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  Bruder Andrew & John und Elizabeth Sherrill– Der Schmuggler Gottes | Er wusste nie, ob hinter der Grenze Tod oder Leben auf ihn wartete– SCM Hänssler

Inhalt

Vorwort

Der Schmuggler in unserem Wohnzimmer

Rauch und Brotrinden

Der gelbe Strohhut

Der Kiesel in der Nussschale

In einer stürmischen Nacht

Der Schritt des Gehorsams

Das Spiel nach königlicher Art

Hinter dem Eisernen Vorhang

Der Kelch des Leidens

Der Grund ist gelegt

Laternen im Dunkeln

Das dritte Gebet

Kirche mit zwei Gesichtern?

An der Grenze zum inneren Kreis

Abraham, der Riesen-Töter

Das Gewächshaus im Garten

Das Werk beginnt zu wachsen

Russland auf den ersten Blick

Für Russland – aus Liebe

Bibeln für die russischen Pastoren

Der erwachende Drache

Zwölf Apostel der Hoffnung

Gebet ist unsere stärkste Waffe. Bist du dabei?

Im neuen Jahrtausend

Weichenstellungen für die Zukunft

Der Dienst von Open Doors

Vorwort

VW Käfer

Niemand bezweifelt, dass Russland und andere kommunistische Länder heute anders sind als vor ein paar Jahren. Sie sind offener, empfänglicher für neue Ideen, zugänglicher für Reisende.

Wodurch sind diese Veränderungen herbeigeführt worden? Während die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen von den Experten untersucht werden, ist ein kleiner, aber höchst bedeutsamer Umstand weithin unbemerkt geblieben. Das ist die schöpferische Arbeit einer winzigen Gruppe ganz gewöhnlicher Männer und Frauen – zuerst eines einzelnen Mannes –, die dazu beigetragen haben, die Geschichte zu verändern.

Als wir Andrew zum ersten Mal begegneten, wussten wir sofort, dass wir seine Geschichte aufschreiben wollten. Das Problem war nur, dass vieles, was darin aktuell war, noch nicht erzählt werden durfte, weil es Menschen in Gefahr bringen würde. Selbst in dem Teil, der schon Geschichte war, mussten gewisse Tatsachen geändert werden. In den meisten Fällen konnten die richtigen Namen nicht benutzt werden; bestimmte Ortsnamen und Daten mussten verfremdet werden. Und selbstverständlich konnten auch die technischen Einzelheiten bei der Grenzüberschreitung und beim Schmuggeln nicht angegeben werden.

Aber trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen blieb eine Geschichte übrig, die so einzigartig, so menschlich und so bedeutungsvoll für unser aller Zukunft ist, dass wir glaubten, sie nun niederschreiben zu müssen. Andrew wuchs in einem holländischen Dorf als Sohn eines nicht gerade wohlhabenden Schmieds auf. Wie so viele Menschen der westlichen Welt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten, erkannte er, dass die überwältigende Herausforderung an unsere Generation das unter dem Kommunismus stehende Drittel der Welt war. Wie wir alle wusste er, dass der kommunistische Block für den Westen gesperrt war – ganz bestimmt aber für einen ungeschützten Privatmann wie ihn. Wie alle wusste er auch, dass man nicht nach Russland, Ungarn, Albanien und China gehen und eine andere Lebensweise predigen konnte.

Und an dieser Stelle wird seine Geschichte ganz anders als die irgendeines anderen Menschen auf der Welt …

John und Elizabeth Sherrill

»Guideposts«

Carmel, New York

Der Schmuggler in unserem Wohnzimmer

Vorwort zur 10. Auflage

VW Käfer

Wir saßen in unserem Wohnzimmer und löcherten den schlanken Mittdreißiger mit Fragen für das Buch, das wir über ihn schrieben. Da kam unsere achtjährige Tochter Liz aus dem Schulbus und durch die Haustür gewirbelt. Wir waren gerade an einem äußerst wichtigen Punkt des Interviews angekommen – das Treffen mit Petroff in Sofia. Aber das war egal, denn immer, wenn Liz oder einer ihrer Brüder nach Hause kam, hatten sie absoluten Vorrang für den Mann, der von allen »Bruder Andrew« genannt wird.

»Liz!«, rief er laut, so wie er es jeden Nachmittag tat, wenn sie aus der Schule kam, »wie war der Rechtschreibunterricht?«

Er brach in lautes Gelächter über seine eigene Frage aus und bestand darauf, die Arbeit am Buch zu unterbrechen, um wie jeden Tag mit seiner kleinen Freundin spazieren zu gehen. Für den Holländer war Rechtschreibung als Unterrichtsfach ein Grund ständiger Heiterkeit. Wenn man Holländisch sprechen kann, so erklärte er den Kindern, dann kann man es auch schreiben – nämlich so, wie man es spricht. Er fand es höchst merkwürdig, dass Englisch so schwierig sein musste.

Liz war da ganz seiner Meinung – so wie in allem anderen auch. Unsere Kinder waren alle drei ganz wild auf unseren Gast, und Andrew, der seine eigenen Kinder vermisste, verbrachte jede freie Minute mit ihnen.

Als sie von ihrem Spaziergang zurückkamen, kehrte Andrew auch zu unserem unterbrochenen Interview zurück – ein bisschen widerwillig, so schien es uns. Er fand unser Interesse daran, ein Buch über ihn zu schreiben, von Anfang an ein wenig merkwürdig.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum ihr über mich schreiben wollt«, war seine Reaktion, als wir ihm diesen Vorschlag das erste Mal machten. »Wen soll das schon interessieren? Ich bin der Sohn eines Dorfschmieds und habe nicht einmal Abitur. Ich bin ein ganz normaler Mensch.«

Genau das war der Reiz an seiner Geschichte. Wie konnte Gott jemanden mit einem Rückenleiden, einer kurzen Schulausbildung, ohne Sponsoren und ohne eigene finanzielle Mittel dazu gebrauchen, um Dinge zu tun, die gut betuchte Leute mit Beziehungen für unmöglich hielten? Für uns und andere ganz normale Menschen machten gerade diese Umstände Bruder Andrews Abenteuer so faszinierend.

Es ist schwer zu glauben, dass seit den Interviews und dem Erscheinen des Buches Der Schmuggler Gottes 35 Jahre vergangen sind. Noch unglaublicher ist es, dass bis heute von diesem Buch zehn Millionen Exemplare in fünfunddreißig Sprachen gedruckt worden sind.

»Und das ist noch nicht alles«, erzählte Andrew bei einem Besuch im Frühling 2001. »Hunderttausende von Büchern sind inoffiziell von Christen in armen Ländern der ganzen Welt gedruckt und weitergegeben worden, um andere zu ermutigen.« Andrew schaute uns etwas schuldbewusst an. »Ich fürchte, ich habe ihnen die Erlaubnis dazu gegeben. Habe ich da etwas Verbotenes getan?«

Ja, das hatte er. Aber wir waren froh, dass er es getan hatte. Und wir denken, dass auch Gott sich darüber gefreut hat.

John und Elizabeth Sherrill

Chappaqua, New York 2002

Rauch und Brotrinden

VW Käfer

Seit ich zum ersten Mal Holzschuhe anzog – in Holland nennen wir sie Klompen –, träumte ich von tollkühnen Streichen. Ich war ein Spion hinter den feindlichen Linien. Ich war ein einsamer Späher in Feindesland. Ich kroch unter Stacheldraht hindurch, während Leuchtspurgeschosse um mich herum durch die Luft flogen.

Natürlich hatten wir in meinem Heimatdorf Witte keine richtigen Feinde, jedenfalls nicht, als ich noch ganz klein war. So erklärten wir uns gegenseitig zu Feinden. Wir benutzten unsere Klompen zum Kämpfen. Wer von einem Holzschuh getroffen wurde, hatte seinen eigenen eben nicht schnell genug gepackt. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages einen meiner Klompen auf dem Kopf meines Feind-Freundes Kees zerbrach. Was uns beide am meisten entsetzte, war nicht die dicke Beule an seiner Stirn, sondern der kaputte Schuh. Wir vergaßen, dass wir Feinde waren, solange wir ihn zu reparieren versuchten. Aber diese Kunst lernt man erst mit der Zeit, und an jenem Abend musste sich mein Vater, der als Schmied hart zu arbeiten hatte, auch noch als Schuster betätigen.

Vater war an diesem Tag schon um fünf Uhr aufgestanden, um im Garten, dessen Ertrag zur Ernährung der achtköpfigen Familie diente, zu gießen und Unkraut zu jäten. Dann war er mit dem Fahrrad die zweieinhalb Kilometer nach Alkmaar in die Schmiede gefahren und hatte nun nach seinem schweren Tagwerk den ganzen Abend zu tun, um eine kleine Rinne in die Holzschuhspitze zu meißeln, einen Draht hindurchzuziehen, den Draht an beiden Seiten festzunageln und dasselbe an der Hacke zu wiederholen, damit ich am nächsten Tag Schuhe für die Schule hatte.

»Andrew, du musst vorsichtiger sein!«, sagte mein Vater mit seiner lauten Stimme. Er war taub und schrie mehr, als dass er sprach. Ich verstand ihn genau: Er meinte nicht vorsichtig mit Haut und Knochen, sondern mit dem schwer verdienten Besitz.

Besonders eine Familie spielte damals in meiner kindlichen Fantasie sehr häufig die Rolle des Feindes. Das war die Familie Whetstra. Ich weiß nicht, warum ich mir gerade sie ausgesucht hatte; vielleicht, weil sie die ersten in unserem Dorf waren, die von einem Krieg mit Deutschland sprachen. Und das war kein beliebtes Thema in Witte. Auch waren sie evangelische Christen, die ihren Glauben sehr ernst nahmen, und ihr ständiges »Gott befohlen!« und »Wie der Herr will!« erschienen einem Geheimagenten meines Formats widerlich unterwürfig. So waren sie für mich der Feind.

Ich entsinne mich, dass ich eines Tages an Frau Whetstras Küchenfenster vorbeikam, als sie gerade ein Blech mit Plätzchen in ihren neuen mit Holz geheizten Backofen schob. Vorn am Haus lehnte eine neue Fensterscheibe, und das brachte mich auf einen Gedanken. Jetzt hatte ich Gelegenheit, festzustellen, ob die immer lächelnden Whetstras ebenso wütend werden konnten wie andere Holländer. Ich nahm die Fensterscheibe und schlich durch die feindlichen Linien zur Rückseite des gegnerischen Hauptquartiers. Die Whetstras hatten wie alle andern im Dorf eine Leiter, die zu ihrem Strohdach hinaufführte. Runter mit den Klompen und rauf aufs Dach! Leise legte ich die Scheibe auf den Schornstein. Dann kletterte ich die Leiter wieder hinunter, lief auf die andere Straßenseite und stellte mich hinter dem Wagen eines Fischhändlers auf die Lauer.

Wie zu erwarten war, schlug der Rauch durch den Schornstein zurück in die Küche und begann, aus dem offenen Fenster herauszuwogen. Frau Whetstra lief mit einem Schrei in die Küche, riss die Backofentür auf und versuchte, den Rauch mit ihrer Schürze fortzuwedeln. Herr Whetstra rannte vors Haus und guckte zum Schornstein hinauf. Die erwartete Flut saftiger holländischer Schimpfworte blieb tatsächlich aus. Aber der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er die Leiter hinaufkletterte, war völlig »von dieser Welt«, und ich verbuchte es für mich als einen gewaltigen Sieg.

Ein anderer beliebter Feind war mein älterer Bruder Ben. Wie das für ältere Brüder bezeichnend ist, war er ein Meister im Tauschen. In seiner Ecke in unserem gemeinsamen Dachbodenschlafzimmer prangten die Dinge, die einmal mir oder unseren anderen Geschwistern gehört hatten. Irgendwie konnten wir uns nur nie daran erinnern, was wir dafür eingetauscht hatten. Bens kostbarster Schatz war ein Sparschwein, das einmal unserer Schwester Maartje gehört hatte. Darin hob er die Pfennige auf, die er durch Botengänge für den Bürgermeister oder durch Gartenarbeit bei unserer Lehrerin, Fräulein Boot, verdient hatte. Immer häufiger konnte man jetzt in den Zeitungen lesen, was in Deutschland vor sich ging; und in meiner Fantasie wurde Ben ein enorm reicher deutscher Munitionsfabrikant. Als er eines Tages fortgegangen war, um noch mehr Pfennige zu verdienen, nahm ich das Sparschwein von seinem Bücherbrett herunter, schob ein Messer in die Öffnung und drehte es um. Nach etwa fünfzehn Minuten, in denen ich mit knapper Not den Braunhemden entgangen war, die sein Besitztum bewachten, hatte ich fast einen Gulden vom Feind erbeutet.

Aber was sollte ich nun mit meiner Beute machen? Ein Gulden war damals ein Vermögen für ein Kind in unserem kleinen Dorf. Wenn ich mit so viel Geld ins Süßwarengeschäft gekommen wäre, hätte das bestimmt zu Fragen Anlass gegeben. Wie wäre es, wenn ich sagte, ich hätte es gefunden?

Am nächsten Tag in der Schule ging ich zur Lehrerin und hielt ihr meine Hand mit dem Geld hin.

»Sehen Sie, was ich gefunden habe, Fräulein Boot!«

Fräulein Boot holte tief Luft.

»O Andrew!«, rief sie. »Was für eine Menge Geld für einen kleinen Jungen!«

»Darf ich es behalten?«

»Du weißt nicht, wem es gehört?«

Nicht einmal mit der Folter hätte man die Wahrheit aus mir herauspressen können.

»Nein, Fräulein Boot, ich habe es auf der Straße gefunden.«

»Dann musst du es zur Polizei bringen, Andrew. Dort wird man dir sagen, was du machen sollst.«

Die Polizei! Damit hatte ich nicht gerechnet. Zitternd und zagend brachte ich an jenem Nachmittag das Geld in dieses Bollwerk von Gesetz und Rechtschaffenheit. Wenn unser kleines Rathaus das Hauptquartier der Gestapo gewesen wäre, hätte meine Angst nicht größer sein können. Mir war, als müsste das gestohlene Geld irgendwie verräterisch glänzen. Aber offenbar glaubte mir der Polizeibeamte meine Geschichte. Er schrieb meinen Namen auf einen Umschlag, legte das Geld hinein und sagte, wenn es innerhalb eines Jahres von niemand zurückverlangt werde, gehöre es mir.

Und so machte ich mich ein Jahr später auf den Weg zum Süßwarenladen. Ben hatte das Geld niemals vermisst. Das verdarb mir das Spiel. Statt des würzigen Beigeschmacks von Sabotage hinter der Front hatten die Bonbons den faden Geschmack eines ganz gewöhnlichen Diebstahls.

Ich glaube bestimmt, dass meine Träume von abenteuerlichen Taten und meine endlosen Fantasien ein Mittel waren, dem Radio meiner Mutter zu entgehen. Mutter war Halbinvalide. Ein Herzleiden zwang sie, den größten Teil des Tages still auf einem Stuhl zu sitzen. Ihr Trost war das Radio. Aber sie hatte es immer auf den gleichen Sender eingestellt, den Evangeliumsrundfunk von Amsterdam. Manchmal wurden dort fromme Lieder gesungen, manchmal wurde gepredigt. Immer war es – für meine Ohren – langweilig.

Nicht so für meine Mutter. Religion war ihr Leben. Wir waren arm, sogar für Witte’sche Begriffe. Unser Haus war das kleinste im Ort. Aber an unsere Tür kam ein nicht enden wollender Strom von Bettlern, Wanderpredigern und Zigeunern, die wussten, dass sie an Mutters Tisch willkommen waren. Der Käse wurde dann in dünnere Scheiben geschnitten, die Suppe mit Wasser gestreckt; aber ein Gast wurde niemals weggeschickt.

Sparsamkeit war in Mutters Religion ebenso wichtig wie Gastfreundschaft. Als ich vier Jahre alt war, konnte ich Kartoffeln schälen, ohne einen Millimeter zu vergeuden. Als ich sieben war, ging das Kartoffelschälen auf meinen kleinen Bruder Cornelius über, während ich dazu aufrückte, für blank geputzte Schuhe zu sorgen. Das waren nicht die Klompen für den Alltag, sondern die ledernen Sonntagsschuhe, die mindestens fünfzehn Jahre halten mussten. Mutter sagte, sie müssten so glänzen, dass der Prediger seine Augen mit den Händen beschatten müsse.

Da Mutter nicht schwer heben konnte, wusch Ben jede Woche die Wäsche. Die Wäschestücke mussten in den Trog hineingelegt und wieder herausgenommen werden. Aber der eigentliche Waschvorgang bestand darin, dass durch einen hölzernen Pumpschwengel eine Reihe von Rührstangen in Bewegung gesetzt wurden. Dieses technische Wunder war der Stolz des Hauses. Wir lösten Ben ab und bewegten den schweren Schwengel so lange hin und her, bis uns die Arme weh taten.

Das Elternhaus in Witte, in dem Andrew bis zu seinem 28. Lebensjahr wohnte

Das Elternhaus in Witte, in dem Andrew bis zu seinem 28. Lebensjahr wohnte

Das einzige Familienmitglied, das nicht arbeitete, war der älteste Bruder Bastian. Er war zwei Jahre älter als Ben und sechs Jahre älter als ich und lernte niemals irgendetwas zu tun, was andere Menschen taten. Er brachte den ganzen Tag damit zu, unter einer Ulme an der Deichstraße zu stehen und die Dorfbewohner vorbeigehen zu sehen. Witte war stolz auf seine Ulmen in diesem an Bäumen armen Land. Vor jedem Haus stand eine, und ihre Äste berührten sich so, dass sich über der Straße ein grüner Bogengang bildete. Aus irgendeinem Grunde stellte sich Bas niemals unter unseren Baum, sondern unter den drittnächsten. Und dort stand er, bis ihn jemand von uns zum Abendbrot nach Hause holte.

Ich glaube, nach meiner Mutter liebte ich Bas mehr als irgendjemanden auf der Welt. Wenn die Dorfbewohner an seiner Ulme vorbeikamen, riefen sie ihm immer seinen Namen zu, um dafür sein schüchternes, wunderschönes Lächeln einzutauschen. »Ah, Bas!«

Im Laufe der Jahre hörte er diese Worte so häufig, dass er sie schließlich nachzusprechen begann – die einzigen, die er jemals lernte.

Aber wenn Bas auch weder sprechen noch sich selbst anziehen konnte, so besaß er doch ein sonderbares, bemerkenswertes Talent. In unserem winzigen Wohnzimmer stand, wie in den meisten holländischen Häusern in den dreißiger Jahren, ein kleines Harmonium. Mein Vater war der einzige in der Familie, der Noten lesen konnte, und so saß er abends oft auf der kleinen Bank, bewegte die Pedale auf und ab und spielte Lieder aus einem alten Gesangbuch, während wir anderen sangen.

Alle außer Bas. Sobald der erste Ton erklang, kroch Bas auf allen vieren unter das Manual, hockte sich neben Vaters Füße und presste sich fest an das Harmonium. Freilich spielte Vater holprig und mit vielen Fehlern; nicht nur, weil er die Töne nicht hören konnte, sondern weil seine Finger durch das Schmiedehandwerk dick und steif geworden waren. An manchen Abenden spielte er ebenso viele falsche wie richtige Noten.

Bas störte das nicht. Mit verzücktem Gesicht drückte er sich an das vibrierende Holz. Von seinem Platz aus konnte er natürlich nicht sehen, welche Tasten Vater anschlug oder welche Knöpfe er zog. Aber plötzlich stand er auf, stieß Vater sanft an die Schulter und sagte: »Ah, Bas! Ah, Bas!« Dann stand Vater auf, und Bas setzte sich auf die kleine Bank. Er machte sich immer erst ein bisschen mit dem Gesangbuch zu schaffen, wie er das bei Vater gesehen hatte, wendete die Seiten um und stellte es dann gewöhnlich verkehrt herum hin. Dann warf er, wie Vater, einen flüchtigen Blick auf die Seite und fing an zu spielen. Von Anfang bis Ende spielte er die Lieder, die Vater an dem Abend gespielt hatte. Aber nicht unbeholfen und voller Missklang wie Vater, sondern völlig fehlerlos und so schön, dass die Leute auf der Straße stehen blieben, um zuzuhören. An Sommerabenden, wenn unsere Tür offen stand, versammelte sich immer eine kleine Schar draußen vor dem Haus. Vielen kamen die Tränen; denn wenn Bas spielte, war es, als säße ein Engel am Harmonium.

Das große Ereignis der Woche war für uns alle der Kirchgang. Witte liegt im Polder, dem eingedeichten Marschland, das Generationen von Holländern dem Meer abgerungen haben, und ist wie alle Dörfer dort am Deich entlanggebaut. Es hat nur eine einzige Straße, die oben auf dem Damm nach Norden und Süden führt. Die Häuser sind eigentlich Inseln, da jedes Haus auf einem Erdhügel gebaut und durch eine kleine Brücke, die den Entwässerungskanal überspannt, mit der Straße verbunden ist. Und an jedem Ende des Dorfes steht jeweils auf dem höchsten und imposantesten Hügel eine Kirche.

In Holland bestehen immer noch große Spannungen zwischen den Katholiken und den Protestanten – ein Überbleibsel aus den Tagen der spanischen Besetzung. Wochentags unterhält sich der Fischhändler freundlich mit dem Eisenwarenhändler des Dorfes. Aber sonntags geht der Fischhändler mit seiner Familie nordwärts in die katholische Kirche, während der Eisenwarenhändler mit der Seinen südwärts in die protestantische Kirche wandert. Wenn sie dann auf der Straße aneinander vorbeikommen, würdigen sie sich nicht einmal eines Grußes.

Unsere Familie war sehr stolz auf ihre protestantische Tradition. Mein Vater freute sich, glaube ich, dass unser Haus zufällig am nördlichen Ende des Dorfes lag, weil er so Gelegenheit hatte, auf dem Weg durch das ganze Dorf zu demonstrieren, dass wir die richtige Richtung eingeschlagen hatten.

Da Vater schlecht hörte, saßen wir in der Kirche immer auf der vordersten Bank. Sie war nicht lang genug für die ganze Familie, und ich brachte es stets fertig, etwas zurückzubleiben, damit sich meine Eltern mit den anderen Kindern erst einmal hinsetzten. Dann musste ich zurückgehen, um hinten »noch einen Platz zu finden«. Der Platz, den ich fand, war gewöhnlich weit jenseits der Kirchentür. Im Winter schlitterte ich die gefrorenen Kanäle entlang, und im Sommer saß ich so still in den Feldern, dass sich die Krähen auf meine Schultern setzten und mit dem Schnabel nach meinen Ohren pickten.

Irgendwie wusste ich immer genau, wann der Gottesdienst aus war, und schlüpfte gerade in dem Augenblick, wenn die ersten Kirchgänger herauskamen, in eine Ecke des Kirchenschiffs. Ich stellte mich neben den Prediger – dem meine Gegenwart niemals entging – und hörte aufmerksam zu, was die Gemeindeglieder über seine Predigt sagten. So erfuhr ich seinen Text, sein Thema, manchmal sogar den Hauptinhalt einer Geschichte.

Das alles war nötig, weil ich sonst beim wichtigsten Teil meines wöchentlichen Abenteuers versagt hätte. In Holland ist es üblich, sich nach der Kirche in Privathäusern zu versammeln. Drei Dinge fehlen dabei nie: Kaffee, Zigarrenrauch und eine ausführliche Diskussion der Predigt. Die Männer unseres Dorfes konnten sich diese langen schwarzen Zigarren nur einmal in der Woche leisten. Jeden Sonntag, wenn ihre Frauen schwarzen Kaffee kochten, zogen sie sie hervor und zündeten sie feierlich an. Bis heute schlägt mein Herz schneller, wenn ich Kaffee und Zigarrenrauch rieche. Es ist ein Geruch, der mit Angst und Spannung verbunden war: Konnte ich meine Eltern wieder so täuschen, dass sie dachten, ich sei in der Kirche gewesen?

»Ich glaube, der Prediger hat Lukas 3,16 gerade letzten Monat behandelt«, sagte ich zum Beispiel, obgleich ich genau wusste, dass er das nicht getan hatte. Damit hatte ich aber den Eindruck erweckt, dass ich den Text wusste.

Oder ich benutzte ein paar Brocken eines Gesprächs, die ich aufgefangen hatte, und fragte:

»War das nicht eine gute Geschichte über Politiker? Ich könnte mir denken, dass der Bürgermeister wütend gewesen ist.« Diese Methode war ungeheuer erfolgreich. Ich schäme mich heute, wenn ich daran denke, wie selten ich als Kind die Kirche besuchte. Ich schäme mich noch mehr, wenn ich daran denke, dass meine arglose Familie niemals Verdacht schöpfte.

1939 wurde allen im Lande klar, was die Whetstras schon lange vorausgesehen hatten: Die Deutschen planten einen Eroberungsfeldzug, in den auch Holland einbezogen war. Bei uns zu Hause machten wir uns kaum Gedanken darüber. Bas war krank. Der Arzt sagte, er habe Tuberkulose. Mutter und Vater zogen ins Wohnzimmer und schliefen dort auf einer Matratze, während Bas in ihrem winzigen Schlafzimmer lag, hustete und hustete und zum Skelett abmagerte. Sein Leiden war viel furchtbarer als das eines normalen Menschen, weil er uns nicht sagen konnte, wie er sich fühlte.

Ich entsinne mich, dass ich eines Tages, kurz nach meinem elften Geburtstag, heimlich ins Krankenzimmer schlich. Das war wegen der Ansteckungsgefahr streng verboten. Aber ich wollte mich ja gerade anstecken! Wenn Bas sterben musste, wollte ich auch sterben. Ich warf mich über ihn und küsste ihn wieder und wieder auf den Mund. Im Juli 1939 starb Bas, während ich gesund blieb. Ich fühlte mich von Gott doppelt hintergangen.

Zwei Monate danach machte unsere Regierung mobil. Diesmal erlaubte Mutter, dass ihr Rundfunkgerät zum Nachrichtenhören gebraucht wurde. Wir stellten es auf größte Lautstärke ein, aber Vater konnte trotzdem nichts verstehen. So stellte sich meine kleine Schwester Geltje neben den Apparat und schrie ihm besonders wichtige Meldungen zu:

»Alle Reserve-Einheiten werden einberufen, Papa!«

»Alle Privatwagen werden für den Militärdienst eingezogen.«

Bei Einbruch der Dunkelheit hatte die Verkehrsstauung begonnen, die endlose Verkehrsstauung, die für die Monate vor der Invasion charakteristisch war. Alle Autos in Holland waren auf der Straße. Es schienen ebenso viele in den Norden des Landes wie in den Süden zu fahren. Niemand wusste, wohin er eigentlich fahren sollte, versuchte aber, so schnell wie möglich wegzukommen. Tag für Tag stand ich in meiner ausgebeulten Hose und dem losen Hemd unter dem Baum, unter dem Bas immer gestanden hatte, und beobachtete. Niemand sprach viel. Nur Herr Whetstra schien den Mut zu haben, in Worte zu fassen, was wir alle wussten. Ich konnte nicht verstehen, warum ich mich damals so zu den Whetstras hingezogen fühlte, aber ich ertappte mich häufig dabei, dass ich an ihrem Küchenfenster vorbeiging.

»Guten Tag, Andrew!«

»Guten Tag, Frau Whetstra!«

»Gehst du für deine Mutter einkaufen? Komm, hier ist ein Plätzchen, dass du groß und stark wirst.«

Sie holte einen Teller mit Plätzchen und brachte ihn ans Fenster.

Herr Whetstra sah vom Küchentisch auf.

»Ist das der kleine Andrew? Du willst wohl die Mobilmachung aus erster Hand sehen?«

»Jawohl!«

Aus irgendeinem Grunde versteckte ich mein Plätzchen hinter dem Rücken.

»Andrew, du musst jeden Abend für dein Land beten. Wir haben eine schwere Zeit vor uns.«

»Jawohl!«

»Was können Menschen mit ›Knallbüchsen‹ gegen Flugzeuge und Panzer ausrichten?«

»Jawohl!«

»Die Deutschen werden mit ihren Stahlhelmen, ihrem Paradeschritt und ihrem Hass hierherkommen, und das Einzige, was wir haben, sind unsere Gebete.« Herr Whetstra kam ans Fenster und stützte seine Arme auf das Fensterbrett. »Willst du beten, Andrew? Beten, dass wir den Mut haben, zu tun, was wir können, und wenn wir das getan haben, stillzuhalten? Willst du das tun, Andrew?«

»Jawohl, Herr Whetstra!«

»Guter Junge!« Herr Whetstra trat ins Zimmer zurück. »Nun geh und mach deine Besorgung!«

Aber als ich mich umdrehte, um die Straße hinunterzugehen, rief er hinter mir her:

»Du kannst das Plätzchen ruhig essen! Oh, ich weiß, manchmal raucht unser alter Ofen fürchterlich. Aber seit ich mein neues Fenster drin habe, funktioniert er tadellos.«

Als ich an diesem Abend im Bett lag, dachte ich über Herrn Whetstra nach. Er wusste also alles. Aber er hatte es nicht meinem Vater gesagt, wie das jeder andere im Dorf getan hätte. Ich fragte mich, warum. Ich fragte mich auch, warum er wollte, dass ich beten sollte. Wozu sollte das gut sein? Gott hörte nie! Wenn die Deutschen wirklich kommen sollten, hatte ich viel Schlimmeres gegen sie vor als Beten. Ich schlief ein und träumte von den Heldentaten, die ich auf eigene Faust vollbringen würde.

Im April wimmelte Witte von Flüchtlingen, die aus dem Polder östlich von uns hereingeströmt kamen. Holland sprengte seine Deiche und überflutete das Land, das es im Laufe von Jahrhunderten Zoll für Zoll dem Meer abgerungen hatte, um den Vormarsch des deutschen Heeres aufzuhalten. In jedem Haus, außer in unserem, das zu klein war, hatte eine Familie aus dem überfluteten Land Obdach gefunden, und Mutters Suppentopf kochte Tag und Nacht.

Aber die Deutschen kamen natürlich nicht auf dem Landweg. Die ersten Flugzeuge überflogen Witte in der Nacht des 10. Mai 1940. Wir verbrachten diese Nacht schlaflos und eng aneinandergerückt in unserem Wohnzimmer. Den ganzen nächsten Tag über sahen wir Flugzeuge und hörten die Explosionen, wenn sie den kleinen, vier Kilometer entfernten Militärflughafen bombardierten. Es war mein zwölfter Geburtstag, aber weder ich noch sonst jemand dachte daran.

Dann bombardierten die Deutschen Rotterdam. Der Rundfunkansager aus Hilversum, dessen Nachrichten wir seit der Mobilmachung immer hörten, weinte, als er es bekannt gab. Rotterdam war zerstört. Innerhalb einer Stunde war eine Stadt vom Erdboden verschwunden. Das war der Blitzkrieg, die neue Art, Krieg zu führen. Am nächsten Tag ergab sich Holland.

Ein paar Tage später kam ein kleiner, dicker deutscher Leutnant in einem Streifenwagen nach Witte und ließ sich im Haus des Bürgermeisters nieder. Die Handvoll Soldaten, die ihn begleiteten, waren meist ältere Männer. Für erstklassige Truppen war Witte nicht bedeutend genug.

Eine Zeit lang setzte ich wirklich meine Vorstellungen von Widerstand in die Tat um. Gar manche Nacht kletterte ich, wenn es an der Rathausuhr zwei schlug, barfuß die Leiter vom Dachboden hinunter. Ich wusste, dass mich meine Mutter hörte; denn ihre Atemzüge wurden plötzlich unregelmäßig, wenn ich an ihrem Zimmer vorbeikam. Aber sie hielt mich nie zurück. Sie fragte auch am nächsten Morgen nicht, was aus unserem kostbaren, streng rationierten Zucker geworden war. Alle im Dorf amüsierten sich, als der Dienstwagen dem Leutnant Schwierigkeiten zu machen begann. Seine Zündkerzen waren verrußt. Sein Motor setzte aus. Einige sagten, in seinem Benzintank sei Zucker; andere hielten das für unwahrscheinlich.

Die Lebensmittel wurden in den Städten schneller knapp als in Dörfern wie dem unseren. Und auch diese Tatsache benutzte ich in meinem kindlichen Krieg gegen den Feind. An einem heißen Tag in diesem ersten Sommer packte ich einen Korb voll Gemüse und Tomaten und machte mich auf den zweieinhalb Kilometer langen Weg nach Alkmaar. Ein Geschäft dort hatte noch eine Menge Vorkriegsfeuerwerkskörper, und ich wusste, dass der Besitzer Gemüse brauchte.

Ich nutzte meinen Vorteil so gut wie möglich und füllte meinen Korb mit den Feuerwerkskörpern. Obenauf legte ich Blumen, die ich zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Der Besitzer sah mir schweigend zu. Dann griff er plötzlich unter den Ladentisch und zog eine große Bombe hervor, einen roten, globusförmigen Feuerwerkskörper mit einer langen Zündschnur und hochexplosiver Füllung.

»Ich habe aber kein Gemüse mehr.«

»Sieh, dass du vor der Sperrstunde nach Hause kommst!«

In dieser Nacht knackten in Witte wieder die Dielen des Dachbodens, und wieder hielt Mutter den Atem an. Ich schlich barfuß in die Nacht hinaus. Eine Streife von vier Fußsoldaten kam von Süden her die Straße entlang und auf unser Haus zu. Sie richteten im Vorbeigehen ihre Taschenlampen auf jedes Gebäude. Ich drückte mich eng an die Hauswand, während die Marschstiefel immer näher kamen. Sobald die Soldaten vorüber waren, rannte ich über die kleine Brücke zwischen unserem Haus und der Deichstraße in südlicher Richtung zum Haus des Bürgermeisters. Es wäre einfach gewesen, die Bombe vor der Tür des Leutnants zu zünden, während sich die Streife am anderen Dorfende befand. Aber das war mir nicht abenteuerlich genug. Ich war der schnellste Läufer im Dorf, und ich stellte es mir besonders lustig vor, wenn diese alten Männer in ihren schweren Stiefeln hinter mir herliefen. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen älter als fünfzig war, aber für mich waren sie uralt.

So wartete ich, bis die Streife wieder zurückkam. In dem Augenblick, als sie das Hauptquartier erreichten, zündete ich die Bombe und rannte davon.

»Halt!«

Ein Lichtstrahl traf mich, und ich hörte ein Gewehrschloss schnappen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Im Zickzackkurs lief ich die Straße entlang. Dann explodierte die Bombe, und für den Bruchteil einer Sekunde wurde die Aufmerksamkeit der Soldaten von mir abgelenkt. Ich rannte über die erste Brücke, die ich finden konnte, raste durch einen Garten und warf mich zwischen die Gemüseköpfe. Fast eine Stunde lang suchten sie nach mir und riefen sich dabei rau klingende Worte in Deutsch zu. Dann gaben sie es auf.

Durch diesen Erfolg ermutigt, begann ich, am helllichten Tag Feuerwerkskörper zu zünden. Eines Tages lief ich aus meinem Versteck einem Soldaten direkt in die Arme. Fortlaufen bedeutete die Schuld zugeben. Aber in meinen Händen hatte ich starke Indizienbeweise: in der linken Feuerwerkskörper, in der rechten Streichhölzer.

»Du! Komm mal her!«

Meine Hände krampften sich um die verräterischen Dinge. Ich wagte sie nicht in meine Rocktasche zu stopfen. Dahin würden sie bestimmt zuerst gucken.

»Hast du einen Feuerwerkskörper explodieren lassen?«

»Feuerwerkskörper? O nein, Herr Offizier!«

Ich packte die beiden Zipfel meiner Jacke mit den fest zusammengeballten Händen und hielt sie ihm ausgebreitet zum Durchsuchen hin. Der Soldat tastete mich von meinen weiten Hosen bis zur Mütze ab. Als er sich dann sichtlich verärgert von mir abwandte, waren die Schwärmer in meiner Hand von Schweiß durchtränkt.

Aber als sich die Besatzungszeit in die Länge zog, wurde selbst ich meiner Spiele müde. In benachbarten Dörfern waren Geiseln in Reihen aufgestellt und erschossen sowie Häuser niedergebrannt worden, als sich der wirkliche Widerstand verhärtete und formierte. Es war kein Spaß mehr, den Deutschen Streiche zu spielen.

In ganz Holland gab es die »Untertaucher«, Männer und junge Burschen, die sich versteckten, um nicht in deutsche Arbeitslager verschleppt zu werden. Ben, der sechzehn war, als der Krieg begann, tauchte gleich im ersten Monat auf einem Bauernhof in der Nähe von Ermelo unter, und wir hörten fünf Jahre lang nichts von ihm.

Der Besitz eines Radios wurde zum Verbrechen gegen das neue Regime erklärt. Wir versteckten Mutters Apparat in einer Dachbodenlücke und hockten uns einzeln dorthin, um die Nachrichten in holländischer Sprache aus England zu hören. Später, als die holländische Eisenbahn in Streik trat, quetschten wir sogar Eisenbahnarbeiter in diese winzige Höhle. Und natürlich wurden auch hin und wieder Juden auf der Flucht zur Küste für eine Nacht dort versteckt.

Als es den Deutschen an Arbeitskräften zu fehlen begann, wurde die kleine Besatzungsmacht aus Witte abgezogen. Dann kamen die gefürchteten Razzien. Lastwagen rollten plötzlich in die Dörfer und riegelten die Deichstraße an beiden Seiten ab, während Soldatentrupps jedes Haus nach arbeitsfähigen Männern durchsuchten. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr floh ich beim Anblick einer deutschen Uniform mit den Männern und jungen Burschen in die Polder. Wir rannten gebückt über die Felder und sprangen über Kanäle, um das Moorland jenseits der Eisenbahn zu erreichen. Der Bahndamm war zu hoch zum Hinüberklettern. Wir wären bestimmt gesehen worden. So sprangen wir in den breiten Kanal, der unter der Eisenbahnbrücke dahinfloss und aus dem wir dann keuchend und zitternd wieder herauskrochen. Gegen Ende des Krieges schlossen sich sogar der kleine Cornelius und unser tauber Vater dem Wettlauf ins Moor an.

Zwischen den Razzien war das Leben ein Kampf ums bloße Überleben. Der elektrische Strom wurde ausschließlich für die Deutschen reserviert. Da wir unsere Pumpen nicht in Tätigkeit setzen konnten, stand das Regenwasser hoch auf dem Marschland. In den Häusern benutzten wir Öllampen. Das Öl stellten wir uns selbst aus Kohlsamen her. Da es keine Kohlen gab, musste Witte seine Ulmen fällen. Der Baum, unter dem Bas immer gestanden hatte, wurde im zweiten Winter geschlagen. Aber der Feind, der schlimmer war als die Kälte und die Soldaten, war der ständige, quälende Hunger. Alle Ernteerträge wurden für die Front requiriert. Mein Vater bebaute seinen Garten so sorgfältig wie immer, aber es waren die Deutschen, die das meiste davon ernteten. Jahrelang lebte unsere sechsköpfige Familie von Rationen für zwei Personen.

Zuerst konnten wir diese Zuteilung noch vergrößern, indem wir die Tulpenzwiebeln aus unserem Garten wie Kartoffeln aßen. Dann wurden sogar die Tulpen knapp. Mutter tat so, als äße sie, aber ich sah abends oft, wie sie ihre winzige Portion auf die übrigen Teller verteilte. Ihr einziger Trost war, dass Bas diese Zeit nicht miterlebte. Er hätte nie verstehen können, warum sein Magen so weh tat, der Kamin so dunkel war und keine Bäume mehr an der Straße standen.

Schließlich kam der Tag, wo Mutter ihr Bett nicht mehr verlassen konnte. Wir wussten: Wenn die Befreiung nicht bald kam, würde sie sterben.

Und dann, im Frühjahr 1945, gingen die Deutschen, und die Kanadier kamen an ihrer Stelle. Die Menschen standen auf der Straße und weinten vor Freude. Aber ich war nicht dabei. Ich rannte die drei Kilometer zum kanadischen Lager, wo ich mir einen kleinen Beutel voll Brotrinden erbetteln konnte. Brot! Buchstäblich Brot des Lebens!

Ich brachte es nach Hause und schrie immerfort: »Brot! Brot! Brot!«

Während Mutter an den trockenen Krusten kaute, rollten Tränen der Dankbarkeit gegen Gott die tiefen Furchen in ihren Wangen herab.

Der Krieg war vorüber.

Der gelbe Strohhut

VW Käfer

Eines Nachmittags im Sommer 1945, mehrere Monate nach der Befreiung, ließ mich mein Vater durch meine kleine Schwester Geltje zu sich in den Garten rufen.

Ich ging durch die dunkle Küche hinaus in den Gemüsegarten, der so von Sonne überflutet war, dass ich die Augen halb zukneifen musste. Vater stand mit der Hacke in den Händen und Klompen an den Füßen über sein Kohlbeet gebeugt und jätete mit liebevoller Geduld das kleine Unkraut.

»Du wolltest mich sprechen, Vater?«, schrie ich, als ich vor ihm stand.

Vater richtete sich langsam auf.

»Du bist jetzt siebzehn Jahre alt, Andrew«, sagte er.

Ich wusste sofort, welche Richtung das Gespräch nehmen würde.

»Jawohl, Vater!«

»Was hast du mit deinem Leben vor?«

Ich wünschte, er hätte nicht so laut gesprochen und ich hätte ihm nicht so laut zu antworten brauchen.

»Ich weiß es nicht, Vater.«

Jetzt würde er mich fragen, warum ich das Schmiedehandwerk nicht liebe. Er tat es. Dann würde er mich fragen, warum ich nicht bei der Maschinenschlosserei geblieben sei, ein Handwerk, das ich während der Besetzung zu lernen versucht hatte. Auch das tat er. Ich wusste, dass ganz Witte sowohl seine Fragen als auch meine ausweichenden Antworten hören konnte, mit denen ich ihn zufriedenzustellen suchte.

»Es wird Zeit, dass du einen Beruf wählst, Andrew! Im Herbst möchte ich wissen, wofür du dich entscheidest.«

Mein Vater begann wieder zu jäten, und ich wusste, dass das Gespräch zu Ende war. Ich hatte etwa zwei Monate Zeit, meine Entscheidung zu treffen. Oh, ich wusste, was ich wollte! Ich wollte ein Leben führen, das irgendwie aus dem Rahmen fiel. Ich wollte Abenteuer erleben, wollte fort von Witte, von der ständig nach rückwärts gerichteten Lebenseinstellung.

Aber ich wusste auch, dass ich keine guten Aussichten hatte. Als ich in der sechsten Klasse war, waren die Deutschen gekommen und hatten das Schulgebäude besetzt. Das war das Ende meiner Schulausbildung gewesen. Das Einzige, was ich gut konnte, war laufen. An diesem Nachmittag lief ich barfuß durch die Polder. Nachdem ich drei Kilometer auf den kleinen Fußpfaden, die von den Bauern benutzt wurden, gelaufen war, fing ich gerade erst an, warm zu werden. Ich lief durch das Dorf, wo ich mir die Feuerwerkskörper besorgt hatte. Mein Kopf war jetzt klar und arbeitete gut.

Ich kletterte den Deich hinauf, der nach Witte führte, und fühlte immer deutlicher, dass ich meiner Antwort nahe war. Die Lösung war klar. In der Zeitung las man ständig von bewaffneten Aufständen in den Kolonien. Niederländisch-Ostindien, das unlängst von japanischer Herrschaft befreit worden war, erdreistete sich jetzt, auch von Holland die Unabhängigkeit zu fordern. Täglich wurden wir daran erinnert, dass diese Kolonien holländischer Boden waren, und das seit 350 Jahren! Warum brachte unser Heer sie nicht zur Krone zurück?

Ja, warum nicht? An jenem Abend verkündete ich der Familie, dass ich schon wüsste, was ich machen wollte.

»Und das wäre?«, fragte Maartje.

»Soldat werden!«

Mutter holte erst einmal tief Luft.

»O Andrew! Müssen wir immer ans Töten denken?«

Aber mein Vater und meine Brüder waren anderer Meinung. Gleich in der nächsten Woche borgte ich mir Vaters Fahrrad und fuhr zum Werbebüro in Amsterdam. Ganz kleinlaut kam ich bei Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause. Siebzehnjährige wurden erst im Kalenderjahr, in dem sie achtzehn wurden, angenommen, und ich wurde erst im Mai 1946 achtzehn.

Im Januar fuhr ich wieder hin, und diesmal stellte man mich ein. Es dauerte nicht lange, da lief ich stolz in meiner Uniform durch Witte, ohne zu merken, dass die Hose zu klein, die Jacke zu groß, die ganze Wirkung ziemlich kopflastig war. Aber ich war auf dem Weg, unsere Kolonien für die Königin zurückzuerobern und vielleicht ein paar dieser schmutzigen Revolutionäre zu erwischen, die, wie es allgemein hieß, »Kommunisten und Schweinehunde« waren. Diese beiden Wörter wurden automatisch zusammen gebraucht.

Die Einzigen, die nicht mit Beifall reagierten, waren Whetstras. Ich ging, kopflastig wie ich war, an ihrem Haus vorbei.

»Hallo, Andrew!«

»Guten Morgen, Herr Whetstra!«

»Wie geht es deinen Eltern?«

War es denn möglich, dass er meine Uniform nicht sah? Ich drehte mich so, dass die Sonne sich in meiner Gürtelschnalle aus Messing spiegelte. Schließlich platzte ich heraus:

»Ich bin Soldat geworden. Ich gehe nach Ostindien.«

Herr Whetstra lehnte sich zurück, um mich besser sehen zu können.

»Ja, wirklich! Du suchst also Abenteuer. Ich werde für dich beten, Andrew. Ich werde beten, dass dich das Abenteuer, das du findest, befriedigt.«

Ich sah ihn erstaunt an. Was meinte er damit: ein Abenteuer, das befriedigt? »Jedes Abenteuer würde mich mehr befriedigen als dieses rückständige Dorf«, dachte ich, während ich über die flachen Felder hinblickte, die sich von Witte aus in alle Richtungen erstreckten.

So verließ ich die Heimat – löste mich innerlich und äußerlich von ihr los. Ich arbeitete schwer während meiner Grundausbildung und hatte zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, etwas zu tun, was ich gern tat.

Oh, wie glücklich war ich, dass ich wie ein Erwachsener behandelt wurde! Einen Teil meiner Ausbildung erhielt ich in Gorkum. Ich ging jeden Sonntag in die Kirche – nicht weil mich der Gottesdienst interessierte, sondern weil ich damit rechnen konnte, danach zum Mittagessen eingeladen zu werden. Es machte mir jedes Mal Spaß, meinen Gastgebern zu erzählen, dass ich für eine Sonderkommandoausbildung in Indonesien ausgewählt worden sei.

»In ein paar Wochen werde ich im Nahkampf mit dem Feind stehen«, pflegte ich zu sagen, indem ich theatralisch meinen Stuhl zurückstieß und einen langen Zug von meiner Sonntagszigarre nahm. Und dann fragte ich mit in die weite Ferne gerichtetem Blick, ob meine Gastgeber mir wohl einmal schreiben würden, wenn ich im Ausland wäre. Sie waren alle dazu bereit, und ehe ich Holland verließ, hatte ich schon siebzig Namen auf meiner Korrespondenzliste.

Einer davon gehörte einem Mädchen. Ich lernte sie auf die gewohnte Art nach der Kirche kennen, diesmal nach einem Gottesdienst der Reformierten Kirche. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, etwa ebenso alt wie ich, sehr schlank und mit so schwarzem Haar, dass es einen bläulichen Schimmer hatte. Was mich aber am meisten beeindruckte, war ihre Haut. Ich hatte zwar schon von einer Haut, so weiß wie Schnee, gelesen, aber hier sah ich sie zum ersten Mal. Nach einem angenehmen Kirchenschlaf ging ich auf Jagd nach einer Einladung. Natürlich wählte ich den richtigen Zeitpunkt zum Verlassen der Kirche. Schneeweiß war sie an der Tür. Sie stellte sich vor.

»Ich heiße Thile«, sagte sie.

»Ich heiße Andrew.«

»Mutter lässt fragen, ob Sie zum Mittagessen zu uns kommen würden.«

»Sehr gern«, sagte ich, und kurz darauf verließ ich die Kirche mit der Prinzessin am Arm.

Thiles Vater war Fischhändler. Seine Wohnung befand sich über seinem Laden im Hafengebiet von Gorkum, und während des Mittagessens mischten sich die angenehmen Gerüche vom Hafen mit denen von gekochtem Gemüse und Schinken. Hinterher saßen wir im Wohnzimmer.

»Eine Zigarre, Andrew?«, fragte Thiles Vater.

»Ja, danke!«

Ich suchte mir sorgfältig eine aus und rollte sie zwischen den Fingern, wie ich das bei den Männern in Witte gesehen hatte. Ehrlich gesagt, machte ich mir nichts aus Zigarren. Aber sie waren so eng mit dem Begriff von Männlichkeit verbunden, dass ich mit Vergnügen sogar ein Seil geraucht hätte. Während der Kaffee- und Zigarrenzeit saß Thile mit dem Rücken zum Fenster, und die helle Mittagssonne ließ ihr Haar noch blauer erscheinen als sonst. Sie sagte fast kein Wort, aber bei mir stand bereits fest, dass sie eine meiner Korrespondentinnen sein würde – und vielleicht noch viel mehr.

Der 22. November 1946 war mein letzter Tag zu Hause. Ich hatte mich schon von Thile und den anderen Bekannten in Gorkum verabschiedet. Jetzt war es Zeit, meinen Angehörigen Lebewohl zu sagen.

Wenn ich gewusst hätte, dass ich Mutter zum letzten Mal sah, hätte ich bestimmt nicht so den schneidigen Soldaten, der in den Krieg zieht, gespielt. Aber ich wusste es nicht, und ich nahm Mutters Umarmung hin, wie etwas, was mir gebührte. Ich fand, dass ich gut aussah. Endlich hatte ich eine gut sitzende Uniform, war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, und mein Haar war kurz geschnitten nach Soldatenart.

Als ich gerade fortgehen wollte, zog Mutter ein kleines Buch unter ihrer Schürze hervor. Ich wusste sofort, was es war: ihre Bibel.

»Andrew, willst du das mitnehmen?«

Natürlich sagte ich Ja.

»Wirst du es auch lesen, Andrew?«

Kann man zu seiner Mutter Nein sagen? Was man später tut oder nicht tut ist eine Sache, aber man kann in solch einem Moment nicht Nein sagen.

Ich steckte die Bibel in meinen Reisesack, so tief ich konnte, und vergaß sie.

Unser Truppentransporter, die Sibajak, landete kurz vor Weihnachten in Indonesien. Mein Herz pochte vor Erregung beim Geruch der schweren tropischen Düfte, beim Anblick der fast nackten Gepäckträger, die die Laufplanken herauf- und hinunterliefen, beim Lärm der Händler auf dem Kai, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchten. Ich schulterte meinen Reisesack und schwankte die Laufplanke hinunter in die glühende Sonne des Hafens. Ich ahnte nicht, dass ich ein paar Wochen später Kinder und unbewaffnete Erwachsene, wie sie sich jetzt um mich drängten, töten würde.

Als junger Soldat in Indonesien, 1947

Als junger Soldat in Indonesien, 1947

Ein paar Händler verkauften Affen, die sie an einer kleinen Kette festhielten. Viele von ihnen konnten kleine Kunststücke machen. Ich war fasziniert von diesen kleinen Geschöpfen mit den ernsten, uralten Gesichtern und bückte mich, um eins von ihnen näher zu betrachten.

»Nicht anfassen!«

Ich richtete mich auf und sah einen meiner Offiziere vor mir.

»Sie beißen, Soldat!« Der Offizier lächelte, meinte es aber im Ernst. »Die Hälfte von ihnen hat nämlich Tollwut.«

Der Offizier ging weiter, und ich zog meine Hand zurück. Der Junge, der den Affen an der Kette hielt, rannte hinter dem Offizier her und schrie ihm nach, dass er das Geschäft verderbe. Ich trat in die Reihe der an Land gehenden Soldaten zurück, aber schon da war mir klar, dass ich einen eigenen Affen haben musste.

Diejenigen von uns, die sich als geeignet erwiesen, wurden von der übrigen Truppe getrennt und auf einer benachbarten Insel als Kommandotrupps ausgebildet. Mir machten die harten Hinderniskurse Spaß: Mauern hinaufklettern, sich an Kletterpflanzen über Bäche schwingen, in unterirdische Kanäle kriechen, unter Maschinengewehrfeuer über den Boden robben. Noch mehr liebte ich die Nahkampfübungen, bei denen mit Bajonetten, Messern und mit den bloßen Händen gekämpft wurde. »Hei-hei! Ho!« Es galt, auszufallen und zu parieren, mit gestreckten Fingern zuzustoßen, mit gezogenem Messer auf den Feind loszugehen. Irgendwie kam mir nie der Gedanke, dass ich gerade übte, Menschen zu töten.

Zur Kommandotruppausbildung gehörte die Entwicklung des Selbstvertrauens. Aber hier brauchte ich keine besondere Schulung. Von Kindheit an besaß ich ein völlig grundloses Vertrauen, alles, was ich mir vornahm, auch durchführen zu können.

Wie z. B. einen Panzer zu fahren, der selbst für jemand, der Auto fahren konnte, schwierig zu handhaben war. Ich konnte nicht Auto fahren, aber wenn wir zum Manöver ausrückten, beobachtete ich den Fahrer des Panzers, mit dem ich fuhr, bis ich den Dreh herauszuhaben glaubte.

Eines Tages bekam ich unerwartet Gelegenheit, das zu überprüfen. Als ich aus dem Mannschaftsquartier herauskam, lief ich einem Offizier in die Arme.

»Können Sie einen Panzer fahren, Rekrut?«

Ein zackiger Gruß und ein noch zackigeres: »Jawohl!«

»Schön! Dieser hier muss in die Werkstatt. Vorwärts!«