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Markus BergerRoger LiggenstorferChristian Rätsch (Hrsg.)

Psychedelische Tomaten

und andere Geschichten
aus dem Schatten der Nacht

Nachtschatten-Autoren erzählen ihre
persönlichen Erfahrungen mit Nachtschattengewächsen

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Impressum

Verlegt durch:

© 2016 Nachtschatten Verlag

Lektorat: Jutta Berger, Felsberg

Druck: ScandinavianBook.de, Bremen

ISBN: 978-3-03788-540-6

Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck sind nur mit Genehmigung des Verlags erlaubt.

Inhalt

Vorwort

Steve Stoned: Datura-Flash

Wolf-Dieter Storl: Psychedelische Tomaten

Christian Rätsch: Auf der Suche nach dem Baum der Zauberer

Claudia Müller-Ebeling: Ethnobotanischer Orgasmus

Roger Liggenstorfer: Der Prophet und das Bilsenkraut

Markus Berger: Ticket nach Schräghausen – Bioassay mit Datura und Brugmansia

Wolfgang Bauer: Im Reich der Nachtschatten

Sergius Golowin: Zauberbotanik aus Indien

Alexander Ochse: Ein Duftrausch mit der Engelstrompete

Orestes Davias: Eine unabsichtliche Erfahrung des Herz-Öffnens

Kevin Johann: Feuerspucken zum Frühstück

herman de vries: unterwegs

Edzard Klapp: Georg Wilhelm Steller und die Kräuter der Nacht

Ulrich Holbein: Nachtschwarze Schatten, Morgenlicht und grüngoldene Hochzeit

Nachwort

Die Herausgeber und Autoren

Bildnachweis

Vorwort

Neben anderen unangenehmen Symptomen rufen diese Nachtschattengewächse und auch ihre wirksamen Prinzipe, vor allem Atropin, und noch mehr Skopolamin, Halluzinationen und Illusionen des Gesichts, Gehörs, Geschmacks hervor, die aber, anders als die von den übrigen Phantasticis erzeugten, nicht angenehmer, sondern schreckhafter und beängstigender Natur sind.

LOUIS LEWIN, Phantastica

Wenn von tiefgreifenden psychedelischen Erfahrungen die Rede ist, dann sind damit meist exorbitante Erlebnisse in andersweltlichen Gefilden gemeint, die in aller Regel von Tryptamin- bzw. Phenethylamin-Psychedelika induziert werden. Wer kosmische Erfahrungen außerhalb von Zeit und Raum, wie wir sie kennen, erleben darf, wer eine Alleinheitserfahrung durchlebt hat und wer zum Brunnen des Lebens vorstoßen konnte, hat das meist mit Entheogenen wie LSD, Psilocybin, DMT-Derivaten oder Meskalin oder aber auch mit anders wirkenden Psychedelika, zum Beispiel Salvia divinorum, Ketamin oder dem Fliegenpilz bewerkstelligt. Es gibt da aber noch eine andere Art von psychedelischen Erlebnissen, die mit gänzlich different wirkenden Substanzen vorgenommen wurden – zum Beispiel mit den Tropanalkaloid-haltigen Nachtschattengewächsen. Die mit Stechapfel, Alraune, Bilsenkraut und Co. besuchten Realitätsebenen unterscheiden sich doch deutlich von den Erfahrungsrealitäten, die mit den klassischen psychedelischen Molekülen oder Produkten bereist werden können. Im Gegensatz zu letzteren erzeugen Nachtschattendrogen zu einem Großteil (nicht immer) echte Halluzinationen, also Trugbilder, die von unserem Bewusstsein bzw. von unserer Gehirnchemie projiziert werden und die mehr oder weniger ins Reich der künstlichen Paradiese gehören und unserer wie auch immer gearteten Fantasie entspringen. Bei von LSD, Zauberpilzen und DMT erzeugten Bildern handelt es sich um sogenannte Pseudohalluzinationen und eben nicht um Gehirnprojektionen. Diese Moleküle ermöglichen eine Wahrnehmung unserer Welt und Umgebung, wie wir sie mit dem nur recht grob kalibrierten Eindrucksvermögen unserer Sinne im normalen Alltagsbewusstsein nicht erleben können. „Mit LSD sehen wir die Welt anders“, hatte dessen Entdecker Albert Hofmann einst gesagt und damit beschrieben, dass dieses Entheogen aus dem Mutterkornpilz uns Türen öffnet, die dem profanen Wachbewusstsein in aller Regel verschlossen bleiben (von spontanen mystischen Erfahrungen einmal abgesehen, die aber von analogen endogenen, also körpereigenen Reizen induziert werden). Grob gesagt, sind unsere Sinne im alltäglichen Normalzustand, also auf der Baseline des Bewusstseins, nur darauf ausgerichtet, ein bestimmtes (sehr limitiertes) Frequenzspektrum aller im Weltall vorhandenen und lebensbildenden Schwingungen wahrnehmen zu können – dies erfüllt für uns als Wesen im dreidimensional-materiellen Raum den Zweck, uns auf die wichtigen Überlebensfunktionen in dieser Matrix konzentrieren zu können, das sind der Lebenserhaltungstrieb und die Reproduktion. Schwebten wir als menschliche oder tierische Wesenheiten grundsätzlich in den Sphären des Psychonautikums, so wären wir – jeder Psychedeliker wird das bestätigen – in diesem Raum-Zeit-Kontinuum nicht überlebensfähig. Deshalb ist es eine explizite Voraussetzung, nach der psychedelischen Erfahrung wieder auf die Baseline zurückzukehren.

Nachtschattendrogen erzeugen eine andere Art von „psychedelischem Rausch“. Die Solanazeen vermögen uns zwar ebenfalls die Tore zur Anderswelt aufzustoßen, sie können aber auch – wie ein göttlicher oder dämonischer Trickster – Trugbilder in uns erzeugen, die wir von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermögen. Die Geschichte von Wolf-Dieter Storl in diesem Buch berichtet zum Beispiel eindrucksvoll von solchen Begebenheiten.

Erfahrungen mit Nachtschattengewächsen können vielfältig sein -und dabei ebenso „profan“ wie exorbitant, exotisch und überaus hyperdimensional. „Profan“ (was mit voller Absicht in Anführungszeichen gestellt wird) könnte man die Nachtschatten-Erfahrungen nennen, die wir alle immer wieder haben. Nämlich dann, wenn es um Solanaceen geht, die auf unserer täglichen Speise- oder Genussmittelliste zu finden sind: Kartoffeln, Tomaten, Paprika, Chili und Peperoni, Aubergine, Tabak und so weiter. Diese Nachtschattenpflanzen bzw. deren Produkte haben wir alle schon gesehen, gefühlt und geschmeckt. Dass ich das Wort „profan“ verwende und in Anführungszeichen setze, hat einen Grund. Auf der einen Seite haben wir den Vorgang des Essens, der Nahrungsaufnahme als solcher, durchaus profanisiert. Immerhin müssen wir essen, zumindest in einem gewissen Rahmen, und letztlich essen wir alle. Dass der Vorgang des Speisens in unserer Gesellschaft vielfach als profan angesehen wird, könnte an der Tatsache liegen, dass wir alle täglich Lebensmittel zu uns nehmen, meist nebenher, oft genusslos und völlig unbewusst – und das sogar mehrmals am Tag. In Wahrheit aber ist der Akt des Essens eine der höchsten Formen des physischen Austauschs unserer Körper mit dem Universum. Letztlich verspeist sich hier das Universum selbst, um sich aus der damit gewonnenen Energie immer wieder neu zu erschaffen – und um die vorübergehenden Formen einstweilig zu bewahren. Das Essen an sich ist also in Wirklichkeit genauso wenig profan, wie die Einnahme von Entheogenen es ist. Beides sind Mechanismen, die uns dienlich sind, unsere Lebensfunktionen aufrecht zu halten. Außerdem erbringen sie den bereichernden Beweis für die Sinnhaftigkeit unserer Existenz.

Das führt uns zu den entheogenen, den psychedelischen, den andersweltlichen Erfahrungen, die mit Pflanzen der Familie der Solanaceae gemacht werden können. Die sind nicht sonderlich populär, nicht mal unter Menschen, die regelmäßig und voller Überzeugung Psychoaktiva in ihr Leben integrieren, denn sie sind nicht gerade ungefährlich. Im Gegensatz zu den meisten populären Psychedelika – nehmen wir zum Beispiel jene vom Tryptamin-Typus, die den Körper in kaum einer Weise behelligen (abgesehen von temporären und ungefährlichen physischen Symptomen wie einem kurzzeitig leicht erhöhten Blutdruck, eventueller leichter Übelkeit etc.) – induzieren die typischen Nachtschattendrogen sehr häufig körper- liche Effekte, die äußerst unangenehm sein und im Falle eines unsachgemäßen Gebrauchs gesundheitsschädlich, im schlimmsten Fall sogar tödlich sein können. Deshalb sollte der vernünftige Psychonaut immer viel Vorsicht im Umgang mit diesen Drogen walten lassen. Im Zweifel greift er für Fahrten in den psychedelischen Hyperspace zu den sichereren Substanzen – und genießt die Nachtschattengewächse als stiller Beobachter oder einfach deren betörende Schönheit bzw. ihren erotisierenden Duft, wie im Beitrag von Alexander Ochse über seine olfaktorische Meditation mit den Kelchen der Engelstrompete beschrieben.

Summa summarum versammelt dieser Band eine Auswahl an Texten zur psychonautischen Erfahrung mit den Solanaceae – erlebt bzw. überliefert und aufgeschrieben von Autoren des Nachtschatten Verlags. Denn wenn ein Verlagshaus sich schon nach einer Familie von geistbewegenden Gewächsen benennt, dann darf diesen Pflanzen auch in einem Buchwerk gehuldigt werden. Zwar hat der Nachtschatten Verlag bereits die neunbändige Buchreihe Die Nachtschattengewächse - Eine faszinierende Pflanzenfamilie im Programm. Ein Band, in dem es vornehmlich um die lebendige Erfahrung und um die größtenteils persönlichen Erlebnisse der schreibenden Protagonisten geht, hat jedoch seinen ganz eigenen Reiz. Und wir dürfen nicht vergessen: Die bei uns einheimischen Nachtschattengewächse sind, neben den heimischen Zauberpilzen (Psilocybe und Amanita) und einigen anderen Zauberpflanzen, ein eminenter Teil unseres ureigenen ethnobotanischen und schamanischen Pflanzenschatzes, der sicherlich bereits seit Urzeiten zum Verlassen der Dimensionen des Alltagsbewusstseins dient. Schon deshalb ist es wichtig, das Wissen um solche psychoaktiven Organismen zu bewahren, zu mehren und weiterzugeben. Ganz besonders in der heutigen Zeit, wo sogenannte „Drogen“ vom gesellschaftlichen Mainstream als etwas Negatives und Bekämpfenswertes assoziiert werden, ist es von Bedeutung, den Stellenwert der alten Zaubermittel, die in unserem Kulturkreis von der Natur hervorgebracht werden, zu schützen und zu überliefern. Denn eines Tages wird man über die mittelalterliche Praxis der Drogenprohibition lachen – und dann werden vielleicht auch die Nachtschattengewächse als Entheogene in die Gesellschaft zurückgeholt werden. Und zwar von uns Psychonauten. Zum Wohle aller fühlenden Wesen, zum Wohle der Alleinheit.

Markus Berger, Felsberg/Valle Gran Rey, im November 2015

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Steve Stoned: Datura-Flash

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Datura metel

Wolf-Dieter Storl

Psychedelische Tomaten

Ein Siegeszug der Pflanze durch die Psyche des Menschen. So beschrieb Ernst Jünger in seinem Buch Annäherungen die Wirkung mancher Nachtschattengewächse. Er hatte durchaus Recht. Berserker der Pflanzenwelt sind sie, voller Tücke können sie sein, Türen zu Himmeln und Höllen können sie aufstoßen, und gerne machen sie den Menschen zum Narren.

Das geschah auch meinem Freund Hari, der ein regelrechter Krieger ist, ein tätowiertes Muskelpaket mit kurzgeschorenen Haaren, jemand, der sich nichts gefallen lässt. Sein Schrank ist voller Sturmgewehre, Absinth trinkt er gerne – „auf ein paar Hirnzellen kommt es ja nicht an“ – und er raucht ebenso gern sein Cannabis mit getrockneten Stechapfelblättern. Diese geben seinem High eine gewisse Schärfe. Lange glaubte er, er wäre Meister der Droge; er und nicht sie bestimmte, wo es lang ging.

Eines Tages, seine Frau war in die Stadt gegangen, da rauchte er wieder einmal diese Mischung und machte es sich gemütlich. Plötzlich hörte er draußen vorm Haus Motorengeräusche. Es war der Nachbar auf dem Traktor. Er hatte eine Ladung Heuballen für die Pferde im Anhänger. Hari ging hinaus, begrüßte ihn und half ihm beim Abladen. Nachdem sie das Heu in der Scheune gestapelt hatten, lud Hari den Bauern zu einem Bier am Küchentisch ein. Sie tranken ihr Bier, plauderten über dieses und das, und schließlich machte sich der Nachbar auf den Weg.

Kurz darauf kam Haris Frau nach Hause. „Du,“ sagte er ihr, „gute Nachricht. Der Sami hat das Heu für den Winter vorbeigebracht. Jetzt haben unsere Pferde was zu fressen. Wir haben die Ballen in der Scheune verstaut. Komm, ich zeig’s dir.“

Sie gingen gemeinsam in die Scheune, doch die war leer. Kein einziger Heuballen in Sicht. Hari war ganz verdutzt. Als sie wieder in der Küche waren, sah er: Da standen zwei Bierflaschen auf dem Tisch. Sie waren geöffnet, aber randvoll. Niemand hatte daran getrunken. Wie war das möglich? Er hatte tatsächlich alles nur halluziniert.

Zwei Wochen später, als seine Frau wieder mal in die Stadt gefahren war, hörte er einen Traktor vorm Haus. Er schaute hinaus und sah, es war sein Nachbar Sami mit einem großen Anhänger voller Heuballen. Er ging hinaus, begrüßte ihn und half ihm beim Abladen. Dann tranken sie ein Bier zusammen, und Hari wusste genau, was Sami erzählen würde und wann er gehen würde – ein vollkommenes Déjà vu –, und als seine Frau wiederkam und er ihr die Scheune zeigte, war die Bühne voller Heu.

Seit dem Tag hatte Hari etwas mehr Respekt vor der Pflanze, von der es in der Vamana Purana heißt, sie sei dem großen Gott Shiva aus der Brust gewachsen. In Indien gibt es Sadhus, die rauchen Ganja und Datura zusammen zu Ehren dieses Gottes, dessen Beiname auch Unmatta („der Verrückte“) ist. Stechapfel, so diese wilden Anhänger Shivas, kann ihnen göttlichen Wahnsinn (unmatta) verleihen und ihre Zauberkräfte (Siddhi) stärken.

Ich wohne hier im Allgäu ziemlich abgelegen auf einem Berg. Heutzutage kommen viele Radler, Wanderer, Nordic Walker – in der Lokalsprache „Stockenten“ genannt – und Jogger vorbei. Früher waren es weniger Leute, aber mehr Geister, die sich über den Berg bewegten. Es ist nun schon einige Jahre her, da schaute ich an einem nebeligen Herbsttag aus dem Fenster mit Blick nach Nordosten – das ist die Richtung, von der die meisten Geister und Perchten herkommen – und sah zwei langhaarige, bärtige Reiter mit weiten Hüten und wehenden Umhängen, gefolgt von einer Meute hechelnder Wölfe. Ich rieb mir die Augen. Waren es Wotan und Phol (Odin und Baldur) auf einem Ritt durch die Mittelerde, die da des Weges kamen? Aber die Erscheinung löste sich nicht auf, wie die meisten Geister es tun, sondern sie hielten mit ihren zwei schwitzenden Rössern und einem Packross direkt vor dem Haus; und die Wölfe waren lediglich große Hunde. Ob sie einen Schluck Wasser haben könnten und ob ich Streichhölzer hätte, fragten sie; sie seien Biobauern aus der Nähe von Lindenberg, und einmal im Jahr würden sie für eine Woche ausreiten, um sich von der harten Arbeit zu erholen. Da sie etwas vom biologischen Landbau verstanden und überhaupt angenehme Menschen waren, kamen wir ins Gespräch. Ich zeigte ihnen meinen Garten, der uns mit allem Gemüse und Kartoffeln versorgt, die wir im Jahr brauchen. Hier und da wuchsen Stechäpfel auf dem Gemüseacker. Ich hatte sie nicht ausgesät, sie waren von alleine gekommen, als Unkraut sozusagen. Als er sie sah, sagte der, den ich für Wotan gehalten hatte, er kenne die Pflanze gut, und erzählte folgende Geschichte:

„Ich weiß, was für eine Macht in diesem Nachtschattengewächs steckt, und wollte die Pflanze besser kennenlernen. Ein ganzes Jahr bereitete ich mich mit Meditation und Überlegungen auf eine Reise in ihr Reich vor. Dann nahm ich ein paar Samen ein. Es dauerte nicht lange, da wurde mir ganz schlecht. Ich hatte Magenkrämpfe, zitterte, der Kopf dröhnte schmerzhaft. Ich dachte, ich würde sterben. Und dann, auf einmal, ging es mir gut. Da klopfte es an der Tür unseres Bauernhauses. Als ich aufmachte, stand eine lustige Gruppe von Wanderern davor und fragte, ob ich ihnen etwas zu trinken geben könnte. Sie trugen dicke Stiefel und waren etwas merkwürdig gekleidet, aber sehr sympathisch. Ich freute mich, jemanden zum Plaudern da zu haben, also lud ich sie ein zu einem Kaffee, den ich gleich kochte, und servierte jedem ein Stück Kuchen, den wir noch da hatten. Sie hatten viel Interessantes zu erzählen, und wir verbrachten einen lustigen Nachmittag miteinander. Als sie dann gegangen waren, wurde ich müde und schlief ein.

Am nächsten Tag, als ich erwachte, sah ich den gedeckten Tisch. Da waren Teller mit Kuchen, aber unangerührt, und Tassen mit kaltem Kaffee drin. Niemand hatte etwas getrunken oder gegessen. Es muss ein Besuch Andersweltlicher gewesen sein, vielleicht waren es Ahnen oder Geister der Natur oder Gottheiten. Ich weiß es nicht; ein Schauer überkam mich.“

Nachdem er mir diese typische Datura-Geschichte erzählt hatte, gab ich ihnen die Streichhölzer. Nicht gerne gab ich sie, denn es waren unsere letzten, und da wir kein Auto hatten, würde ich demnächst den Berg hinunterlaufen müssen, um mir neue zu holen. Aber wem kann man schon Feuer oder Wasser verweigern.

Sie schwangen sich auf ihre Pferde, pfiffen ihren Hunden und ritten talwärts gen Westen, wo das nächste Dorf liegt. Ein paar Stunden später stand der Bauernhof neben der alten Kirche in Flammen. Er brannte ab. Die Bäuerin konnte gerade noch ein kleines Schwein aus dem Stall retten und hielt es in ihren Armen. Weder Rind noch Mensch waren zu Schaden gekommen, und eine Feuerschutzmauer hatte den Wohnteil unversehrt gelassen. Sie hatten Schwein gehabt. Ein Kurzschluss in einer Maschine zum Heutrocknen wurde als Ursache des Brandes ausgemacht. Die ratternde Maschine hatte Tag und Nacht, und sogar am Sonntag, die Totenruhe auf dem Kirchfriedhof gestört. Sonderbare Erscheinungszusammenhänge! War es vielleicht doch Wotan, der Herr der Totengeister, der da im Spiel war?

Ja, die Datura ist nicht ohne. Noch viele Geschichten gäbe es zu erzählen. Von dem Gebrauch als Justizdroge bei traditionellen Bantuvölkern in Schwarzafrika etwa. Verbrecher, die nicht gewillt sind, sich zu ändern und weiterhin gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen, werden vom Ältestenrat verurteilt, Zombies zu werden. Man führt einen Scheintod herbei, indem man sie vergiftet. Sie werden begraben, in der Nacht aber von den Ältesten sofort wieder ausgegraben und fortan mit einem Stechapfelextrakt behandelt. Auf diese Weise werden sie in einem willenlosen Zustand gehalten und müssen dann als Zombie-Sklaven ihre Vergehen mühselig wieder abarbeiten. Der Stechapfel wirkt wie eine chemische Zwangsjacke. Auch Geheimdienste machen Gebrauch von dem aus der Datura extrahierten Skopolamin, um den Willen ihrer Gegner zu brechen. Und in Mexiko jubeln notgeile Casanovas gerne dummen, jungen Gringo-Touristinnen Datura (Toloache) unter, um an ihre Unterwäsche zu gelangen. Kenner der magischen Künste der Zigeuner erzählen, dass das Geheimnis der Wahrsagerei und der Zauberkünste des fahrenden Volkes auf genauen Kenntnissen der Datura beruhe. Auch andere, wie die Zauberer der Zuni im Südwesten Nordamerikas oder die Sangoma (Schamanen) im südlichen Afrika, benutzen den Stechapfel als Wahrsagerpflanze.

Auch Reisende nach Goa oder Kerala, wo die Datura wild wächst, haben Geschichten zu erzählen. Ich kenne Hippies, die sie einnahmen oder rauchten, um auf Trip zu gehen, und dann in einem tranceartigen Zustand mit stierem Blick zwei Tage lang auf Zehenspitzen auf und ab wippten, bis sie zusammenbrachen und sich dann an nichts, aber auch absolut nichts erinnerten. Oder die tragische Geschichte eines italienischen Hippiemädchens, das sich am Strand von Kovalam Datura reinpfiff und verwirrt in der Gegend umherirrte. Da man durch die Wirkung der Tropanalkaloide nicht schwitzen kann und es einem heiß wird, streifte sie ihre Kleidung ab. Sie verirrte sich in ein von muslimischen Fischern bewohntes Dorf, wo man die wahnsinnige Nackte als eine vom Teufel besessene Hexe ausmachte und sie mit Steinen bewarf. Am Dorfrand stürzte sie über die Klippen ins Meer und gelangte so, ohne Möglichkeit einer Rückkehr, in die andere Dimension.

Der Stechapfel kam im 16. Jahrhundert nach Europa, entweder mit den Zigeunern, einer fahrenden Kaste unberührbarer Sänger und Wahrsager aus Indien, oder aus der Neuen Welt, die die spanischen Conquistadores erschlossen hatten. Über das Ursprungsgebiet streiten sich die Botaniker. Aber auch in einheimischen mitteleuropäischen Gefilden gibt es ein endemisches Nachtschattengewächs, das der Datura in nichts nachsteht. Es ist die Tollkirsche, die Belladonna, eine Zauberpflanze, welche die Nordgermanen Galbeere nannten, von germanisch galen („Zauberlieder singen“; gala = „Zaubergesang, Schamanengesang“). Galsterer hieß bei diesen indigenen Völkern der Schamane, der durch magischen Gesang die Wirklichkeit verändern und Mensch und Tier heilen oder schädigen konnte. Galstervater war einer der vielen Namen des Schamanengottes Odins (Wotans). Wutbeere, Wutkirsche sind weitere Benennungen. Wut hatte damals eine andere Bedeutung als heute, es bezeichnete die „rasende Ekstase, die Begeisterung, die Besessenheit, inspiriertes Singen, den Rausch. Wotan (angelsächsisch Woden, alemannisch Woutis, Moutis, skandinavisch Odin), der Anführer des wilden Geisterheeres, der wilden Jagd – Sennen erleben diese noch gelegentlich auf der Alp –, war der Meister dieser „Wut“. Walkerbeere und Walkerbaum sind weitere mundartliche Bezeichnungen dieser Pflanze. Sprachforscher vermuten, dass sich das auf die Walküren, die fliegenden schönen jungen Frauen bezieht, welche die Seelen der gefallenen Helden hinauf in Odins Walhalla führen.