Illustration

Harald Eichelberger

Handbuch zur Montessori-Didaktik

Harald Eichelberger

Handbuch zur Montessori-Didaktik

StudienVerlag
Innsbruck-Wien

© 1997 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

Internet: www.studienverlag.at

Fotografien: Konrad Erhardt

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-7065-5787-0

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Inhalt

Vorwort

Zugang

Maria Montessori und ihre Pädagogik der Selbstbildung

Orientierung

Grundgedanken der Montessori-Pädagogik und ihre Bedeutung für ein didaktisches Konzept

Die sensiblen Phasen

Freiarbeit

Zur Arbeit der Lehrer mit den Kindern

Über das Beobachten

Wissen, was ich will

Die Einbeziehung der Eltern

Die vorbereitete Umgebung und das Entwicklungsmaterial

Zum Entwicklungsmaterial

Die Polarisation der Aufmerksamkeit

Der absorbierende Geist

Weg – erste Möglichkeit

Über die Bedeutung der Übungen des täglichen Lebens

Materialien der Übungen des täglichen Lebens zur Pflege der eigenen Person

Übungen (und Materialien) für die Sensibilität von Bewegungen und auch für die Sensibilität von Ordnungen

Übungen des täglichen Lebens zur Pflege der Umgebung

Exemplarische Darstellung des didaktischen Wertes der Übungen des täglichen Lebens anhand der Löffelübungen

Zur Darbietung

Zu den Inhalten und dem didaktischen Stellenwert der Arbeit

Weg – zweite Möglichkeit

Über die Bedeutung der Übungen zur Sinnesentwicklung

Der didaktische Stellenwert der Sinnesentwicklung

Materialien zur Entwicklung der Sinne

Zur Darbietung

Die Drei-Stufen-Lektion

Ordnung

Zur Didaktik in der Montessori-Pädagogik

Zur Bedeutung einer didaktischen Theorie

Didaktischer Leitfaden – Material zur Arithmetik

Eindringen in die Welt der Zahlen mit ihren Ausdrücken und Symbolen

Präsentation der dezimalen Organisation der Quantitäten – das Verstehen des Zehnersystems

Parallelübungen

Betrachtung des Wertes der Ziffer entsprechend ihrer Position in der dezimalen Organisation und die Operationen

Parallelübungen

Didaktischer Leitfaden – Materialien zur Geometrie

Themen, die in der Grundschule immer wiederkehren

Didaktischer Leitfaden – Materialien zur Sprache

Überordnung

Die kosmische Erziehung

Begriff und Bedeutung

Zur kosmischen Theorie

Drei Aspekte der Konzeption einer kosmischen Erziehung

Themenbereiche exemplarisch – teils von Maria Montessori vorgeschlagen und ausgearbeitet

Die Geschichte der Zahlen und des Zählens

Wie das Zählen und wie die Zahlen entstanden sein könnten

Die Entstehung von Sprache und Schrift

Die Entstehung der Schrift

Ausblicke

Soziale Erziehung in der Montessori-Pädagogik

Heterogene Altersgruppen

Kinder verschiedener Muttersprachen in einer Montessori-Klasse

Montessori-Pädagogik und Integration

Die Kinder lehren uns

Wegweiser

Über die Entstehung der Standardwerke

Zur Edition des „Metodo ...“

Zur Edition der „Autoeducazione ...“

Zur Entstehung des Buches „The Absorbent Mind“

Nachwort

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Realizing too, that the will can be strengthened only by voluntary activity he sees the importance of liberty in the schoolroom; and that this freedom „can only come by self-activity“.

E.M. Standing

Dem Leben helfen

Maria Montessori nannte ihre Pädagogik oft eine Methode. Diese fußt auf der aufmerksamen Beobachtung von Kindern und deren Entwicklungsbedürfnissen und ist in der gemeinsamen Arbeit mit Kindern entstanden. Maria Montessori hat in ihren Schriften diese Methode immer wieder erklärt und begründet:

Wenn wir sprächen von einer „Hilfe für die menschliche Person, ihre Unabhängigkeit zu erobern“, von einem „Mittel, sie von der Unterdrückung durch alte Vorurteile über die Erziehung zu befreien“, dann würde alles klar sein. Die menschliche Personalität muß in den Blick genommen werden und nicht eine Erziehungsmethode: Die Verteidigung des Kindes, die wissenschaftliche Erkenntnis seiner Natur, die Proklamation seiner sozialen Rechte müssen an die Stelle der zerstückelten Weisen, die Erziehung zu konzipieren, treten.1

Die kindliche Entwicklung

Die kindliche Entwicklung und die Arbeit mit dem Kind – das gemeinsame Leben – sind die Orientierungspunkte für die erzieherische Arbeit:

Wer kann uns denn die natürlichen Wege, auf denen sich das natürliche Wachstum des menschlichen Individuums vollzieht, offenbaren, wenn nicht das Kind selbst, sofern es in Verhältnisse gebracht wird, die es ihm möglich machen, sich zu offenbaren? Unser erster Lehrmeister wird also das Kind selbst sein oder, besser noch: der Lebensdrang mit den kosmischen Gesetzen, die es unbewußt leiten. Es ist nicht sosehr das, was wir „den Willen des Kindes“ nennen, als der geheimnisvolle Wille, der seine Bildung leitet.2

Wegbeschreibung

Das Handbuch zur Montessori-Didaktik soll gleichsam die Beschreibung eines möglichen und gangbaren Weges sein, wenn Pädagogen3 diese Orientierungspunkte anstreben wollen. Es soll – um im Bild des Weges zu bleiben – die Richtung angeben, Wege beschreiben, den Aufbau der Umgebung verdeutlichen, zu einem Ziel führen und bei der Beantwortung der Fragen helfen, warum und wozu gerade dieser Weg gewählt worden ist.

Der Begriff „Didaktik“ kann im Zusammenhang mit der Montessori-Pädagogik nicht im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit gesehen werden, sehr wohl aber zur Klarheit des pädagogischen Denkens und Handelns innerhalb einer Pädagogik der Selbstverwirklichung verhelfen.

 

Anmerkungen

1  Maria Montessori, Über die Bildung des Menschen, Freiburg 1996, S. 16

2  Maria Montessori, a.a.O., S. 22

3  Sämtliche Begriffe und Berufsbezeichnungen sind im vorliegenden Text als geschlechtsneutral zu verstehen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf eine doppelgeschlechtliche Schreibweise verzichtet. Bei häufig wiederkehrenden Berufsbezeichnungen Wie „Lehrer“ bzw. „Lehrerin“ wechseln wir zwischen maskuliner und femininer Bezeichnung, um keine einseitige Darstellung zu suggerieren.

Zugang

Maria Montessori und ihre Pädagogik der Selbstbildung

Mehr noch als andere Geschöpfe ist der Mensch in seinem Wesen in besonderer Weise während seiner Entstehung, während seines Aufbaus erkennbar.

Maria Montessori

Zur Aktualität der Pädagogik Maria Montessoris

Maria Montessori hat vor nun fast 90 Jahren „ihre“ Pädagogik zum ersten Mal in dem Buch „Entdeckung des Kindes“4 veröffentlicht. Die Frage nach der Aktualität dieses pädagogischen Konzeptes ist daher zulässig und wird in der pädagogischen Diskussion auch immer wieder gestellt. Gleichzeitig wird wiederholt die Frage nach den Möglichkeiten einer Integration des pädagogischen Konzeptes Maria Montessoris in aktuelle Lehr- und Bildungspläne aufgeworfen. Doch solche Fragen können niemals allgemeingültig beantwortet werden. Die Fragestellung selbst entsteht meist aus einer konkreten Situationen oder einem spezifischen Interesse an der Materie.

Didaktik und Bildungsziele

Ich möchte mich nicht mit der Diskussion der möglichen Antworten auf diese Fragen beschäftigen, sondern vielmehr darstellen, welche pädagogischen Werte und Ziele ich in einem Konzept, wie die Montessori-Pädagogik eines darstellt, zu finden hoffe. Auf diesem Wege soll der Versuch unternommen werden, die Frage nach der Aktualität und der Integrationsmöglichkeit konkret zu beantworten. Es sind dies vor allem die Ziele der Selbstfindung und Selbstverwirklichung, des selbständigen und selbstorganisierten Lernens, die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen, die Fähigkeit zur Arbeit im Team und letztlich auch zum friedlichen Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Ich gehe von der These aus, daß die Montessori-Pädagogik diese Bildungsziele in einem höheren und besseren Maße erreichen hilft als eine großteils lehrerzentriert orientierte Schulpädagogik Diese These werde ich nicht „beweisen“ können, möchte aber aufzeigen, in welchem didaktischen Konzept die Verwirklichung der Bildungsziele wahrscheinlich erscheint. Ich bin überzeugt, daß sich damit auch die Frage nach der Aktualität der Montessori-Pädagogik beantworten wird.

Vergleich zur lehrerzentrierten Schulpädagogik

Keine pädagogische Richtung entstand oder entsteht – in ihrem historischen Kontext gesehen – grundlos. Für das Verständnis einer pädagogischen Richtung ist es wichtig, die Genese nachvollziehen zu können. Die Montessori-Pädagogik ist nicht nur durch das Interesse Maria Montessoris an pädagogischen Fragestellungen entstanden. Die Montessori-Pädagogik ist auch nicht in der Einsamkeit gelehrter Schreibtischarbeit entstanden. An der Entstehung der Montessori-Pädagogik waren immer Kinder beteiligt! Doch vorerst – in den ersten beiden Lebensjahrzehnten – hatte Maria Montessori ganz andere berufliche Pläne:

Schule und Studium

Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle in der italienischen Provinz Ancona geboren. 1875 zog die Familie Montessori nach Rom. In der Schule zeigte Maria Montessori ein ausgeprägtes Interesse an der Mathematik, und sie entschied sich mit der Unterstützung der Mutter, schon mit 12 Jahren eine technische Schule zu besuchen. Ihr Lieblingsfach war auch weiterhin die Mathematik; sie plante, Ingenieur zu werden – für ein Mädchen in der damaligen Zeit eine höchst ungewöhnliche Wahl. Letztlich entschied sie sich jedoch im Alter von neunzehn Jahren, Medizin zu studieren.

Entstehung der Methode

Das Studium der Kinderheilkunde in den letzten beiden Studienjahren und wiederholte Hospitationen in psychiatrischen Kliniken wiesen ihr den Weg zu weiteren Studien und verstärkten ihr Interesse für geistig behinderte Kinder. Während dieser Studien vertiefte sie sich in die Schriften Jean Gaspard Itards und Eduard Seguins, die sich beide mit der Erziehung von geistig behinderten Kindern wissenschaftlich befaßt hatten. Fast dreißigjährig schrieb sie sich wieder als Hörerin an der Universität ein, besuchte Pädagogik-Vorlesungen und studierte die Hauptwerke der damaligen Erziehungswissenschaft, vornehmlich von Pereira, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel u.a.m. Nach der Errichtung einer Lehrklinik mit angeschlossener Modellschule folgten weitere Studien der Philosophie und 1904 auch die Übernahme einer Lehrtätigkeit an der Universität in Rom. 1907 bekam Maria Montessori Gelegenheit, mit gesunden Kindern zu arbeiten. Diese Arbeit wurde die Basis zur Entwicklung ihrer Methode.

Maria Montessori über „ihre“ Methode

Der Erfolg der Pädagogik Maria Montessoris kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, daß dieses pädagogische Konzept gemeinsam mit und während der Arbeit mit Kindern entwickelt worden ist, und daß es auch die Kinder waren, die Maria Montessori diese „Methode“ gelehrt hatten:

Es sei wiederholt: Ich habe nicht zuerst die Grundsätze aufgestellt und nach ihnen dann meine Erziehungsmethode eingerichtet. Gerade das Gegenteil war der Fall. Nur die unmittelbare Beobachtung an den Kindern, denen Freiheit gewährt wurde, hat mir bestimmte Gesetze ihres inneren Lebens offenbart, von denen ich später entdeckte, daß sie allgemeine Gültigkeit haben. Die Kinder waren es, die aus eigenem Antrieb den Weg, der zur Kraft führt, gesucht und mit sicherem Instinkt herausgefunden haben.5

In einer eher anekdotischen Darstellung könnte die Entwicklung der Montessori-Pädagogik von folgendem Ereignis ihren Ausgang genommen haben:

Erstes Kinderhaus

Im Elendsviertel von San Lorenzo hatte eine Baugesellschaft im Rahmen einer Stadtsanierung Miethäuser als Kapitalanlage errichtet. Als Mieter zogen Ehepaare in diese Miethäuser ein, bei denen meist beide Partner einer Arbeit nachgingen. Dadurch tauchte das Problem auf, daß in jedem Gebäudekomplex (58 mit insgesamt 1600 Wohnungen!) ungefähr 50 Kinder tagsüber umherstreunten und u.a. auch Schaden anrichteten. Die Baugesellschaft kam auf die Idee, daß es billiger sei, die Kinder jedes Miethauses an einem Ort zu versammeln und von einer Frau beaufsichtigen zu lassen. Einer der Direktoren der Baugesellschaft wandte sich deshalb an Maria Montessori, um sich beraten zu lassen. Sie aber wollte die Organisation und die Leitung der Kindergruppen selbst übernehmen.6 Hiermit bot sich für sie die Gelegenheit, ihre Erziehungsideen mit gesunden Kindern auszuprobieren. Am 6. Januar 1907 wurde das erste „Kinderhaus“ eröffnet. Maria Montessori brachte einen Teil des Lehrmaterials, das sie in der Scuola Ortofrenica nach den Studien J.G. Itards und E. Seguins und der großen Pädagogen entwickelt und eingesetzt hatte, mit. Es gab ein wenig gespendetes Spielzeug, Papier und Farben. Sie beobachtete die Kinder intensiv und entwickelte gemeinsam mit den Kindern ihre Methode. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen und den Entdeckungen der „Gesetze des inneren Lebens“ – wie sie es nannte – leitete Maria Montessori die Grundlagen ihrer Pädagogik ab. Auf welchem Denk- und Arbeitsansatz ihre Arbeit in dieser Zeit beruhte, beschreibt sie 1948 in ihrem Werk „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“:

Erstes „Kinderhaus“

Und so fand ich allmählich meinen Weg zu neuen Zielen, die sich auf dem Gebiete der Psychiatrie zeigten. Ich begriff, was andere nicht begriffen, nämlich daß die wissenschaftliche Erziehung nicht auf dem Studium und den Meßergebnissen der zu erziehenden Menschen beruht, sondern eine fortlaufende Behandlung voraussetzt, die ihn verändern kann.7

Maria Montessoris Forschungsinteresse

Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefaßt unter der Bezeichnung „psychische Reaktionen“ sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori zwar auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Itard und Seguin zurück, sie bezog jedoch noch einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als „Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen.“8

Polarisation der Aufmerksamkeit

Die Gestaltung des römischen Kinderhauses (nach 1907) stellte bereits die Anwendung dieses Konzeptes dar und brachte eine Entdeckung, die zum Kristallisationspunkt der weiteren experimentalpsychologischen Forschung und der gesamten Montessori-Pädagogik wurde: die Polarisation der Aufmerksamkeit. Sie beschreibt die Wichtigkeit dieses Phänomens innerhalb ihres pädagogischen Konzeptes und ihrer Forschungen. „Die Organisation des psychischen Lebens beginnt mit einem charakteristischen Phänomen der Aufmerksamkeit.“9 Diese psychische Entwicklung „organisiert sich mit Hilfe äußerer Anregungen, die durch Versuche festgestellt werden müssen.“10

Sensibles Alter-sensible Perioden

Maria Montessori nennt ihre experimentelle Arbeit mit drei – bis sechsjährigen Kindern an derselben Stelle „einen praktischen Beitrag zur Erforschung der Pflege, deren die Kinderseele bedarf.“11 Mit der Entdeckung der Polarisation der Aufmerksamkeit hatte Maria Montessori einen Zugang zum kindlichen Selbstbildungsprozeß gefunden. Die weitere Frage richtete sich auf die systematisch herstellbaren Bedingungen für das Zustandekommen dieses Phänomens – die Frage nach der vorbereiteten Umgebung. Während dieser Forschungsarbeiten tauchte auch der Begriff des sensiblen Alters auf, der aber im Detail noch nicht auf die Inhalte der später so genannten sensiblen Perioden ausgerichtet ist.

Erziehungsziel

Das Ziel aller Erziehungsbemühungen ist für Maria Montessori die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit.12 Hildegard Holtstiege zitiert Maria Montessori mit einer Umschreibung dieser Erziehungsabsicht „Meister seiner selbst zu sein“, ein Zustand, der gleichbedeutend ist mit Freiheit.13 Dieser Prozeß einer intensiven persönlichen Entwicklung, eines intensiven individuellen Lernens bedarf einer für alle Beteiligten einsichtigen und einer akzeptierten pädagogischen Struktur.

Selbstschöpfung und Freiheit

Während sich der „herkömmliche“ Erzieher (und Lehrer) als Schöpfer des kindlichen Geistes versteht, bedeutet Bildung im Sinne Maria Montessoris Selbstschöpfung. Grundbedingung für diesen Prozeß der Selbstschöpfung ist nach Maria Montessori vor allem die Freiheit für die eigene individuelle Entwicklung des Kindes innerhalb eines pädagogisch definierten Rahmens, der diesen Prozeß der Selbstschöpfung überhaupt erst möglich macht. Dieser Rahmen wird durch die pädagogischen Grundgedanken Maria Montessoris umschrieben werden können. Ich werde die Grundgedanken Maria Montessoris beschreiben, aber nicht prinzipiell diskutieren und mich nicht am „Streit um die Montessori-Pädagogik“ beteiligen.

Selbständigkeit und Selbstverantwortung

Ausgehend von Maria Montessoris These der Ermöglichung eines Selbstbildungsprozesses des Kindes in einer vorbereiteten Umgebung und unter der Annahme der Fähigkeit des absorbierenden Geistes liegt die Implikation von Erziehungszielen, wie Selbständigkeit und Selbstverantwortung, nahe. Unter den aktuellen gesellschaftlichen und schulpolitischen Aspekten der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und des selbstorganisierten Lernens erweist sich somit die Montessori-Pädagogik als eine Pädagogik, der diese Fähigkeiten immanent sind. Dabei muß an dieser Stelle auch betont werden, daß sich diese pädagogische Aktualität nicht nur auf die frühkindliche Entwicklung bezieht, sondern auf die Entwicklung und das Lernen des Menschen in jedem Alter, vor allem aber auf die Entwicklung des jungen Menschen in unseren Schulen. Maria Montessori macht in diesem Zusammenhang deutlich, worauf es in der Freiarbeit ankommt: primär auf die Arbeit und auf den Prozeß, der sich im Innern des Lernenden, in seinem Intellekt, in seiner Psyche, vollzieht. Sie verweist in einer auch heute noch gültigen Schulkritik in der Auseinandersetzung mit J.F. Herbart auf die Problematik des „Bewirkens“ von Interesse und Aufmerksamkeit:

Sich künstlich interessant machen, das heißt sich interessant machen für jemand, der kein Interesse an uns hat, das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Und stunden – und jahrelang durch Interesse nicht eine, sondern eine Vielzahl von Personen an uns binden, die nichts mit uns gemein haben, nicht einmal das Alter: das ist eine übermenschliche Aufgabe. ... Das (Begreifen und Lernen) ist eine im Innern sich vollziehende Arbeit, die er (der Lehrer) nicht gebieten kann.14

Wenn dein Kind es besser weiß ...

Maria Montessori hat, wie andere Reformpädagogen auch, radikal „umgedacht“. Konsequent stellt sie das Kind in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik, das Kind, das es „manchmal besser weiß“, mit seinen Interessen, seinen Bedürfnissen und seinem „inneren Bauplan“. Und sie verlangt von den Erziehern das Vertrauen zu den Kindern und zu sich selbst, sich von den Kindern leiten zu lassen. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der immer wiederkehrenden Renaissance der Montessori-Pädagogik, daß wir uns noch immer wünschen, als Kind in unserem Sosein und in unserer Entwicklung angenommen worden zu sein.

illustration

Abbildung 1: Maria Montessori (rechts) – hier bei einem Besuch in Wien im Gespräch mit Lili Peller-Roubiczek (1922)

Die Erziehung Maria Montessoris beruht demnach auf der Achtung vor der Persönlichkeit des Kindes und auf dem Bestreben, dessen natürlichen Tätigkeitstrieb frei walten zu lassen, statt ihn zu unterdrücken und beherrschen zu wollen. Doch ist damit nicht gemeint, daß das Kind sich selbst überantwortet bleibt, daß es tun und lassen soll, was ihm gerade einfällt. Das hieße mit Grundsätzen arbeiten, die negative Erfolge ergeben müßten. Wir haben positive Arbeit zu leisten ...15

Aktualität der Montessori-Pädagogik

Abschließend noch eine kompetente Stellungnahme zur Aktualität und Zeitgemäßheit der Montessori-Pädagogik. Paul Scheid16 führte mit dem Sohn der „Dotoressa“, Mario Montessori, über die Frage der Aktualität der Montessori-Pädagogik ein Gespräch, in dem wir folgende „Selbsteinschätzung“ vorfinden:

Die Arbeit meiner Mutter hätte, wie vordem viel Wertvolles, untergehen können, um neuen Erkenntnissen Platz zu machen. Sie hätte dasselbe Schicksal erleiden können wie die traditionellen Erziehungsideale, die ganz oder teilweise in Stücke geschlagen worden sind. Ihre Arbeit hätte ein ganz anderes Gesicht bekommen können durch die zahlreichen Versuche unserer Zeit, der Erziehung eine neue Richtung zu geben. Während meiner Reisen durch viele Länder und Kontinente in den letzten Jahren haben sich alle meine Zweifel gelegt. Die Art, wie ihre Ideen – nicht immer mit der ausdrücklichen Nennung ihres Namens – verwirklicht wurden und werden, hat mich immer wieder erfreut; ich war überrascht, daß für moderne Bildungspläne vieler Länder der Montessori-Gedanke richtungweisend ist. Dasselbe gilt auch für viele neue Entwicklungen auf dem pädagogischen Sektor. Sogar diejenigen, die sich auf die neue Mathematik stützen, erkennen Maria Montessori als Pionier an. [ ... ] Dies alles weist eindeutig darauf hin, daß die Pädagogik Maria Montessoris heute weiter denn je davon entfernt ist, als „überholt“ zu gelten, sondern beweist, daß ihre Ideen Eingang gefunden haben in die moderne Erziehung und dort einen festen Platz einnehmen.17

 

Anmerkungen

4  Titel der heutigen deutschsprachigen Ausgabe: Die Entdeckung des Kindes.

Italienische Ausgabe: Montessori, Maria, Il Metodo della Pedagogia Scientifica Applicato All’educazione infantiele nelle case dei bambini, Città di Castello, 1909, dt. Übers.: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, Stuttgart 1913

5  Maria Montessori, Das Kind in der Familie und andere Vorträge, Wien, o.]., S. 84

6  Vgl. Rita Kramer, Maria Montessori, München 1983

7  Maria Montessori, Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 1966 (früher: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, Stuttgart 1913), S. 36

8  Nach Hildegard Holtstiege, Maria Montessori und die reformpädagogische Bewegung, Freiburg 1986, S. 35

9  Maria Montessori, Schule des Kindes, Freiburg 1976 (früher Montessori-Erziehung für Schulkinder, Stuttgart 1926), S. 69

10 Maria Montessori, Schule des Kindes, Freiburg 1976, S. 71

11 Maria Montessori, Schule des Kindes, Freiburg 1976, S. 69

12 Hildegard Holtstiege, Modell Montessori, Freiburg 1977, S. 16

13 Maria Montessori, Grundlagen meiner Pädagogik, Heidelberg 1968 (München 1934), 5. 23

14 Maria Montessori, Schule des Kindes, Freiburg 1976, S. 50f.

15 Maria Montessori, Grundlagen meiner Pädagogik. Erziehung, Bildungswege und Probleme der Gegenwart, 5. Jg., Heft 8, 1952, S. 10, zitiert aus „Mein Handbuch“

16 Prof. Paul Scheid ist Präsident der Deutschen Montessori – Gesellschaft, die er 1952 gegründet hat, und Direktor des Frankfurter Montessori-Seminars zur Ausbildung von Montessori-Lehrkräften. Das Seminar ist dem Hessischen Institut für Lehrerfortbildung angegliedert.

17 Paul Scheid, Das Frankfurter Modell, in: Paul Scheid und Herbert Weidlich (Hrsg.), Beiträge zur Montessori-Pädagogik 1977, Stuttgart 1977, S. 8; (zitiert ohne genaue Quellenangabe)

Orientierung

Grundgedanken der Montessori-Pädagogik und ihre Bedeutung für ein didaktisches Konzept

Es ist die gemeinsame Arbeit, die Zuwendung zum Kind und die Liebe zum sich entwickelnden Menschen, die diesem eine möglichst gute Entwicklung seiner Persönlichkeit ermöglichen; ... erst dann kommt die Arbeit mit dem Material!

Maria Montessori

Anliegen der Reformpädagogen

Was ist nun der Inhalt des pädagogischen Konzeptes Maria Montessoris? Wie wird die Selbstbildung des Kindes innerhalb der Schule (und innerhalb der Familie) ermöglicht? Das Verständnis des Begriffes „Didaktik“ wird bei Maria Montessori kaum explizit definiert. Sie lehnt sich in ihrer didaktischen Grundorientierung – wie andere Reformpädagogen auch – an das schon zuvor von J.J. Rousseau formulierte Anliegen des Eigenrechtes des Kindes auf freie Entwicklung und eigenständige Zielsetzung an. Hier finden wir Maria Montessori in guter Gesellschaft gegen die „Verbiegung“ der Kinder im Namen der Gesellschaft ankämpfen. Diese Position wird auch – in der Tradition Fröbels – im Ausspruch Ellen Keys, die das Jahrhundert des Kindes ausruft, manifest: „Laßt uns die Kinder leben lassen.“18 Die Schule der Zukunft wird nach Ellen Key zwar die allgemeine Bildung fortsetzen, „aber nach einem jedem Individuum angepaßten Plan“.19

Didaktische Grundfrage

Dabei geht es in pädagogischer Verantwortlichkeit niemals um bloßes Gewährenlassen. Der oft zitierte, zum Leitgedanken der Montessori-Pädagogik gewordene Ausspruch eines Kindes „Hilf mir, es selbst zu tun!“ verlangt nach didaktischen Fragestellungen und Antworten. Wir müssen in diesem Zusammenhang von der didaktischen Grundfrage ausgehen: Wie kann ich einem Kind in seiner individuellen Entwicklung und in einer ganz bestimmten Gesellschaft behilflich sein, zu einer optimalen Entwicklung seiner intellektuellen, psychischen und physischen Fähigkeiten und Fertigkeiten unter Berücksichtigung der notwendigen gesellschaftlichen Erfordernisse zu gelangen? Wenn wir die Frage im Kontext der Montessori-Pädagogik sehen, könnte sie auch folgendermaßen gestellt werden: Welcher Weg führt zur Selbstbestimmung des Menschen?

Ein Weg zur Durchführung neuer Methoden

Maria Montessori spricht niemals explizit von Prinzipien ihrer Pädagogik, die uns diesen Weg zeigen können. Sie möchte uns einen Weg zur Durchführung neuer Methoden zeigen – ein wichtiger Unterschied zum Verstehen eines pädagogischen Konzeptes. Günter Schulz-Benesch spricht von „Grundgedanken“, Hildegard Holtstiege gibt eine „Modellbeschreibung“. Wir könnten die Begriffe Freiheit, Sensible Phasen, Vorbereitete Umgebung, Entwicklungsmaterialien, Polarisation der Aufmerksamkeit, absorbierender Geist ebenso Orientierungspunkte nennen, die es uns ermöglichen, die äußere und innere Ordnung in unserer Arbeit mit den Kindern zu finden, um ihnen auf dem Weg zu Selbstbestimmung zu helfen.

Grundgedanken oder Orientierungspunkte

Dabei möchte ich eindeutig vorausschicken, daß Lernen in Freiheit kein Widerspruch zu einem didaktischen System darstellt. Ich gehe vielmehr von der Voraussetzung aus, daß die Freisetzung des Lernenden zur eigenen Entwicklung eine klare, eindeutige und für den Lernenden deutlich erkennbare Struktur benötigt, um eine Orientierung in und zur Selbstbestimmung finden zu können. Nach der Vorstellung Maria Montessoris finden wir diese Struktur im Aufbau und in der Anordnung der Entwicklungsmaterialien, in der richtigen Darbietung derselben, im respektvollen Umgang mit den Kindern, der Achtung vor ihrem Willen und in der Empathie der Lehrer, sich in den inneren Bauplan des Kindes einzudenken und einzufühlen.

Aufgabe der Erzieher

Lehrer und Erzieher müssen diese hilfreiche Struktur verinnerlicht haben, da sie ansonsten dem Schüler nicht helfen können. Es ist die Aufgabe der Erzieher, den Kindern einen Weg zu zeigen, doch es ist auch ihre Aufgabe, die Entscheidung der Kinder zu akzeptieren, wenn diese ihren eigenen Weg suchen oder einen Weg gehen, den sie selbst gefunden haben. Verantwortungslos ist es, wenn Lehrer keinen Weg kennen oder wenn sie Kinder auf deren eigenem Weg nicht begleiten können.

Wahrscheinlich doch ein interessantes Buch ...

Die Schrift Maria Montessoris, die die konkretesten Hinweise auf eine didaktisch-methodische Arbeit mit den Kindern gibt („Schule des Kindes“ Band II) ist leider in einer deutschen Übersetzung bis zum heutigen Tag nicht erschienen.20 Das ist einerseits bedauerlich, weil ein wesentlicher Teil der Didaktik Maria Montessoris in unserer eigenen Sprache nicht gelesen werden kann, andererseits ergibt sich dadurch die Chance, die Montessori-Pädagogik in einem didaktischen Verständnis, das der heutigen pädagogischen Situation und den pädagogischen Kenntnissen entspricht, zu sehen und neu zu beschreiben.

Zum Sinn der Montessori-Pädagogik

Ein wesentlicher Gesichtspunkt einer Didaktik der Montessori-Pädagogik wird vor allem in einer didaktisch-methodischen Ordnung der Arbeit mit den Kindern zu sehen sein. Diese Ordnung orientiert sich an den Grundgedanken Maria Montessoris und an den Inhalten der didaktischen Werke, die zugänglich sind,21 vor allem aber am pädagogischen Reichtum der Gedanken Maria Montessoris: Von Bedeutung ist vor allem der tiefe Sinn dieser Pädagogik, in der das Kind im Mittelpunkt steht und die liebevolle Achtung vor ihm, und nicht die Erziehungsideale des Erwachsenen und seine Zielvorgaben.

Die sensiblen Phasen

Wer wir sind,

wer wir werden,

ist bestimmt durch die Menschen,

die uns lieben.

Baden Powell

Maria Montessori hat die sensiblen Perioden nicht als erste entdeckt, aber während der Arbeit mit ihren Kindern immer wieder beobachtet. Die eigentliche Entdeckung geht auf den Holländer Hugo de Vries zurück, und Montessori faßt die Entdeckungen von de Vries in folgender Definition zusammen:

Es handelt sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter des Lebewesens, auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen den Erwerb einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab.22

Ziel: Selbstaufbau des Menschen

Es scheint Maria Montessoris Verdienst zu sein, aufgrund der soeben erwähnten gezielten und gründlichen Beobachtungen elementare Sensibilitäten, die fundamentale Bedeutung für die Selbst-Konstruktion des Menschen in seinem Bildungs- und Selbstwerdungsprozeß haben, entdeckt zu haben. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß Maria Montessori ihre Entwicklungsmaterialien in Abstimmung auf die Sensibilitäten der jeweiligen Entwicklungsphasen des Kindes geschaffen hat, und das Ziel, auf das alle didaktischen Bemühungen gerichtet sind, besteht in der Intention, dem Kind zu helfen, sich durch Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zur freien Persönlichkeit zu entwickeln. Dieses Ziel läßt sich auch wie folgt formulieren: das Kind als geistiges Wesen fähig machen, seinen Weg ganz allein zu finden. Das genannte Ziel soll unter Berücksichtigung oder in Anlehnung an die jeweiligen Empfänglichkeitsperioden durch viele kleine didaktische Teilziele erreicht werden. „Wir wollen den Selbstaufbau des Menschen in der dazu geeigneten Periode unterstützen.“23

Erzieherische Arbeit

Die erzieherische Arbeit vollzieht sich konkret durch die Förderung von phasenspezifischen Sensibilitäten, das heißt durch die Begegnung des Kindes mit den ihm angebotenen didaktischen Inhalten. Im Idealfall erreicht das Kind dann in seiner Arbeit mit dem Material den Zustand der Polarisation der Aufmerksamkeit. In diesem Zustand spielt sich nach Maria Montessoris Annahme der eigentliche Reife- und Entwicklungsprozeß der Kinder ab. Der Vorgang der Polarisation24