten mit pikareskem Gestus über den Entwicklungs- und Bewusstseinsstand des früheren Selbst Auskunft geben. Dabei enthält sich die Ich-Erzählerin weitgehend der Kommentierung oder Beurteilung der Lebensgeschichte ihrer Protagonistin und verzichtet auf Einfühlung in deren Seelenlage. Denn vergleichbar dem zeichenhaften Einsatz von Medien und Requisiten auf der Bühne verdeutlichen genaue Beobachtungen der Außenwelt sowie sinnliche Eindrücke und bildliche Vorstellungen inneres Geschehen. Geht es um tiefgreifende Emotionen wie Trauer oder Lust, so kippt lakonisches in märchenhaftes oder surreal-phantastisches Erzählen. Pointenhaft zugespitzte Sentenzen sind hingegen vorherrschend, wenn die Erzählerin mit ihrem früheren Selbst in ironisch-humoresker Weise in Dialog tritt. Häufig sind den szenischen Beschreibungen Sprachspiele eingelagert, um Entwicklungsstufen der Protagonistin zu verdeutlichen.4 Von daher liegt die Sprachkompetenz der Erzählerin nicht in der souveränen Verfügung über die deutsche Hochsprache, sondern im Vermögen, den sprachlichen Migrationsprozess durch kennzeichnende Artikulationsweisen und einen situationsadäquaten Ton zur Darstellung bringen zu können.5

So führt die Erzählerin in Özdamars Werk ein reiches Repertoire an sprachlichen Stilen und Registern ins Spiel, um sich in unterschiedlichen Lebens-Rollen zu performieren. Darüber hinaus aber erzählt sie auch davon, wie sich eben dieses Repertoire durch immer neue Inszenierungen von Sprache aufgebaut, erweitert und erneuert hat. Im »Sterne«-Roman, der sich durch dichte Sprach- und Theaterbeobachtungen auszeichnet, gestaltet die Erzählerin ihr Tagebuchschreiben als ein Zur-Sprache-Kommen. Doch die Gründungsszene des Erzählens geht bei Özdamar wie in einem analytischen Drama auf einen uneinholbaren Anfang vor der Sprache zurück, der doch nur in der Sprache zu haben ist.

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