cover
   Corina Caduff– Szenen des Todes– Essays– Lenos Verlag

E-Book-Ausgabe 2013

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 513 7

Die Autorin

Corina Caduff, geboren 1965 in Chur, ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie promovierte 1991 über Elfriede Jelinek, arbeitete 1992–1994 als Redaktorin bei Schweizer Radio DRS 2 und habilitierte sich später an der Technischen Universität Berlin. 2005–2009 war sie Mitglied des Literaturclubs (Schweizer Fernsehen). Corina Caduff hat mehrere Bücher publiziert, im Lenos Verlag Land in Aufruhr und Kränken und Anerkennen. Sie lebt in Zürich. http://corinacaduff.zhdk.ch.

Inhalt

Im Krematorium

Leichen sehen, Tote zeigen

Der Leichnam

Der anonyme Leichnam in der Kunst

Das Zeigen von toten Geliebten

Der Politleichnam im Mausoleum

Die Fernsehshow Over Mijn Lijk: Sterben im Boulevardformat

Das Raunen des Jenseits

Mit Geistheilung und Kinesiologie gegen den Tinnitus

Kontakte mit dem Jenseits

Reinkarnation en vogue

Die neue Todesverdrängung

Phowa – Sterben üben im Allgäu

Schreiben über Sterben, Tod und Tote

eTod

Digitale Hinterlassenschaft

Go public postum

Virtuelle Friedhöfe

Rating der Toten als Wettbewerb der Trauer

Die Leugnung des toten Körpers

Bestattung

Gemeinschaftsgrab, FriedWald

Trauerfeier heute: Wer spricht?

Tod heute. Nachwort

Im Krematorium

Die Temperatur im Kühlraum beträgt fünf Grad Celsius. Er ist vorausgegangen, ich bin ihm zögerlich gefolgt, die Tür hinter uns bleibt offen. In den nächsten Sekunden sagt er nichts, offensichtlich gibt er mir Zeit, mich etwas einzufinden. Verschlossen stehen sie da, auf Bahren, eng nebenein­ander aufgereiht an den Längsseiten des weissgekachelten Raumes. Unwillkürlich fange ich an sie zu zählen. Vier von ihnen fallen sofort ins Auge, da sie aus hellem, fast weissem Pappelholz verfertigt sind; die anderen vierzehn sind aus unterschiedlichem hellbraunem Holz gemacht.

Ich gehe behutsam ein paar Schritte in der freien Mitte hin und her, bleibe stehen, schaue die Särge auf der einen Seite an, drehe mich leise um, schaue zur anderen Seite hin. Er lässt mir Zeit. Die Kälte macht sich nicht bemerkbar.

»Ich würde Sie gern in zwei, drei Särge hineinschauen lassen«, sagt er dann. Es ist keine Frage, er fragt nicht. In diesem Moment erst weiss ich, dass ich an diesem Tag Leichen sehen werde.

»Mhm«, sage ich nur und nicke dabei.

Die Selbstverständlichkeit, mit der mir Herr Zimmermann diesen Blick anbietet, geht mir unter die Haut. Hätte er mich gefragt, ob er einen Sarg öffnen solle, hätte ich aus Pietät womöglich verneint oder zumindest verhalten reagiert; jetzt aber, mit dieser ungezwungenen Setzung, scheint es kein Problem.

Gezielt, aber ohne Hektik geht er auf einen bestimmten Sarg zu und öffnet den Kopfverschluss, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Toten mit den Füssen zur Wand und mit dem Haupt zur Raummitte hin liegen und dass es etwas unangenehm sei, von dieser Mitte aus, wo wir stehen, in die Särge hineinzuschauen. Dann lädt er mich mit einer zurückhaltenden Geste ein, an den Sarg heranzutreten. Ich senke den Kopf und mache zwei bedächtige Schritte auf besagten Sarg zu, wo mein Blick auf das Gesicht einer alten, etwa fünfundachtzigjährigen Frau fällt. Ihr erhobener Nasenrücken sticht mir als Erstes ins Auge, was mit meiner Perspektive zu tun hat, die tatsächlich etwas unangenehm ist, da ich direkt senkrecht von oben herab in das Gesicht der Toten schaue. Ihre Wangen sind, wie könnte es anders sein, eingefallen. Zugleich bin ich überrascht von der blanken Sauberkeit, die mir entgegenschlägt: Das Innere des Sarges ist mit weisser Polsterung ausgelegt, die links und rechts neben dem Gesicht aufleuchtet. Zudem hat die Tote ein helles Kleid an, dessen Ansatz ich am Hals sehen kann, und nicht zuletzt trägt wohl auch ihr schlohweisses Haar zu meinem bleibenden Eindruck von Hellem, Weissem bei. Alles ist fein säuberlich hergerichtet, alles ist hübsch, schmuck.

Ich atme verhalten, bewege mich kaum, mein Blick ist belegt von Scheu, Scham und Neugier. Ich kenne sie nicht, ich weiss nicht einmal ihren Namen, ihre Hinterbliebenen haben keinerlei Einwilligung zu diesem Blick gegeben, ja sie wissen nicht einmal davon. Mein Gefühl des heimlichen Schauens verhindert, dass ich allzu lange vor dem Sarg verharre; gleichzeitig suche ich bemüht, ja geradezu krampfhaft, in diesem kurzen Augenblick ein prägendes Bild »für später« zu formen. Tatsächlich erinnere ich mich heute eher an diesen Krampf als an das Antlitz selbst. Unterdessen hat Herr Zimmermann den Kopfverschluss zweier weiterer Särge zur Seite geschoben, und erneut lädt er mich ein, einen Blick auch in diese zu werfen. Die beiden Särge stehen nicht nebeneinander, und etwas in seiner Gestik weist für mich darauf hin, dass er sich bereits im Voraus wohl überlegt hat, welche Toten er mir zeigen will. Wiederum handelt es sich um zwei alte Menschen, eine Frau und einen Mann mit einem herrlich grossen, aufgezwirbelten Schnurrbart. Beide schätze ich ebenfalls auf etwa fünfundachtzig Jahre. Und ich frage mich, ob wohl in einem der Särge auch ein junger Mensch liegt.

Die Stille in dem Kühlraum hat etwas Sakrales, Heiliges – es scheint mir unmöglich, hier drin ein lautes Wort zu sprechen, ich ziehe mich ganz auf eine langsame und leise Seinsart zurück.

Scheu, sekundenlang, sehr ernst und ehrfürchtig betrachte ich die zwei toten Gesichter. Mein Pathos ist mir selbst unverkennbar: Ich möchte die Toten ehren, ihnen meine Reverenz erweisen, ja fast neige ich unwillkürlich dazu, mich vor ihnen zu verbeugen. Als wäre es ein kultureller, einstudierter Reflex. Ist das ein Zeichen meines fehlenden Umgangs mit Toten, bin ich zu sehr todesentwöhnt?

Gleichzeitig jedoch drängt sich ein anderer Eindruck auf, der solch hehre Ehrerbietung etwas dämpft, und zwar der von wächserner Haut: Der Teint der Totengesichter hat, so scheint mir, etwas Puppenhaftes an sich, etwas »nicht Echtes«. Dieser Eindruck bindet auch den Schrecken zurück. Ich verspüre jedenfalls, zu meinem eigenen Erstaunen, keinerlei Schauder, kein Zittern, nichts. Sicherlich stellt zwar das Anschauen von mehreren Toten innert zwei, drei Minuten eine seelische Herausforderung dar, aber ich fühle mich nicht eigentlich überwältigt oder überfordert. Im Gegenteil bleibe ich innerlich gar so gelassen, dass ich mich noch im Kühlraum frage, ob ich wohl irgendeine Erschütterung verdränge. Tatsächlich bleibt eine entsprechende Reaktion auch später aus.

Schliesslich verlassen wir den Raum, wieder nehme ich keinen Temperaturunterschied wahr. Kaum sind wir draussen, kommt ein Mann um die Ecke, der einen weiteren Sarg auf einer Bahre ruhig vor sich herschiebt, diese kurz vor uns abstoppt, auf einer Wandtafel vor der Tür einen Namen und eine Nummer einträgt und dann mit dem Sarg im Kühlraum verschwindet. Herr Zimmermann zeigt unterdessen auf einen zweiten Kühlraum, dessen Temperatur lediglich zwei Grad Celsius beträgt; dieser ist Leichen vorbehalten, die aufgrund starken Medikamentengebrauchs noch Darmaktivitäten aufweisen oder bei denen anderweitig verursachte Körperflüssigkeiten austreten. Im Schnitt verbleibt eine Leiche drei bis vier Tage im Kühlraum, bevor sie entweder in die Aufbahrungsräume gebracht wird, wo Angehörige oder Freunde sich am offenen Sarg verabschieden können, oder direkt zur Einäscherung in die Verbrennungsanlage.

Unser Gang durch das Krematorium Nordheim in Zürich folgt den letzten Stationen der Särge. Ein Stockwerk weiter oben werden diese ebenerdig angeliefert und in einen Aufzug gerollt, der sie abwärts fährt. Cyrill Zimmermann, der Leiter des Krematoriums, hat die Führung hier unten vor diesem Aufzug begonnen, nun steuern wir die Aufbahrungsräumlichkeiten an. Auf dem Weg dorthin werde ich über ein bestehendes Katastrophenszenario informiert, welches für das Krematorium entwickelt wurde und anhand jährlicher Übungen aktualisiert wird: Das Nordheim ist bei einer Katastrophe in der Lage, auf einen Schlag 370 Tote aufzunehmen. Für diesen Zweck wurden in den Zivilschutzräumen verschiedene Obduktionsgeräte sowie Büros für die Polizei eingerichtet, die in einem solchen Fall ihre Abklärungen an Ort und Stelle durchführen würde. Bei der Zahl 370 stelle ich mir einen Flugzeugabsturz oder ein Erdbeben vor. Ich frage nicht, welche Pläne es für noch grössere Katastrophen gibt.

Als wir die unterirdischen Flure entlanggehen, steht ein Kasten offen, in dem ein paar menschengrosse Puppen zu sehen sind – »zum Üben, für die Polizei, zum Beispiel das An- und Ausziehen, man kann ja Anfänger nicht an Tote lassen«, sagt Herr Zimmermann. Anschliessend zeigt er mir noch die Infrastruktur eines ebenfalls weissgekachelten Obduktionsraums. Kühl- und Obduktionsräume sind, wie man das wohl auch annehmen würde, unterirdisch angelegt. Dieses »unten« fällt mir auf, als sich Herr Zimmermann wegen eines Anrufs entschuldigt und zum Telefonieren eine Treppe hochgeht, nach oben, so dass ich für kurze Zeit in dem Obduktionsraum mir selbst überlassen bin: Tote liegen unten. Obduktionspersonal fährt in allen möglichen Filmen mit dem Aufzug nach unten, Leichenhallen sind immer unten, Unfallopfer legt man auf den Boden. Es ist schlecht denkbar, dass ein Beerdigungsinstitut seine Räumlichkeiten in der elften Etage eines Hochhauses hat, und genauso unvorstellbar scheint es, dass Tote im Aufzug nach oben gebracht werden. In den Himmel kommen nicht die Leiber. Als comiclesendes Kind fand ich es stets gruselig, dass die Indianer ihre Toten in die Wipfel der Bäume hoben; Jahrzehnte später habe ich – mit ähnlichem Schauder – auf einer Indienreise erfahren, dass die Parsen ihre Toten heute noch auf steinerne Türme legen, um sie Vögeln, insbesondere Geiern und Raben, zum Verzehr preiszugeben, damit die Erde nicht durch das Leichenfleisch verschmutzt werde. Mehrheitlich hingegen scheint das Totenverständnis gravitationsmässig nach unten gezogen: Die tote leibliche Materie gehört nach unten, in die Erde.

Herr Zimmermann kommt zurück, und wir gehen gemeinsam die Treppe hoch ins Parterre, wo es verschiedene Aufbahrungsräume gibt, in die die Toten aus den Kühlräumen gebracht werden, wenn Verwandte oder Bekannte sie noch zu sehen wünschen. Das Krematorium Nordheim datiert aus den 1960er Jahren, der Endausbau wurde 1981 abgeschlossen. Es befindet sich in der Nähe des Bucheggplatzes in idealer Hanglage, die stufenweise überbaut ist; die Verbrennungsanlage wurde bergwärts eingebaut und geht oberirdisch in Grünflächen und angrenzendes Waldgebiet über.1 In der Stadt Zürich gibt es lediglich zehn bis fünfzehn Prozent Erdbestattungen. Nordheim ist mit jährlich etwa 6000 Einäscherungen eines der grössten Krematorien Europas. Es verfügt über zwei Abdankungshallen – die grössere mit über 400 Sitzplätzen wird heute kaum mehr beansprucht – und dreiunddreissig Aufbahrungszellen.

Auf dem Weg zu diesen Zellen kommen wir an einem offenen Warteraum vorbei, in dem drei Personen sitzen, bei denen es sich zweifellos um Trauernde handelt, was an den ernsten Gesichtszügen und der angespannten Körperhaltung abzulesen ist. Ich sehe schon aus einigen Metern Distanz, dass wir auf diese besetzte Ecke zugehen, lasse sofort meinen Stift in der Hosentasche verschwinden und rolle meinen Schreibblock so gut es geht zusammen, im Bemühen, keinen arbeitsmässigen Eindruck zu machen. Als wir die Warteecke passieren, werden meine Schritte noch eine Spur verhaltener, ich neige den Kopf den Trauernden zu und grüsse sie im Vorbeigehen leise und ernst, in der Annahme, dass sie demnächst von einem Krematoriumsmitarbeiter abgeholt und zu einem der Aufbahrungsräume geführt werden.

Um jeden Preis möchte ich den Eindruck vermeiden, dass ich hier gerade interessiert an einer Privatführung durchs Krematorium teilnehme. Vielmehr suche ich der Szene den Anschein zu geben, als wäre ich eine Mitarbeiterin des Hauses oder selbst eine Trauernde, die irgendwohin geleitet wird. Diese intuitive Assimilationsgebärde beelendet mich selbst, ich fühle mich wie eine Hochstaplerin.

Herr Zimmermann und ich schreiten fort durch schmale, kühle Gänge. Nach einer Weile entrolle ich den Schreibblock wieder und nehme den Stift aus der Hosentasche, froh darüber, dass er mich dort nicht weiterhin bei jedem Schritt in den Oberschenkel pikst.

Wir gehen nicht allzu schnell, und ich achte trotz meiner Gummisohlen darauf, nicht laut aufzutreten. Das Krematorium ist ein Raum, in dem man sich benimmt wie auf Friedhöfen, in Kirchen, Krankenhäusern, Museen und manchen Bankenfoyers: Man unterlässt eilige Schritte, man bewegt sich langsamer als anderswo, die Stimme neigt sich dem Flüsterton zu, oder man verstummt gar ganz. Solche Räume entziehen einem körperliche Energie und wandeln sie in mentale Energie um, sie vergeistigen einen gleichsam an Ort und Stelle.

Schliesslich gelangen wir in den Aufbahrungstrakt, wo die einzelnen Zellen, schematisch angeordnet, in Fünferreihen nebeneinanderliegen. Steht draussen neben der Tür ein senkrecht aufgestellter Sargdeckel, so ist das ein Zeichen dafür, dass sich in der Zelle ein aufgebahrter Leichnam befindet. Herr Zimmermann orientiert sich an den Namenszetteln, die auf den Sargdeckeln angebracht sind, überlegt einen Moment, nimmt Augenkontakt mit mir auf und klopft dann an die Tür eines bestimmten Raumes. Als keine Antwort erfolgt, geht er hinein und lädt mich erneut mit einer freundlichen Geste dazu ein, näher zu treten.

Diesmal nun ist der Sarg ganz geöffnet, die aufgebahrte verstorbene Person liegt mit dem Gesicht zur Eingangstür, so dass ich von vorn auf sie zutrete. Ich weiss noch, dass in dem Sarg erneut eine alte Frau mit weissem Haar und gefalteten Händen lag, ich weiss noch, dass auch sie ein helles Kleid trug und dass ich erstaunt darüber war, wie klein und schmal der Körper war, aber ich kann mich einfach nicht mehr erinnern, wie sie aussah. Die Zelle hatte kein Fenster, alle dreiunddreissig Zellen haben keine Fenster; in jeder aber stehen eine Grünpflanze und an der Wand ein paar Stühle.

Wir verlassen den Raum und betreten eine andere Aufbahrungszelle, und wiederum stehe ich lange Sekunden scheu und ernst am Sarg einer fremden alten Frau. Sie hat, das fällt mir als Erstes auf, schwarzgefärbtes Haar, es glänzt so schwarz, als wäre es frisch koloriert. Der gelblichwächserne Teint der Haut nimmt sich gemessen an diesem Schwarz hart aus, zudem ist das Gesicht auffallend breit und fleischig, auch die Nasenflügel sind flach und weit, es scheint, als wäre das ganze Gesicht in die Breite gezogen, die welligen schwarzen Haare berühren den Sargrand.

»Geht es?«, fragt Herr Zimmermann teilnahmsvoll. Er steht neben dem Sarg, ich bin an dessen Fussende stehen geblieben.

»Ja«, sage ich und lächle ihm zu, »es geht gut, danke.«

»Ich würde Ihnen dann gleich nebenan noch jemanden zeigen.«

»Gerne.«

Wieder geht er voran, und ich suche mich von der Toten zu verabschieden, im Wissen darum, wie falsch dieses Wort unter den gegebenen Umständen ist. Mit Sicherheit bin ich eine der letzten Personen, die sie noch sehen. Vielleicht wird sie noch von Angehörigen besucht werden, vielleicht waren diese aber auch schon bei ihr.

»Wenn jemand vom Kühlraum in den Aufbahrungsraum gebracht worden ist, bleibt er hier bis zur Verbrennung«, sagt Herr Zimmermann im Hinausgehen, »wir wollen die Totenruhe nicht unnötig stören, wir vermeiden es, die Särge dauernd herumzukarren.«

Er schliesst ruhig die Tür hinter mir und wendet sich dann der Zelle nebenan zu, wieder klopft er zuerst an, und erneut handelt es sich um eine alte Frau, weisshaarig und viel schmaler im Gesicht als die vorige. Diesmal beugt sich der Leiter des Krematoriums über den Sarg, er murmelt etwas von einer »verrutschten Halsstütze« und legt dann gleich selbst Hand an: Vorsichtig zupft er die Stütze etwas zurecht. Das Kissen ist hier deutlich höher ausgelegt als in den anderen Särgen, »falls Flüssigkeit im Nacken ausläuft«. Offenbar hat die Tote dort eine entsprechende Wunde. Ich verharre vor ihr, wobei es sich mit dem Abstand vom Sarg genauso verhält wie mit der Blickdauer: Der Abstand darf weder zu gross noch der Blick zu flüchtig sein, um kein Desinteresse zu manifestieren; zugleich darf der Abstand weder zu klein noch der Blick zu ausgiebig sein, damit nicht der Eindruck von Schamlosigkeit oder ungebührender Neugier entsteht. Zweifellos sind solch räumliche und zeitliche Verharrungsmomente selbst auferlegt; ich hätte ruhig noch näher an den Sarg herangehen oder durchaus auch länger bleiben können. Aber ich habe eine Art innere Vorstellung dessen, was »sich gehört«, ich ziehe von selbst zeitliche und räumliche Grenzen.

So nicke ich Herrn Zimmermann nach einer knappen Minute zu, um zu signalisieren, dass ich nun so weit bin, noch einmal schaue ich die Tote kurz an, sie gleichsam grüssend, dann wende ich mich von ihr ab und verlasse behutsamen Schrittes den Raum. Er schliesst hinter mir die Tür und geht sich die Hände waschen. Damit ist die Besichtigung des Aufbahrungstraktes beendet, und wir steuern nun die letzte Station an, den Verbrennungsraum.

Innerhalb weniger Minuten also habe ich drei weitere Leichname gesehen. Ihr Anblick ist in nichts vergleichbar mit der Erfahrung, die man am Sarg eines geliebten verstorbenen Menschen macht. Ich bin nicht in Trauer, ich habe mit keinem Abschied zu kämpfen, es gibt keinerlei Geschichte zwischen den Leichnamen und mir. Ich vermag in ihnen nicht die Menschen zu sehen, die sie gewesen sind.

Seit diesem Besuch im Nordheim bin ich unsicher, ob ich – später, später – Freunde oder Verwandte je sehen möchte, wenn sie gestorben sind. Sämtliche Tote, die ich an diesem Tage gesehen habe, wurden, wie ich bei einer späteren Nachfrage erfahre, nicht einbalsamiert. »Das ist hier nicht üblich.« In den USA etwa, wo die Aufbahrung und der Abschied am offenen Sarg eine lange Tradition haben, ist die ästhetische und hygienische Präparation von Leichnamen technisch weit vorangeschritten, wie zum Beispiel die Fernsehserie Six Feet Under (2001–2005) vor Augen geführt hat: Dort werden Tote auf hohem Standard mittels Konservierungsstoffen herausgeputzt, während in Europa traditionell eine grössere Skepsis gegenüber Einbalsamierung und offener Aufbahrung herrscht.

Die letzte Fahrt der Särge im Krematorium Nordheim endet auf den Schienen vor einem der sieben hellgrünen Öfen, die in der Verbrennungsanlage in Reih und Glied nebenein­anderstehen. Der Boden ist hier mit rotem Klinker ausgelegt. Als wir die Räumlichkeiten betreten, steht bei einem Ofen ein geschlossener Sarg auf einer automatischen Rollbahre für die Einfahrt bereit. Ich kann zuschauen, wie ein Mitarbeiter auf einen Knopf drückt, worauf sich die Tür des Ofens nach oben schiebt: Der Sarg wird automatisch in den Ofen gefahren, dort abgelegt, und die Tür schiebt sich wieder nach unten. Die Temperatur in den Öfen beträgt an die 650 Grad Celsius.

Etwa zehn Minuten später habe ich Gelegenheit, noch einmal eine solche Einfahrt bei einem anderen Ofen zu beobachten. »Wenn Sie etwas in die Knie gehen, können Sie im letzten Moment, bevor die Tür wieder ganz unten ist, sehen, wie der Sarg entflammt«, sagt Herr Zimmermann. Holz geht bei 650 Grad Celsius von selbst in Flammen auf, die Särge werden also nicht eigens angezündet. Ich folge dem Hinweis, und tatsächlich ist in diesem Sekundenbruchteil die Selbstentflammung zu sehen: Wie von unsichtbarer Hand berührt, wird der Sarg rundherum schlagartig von hellorangenen Flammen erfasst.

Dieser Moment hatte für mich nichts Schreckhaftes, im Gegenteil sah es gar schön aus, die Selbstentzündung machte mir einen leichten, um nicht zu sagen natürlichen Eindruck.

Ungefähr zehn Minuten nachdem der Sarg entflammt ist, ereignet sich der sogenannte Sargbruch, das heisst, der Sarg fällt auseinander, woraufhin der Leichnam direkt den Flammen preisgegeben ist. Sämtliche Verbrennungen werden mittels einer komplexen Filteranlage elektronisch überwacht, die Filter können je nach Brennstatus reguliert werden; zudem hat jeder Ofen ein Guckloch, ich darf in verschiedene hineinschauen, und überall präsentiert sich mir das gleiche Bild: Flammen, nichts als Flammen, ein Leichnam ist nirgends zu erkennen.

Eine Verbrennung dauert jeweils etwa eine Stunde, bisweilen auch anderthalb. Bekanntlich nimmt die Einäscherung chemotherapierter Körper mehr Zeit in Anspruch; Herr Zimmermann erwähnt, dass Männer generell schlechter brennen als Frauen, was mit dem unterschiedlichen Körperfettanteil zu tun habe. »Am besten«, sagt er, »brennen ältere Menschen, aber nicht ganz alte.« – Angehörige können während der Einäscherung in den Räumlichkeiten der Verbrennungsanlage selbst zugegen sein; bei Hindus etwa kommt es vor, dass der erstgeborene Sohn den Knopf drückt, der die Einfahrt des Sarges in den Ofen auslöst, so wie der erstgeborene Sohn an traditionellen hinduistischen Verbrennungsstätten das Feuer entzündet.

In einem Ofen finden pro Tag etwa fünf Verbrennungen statt, die Auslastung variiert, insgesamt kommt es täglich zu circa zwanzig bis dreissig Einäscherungen. Das Nordheim verfügt über sogenannte Etagenöfen, die je zwei übereinanderliegende Brennkammern haben, so dass während der Ausmineralisierung der Gebeine im Unterofen bereits eine nächste Hauptverbrennung im Oberofen erfolgen kann. – Die Logistik in diesem Krematorium ist zweifellos eine Herausforderung: das richtige Schild an den richtigen Sargdeckel, der richtige Leichnam in den richtigen Aufbahrungsraum, der richtige Sarg in den richtigen Ofen, die richtige Asche in die richtige Urne. Herr Zimmermann bleibt auch bei diesem Thema ernst und besonnen: »Für uns ist klar: Es darf keine Verwechslungen geben«, und er spricht es zwar nicht direkt aus, aber sein entschiedener tiefer Ton macht deutlich, dass diese Gewährleistung über den institutionellen Auftrag hinaus eine Ehrensache ist.

In der Verbrennungsanlage gibt es eine Treppe, die eine Etage nach unten führt. Noch oben stehend, lehne ich mich über das Geländer und schaue hinunter, wo ich einen Mitarbeiter erblicke, der einen Mundschutz trägt und damit beschäftigt ist, die erkaltete Asche eines verbrannten Leichnams zu verlesen: Er fährt mit einem Magneten über sie hinweg, an den sich Sargnägel und mögliche andere Metallteile, wie etwa künstliche Gelenke oder Stents, heften. Danach werden die Überreste der Verbrennung weiter zermahlen, und schliesslich kommen sie in die Urne.

Als wir unten sind, kann ich in verschiedene Urnen hin­einblicken, die noch nicht verschlossen worden sind. Tatsächlich habe ich, ausser in Filmen, noch nie eine geöffnete Urne gesehen; ich hatte mir immer ganz feine Asche vorgestellt und bin nun erstaunt über das eher grobkörnige Granulat, in dem viele einzelne Knochenstückchen gut erkennbar sind. »Gerade wenn die Überreste zum Verstreuen in den Bergen oder über dem Wasser gedacht sind, ist das Granulat an und für sich viel geeigneter, weil einem die festeren Bestandteile bei Gegenwind nicht ins Gesicht geweht werden«, erklärt Herr Zimmermann. Im Gegensatz etwa zu Deutschland und anderen Ländern gibt es in der Schweiz keinen Friedhofszwang, die Asche kann hierzulande also nach Belieben auf einem Berg, in einem Fluss oder Wald verstreut oder auch privat in Haus oder Garten aufbewahrt werden. Die Mehrheit aller Nordheim-Urnen wird im Urnenhain des Krematoriums, auf dem unmittelbar angrenzenden Friedhof Nordheim oder auf Friedhöfen umliegender Gemeinden bestattet.

Wir verlassen die Verbrennungsanlage und durchqueren anschliessend den Postraum, in dem diejenigen Urnen verpackt werden, die für den Versand ins Ausland vorgesehen sind; zum Schluss besichtigen wir noch die beiden architektonisch beeindruckenden Abdankungshallen aus Muschelkalk. Danach begeben wir uns wieder ins Büro von Herrn Zimmermann, wo er mich bei meinem Eintreffen überaus freundlich empfangen und mir gleich einen Kaffee angeboten hatte. Hier steht ein Gestell mit den verschiedenen Urnenmodellen, die das Krematorium anbietet: Neben der geläufigen rötlich braunen Tonurne gibt es auch verschiedene Modelle in Weiss, Hellblau, Grün und Gelb sowie ein paar sehr auffällige Kreationen, wie etwa eine grosse, rechteckige schwarze Urne oder ein exaltiert anmutendes Modell aus Aluminium. Als ich meine Sachen zusammenpacke, spreche ich die kleine Urnenausstellung an und erfahre, dass das Krematorium oft neue Modellangebote von Desi­gnern erhält, die jedoch grösstenteils zurückgewiesen werden müssen, weil die Kundschaft an speziellem Urnendesign kaum interessiert ist und sich nach wie vor zu fast neunzig Prozent für den Klassiker aus gebranntem Ton entscheidet.

Bei der Verabschiedung übergebe ich zum Dank für die Führung ein Set mit verschiedenen Speiseölen, das ich aus meinem kurz zuvor in Nordzypern verbrachten Urlaub mitgebracht habe.

Es ist dreizehn Uhr, als ich am 26. Mai 2011, einem ausserordentlich warmen Tag in Zürich, das Krematorium Nordheim verlasse.

Wir erfahren den Tod ausschliesslich als Tod der anderen. Wo wir Beileid bekunden, an Beerdigungen gehen oder uns gar selbst um eine solche kümmern müssen, da sind wir beteiligt, da setzen wir uns damit auseinander, dass wir die verstorbene Person nie wieder sehen und sprechen können. Ein Krematorium betritt man in der Regel nur, wenn man in einen konkreten Todesfall involviert ist. Im Nordheim hingegen habe ich eine Begegnung mit Toten ohne Schmerz gehabt, ganz einfach deswegen, weil ich sie alle nicht kannte. Ich habe sie angesehen, ohne mir gleichzeitig vorzustellen, dass sie nun vielleicht woanders sind oder dass sie mich dabei von oben betrachten. Weil ich sie nicht kannte, habe ich sie weder erinnert noch in einem Jenseits imaginiert, ich habe weder an ihr vergangenes noch an ein mögliches jenseitiges Leben gedacht. Für mich gab es nur ihren Tod, nicht aber ihr Leben. In keiner Weise war ich dabei auf eine transzendente Erfahrung ausgerichtet.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich sechs Leichen an einem Tag gesehen habe. – Durfte ich das? Tote sehen, mit denen ich nichts zu tun habe. Fremde Tote sehen. Hätten die Hinterbliebenen mir die Erlaubnis geben müssen? Gehören ihnen die Toten?

Noch bevor wir zum Rundgang durchs Krematorium aufgebrochen sind, habe ich gefragt, ob ich von den Räumlichkeiten ein paar Fotos machen dürfe, natürlich nicht ohne zu versichern, dass diese lediglich für den privaten Gebrauch bestimmt seien. – »Selbstverständlich, kein Problem.« So habe ich die Utensilien im Obduktionsraum foto­grafiert, die Übungspuppen für die Polizeibeamten, die Sargdeckel, die neben den Türen der Aufbahrungszimmer angelehnt sind, die Verbrennungsanlage. Zweimal aber habe ich gezögert abzudrücken.

Das erste Mal hatte ich Bedenken im Kühlraum. Zuvor hatte ich Flure und Treppen geknipst, nun war ich einen Moment unsicher, ob ich die geschlossenen Särge fotografieren durfte, noch war der Satz »Ich würde Sie gern in zwei, drei Särge hineinschauen lassen« nicht gefallen, noch war kein Sarg geöffnet. Ich suchte die Unsicherheit zu überspielen, indem ich rasch, scheinbar beiläufig zwei-, dreimal abdrückte, viel zu schnell hintereinander, ohne richtig durch die Linse zu schauen. Natürlich sind die Särge auf den Fotos entsprechend verwackelt. Als dann der Satz im Raum stand, liess ich die kleine Digitalkamera unversehens in meiner Hosentasche verschwinden. Nur einmal in meinem Leben hatte ich zuvor einen Leichnam fotografiert, einen mir fremden alten Mann, bei einer Totenverbrennung in Kathmandu, aus der Distanz, vom anderen Flussufer aus (vgl. »Meine Totenfotografie in Kathmandu«, S. 61ff.). Hier aber war ich den fremden Toten viel zu nah, allein schon das Ansehen der Gesichter erschien mir als moralische Schwellenüberschreitung.

Das zweite Mal zögerte ich abzudrücken, als wir am Schluss der Führung in der Verbrennungsanlage waren. Hier fotografierte ich gerade die Öfen und Filteranlagen, als Herr Zimmermann eine noch offene Urne brachte, in die soeben die Überreste eines Leichnams gefüllt worden waren; er hielt mir die Urne schräg hin, so dass ich hineinsehen konnte, ich hatte die gezückte Kamera noch in der Hand, und es schien mir, als würde er mir die Urne zum Fotografieren hinhalten, ein diffuser Moment, ich nehme die Kamera – erneut schnell, flüchtig, als wäre es nichts – und drücke ab. Auf dem Bild ist seine Hand am Rand der Urne zu sehen, der einzige menschliche Körperteil auf allen Fotos, die ich an diesem Tag gemacht habe. Sie erinnert mich noch heute an mein Zögern, an das Moment der Un­sicherheit, an meine Überhastung.

Das Krematorium gehört zu den sogenannten Heterotopien, ein Begriff, der auf Michel Foucault zurückgeht und »andere Orte« bezeichnet, die institutionell und oft auch räumlich abgegrenzte Aussenorte einer Gesellschaft darstellen, wie etwa Kasernen, Friedhöfe, Altenheime oder psychiatrische Kliniken. Jede Gesellschaft erzeugt solche institutionellen Heterotopien, an denen die allgemeingültige gesellschaftliche Vorstellung von Raum und Zeit unterbrochen wird, es handelt sich um »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager (…) gewissermassen Orte ausserhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (Foucault).2

Heterotopien sind also reale Orte, an denen etwas vollzogen und ritualisiert wird, das der allgemein erfahrenen gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegensteht. Sie sind immer an bestimmte Gesetze von Öffnungen und Schliessungen gebunden, ihr Betreten und Verlassen ist an entsprechende Überprüfungen geknüpft, man kann dort nicht jederzeit beliebig ein und aus gehen.

Das Nordheim liegt am Rand von Zürich, wo das Gebiet in angrenzendes Waldareal übergeht, so wie Krematorien in urbanen Siedlungen stets an der Peripherie gebaut werden, was natürlich nicht verhindert, dass sie bei anschliessender Expansion der Städte allenfalls wieder näher ans Zentrum rücken. Im Krematorium werden Leichname verbrannt, zu Asche gemacht, transformiert, so dass diese Verbrennungsstätten zweifellos als »Gegenplazierungen oder Widerlager« zur gesellschaftlichen Realität bezeichnet werden können.

Wie oft ist doch in einem negativen Sinne die Rede von der Industrialisierung und Rationalisierung des Bestattungswesens, das unsere Toten ausser Sichtweite bringe, sie den Apparaten übergebe und anhand einer unpersönlich geführten Logistik rein maschinell verwalte. Gewiss ist das alles zutreffend, und dennoch ist mein Eindruck nach meinem Nordheim-Besuch ein anderer, was wohl hauptsächlich damit zu tun hat, dass ich an diesem Tag zur Anschauung leibhaftiger Toter gekommen bin. Für Heterotopien gilt im Allgemeinen der Grundsatz: Je abgeschlossener und starrer sie gestaltet sind, umso starrer ist auch das sie umgebende Gesellschaftsgefüge. Das Nordheim ist mir gerade nicht als Betrieb erschienen, der die Leichname von der Gesellschaft abschottet, sondern vielmehr als eine offene Institution, die transparent auftritt, auf Wünsche und Anregungen von aussen neugierig eingeht und sich keineswegs abschliesst. Mir lag daran, einmal eine Begehung von Krematoriumsräumlichkeiten machen zu können, ohne in akuter Trauer zu sein, eine entsprechende Anfrage an das Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich war rasch und zuvorkommend beantwortet worden. Das Krematorium Nordheim bietet auch Gruppenführungen an, die vor allem von Schulklassen beansprucht werden, die sich mit dem Thema Tod beschäftigen, sowie von Personen, die aus beruflichen Gründen mit Leichnamen konfrontiert sind, wie etwa Beschäftigten im Pflegebereich oder Polizeipersonal. Überdies gibt es ein grundlegendes Bemühen der Mitarbeitenden, alle Spezialwünsche von Familienangehörigen zu erfüllen, auch wenn, wie Herr Zimmermann anfügte, solche Wünsche nur selten geäussert werden: »Im Allgemeinen sind Hinterbliebene froh, wenn man ihnen sagt, was zu tun ist.«

Die Verbrennung toter Körper hat für mich durch die Begehung des Krematoriums an Schrecken verloren. Meine Erinnerung an die begangenen Räumlichkeiten ist stark, mein Bild von Tod und Sterben ist durch diesen Krematoriumsbesuch nüchterner geworden, weniger pathetisch, normaler und dauerhaft.

Anmerkungen

1 Siehe Martin Schlappner: Das Krematorium Nordheim in Zürich (Architekt: A. H. Steiner). Zürich 1981.

2 Michel Foucault: Andere Räume (1967). In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S. 39.

Leichen sehen, Tote zeigen

Der Leichnam

Einzig im Leichnam ist der Tod materiell zugegen, einzig im Leichnam konkretisiert sich der Tod.

Der Leichnam ist da, man kann ihn sehen, berühren, streicheln und auch küssen, man kann ihn ankleiden, herrichten, aufbahren, zeigen. Der lebendige Mensch aber ist nicht mehr da, er artikuliert sich nicht mehr, die Entäusserung hat aufgehört.

Wollen wir über den Tod sprechen oder ihn bildlich zeigen, so stossen wir an die Grenzen der Repräsentation. Wir behelfen uns visuell mit Symbolen wie Totenschädel oder Kreuzen, wir sprechen vom ewigen Schlaf, von Reisen ins Jenseits, von Engeln, ohne genau zu wissen, wofür solch meta­phorische Reden eigentlich stehen, wir erwägen und verwerfen, wir bewegen uns im Vagen. Die einzige Sicherheit gibt uns der Leichnam: Er bezeugt den Tod, jedoch ohne zu offenbaren, was dieser ist; er bezeugt, so der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, die Verwandlung vom Menschsein ins Totsein: »Wir können diese Verwandlung nicht erklären, auch nicht auf uns selbst applizieren; wir können sie nicht verstehen. Dennoch erfahren wir ihre unbedingte Faktizität. Alles, was sich vom Tod in Erfahrung bringen lässt, erfahren wir in der Konfrontation mit den Leichen. (…) Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie.«1

Wir selbst können, solange wir uns auf Erden austauschen, den Tod nicht mit körperlich-lebendigen Sinnen erfahren, es gibt kein körperliches Wissen vom Tod, wir erleben ihn einzig im Leichnam des anderen. Dieser ist für uns Hinterbliebene materiell die äusserste Repräsentation des Todes – eine temporäre Repräsentation, die dem Verfall preisgegeben ist.

Leichname werden heutzutage schnell und reibungslos ausser Sichtweite gebracht. In der Schweiz sterben Jahr für Jahr etwa 60 000Menschen, in Deutschland sind es rund 850 000. Über jeden Einzelnen dieser Toten wird gesprochen, man betrauert jede einzelne tote Person, man bestattet sie, man kümmert sich um ihren Leichnam – zwar industrialisiert, arbeitsteilig, entfremdet, aber man kümmert sich.

Der Zeitfaktor ist dabei wesentlich, denn ein Leichnam ist nicht einfach ein Leichnam, er ist nicht stabil, sondern ein Leichnam im Prozess. Er verändert sich, er ist gleichsam Gefangener seiner bevorstehenden Verwesung. Dieser kann man zuvorkommen, etwa durch schnelle Einäscherung, oder aber man kann sie durch Kühlung und andere Konservierungspraktiken künstlich aufhalten, etwa wenn die Vorbereitung einer Beerdigung längere Zeit in Anspruch nimmt oder wenn der Leichnam zu Forschungszwecken verwendet wird. In allen Gesellschaften gibt es Vorschriften für entsprechende zeitliche Abläufe.

Mit Leichnamen sind unterschiedliche Personen konfrontiert: Angehörige, die sich am Totenbett oder später am Sarg verabschieden, Krankenhauspersonal, das Verstorbene wäscht, Personal von Bestattungsunternehmen, das sie einkleidet und transportiert, Leichenvisagisten, die die Gesichter herrichten, Pfarrer, die noch Totenbesuche machen – sie alle sind mit dem Leichnam temporär, in bestimmten Augenblicken, in verschiedenen Stadien und an verschiedenen Orten befasst.

Art and Obscenity2– Ausscheidungen, Fäkalien, Gestank, Verfall. Abstossung.