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Band 207

 

Einsatz auf Ertrus

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Terrania, 14. Mai 2089 – Nur ein Spiel

2. Schatten

3. Terrania, 15. Mai 2089 – So sieht man sich wieder

4. Terrania, 16. Mai 2089 – Das Ziel bekommt Konturen

5. NATHALIE, 16. Mai 2089

6. Luna, 15. Mai 2089

7. CREST II, 15. Mai 2089

8. Terrania, 16. Mai 2089

9. 16. Mai 2089 – Ankunft auf Ertrus

10. Willkommen, ihr Leichtgewichte

11. Die Jagd beginnt

12. Was man tun soll, aber nicht will

13. Recherchen

14. Lasst uns Bären hüten

15. Ein Schritt zu weit

16. Das Schiff

17. Zugriff

18. Abschied

19. Start

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.

Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Doch auf die terranischen Pioniere warten ungeahnte Herausforderungen und Gefahren.

Im Jahr 2089 erweist sich der Plophoser Iratio Hondro als unheimliche Bedrohung. Es gelingt ihm, das Capellasystem unter seine Kontrolle zu bringen. Aber zunehmend wird klar, dass die wahre Bedrohung für die Menschheit das geheimnisvolle Dunkelleben ist – dieses wiederum scheint Hondro seine Macht zu verleihen.

Perry Rhodan muss mehr über dieses Phänomen herausfinden. Dazu muss er auf die andere Seite der Milchstraße, und für diese Reise benötigt man eine große Menge Hyperkristalle. Um sie zu beschaffen, gehen zwei ungewöhnliche Geschwisterpaare in einen risikoreichen EINSATZ AUF ERTRUS ...

1.

Terrania, 14. Mai 2089

Nur ein Spiel

 

»Setzt du jetzt, oder nicht?«

Die scharfe Stimme riss Ronald Tekener aus seinen Gedanken. Kurz musterte er sein Gegenüber. Ansat Oom war bekannt dafür, niemals zu passen – genau wie Tekener. Die anderen beiden Mitspieler hingegen hatten aufgegeben.

Auf dem Tisch lagen eine Menge Chips. Tekener musste diese Runde gewinnen, andernfalls wäre es schlecht um ihn bestellt.

»Letzte Chance!«, warnte Oom. Er war ein stämmiger Asiate mit dunklen Augen und Spitzbart. Ein professioneller Spieler, der sein Leben damit finanzierte, dass er sehr viel häufiger gewann als verlor. Wobei er stets sorgsam darauf achtete, kein Hausverbot zu riskieren. Er durfte nur an ausgewählte Tische mit erfahrenen Kontrahenten gehen und keinesfalls blutige Laien und Touristen ausnehmen.

Tekener ließ sich nicht drängen, setzte eher darauf, dass seine vermeintliche Unentschlossenheit und sein Gesicht den Gegner irritierten. Früher hatte er seine Entstellung meist mit Sonnenbrille und Kapuze kaschiert, aber inzwischen, mit 51 Jahren und nach einem bewegten Leben, verzichtete er darauf. Die anderen mussten seinen Anblick eben aushalten; was auch die Casinobetreiber so sahen. An den Spieltischen galt fast überall ein Verhüllungsverbot, sogar dunkle Brillen waren nur in Ausnahmefällen erlaubt.

»Du bist mit deinen Gedanken permanent woanders«, beschwerte sich Oom. »Sobald ich diese Runde gewonnen habe, bist du raus. Dann suchst du dir einen anderen Tisch. Ich verschwende meine Zeit nicht an Tagträumer.«

Tekener war längst hellwach, behielt jedoch seinen schläfrigen Blick bei. Dann setzte er gezielt sein besonderes Lächeln auf. Er wusste, dass selbst Oom davon verunsichert sein würde, schließlich hatte Tekener es sorgfältig entwickelt: das Lächeln eines Spielers, der etwas in der Hinterhand hat. Der weiß, dass er gewinnen wird.

Oom tippte mit dem Finger auf den Pot. »Ich warte!« Er gab sich betont unbeeindruckt, auch das gehörte zum Spiel: das Pokerface.

»Nur die Ruhe, mein Freund, so ein Schritt will wohlüberlegt sein.« Tekener betrachtete die vier blauen Chips, die er noch besaß. Höher waren nur schwarz, silber und gold. Aber die hatte so gut wie niemand in diesem mittelklassigen Etablissement. Drei der blauen musste er einsetzen. Er packte alle vier und warf sie in die Mitte. Dann klopfte er auf die Tischplatte. »Ich will sehen.«

Oom konnte nun entweder kneifen. Oder er ging mit und deckte sein Blatt auf.

Natürlich ging er mit. Ein Chip, was war das schon?

»Ein elegantes Sträßchen«, verkündete er mit siegessicherem Grinsen, das allerdings leicht gefror, als er sah, dass Tekeners Lächeln sich eher noch vertiefte.

»So wie ich«, erwiderte Tekener und deckte ebenfalls auf. Seine nur aus zwei Farben kombinierte Hügelstraße hatte die gleiche Punktzahl.

»Patt!«, rief die positronische Spielaufsicht, ein stilisierter Roboterkopf auf einem beweglichen Teleskopstiel, genannt »Tischbutler«. Es gab auch Tische mit Menschen als Croupiers, aber die waren eher für Touristen und Spaßspieler gedacht.

Tekener nahm zwei Würfel, die der Geberautomat ausspuckte, und wog sie in Händen. Oom griff sich mit reglosem Gesicht das nächste Würfelpaar. War er überrascht worden von dem guten Blatt des Gegners?

Oom konnte die ganze Sache sofort zu Fall bringen, indem er eine neue Herausforderung aussprach. Dann müsste Tekener passen, weil er keine Chips mehr besaß, und er hätte alles verloren. Allerdings würde dann auch Oom nicht von dem Pot profitieren, denn jemand musste seine Herausforderung annehmen. Geschah das nicht, fiel alles an die Bank.

Die beiden anderen Mitspieler am Tisch sahen nicht so aus, als wollten sie sich auf ein weiteres Risiko einlassen. Sie lehnten sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück und zeigten verhaltene Neugier.

Oom blickte sich um, ob er eventuell irgendwo anders einen Spieler fand, der die Herausforderung annahm.

»Zehn Sekunden«, mahnte der Tischbutler.

»Schon gut!«, sagte Oom. Es war niemand in Sicht, der einstieg. »Ich nehme an. Countdown ab fünf, bei eins gilt der Wurf.«

Tekener beugte sich vor und passte argwöhnisch auf, dass Oom nicht heimlich die Würfel austauschte. Seine eigene Hand umschloss seine 14-seitigen Kuboktaeder und schüttelte sie leicht. Wer höher würfelte, hatte gewonnen.

Der Ausgabeautomat hatte währenddessen das Wurfrechteck aufgebaut, das exakt gleich weit von den Spielern entfernt lag und über zwei Bahnen verfügte. In die jeweils rechte Bahn musste geworfen werden.

»... drei ... zwei ... eins!«

Sie warfen gleichzeitig und mussten sofort die Hände zurückziehen.

»Stopp!«, rief der Roboter und legte einen undurchsichtigen Sperrschirm über das Rechteck. Dann verkündete er: »Spieler eins«, das war Oom, »Sechsundzwanzig!«

Recht gut, aber zu schlagen.

Oom sah man die Nervosität an. Nun entschied allein das Glück, er hatte es nicht mehr in der Hand. Kein Grund mehr, sich zu verstellen.

Tekeners Miene hingegen verlor jeglichen Ausdruck, eine Übung, die er schon lange perfektioniert hatte. Das ging noch über ein Pokerface hinaus, mit wiederum leicht schläfrigem Blick, als wäre er in Meditation versunken. Gerade bei solchen Entscheidungen durfte er niemals Emotionen zeigen.

Eiskalter Hund, nannte man ihn deshalb schon seit einiger Zeit. Das war wichtig, wenn er gewinnen wollte. Es war von Vorteil, wenn die Mitspieler Angst vor ihm hatten und dadurch verfrüht aufgaben, obwohl seine Hand schlecht war.

In seinem Innern hingegen sah es ganz anders aus.

Sag schon. Sagschonsagschonsagschon!

»Spieler zwei ...«

Na los!

»Vierzehn!«

Aaaahhhhh ...

»Ja!«, rief Oom triumphierend und streckte schon die Hände nach dem Pot aus, da sagte der Roboter noch etwas.

»Paar!«

Tekener brauchte eine Schrecksekunde, um zu begreifen. Dann ballte er die Hand zur Faust und schwang sie übermütig. »Ja!«, wiederholte er Ooms Triumphschrei.

Oom sprang auf. »Augenblick, das ist unmöglich!«, protestierte er. »Das glaube ich nicht!«

Der Sperrschirm wurde transparent und zeigte die vier Würfel. Da offenbarten sie sich, die zwei feinen, schönen, schicken 7. Welch eine besondere Zahl: Schicksal. Veränderung.

Vielleicht endlich zum Besseren? War das ein gutes Zeichen?

Danke.

Oom schäumte vor Zorn, deshalb rief der Tischbutler Hilfe herbei: zwei muskulöse, große Menschen. Für gewöhnlich wurden nicht sofort Roboter geschickt. Es hatte sich herausgestellt, dass die meisten Konflikte besser beigelegt werden konnten, wenn Menschen zur Ordnung mahnten.

»Betrüger! Du bist ein Betrüger!«, schrie der Asiate.

Die beiden Ordner forderten ihn höflich, aber nachdrücklich auf, den Tisch zu verlassen und sich in der Lounge einen Drink zu gönnen, um sich zu beruhigen.

»Sir, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass mit meiner Programmierung alles in Ordnung ist«, sagte der Tischbutler. Tekener fand, dass er indigniert klang. »Es war Ihrem Gegenspieler unmöglich, die Würfel zu manipulieren. Es steht Ihnen natürlich frei, eine neutrale Überprüfung auf Ihre Kosten zu veranlassen.«

Die beiden Sicherheitsleute nahmen Ansat Oom in die Mitte, einer legte seinen Arm auf Ooms Rücken und schubste ihn ganz leicht, bevor er die Hand wieder zurückzog. »Wenn Sie uns bitte folgen wollen, Sir«, sagte der andere ausgesucht höflich. »Eine kurze Pause wird Ihnen sehr guttun.«

An den übrigen Tischen hatte sich die Aufmerksamkeit schon wieder dem eigenen Spiel zugewandt; solche Vorfälle gab es jede Stunde. Im Casino wurden Schicksale entschieden, zwischen Reichtum und Armut, und nicht jeder wollte sich mit dem Verlust abfinden.

Ronald Tekener griff sich einen Sammelbehälter und schob seine Chips hinein. Das war ein guter, sehr guter Abend gewesen. »Meine Herren«, sagte er zu den Mitspielern. Er verbeugte sich leicht und ging hinüber zum Wechselschalter.

 

Der Annahmeschlitz öffnete sich bei seiner Annäherung automatisch, Ronald Tekener kippte den Inhalt des Behälters hinein. Auf dem Monitor beobachtete er die Zählung und freute sich mit jeder Ziffer mehr. Das waren einige Tausend – genug, um Schulden zu bezahlen, zu feiern und sich am nächsten Tag mit einem guten Grundstock ans nächste Spiel zu machen.

Fröhlich nahm er das dicke Bündel aus dem Ausgabeschlitz, als sich ihm jemand näherte. Augenblicklich ging er in Abwehrstellung.

Es war Osmond Breyle, der Assistent des Casinobesitzers. »Übertreib's nicht, Freundchen«, warnte er.

»Kontrolliert eure Kameraaufzeichnungen«, gab Tekener ruhig zurück. »Ich habe bei dem Spiel nicht betrogen. Oom ist ein arroganter Arsch und schlechter Verlierer.«

»Du manipulierst die Leute.«

Tekener zuckte innerlich zusammen. Breyle konnte nicht ahnen, was er mit diesem Satz bei ihm anrichtete. Doch Tekener fing sich schnell wieder und behielt sich in der Gewalt.

»Was meinst du damit, bitte?«

»Mit deiner Art ...«

»Du meinst, niemand außer mir zeigt ein Pokerface? Eine neutrale Miene, um es zu verdeutlichen?«

»Nein, es ist mehr.« Breyle war der Wind aus den Segeln genommen worden. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht und geglaubt, wie Tekener reagieren würde?

Jedenfalls sehr ungehalten. »Und was genau ist mit diesem mehr gemeint, bitte schön? Ich wusste nicht, dass menschliches Verhalten illegal ist – selbst bei einem Glücksspiel! Habe ich die Leute in irgendeiner Weise gezielt beeinflusst? Mit Gesten oder Worten oder einer auffälligen Mimik?«

»Es ... dein ...«

»Mein Gesicht? Ist es das? Bin ich dir zu hässlich? Dann kann ich mich verhüllen, wenn es dir lieber ist. Aber mein Aussehen ist kein Grund, mich abzuweisen!«

»Nein, das meine ich nicht«, widersprach Breyle und wies auf seinen Mund.

Ja, sein Lächeln, natürlich! Was auch sonst? Klar sollte das andere verunsichern, das war nun mal Sinn des Spiels. Durch Bluff gewinnen, wenn die Karten nicht gut genug waren. Aber auch das war nicht verboten. Tekener steckte die Scheine ein und wandte sich seinem Gegenüber nun voll zu. »Also! Raus damit! Ich habe niemanden bedroht. Was war illegal?«

Breyle merkte, dass sein Einschüchterungsversuch danebengegangen war. »Du hast deinen Ruf. Übertreib's einfach nicht«, wiederholte er und ging.

Tekener schickte ihm eine Geste mit gestrecktem Mittelfinger hinterher und steuerte dann Richtung Ausgang. Einem speziellen Ausgang, nicht dem normalen. Es war ein Ausgang für Gewinner – ein raffiniertes Tunnelsystem, das den Glücklichen an einen willkürlich gewählten Durchlass leitete, sodass niemand ihm draußen auflauern konnte.

Natürlich waren die Straßen komplett überwacht, doch die Räuber konnten sich an die Fersen der Gewinner heften und auf einen günstigen Moment für einen Überfall warten. Also hatten sämtliche namhaften Spielcasinos sich auf dieses Labyrinthsystem geeinigt, sodass niemand je wusste, wo ein glücklicher Spieler mit dicken Taschen das Casino verließ. Hinzu kamen Hologramme von umherschlendernden Menschen, die für weitere Ablenkungen sorgten.

Tekener kümmerte sich um solche Dinge normalerweise nicht sonderlich, aber diesmal war sein Gewinn zu groß. Und er selbst war zu auffällig, um unerkannt in der Menge untertauchen zu können. Seine gedrungene Gestalt war normal, seine Haare waren grauweiß und seine Augen ebenfalls von sehr hellem Grau. Sein Gesicht aber war gezeichnet von den Lashat-Pocken; es war zu markant, um übersehen werden zu können.

Das hatte manchmal Vorteile, zumeist aber Nachteile.

An die teils angeekelten Blicke anderer hatte er sich längst gewöhnt, ebenso daran, dass kaum jemand imstande war, einen unbefangenen Kontakt mit ihm zu pflegen.

Kurz gesagt: Ronald Tekener hatte keine Freunde.

Und er wollte auch keine. Nicht nach alldem, was geschehen war.

2.

Schatten

 

Ronald Tekener entschloss sich, zunächst einen Umweg über sein Quartier zu machen, bevor er weiter auf Tour ging. Ein bisschen feiern, und dann die nächste Spielrunde in einer anderen Spielhölle. Nur so lange, bis er ein ausreichendes Finanzpolster hatte, um ganz neu anzufangen. Versprochen!

Es war inzwischen dunkel geworden, der gesamte Bezirk flimmerte in leuchtendem Bunt. Entlang der Straßenzüge ringsum reihte sich ein Vergnügungsangebot an das andere – hauptsächlich Gelegenheiten, um der Spielleidenschaft zu frönen, es gab aber auch Restaurants und Kneipen sowie andere Freizeitaktivitäten, wie interaktive Holoshows. Jedes Etablissement machte mit Werbung auf sich aufmerksam: schrille Beleuchtungen mit Ton und ohne, Holoeinblendungen, aber auch schlichte 2-D-Tafeln. Dazu kamen die Schlepper und Werbemittelverteiler, sodass man kaum einen Schritt vorwärtskam, ohne jemanden abwimmeln zu müssen.

Überall fanden sich kleine Nachtmärkte, bei denen die Händler meistens ohne Lizenz flink ihre Stände aufbauten, gefälschte Markenartikel zu völlig überteuerten Preisen anboten und genauso schnell wieder verschwanden, sobald nahende Polizeidrohnen gemeldet wurden. Ein paar Blocks weiter ging das Spiel dann wieder von vorn los. Trotz der ständigen Angst und Hetze schien es sich zu lohnen.

Touristen liebten dieses Chaos mit dem Flair des Verbotenen und Anrüchigen. Eine sichtbare Polizeipräsenz und zahlreiche Überwachungskameras sorgten für Sicherheit, dennoch war es nicht ratsam, die Hauptstraßen zu verlassen und den Weg durch dunkle, schmale Gassen abzukürzen.

Als Wohngegend besaß Glamour, wie Tekeners Lieblingsviertel allgemein genannt wurde, nicht gerade den besten Ruf. Der Stadtteil war in einer Frühphase der exponentiellen Expansion von Terrania entstanden, als Millionen von Menschen in die wachsende Metropole geströmt waren und dringend Wohnraum gebraucht wurde. In rasender Eile hatte man Wohnblocks gebaut, oft in der Annahme, dass sie nur als Provisorium dienen würden.

Aus den Provisorien wurde indes ein Dauerzustand. Wer in dieser Gegend lebte, war meistens recht weit unten angekommen. Die Mieten waren billig, die Vermieter stellten keine Fragen. Dafür wurden die zumeist sehr winzigen Wohnungen und Zimmer auch kaum renoviert.

In dem Stadtteil lebten mehrere Hunderttausend Menschen, Gestrandete und Gescheiterte; zu ihnen zählte sich Ronald Tekener auch selbst.

Nicht nachdenken. Nicht nachdenken!

Es war eben so. Er taugte zu nichts und war ein Versager. Wer wollte schon mit jemandem zu tun haben, der eine derart verwüstete Visage hatte? Wie es dazu gekommen war, und dass er eigentlich ein medizinisches Wunder war, interessierte niemanden. Und ihn inzwischen am wenigsten. Sein Gesicht machte deutlich, was er war – als trüge er sein Innerstes offen zur Schau.

Für die Verwüstung seiner Psyche trug er allerdings nicht allein die Verantwortung. Je mehr Zeit verstrich, desto stärker wurde ihm bewusst, was er ihm angetan hatte.

Hör auf! Denk nicht nach! Er darf nie wieder Zugang zu dir bekommen.

Unwillkürlich zog es seine Leibesmitte zusammen, und erneut glaubte er, den furchtbaren, brennenden Schmerz zu spüren. Er krümmte sich keuchend, der Schweiß brach ihm aus.

Phantomschmerz. Es ist nur ein Phantomschmerz. Du bist geheilt. Keine Nachwirkungen mehr, der Genesungsprozess ist komplett abgeschlossen. Lass es nicht zu!

Aber der Schmerz hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt, und es war nicht einfach, seinen Verstand davon zu überzeugen, dass die Pein nur eine Illusion war.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Tekener blieb stehen und sah auf. Ein Paar, Mann und Frau, offensichtlich Touristen, lächelte ihn freundlich-besorgt an. Als das Licht auf sein Gesicht fiel, wichen sie erschrocken einen Schritt zurück.

»Es geht mir gut, vielen Dank«, stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«

Er erwartete, dass sie erleichtert weitereilen würden.

Doch die Frau legte den Kopf leicht schief. »Sind Sie sicher? Sie sehen nicht so aus. Sind Sie verletzt? Oder ... haben Sie Hunger?«

Sie meinte es gut. Aber sie machte es nur noch schlimmer. Hätte Tekener nicht die Taschen voller Geld gehabt, wäre er nun ausgerastet, wie alle verkrachten Existenzen, die nicht einsehen wollten, dass sie es verbockt hatten. Die ihren dummen Stolz behielten, obwohl er nichts wert war.

Er richtete sich auf. »Es ist nur eine alte Verletzung«, sagte er so freundlich wie möglich. »Ab und zu erinnert sie mich daran, dass ich noch lebe.« Damit ging er weiter, zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Seine Kleidung war schlabbrig und rein funktional, wie sie auch von den lokalen Jugendbanden getragen wurde. So fiel er in der Gegend, in der er wohnte, meist nicht auf.

Zwei Blocks weiter bog er in eine Seitenstraße ab, und von dort in eine Gasse. Er ließ das schrille Licht und die Jahrmarktsheiterkeit hinter sich.

In dieser Gegend gab es praktisch keine öffentlichen Überwachungssysteme mehr. Die wenigen Kameras, die noch existierten, waren so oft zerstört worden, dass niemand sie mehr reparierte. Drohnen tauchten nur selten auf. Solange kein Gewaltverbrechen geschah, überließ man die Einwohner dieses Viertels sich selbst. Die meisten fielen sogar durch das Grundversorgungsraster – wer sich nicht anmeldete, konnte nichts in Anspruch nehmen.

Tekener und den meisten seiner Nachbarn war das gerade recht. Er hätte sich zwar schon seit Langem mit guten staatlichen Pensionsbezügen irgendwo in einem hübschen Mittelstandsbezirk zur Ruhe setzen können. Aber das war nun einmal nicht seine Art; er war ein rastloser Geist, der aktiv und von niemandem abhängig sein wollte. Er hätte es keinen Tag in der Idylle ausgehalten, ohne daran erinnert zu werden, was aus ihm geworden war. Die Leute wären um keinen Deut freundlicher zu ihm gewesen und hätten ihn mit diesem Pockengesicht und den Lücken in seinem Lebenslauf niemals in ihrer Mitte akzeptiert. Tekener mochte zudem die Atmosphäre der Amüsiermeile, er liebte den Spieltisch und dieses Kribbeln, wenn der Einsatz immer höher kletterte. Alles oder nichts.

Seit seinem Unfall war er kein »Mensch wie jeder andere« mehr. Aber das würde er sich niemals zunutze machen, nur um ein gutes Auskommen zu haben. Das schnelle Geld am Spieltisch ließ sich durch nichts aufwiegen. Schon gar nicht durch staatliche Almosen.

 

Das Hotel Miramar lag halb verborgen an einer Straßenecke, die bloß zu Fuß erreichbar war. Im Bauboom der frühen 2040er-Jahre hatte man es schnell und billig errichtet. Ein nur matt beleuchtetes Schild über dem Eingang verriet, dass es noch freie Zimmer gab.

Tekener drückte die Klinke, moderne Einrichtungen hatte diese Absteige nicht, auch keine Überwachungskameras. An der kleinen Rezeption war niemand, also holte er sich den Zimmerschlüssel selbst – keine programmierte Schlüsselkarte, das wünschte man in solchen Gegenden nicht – und stieg die drei Etagen hinauf. Es gab einen Aufzug, aber der war seit einiger Zeit kaputt.

Das Zimmer bot außer dem Bett, einem kleinen Tisch, Stuhl und Nachttisch keine weiteren Annehmlichkeiten, nicht mal einen Holovidmonitor. Nebenan gab es eine winzige Nasszelle, für Tekeners schlichte Bedürfnisse reichte es völlig.

Er deponierte den Großteil des Gelds in verschiedenen Verstecken und verließ das Zimmer dann wieder.

Natürlich benutzte in den meisten Regionen der Erde so gut wie niemand mehr noch Bargeld. Aber virtuelles Geld ließ sich nun mal lückenlos nachverfolgen. Deshalb dachte Tekener gar nicht daran, sich einen Geldchip zu holen und mit dem Gewinn aufzuladen.

In den Casinos galt ohnehin nur Bargeld, schöne grüne US-Dollar oder manchmal auch bunte Euros. Wenn Touristen mit ihren Chips wedelten, wurden sie gleich wieder hinauskomplimentiert. Schein gegen Spielchip, Spielchip gegen Schein und keine Elektronik dazwischen.

Seine Euphorie über den Gewinn war mittlerweile völlig verflogen. Warum nur? Selten hatte er so viel Glück gehabt, warum machte es ihn nicht glücklich?

Egal. Zuerst würde er ordentlich feiern, das konnte er sich leisten. Und vielleicht hatte er anschließend noch Lust auf ein kleines Spielchen, wer wusste das schon? Nur mit ganz kleinen Einsätzen, zum Spaß und um in Übung zu bleiben.

Als er unten ankam, fing ihn der Rezeptionist ab. »Deine Miete ist fällig«, sagte er knurrig. Ein sehr hagerer Bursche, der wahrscheinlich vor drei Jahren zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Und vor vier Jahren zum letzten Mal geduscht.

Tekener zog ein paar Scheine aus der Tasche und warf sie dem Mann hin. »Da, das reicht für die nächsten Tage, du Blutsauger.« Verächtlich lachend verließ er das Haus und kehrte in den Abendtrubel zurück.

 

Ronald Tekener ging geradewegs in eine Kneipe in der Nähe, die er zwar erst seit zwei Tagen kannte, was ihm aber genügte, um sie als sein Stammlokal zu betrachten. Nach zwei Tagen konnte er das so bezeichnen. Er trank zuerst Bier, dann Bier und Schnaps, dann Schnaps und Bier, zuletzt nur noch Schnaps.

»Mann, heute gibst du dir aber übel die Kante«, bemerkte die Thekenbedienung. Sandra war eine junge Frau, die er schätzte. Sie schmiss den Laden allein, egal wie voll er war, und niemand musste lange warten. Sie redete nur, wenn der Gast reden wollte, und las die Wünsche oft von den Augen ab.

»Ja, geht nicht anders«, sagte er und bestellte mit einem Fingerschnipsen die nächste Lage. »Erstens will ich meinen Gewinn feiern.«

»Das solltest du nicht allein.«

»Wieso, du bist doch hier?«

Sie lachte. »Was für ein Charmebolzen.«

»Ich meine es ernst.« Er wies um sich. Obwohl das Lokal voll war, mieden die übrigen Gäste seine Nähe. Man musste nicht allzu sensibel sein, um das zu erkennen. »Du bist die Einzige, die nicht sofort kotzen muss bei meinem Anblick.«

»Nun übertreib mal nicht. Außerdem bin ich an deinen Anblick längst gewöhnt.« Sie nahm ein Tablett, stellte es mit verschiedenen Gläsern diversen Inhalts voll und verteilte diese flink an einigen Tischen. Dann kam sie zurück. »Also, was ist mit zweitens?«

»Zweitens?«, fragte Tekener verwundert, der sein Glas schon wieder geleert hatte und mit einer Geste Nachschub forderte.

»Erstens wolltest du feiern. Und zweitens?«

Er war beeindruckt. Während Sandra seinem Wunsch nachkam, zugleich zapfte, einschenkte, abkassierte und noch andere Dinge tat, die er bei ihrer Geschwindigkeit nicht mitbekam, erinnerte sie sich trotzdem genau an den Gesprächsinhalt. »Zweitens brauche ich eine gewisse Schwere, um den Albträumen zu entgehen.«

Sandra musterte ihn. »Du säufst dich also um den Verstand, um schlafen zu können?«

»Richtig.«

»Schon mal auf die Idee gekommen, dass du schlecht schläfst, weil du zu viel trinkst?«

Tekener schüttelte den Kopf und merkte dabei, wie die Welt anfing, sich um ihn zu drehen. Gut, sehr gut. Sein Wunschpegel war fast erreicht. Er hielt sich am Tresen fest. »Mir fehlen vierundzwanzig Stunden meines Lebens – und nein, damals war ich stocknüchtern«, erzählte er. »Ist zwar schon viele Jahre her. Doch diese Stunden suchen mich heute noch heim, wenn ich schlafe. Deswegen schlafe ich selten, und wenn, dann nur, wenn ich fast im Delirium bin.«

Sandra hielt inne. Als ein wartender Gast sein Getränk fordern wollte, brachte sie ihn mit einer scharfen Geste zum Schweigen. »Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst, und ich spreche nicht von einem längst dahingegangenen Freund«, versicherte er.

»Und ... kannst du dich an diese Albträume erinnern?«

»Das ist ja das Fatale. Nein. Kein Psychiater, auch kein Medosystem irgendeiner Welt kann herausfinden, was mir solches Grauen bereitet. Nicht die Aras, nicht ...« Beinahe hätte er Mimas gesagt, aber er verschluckte es. Er deutete auf sein Gesicht. »Das hier kam erst später, aber ist wahrscheinlich eine der Folgen, ein wahr gewordener Albtraum. Oder?«

»Verflucht, Ronald«, stieß Sandra hervor. Sie wirbelte davon, machte wartende Gäste glücklich und kam wieder zurück. Mit schlanken Fingern zog sie eine Flasche aus dem Regal mit den teuren Sachen und schenkte ihm in einem frischen Glas ein. »Der geht aufs Haus. Aber trink ihn mit Bedacht, das ist dein Letzter heute. Dann gehst du heim und versuchst zu schlafen.«

»Danke«, murmelte er und nippte. Teuflisch gutes Zeug, das er sich sonst nie leistete.

»Ernsthaft, du musst einen anderen Weg finden, da rauszukommen«, fuhr sie fort und schenkte sich ebenfalls ein Glas ein. »Wenn du so weitermachst, überlebst du keine zwei Jahre mehr. Entweder macht deine Leber die Biege, oder irgendwer macht dich so fertig, dass du nie wieder aufstehst.«

»Deine Fürsorge rührt mich.« Er grinste und stieß mit ihr an.

»Ich verliere nicht gern gute Gäste«, rechtfertigte sie sich und trank aus. »Wenn du dich mal nicht wie ein Arsch benimmst, bist du ein recht guter Gast.«

Er wies erstaunt auf sich. »Moi? Ein Arsch?«

»Ich mein es auch ernst. Und jetzt schwing deinen Hintern ins Bett! Bis morgen.«

 

Ronald Tekener gehorchte, denn der letzte Schnaps hatte ihm ohnehin den Rest gegeben. Er hoffte, dass er es überhaupt bis zu seinem Hotel schaffte, ohne vorher umzukippen. Aber es hatte gutgetan, das Gespräch und der edle Tropfen. Für einen Moment hatte er sich wie ein normaler Mensch gefühlt, der aus guter Laune heraus einen zu viel tankte und dann nach Hause ging, zu ...

Ach, vergiss es.

Es gelang ihm, das Lokal geraden Schritts zu verlassen. Draußen stülpte er wieder die Kapuze über und fädelte sich in den dichten Passantenverkehr ein. Es ging auf Mitternacht zu, das tat der allgemeinen Vergnügungssucht jedoch keinen Abbruch. In diesem Viertel gingen die Lichter nie aus.

Vor wenigen Stunden hatte er die schrillen Werbetöne und die grellen Bilder noch gemocht, nun bekam Tekener davon Kopfschmerzen. Er setzte seine Sonnenbrille auf, steckte die Hände in die Jackentaschen und versuchte, sein Tempo zu erhöhen, stolperte dabei jedoch und wäre beinahe gestürzt.

Das sollte er besser bleiben lassen, dafür hatte er zu viel getrunken. Ihm wurde schwindlig, und er torkelte weiter, wollte nur noch unbeschadet auf sein Zimmer und ins Bett. Solchermaßen beschäftigt, den Weg zu halten, achtete er nicht auf seine Umgebung und rempelte versehentlich jemanden an.

»He! Pass doch auf, du besoffenes Schwein!«

Tekener hielt den Kopf gesenkt, damit kein Licht unter die Kapuze fiel, zog die Hände aus den Taschen und hob die Hände. »Tut mir leid, war keine Absicht.« Er wollte weiter, doch jemand hielt ihn am Arm fest.

»Ach ja? Und wenn ich glaube, dass du meinen Freund bestehlen wolltest? Wir kennen eure Tricks doch!«

Tekener versuchte, die Hand abzuschütteln. Nicht nur, weil er sich angegriffen fühlte – er mochte es generell nicht, von Fremden angefasst zu werden. »Ich sagte doch, es tut mir leid«, stieß er leicht lallend hervor. »Ich hab's nicht nötig, jemanden auszurauben.« Er nestelte zwei Scheine hervor und hielt sie hoch. »Seht ihr? Nehmt es als Entschuldigung. Ein Drink auf meine Kosten. Und einen schönen Abend noch.«

Die beiden jungen Männer sahen einander an und prusteten los.

»Na schön«, sagte der eine und nahm das Geld.

»Trottel«, sagte der andere und hieb Tekener die Faust in den Magen.

Tekener hatte den Angriff nicht kommen sehen und sackte zusammen wie ein Ballon, aus dem schlagartig alle Luft gewichen war. Grelle Sterne explodierten vor seinen Augen, und er fiel auf die Knie. Er merkte, wie die beiden an seinen Taschen herumfingerten, um ihm das restliche Geld zu stehlen.

Fahrig schlug er um sich, während er gleichzeitig darum kämpfte, sich nicht zu übergeben. Schmerzen wüteten in seinem Magen. »Lasst mich!«, rief er.

Da hörte er eine weitere fremde Stimme. »Was geht hier vor sich?«

»Ach, nichts weiter«, antwortete der eine junge Bursche. »Der Kerl hier ist stockbesoffen umgefallen, wir haben versucht, ihm zu helfen.« Er tätschelte Tekeners Schulter. »Aber nun geht's wieder, nicht wahr?«

Damit verschwanden sie endlich. Der Mann, zu dem die neue Stimme gehört hatte, beugte sich über Tekener. »Alles in Ordnung?«

»Ja, danke«, murmelte Tekener.