Gregor Bauer:
Leben zur Zeit Jesu.
Ein Doku-Drama zum Schmökern


Inhalt

 

Impressum

 

Vorwort

 

ERSTER TEIL

 

1. Einleitung

 

I. Saul bespricht einen Deal

 

2. Grenzen orientalischer Gastfreundschaft

 

Reisen

 

Toilette

 

Juden und Nichtjuden

 

II. Saul und der Stolz der Daviden

 

3. Frauen

 

Ehebruch

 

Unrein

 

Nachwuchs

 

Heiraten

 

Abtreibung und Empfängnisverhütung

 

Glück gehabt?

 

Scheidung

 

Witwen

 

III. Saul beantwortet ein paar neugierige Fragen

 

4. Sklaven

 

Übertritt zum Judentum

 

Wie wird man Sklave?

 

IV. Sauls Schwiegermutter mag keine Fanatiker

 

5. Hackordnung

 

Prestige durch Abstammung

 

Prestige und Reichtum, Beruf, Bildung, Verwandtschaft

 

Dorfhandwerker

 

Töpfer

 

Fischer

 

V. Sauls Kollege verkauft nicht an Heiden

 

6. Hirten, Färber, Händler

 

Hirten

 

Färber

 

Händler

 

VI. Saul will von heidnischen Prophezeiungen nichts wissen

 

7. Medizin, Magie, Heilkräfte

 

Arzt

 

Beschneidung

 

Geburt

 

Grenzen der ärztlichen Kunst

 

Schutz vor Krankheitsdämonen

 

Baden

 

VII. Sauls Schwiegervater hat sich so manches anders vorgestellt

 

8. Schreiber. Bauern bei der Ernte

 

Schreiber

 

Was kostet ein Buch?

 

Bauern bei der Ernte

 

VIII. Saul überlistet sich selbst

 

9. Landwirtschaft im Jahreskreis

 

Was arbeitet der Bauer, was die Bäuerin?

 

IX. Saul schadenfroh

 

10. Brutto und Netto in der Landwirtschaft

 

Erstlingsfrüche, Erstlingsgeburt

 

Was verdienen die Bauern brutto, was zieht man ihnen ab?

 

Sabbatjahr

 

X. Saul unschlüssig

 

11. Reich werden

 

Zöllner

 

XI. Saul greift zu

 

12. Reich sein

 

XII. Saul floppt

 

13. Werte

 

Kampf gegen den Terror: Interview mit einem römischen Soldaten

 

Woher kommt die Feindseligkeit gegen Andersgläubige?

 

Die Heiden aus der Sicht eines frommen Juden

 

Zuckerbrot und Peitsche in der Bibel

 

Gebote und Verbote des jüdischen Gesetzes

 

Die Goldene Regel

 

Todesmutig

 

XIII. Saul flüchtet

 

14. Pilgern, schlachtopfern, feiern

 

Die Synagoge

 

Reise nach Jerusalem

 

Interview: ein Samaritaner über das wahre Israel

 

Feiern in Jerusalem

 

Schlachtopfer

 

Interview: Fordert Gott Schlachtopfer?

 

Passah

 

Pfingsten

 

Laubhüttenfest

 

XIV. Saul am Ende

 

15. Religiöse Strömungen

 

Die Pharisäer

 

Die Sadduzäer

 

Terroristen

 

Die Essener

 

Messiaserwartungen

 

XV. Saul am Start

 

16. Klägliche Reste einer verschwundenen Welt

 

Rekonstruktion der Zeit Jesu: Was ist Wissen, was Spekulation?

 

Der Talmud

 

Welche Jesusworte sind wirklich von Jesus?

 

Verbotene Evangelien?

 

Wer entscheidet, was stimmt und was nicht?

 

ZWEITER TEIL

17. Zum ersten Mal telefonieren

 

18. Bloß kein Wunder

 

19. Vergebung

 

20. Streber für das Himmelreich

 

21. Hölle und Barmherzigkeit

 

22. Palmsonntag

 

23. Karfreitag

 

24. Schöne neue Welt

 

25. Die Anspruchslosigkeit der Maßlosen

 

26. Ostern

 

Auferstehung

 

Abkürzungen: Sekundärliteratur, Quellen u. a.

 

 

 


 

 

Impressum

Copyright: © 2016 Gregor Bauer, www.gregorbauer.com
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Covergestaltung: Elisabeth Bauer
Als gedrucktes Buch erhältlich unter ISBN 978-3-7418-6037-9

[170105]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Susanne

 

 

 

 

 


Vorwort

 

Dieses Buch ist für alle, die wissen wollen, wie die Menschen zur Zeit Jesu gelebt haben. Es beschäftigt sich auch mit der Frage, wie Jesus auf die Menschen von damals gewirkt haben könnte.

Das Buch erschien zuerst 2008 im Münchner Pattloch-Verlag unter dem Titel „Das Rätsel von Hagalil. Eine Reise in die Welt der Bibel“. Der Borromäusverein zeichnete es im März 2009 aus als „Buch des Monats“, in der Kategorie „religiöses Kinder- und Jugendbuch“. Es ist jedoch eher nicht für Kinder, sondern für Erwachsene und Jugendliche.

Fiktive Rückblenden in die Vergangenheit und zeitgeschichtliche Informationen wechseln einander ab. Die zeitgeschichtlichen Informationen vermittelt Ihnen ein frei erfundener Ich-Erzähler: Dr. Alexander Adler, kurz Alex, Dozent für Aramaistik. Ihm fällt immer wieder Liz ins Wort, seine 16-jährige Patentochter. Das führt zu Perspektivenwechseln und lebhaften Auseinandersetzungen.

Alle Kapitel, die komplett in der Vergangenheit spielen, haben eine Überschrift, die mit einer römischen Ziffer und „Saul …“ beginnt. Das erleichtert Ihnen die Orientierung. Jedenfalls im ersten Teil dieses Buches.

Der zweite Teil ist anders. Er hat in der ersten Auflage, dem „Rätsel von Hagalil“, polarisiert. Lassen Sie sich überraschen.

Aus der Erstauflage habe ich alles gestrichen, was sich nicht unmittelbar auf die Zeit Jesu bezieht. Sekundärliteratur und Quellen sind nun ausführlich belegt, die einzelnen Themen sind über das ausführliche Inhaltsverzeichnis leicht auffindbar.

Ich wünsche Ihnen anregende Lektüre!

 

Gregor Bauer

Wiesbaden, im Oktober 2016

ERSTER TEIL

 


1. Einleitung

 

Wie hat Jesus eigentlich ausgesehen? Nicht mal das wissen wir. Irritiert Sie das nicht?

Es mag ja sein, dass sein Aussehen unwichtig ist. Dann ist es sicherlich auch unwichtig, welche Kleidung er getragen, was er gearbeitet oder wo er eingekauft hat. Wenn es auf all das nicht ankommt, worauf kommt es dann an? Auf Liebe, Bescheidenheit und Gewaltlosigkeit? Können wir diese Werte nicht auch ohne Jesus pflegen? Ist an Jesus überhaupt irgendetwas wichtig?

In meinem Zimmer hängt ein Bild, das von der Sehnsucht vergangener Zeiten zeugt, Jesus zu sehen. Es geht zurück auf ein verschollenes Tuchbild, für das Jesus nach einer Legende selbst Modell gestanden ist. Es –

„Mann Alex, wann hängst du das Bild endlich ab“, sagt Liz.

Liz ist mein Patenkind. Kind ist gut: Sie ist sechzehn, und wenn man danach geht, was sie sich zutraut, hat sie bereits alle Künste und Wissenschaften studiert. Ich fürchte, ihre bissigen Kommentare werden uns hier nicht erspart bleiben.

„Wenn du schon unbedingt ein Bild von Jesus aufhängen willst, Alex, dann nimm doch eins, das zeigt, wie er wirklich aussah.“ –

„Du meinst wohl das Turiner Grabtuch oder das Muschelseidentuch von Manopello?“ –

„Unsinn. Ich meine etwas Wissenschaftliches. Die BBC hat doch sein Gesicht rekonstruiert.“

Alex, das bin ich: Dr. Alexander Adler, Dozent für Aramaistik. „Du meinst doch nicht etwa dieses knorzige Gesicht aus der BBC-Doku ‚Son of God’?“ –

„Doch“, sagt Liz, „genau das. Was gefällt dir daran nicht?“ –

„Weißt du, wie die von der BBC zu dem Gesicht gekommen sind? Die haben einfach einen x-beliebigen Schädel aus dem antiken Palästina in ihren Computer eingescannt und mit ihrem Dinosaurier-Programm weiterbearbeitet. Das ist so, wie wenn ein Archäologe in 2000 Jahren mit dem Schädel von Keith Richards die Physiognomie des Dalai Lama rekonstruieren wollte.“

Etwas Wissenschaftliches! Wissenschaft kann so einfach sein: Man blättert beim Friseur ein wenig in Bravo, Stern oder Focus, stößt dabei auf einen aufgedonnerten Neandertaler, dem die Bildbearbeiter ein Schildchen mit dem Namen Jesus umgehängt haben, und schon weiß man, wie Jesus ausgesehen hat.

Letzte Woche hat Liz einen Roman in einer Nacht verschlungen. Darin entdecken Archäologen ein Video, auf dem ein Zeitreisender mit einer Videokamera Jesus gefilmt hat. Endlich weiß man also, wie Jesus tatsächlich ausgesehen hat. Die katholische Kirche spielt dabei eine üble Rolle. Hohe Würdenträger versuchen mit Mafia-Methoden, an das Video heranzukommen, um es zu vernichten. Denn der Anblick des „real existierenden“ Jesus – so fürchten sie – würde ihre Schäfchen dermaßen desillusionieren, dass sie scharenweise aus der Kirche austräten.

„Mann Alex, wann liest du endlich mal das Jesus-Video.“ –

„Mir reicht schon der Klappentext, Liz.“ –

„Wieso?“ –

„Dass die Kirche sich noch mal so dumm anstellt wie damals, als sie die Naturwissenschaftler bekämpft hat, obwohl sie wusste, dass sie recht hatten – das kann mir keiner erzählen.“ –

„Warum denn nicht? Die würden eben alle Archäologen umbringen, die von dem Jesus-Video wissen. Dann würde es keiner merken.“ –

„Guten Morgen. Diese Sorte Politik hat die Kirche schon lange abgestellt.“ –

„Wer kann das schon so genau wissen. Aber egal. Für die Zeitreise fehlt dir sowieso die Fantasie.“

Wie bitte? Für eine Zeitreise fehlt mir die Fantasie? „Aber Liz, wieso denn? Ich habe doch selbst eine Zeitmaschine.“ –

Ach ja? Du meinst, du hast eine Maschine, mit der man in die Vergangenheit reisen kann?“ –

„Das ist doch nichts Besonderes.“ –

„Und wo steht sie, deine Zeitmaschine?“ –

„In der Garage.“

Wir gehen in die Garage. „Und wo ist jetzt deine Zeitmaschine?“ – „In dem Käfer da.“ –

„Wenn das so ist, dann nimm mich doch mal mit auf eine Zeitreise.“ –

„Wohin willst du denn?“ – „In die Zeit Jesu.“ –

„Was willst du denn da? Lass uns lieber einen Trip in die 60er-Jahre machen. Da wissen die Leute wenigstens, wie man einen Lichtschalter anknipst. Mit den Menschen der Welt Jesu kannst du doch gar nichts anfangen. Du hast in deinem Leben schon so viel gehört, gelesen, geklickt, gezappt. Und die haben noch nicht einen einzigen Film gesehen. Wenn sie wenigstens ab und zu ins Theater gehen oder einen griechischen Schmöker lesen würden. Aber die meisten haben in ihrem Leben nur Bibel gelesen. Ihre heiligen Schriften bedeuten ihnen alles. Manche haben schon so oft darin gelesen, dass sie ganze Bücher auswendig hersagen können. Und du hast darin höchstens mal ein wenig geblättert. Worüber willst du denn mit solchen Leuten reden?“

Um das gleich richtig zu stellen: Auswendiglernen können die alten Schriften natürlich allenfalls die Männer (j62 395ff). Die meisten Frauen haben nie lesen gelernt. In wohlhabenden Familien kommt es immerhin vor, dass man den Mädchen ein wenig Griechisch und weltliche Allgemeinbildung mit auf den Weg gibt. Aber dass sich Frauen bibelkundig machen – das wird von den wenigsten Männern gern gesehen.

„Mann Alex, ich kenne doch die Geschichten von der Erschaffung der Welt und von Noah und Abraham und Mose und so weiter.“ –

„Ich rede doch nicht von der Teletubbie-Kinderbibel aus deinem Religionsunterricht. Euer Religionslehrer pickt sich die schönsten Geschichten aus der Bibel heraus und lässt alles weg, was euch seltsam vorkommen könnte. Aber genau diese seltsamen Sachen sind es, auf die sich die Leute stürzen, die du kennen lernen willst. Über was für skurrile Fragen die sich die Köpfe heiß diskutieren (bt 66f, 177)! Gibt es einen Unterschied zwischen Wohltätigkeit und Taten der Barmherzigkeit? Muss man beim Wallfahrtsfest sein Festopfer in Form von zwei Silberstücken entrichten, oder darf man stattdessen auch zwei Stück Vieh opfern? Darf man trotz des Bilderverbots in der Bibel bestimmte Bilder betrachten, und wenn ja, welche und in welchen Situationen? Das brennt den Leuten auf den Nägeln. Kannst du da mitreden? Interessiert dich das überhaupt?“

Wenn ich sie schon auf die Idee bringe, sich an einer toten Sprache zu versuchen, dann doch besser Latein. „Warum willst du eigentlich unbedingt nach Palästina reisen? Warum nicht nach Rom? Da gibt es wenigstens auch vor 2000 Jahren schon eine ordentliche Infrastruktur und etwas zu sehen. Stattdessen willst du in Dörfern herumstreichen, von denen man nicht weiß, ob sie vom nächsten Regenguss weggeschwemmt werden (bü 59).“ –

„Wir können gerne auch einen Abstecher nach Rom machen.“ –

„Einen Abstecher? Du müsstest dich schon entscheiden, Liz. In der Zeit Jesu gibt es nicht nur keine Flugzeuge, es fahren auch keine Passagierschiffe (tö 247ff.275ff). Wenn du von Palästina nach Rom reisen willst, wirst du dich mit einem Frachtschiff begnügen und deinen eigenen Proviant mitbringen müssen. Wie lange dein Proviant halten muss, weißt du vorher nicht, denn die Ankunftszeit ist vom Wind abhängig.“ –

„Gut, dann bleiben wir eben in Palästina. Erzähl mir nicht, dass es da nur Dörfer gibt. In Jerusalem steht ein prächtiger Tempel, den will ich sehen.“ –

„Der ist zur Zeit Jesu noch gar nicht fertig. Warum besuchst du ihn nicht ein paar Jahrzehnte später, sagen wir im Jahr 65? Da ist er nach etwa 85 Jahren Bauzeit endlich fertig, und es ist immerhin noch ein Jahr Zeit bis zum Krieg und fünf Jahre bis zu seiner Zerstörung. Aber auch dann bekommst du den Tempel nicht in seiner vollen Pracht zu sehen. Denn weiter als bis in den Vorhof der Heiden wirst du nicht vorgelassen.“

„Und wenn ich doch weitergehe?“ –

„Nun, das wäre eine gravierendere Angelegenheit als im Halteverbot zu parken. Was glaubst du, worauf zurzeit Jesu nicht alles die Todesstrafe steht. Du bleibst hier.“ –

„Jetzt musst du mich schon mitnehmen. Sonst glaube ich dir kein Wort mehr.“ –

„So eine riskante Reise macht man nicht, um seinem Patenonkel eins auszuwischen.“ –

Ich würde wirklich gerne mal mit eigenen Augen sehen, ob das stimmt, was man sich so über Jesus erzählt. Weiß man eigentlich, in welchem Jahr genau er gekreuzigt wurde?“–

„Sicher sind sich die Bibelforscher nicht, aber das 16. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius könnte hinkommen.“ –

„Sehr witzig.“

„Pardon, ich meine das Passah im Jahr 3790 nach Erschaffung der Welt.“ –

„Und wann wurde die Welt erschaffen deiner Meinung nach?“ –

„Nicht meiner Meinung nach, sondern nach Überzeugung der Menschen, die du besuchen willst: vor ungefähr 5770 Jahren. Wenn du jetzt schon solche Probleme hast, eine einzige Jahreszahl zu verstehen, wie willst du dann in der Welt Jesu klarkommen mit der Umrechnung zwischen Denaren, Drachmen, Schekalum und Perutoth, zwischen Ellen, Stadien und Tefachim, zwischen Talenten und Minen und was es noch so alles gibt an Währungen, Maßen und Gewichten (tö 334ff)? Die würden dich ganz schön übers Ohr hauen!“


I. Saul bespricht einen Deal

 

Sepphoris, im Jahr 3789 nach Erschaffung der Welt,
dem 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius.
Am 27. Tag des Monats Nissan (1. Mai 29 n. Chr.).

 

Noch vor einer Woche war es ruhig in den Städten und Dörfern Galiläas. Wohl jede dritte Familie war nach Jerusalem zum Passah-Fest gepilgert. Jetzt strömen die Menschen an den Markttagen wieder in Scharen zusammen.

Auf dem Markt der Stadt Sepphoris, der „Zierde Galiläas“, schwirrt die Luft von Geschrei und Gelächter, vom Peitschenknall der Eseltreiber und dem Gebrüll der Ochsen. Beißender Schweißgestank mischt sich mit orientalischen Aromen, Kinder schnuppern nach ihrer Leckerei, gerösteten Gerstenkörnern.

Saul bar Gershom, ein Bauer aus dem nahe gelegenen Dorf Gath Hepher, kauert am Boden vor seinen ausgebreiteten Waren: Gerste, Feigenkuchen, Rizinusöl und allerlei Kräuter, die er am Wegrand gefunden hat.

Der kleine, in Gedanken versunkene Mann bemerkt den hoch gewachsenen Fremden nicht sofort, der sich seinem Stand nähert. Als Saul schließlich aufblickt, erschrickt er über den konzentrierten Blick, mit dem er offenbar schon eine Weile aufmerksam gemustert wird – er selbst, nicht etwa seine Ware.

Dass ein elegant nach Art der alexandrinischen Juden gekleideter Herr einem Bauern so viel Aufmerksamkeit widmet, ist ungewöhnlich.

„Was hast du in dem Fläschchen da?“, fragt der Fremde in bester judäischer Hochsprache.

„Ein edles Öl von auserlesenen Samen des Rizinusstrauchs, Herr. Ich habe es mit eigenen Händen gepresst. Es vertreibt dir jedes Kopfweh im Nu, Herr. Es –“ –

„Spar dir die Mühe. Ich kann ohnehin nichts kaufen. Leider habe ich es versäumt, einen Sklaven mit mir zu nehmen, der meine Einkäufe tragen könnte. Wenn du freilich hübsche Mädchen zu verkaufen hättest, das wäre etwas anderes. Die können ja selbst laufen.“

Saul holt tief Luft. „Solche Mädchen findest du dort am Tor, nicht hier.“ –

„Nicht doch, mein Freund. Solche Mädchen meine ich nicht. Im Ernst: Ich suche eine ehrbare Braut für einen Jungen, den ich liebe wie meinen eigenen Sohn.“ –

„Ich habe keine Braut im Angebot.“ –

„Ich kenne sein Elternhaus sehr gut. Sein Vater ist einer meiner erfolgreichsten Geschäftspartner.“ –

„Was hilft alles Geld, wenn einer gottlos ist und das Gesetz des Mose miss-“ –

„Aber nein, es ist ein sehr frommes Haus. Genau deshalb hat der Vater mich ja beauftragt, eine Braut aus dem Verheißenen Land mitzubringen.“ –

„So wohnt er in der Fremde?“ –

„Er wohnt nicht weit von mir in Alexandria in einer wunderschönen Villa.“

„Sag mir, Herr: Warum sollte ein Bewohner Israels seine Tochter in die Fremde verheiraten?“ –

„Nun, es würde sein Schade nicht sein.“ –

„Wer wäre so ehrlos, seine Tochter –“ –

„Aber die Tochter könnte sich kein schöneres Los wünschen! Sie wird einem großzügigen Haushalt vorstehen, Sklavinnen werden ihr zu Diensten sein. Und sie weiß ihre Lieben zu Hause gut versorgt. Denn es lässt sich doch ganz anders wirtschaften mit einem Brautpreis von 400 Silberdenaren im Säckel.“

400 Silberdenare. So viel Geld hat Saul in seinem Leben noch nicht auf einem Haufen gesehen. Ein Tagelöhner bräuchte mindestens zwei Jahre, um so viel Geld zu verdienen. Und Saul verdient mit seiner kleinen Landwirtschaft weiß Gott nicht mehr als ein Tagelöhner.

Ihm fällt kein Freund oder Verwandter ein, der eine Tochter im heiratsfähigen Alter hat – und keiner, dem er so viel Geld gönnen würde.

„Nun“, sagt Saul, ohne sich seine Verwirrung anmerken zu lassen, „ein Mann, der einen solchen Brautpreis bezahlen kann, erwartet natürlich auch, dass der Brautvater seiner Tochter eine üppige Morgengabe in die Ehe mitgibt.“ –

„Das wird nicht nötig sein. Mein Geschäftsfreund möchte sich im Ehevertrag verpflichten, der Schwiegertochter im Fall einer Scheidung finanziell beizustehen.“ –

„So etwas habe ich noch nie gehört.“ –

„Ihm liegt eben viel daran, eine Braut aus dem Verheißenen Land in sein Haus zu führen. Eine Braut aus einfachem, frommem Haus.“

Aus frommem Haus – das versteht Saul. Aber warum aus einfachem Haus? Es wünscht sich doch niemand arme Schwiegerleute?

„Wie dem auch sei, ich muss dich enttäuschen, Fremder. Ich kenne niemanden mit einer Tochter im heiratsfähigen Alter.“ –

„Zu schade. Dann werde ich mich wohl anderswo umsehen müssen. Du selbst hast keine Tochter?“ –

„Für mich kommt das nicht in Frage.“ –

„Warum nicht? –

„Es – sie sind auch beide noch sehr jung.“ –

„Wie jung?“ –

„Debora ist sechs Jahre alt.“ –

„Und die zweite?“ –

„Sie heißt Bathseba. Ein sehr fleißiges und sanftmütiges Mädchen.“ –

„Wie alt?“ –

„Den Jungen kann man wohl nicht länger warten lassen?“ –

„Nun, du weißt doch, wie eilig sie es plötzlich haben. Sobald ihnen der erste Flaum steht, steht ihnen eben auch –“ –

„Bitte, Herr, keine Anzüglichkeiten. Das ist hier nicht der Brauch.“ –

„Darf ich mich höflichst noch einmal nach dem Alter des Mädchens erkundigen?“ –

„Sie ist zehn.“ –

„Zwei Jahre zu jung. Schade. Dann wünsche ich noch –“

„Warte, Herr. Du hast sie noch nicht gesehen. Es könnte sich wirklich lohnen, auf sie zu warten.“ –

„Donnerwetter! In der Tat, wenn sie außergewöhnlich schön ist, dann würde sie einer so frommen Familie durchaus gut zu Gesicht stehen. Aber der Junge ist bereits fünfzehn, da will man –“ –

„Bei einem Jungen kommt es doch auf ein Jahr mehr oder weniger nicht an.“ –

„Auf zwei Jahre. Auf drei, wenn wir das Verlobungsjahr mitrechnen. Ich kann seinem Vater schlecht sagen: ‚Ich habe eine Braut für deinen Sohn, in zwei Jahren ist sie reif zur Verlobung, dann hole ich sie.’“

„Du könntest sie doch jetzt schon mitnehmen.“ –

„Du meinst, nach Alexandria? Und da soll sie dann die zwei Jahre bis zur Verlobung alleine herumsitzen?“ –

„Herr, man merkt, dass du nicht weißt, wie es zugeht unter armen Leuten.“ –

„So? Und wie geht es zu?“ –

„Wir – Mose hat doch erlaubt, ein Mädchen als Sklavin zu verkaufen.“

„Als Sklavin? Du willst deine Tochter versklaven?“ –

„Es wäre doch nicht für immer, Herr. Ich meine, sie würde sich eben bis zur Verlobung als Magd im Haus deines Geschäftsfreunds nützlich machen. Das Mädchen ist sehr tüchtig. Und sie wäre doch in einem anständigen Haus, nicht wahr?“ –

„Das ja.“ –

„Es würde sich ihr doch niemand unsittlich nähern?“ –

„Aber nein! Es sind fromme Leute.“ –

„Und was ist mit dir? Du würdest sie ja nach Alexandria bringen, nicht wahr?“ –

„Ich bitte dich, ein Kind, und noch dazu die Braut für den Sohn eines Freundes! Nicht anrühren würde ich sie!“ –

„Mir gefällt nicht, was für ein Mundwerk du führst.“ –

„Ich werde doch wohl unterscheiden können, ob ich ein gestandenes Mannsbild vor mir habe oder ein kleines Mädchen!“ –

„Hierzulande sind auch die gestandenen Mannsbilder anständig.“ 

„Um so besser. Es soll ja ein fromm erzogenes Mädchen sein. Aber sie ist zu jung.“

„Du solltest sie wenigstens einmal ansehen, Herr.“ –

„Ich sagte schon, der Junge ist fünfzehn.“ –

„Die Essener heiraten auch erst mit zwanzig.“ –

„Die Essener heiraten überhaupt nicht, und der Junge ist kein Essener! Dem wird schon das Verlobungsjahr zu lang!“ –

„Verlobung mit siebzehn, Heirat mit achtzehn, das ist doch für einen Jungen nicht –“ –

„Na na na! Sag selbst, das müsste schon eine außergewöhnliche Braut sein, für die sich ein gesunder Junge so lange geduldet.“ –

„Wie du meinst, Herr. Aber sie wäre im Haushalt deines Freundes eine große Hilfe. Sie ist von sehr einnehmendem Wesen. Und sie ist außergewöhnlich schön.“

Der Fremde blickt kurz hinüber zur Nachmittagssonne. Es ist um die neunte Stunde, noch drei Stunden also, bis die Sonne untergeht. „Wo seid ihr denn zu Hause?“

 


2. Grenzen orientalischer Gastfreundschaft

 

Falls Sie selbst mit dem Gedanken spielen, in die Zeit Jesu zu reisen: Stellen Sie sich das nicht zu einfach vor. Sie werden auf Ihrer Reise auf weit mehr verzichten als auf ein paar Annehmlichkeiten.

 

Reisen

Zunächst werden Sie sich abgewöhnen müssen, in Autostunden zu denken: Für eine Entfernung, die Sie bisher in 20 Minuten zurückgelegt haben, brauchen Sie jetzt einen Tag. Einen qualvollen Tag, wenn Sie im Sommer reisen. Wer wird Ihnen in der trockenen Hitze zu trinken geben? Im Winter kommen Sie nicht voran: Während der Regenzeit versinkt alles im Schlamm, was jenseits der wenigen befestigten Straßen liegt, die die verhassten Römer erbaut haben.

Reisen Sie nicht alleine. Besonders in unwegsamen Gegenden werden Reisende immer wieder von Räubern überfallen. Schließen Sie sich einer Reisegruppe an, oder noch besser einer bewachten Karawane. Solche Karawanen treffen Sie in den Karawansereien an den großen Handelsstraßen.

Schauen wir uns eine Karawanserei näher an (bü). Von außen sehen Sie ein großes, viereckiges Gebäude mit nur wenigen kleinen Fenstern. Sobald Sie das Tor durchschritten haben, stehen Sie in einem geräumigen Innenhof. Hier drängen sich die ankommenden Tiere um den Brunnen, bevor sie von den Kameltreibern in den umgebenden Säulengängen untergebracht werden. Griechische Händler breiten ihre Stoffe aus, Bauern aus der Umgebung verkaufen ihre Feldfrüchte. Fliegende Händler preisen nicht nur den ehrbaren Damen ihre Kosmetikartikel an. Äthiopische und sudanesische Reisende verhandeln mit einem Krämer, der seinen Fächerkasten mit Gewürzen gefüllt hat, daneben diskutiert ein Babylonier, in Seide gekleidet und mit schwerem Goldring in der Nase, mit einer Gruppe israelitischer Kaufleute und syrischer Großhändler.

Falls Ihr Herbergswirt Sie eines Nachts wecken sollte, weil eben eine Karawane auf der Durchreise ist, die Ihr Reiseziel ansteuert, seien Sie vorsichtig. Es könnte sein, dass er Sie Räubern ans Messer liefert, um anschließend mit ihnen die Beute zu teilen.

 

Toilette

(pr 645–651, az 198)

Erkundigen Sie sich rechtzeitig nach der Toilette. In der Karawanserei werden Sie sicherlich keinen weiten Weg dorthin haben, aber in manchen Dörfern müssen Sie weit hinaus aufs freie Feld. Da können Sie schon mal gut und gern 20 Minuten unterwegs sein. Nachts brauchen Sie freilich nicht solche Umstände zu machen, und auch in unübersichtlichem Gelände ist es erlaubt, sich selbst ein Plätzchen zu suchen. Oft können Sie das Stille Örtchen leicht an dem umgebenden Zaun erkennen. Bevor Sie das Revier betreten, machen Sie durch Räuspern oder Schnäuzen auf sich aufmerksam. Überlegen Sie vorher, welches Werkzeug Sie brauchen: An Stelle von Klopapier verwendet man Steinchen, die man in einem Säckchen mit sich führen kann, oder Tonscherben. Gehen Sie nur mit der linken Hand zu Werke, denn mit der rechten isst man. Passen Sie auf, dass Sie sich an den harten Scherbenkanten nicht verletzen, und dass Sie die entscheidenen Stellen nicht direkt mit der Hand berühren. Sonst müssen Sie sich die Hände waschen – Wasser ist aber in der Regel keines da.

 

Juden und Nichtjuden

(sd 210.233.242.266, fl, az 148, cm05, dr 81f, gla, tö 364f, j62 364f
verbotene sexuelle Handlungen: sd 211.218f.222.228.267f.524.573;
po 330.338f)

Erwarten Sie nicht, von den Einheimischen mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Sie sind in einem besetzten Land. Viele Bewohner sehnen den Tag herbei, an dem sie die römischen Besatzer und mit ihnen alle Andersgläubigen verjagen werden.

So ein Unsinn, Alex.“

Da sind sie wieder, die Weisheiten meines Patenkinds. „Wieso Unsinn, Liz?“ –

„In der Bibel steht doch, dass die Israeliten die Fremden gut behandeln sollen, weil sie selbst Fremde gewesen sind in Ägypten.“ 

„Du bist ja bibelfester als ich dachte. Leider bezieht man aber solche Fremden-freundlichen Bibelstellen zur Zeit Jesu nur auf jüdische Fremde.“ –

„Steht das so in der Bibel?“ –

„Nein, aber viele Gelehrten sagen sich: Gott kann doch nicht im Ernst gemeint haben, dass man Götzendiener wie die Römer oder die Griechen gut behandeln, ja sogar lieben soll.“ –

„Warum denn nicht?“ –

„Du kennst die Sitten des Landes nicht (wu 2/02 24f). Es fängt schon damit an, dass viele Juden weder das Haus eines Nichtjuden betreten noch einen Nichtjuden in ihr Haus einlassen würden. Denn würden sie das tun, wäre ihr Haus für den Rest des Tages unrein. Würden sie einer Heidin wie dir zu trinken anbieten, müssten sie die Tasse anschließend wegwerfen. Nur wenn sie aus Stein ist, können sie sie im Feuer reinigen und weiterverwenden. Lebensmittel, die du berührt hast, müssen auf den Müll – auch solche, die du vielleicht berührt haben könntest. Deshalb darf man dich keinen Augenblick aus den Augen verlieren, wenn man dich einmal im Haus hat. Sonst muss man anschließend alle Lebensmittel wegwerfen, die sich in dem Raum befinden, in dem du dich unbeaufsichtigt aufgehalten hast. Und die meisten Häuser haben nur einen Raum (bü 59). Wie soll man bei solchen Vorschriften gut oder gar liebevoll mit Fremden umgehen?“

„So eng sehen das doch wohl nur die Ultraorthodoxen.“ –

„Sicher, nicht alle nehmen es so genau. Trotzdem dürfte es dir schwer fallen, einen Juden zu finden, der beispielsweise ein Haus an Nichtjuden verkaufen würde. Das darf er nicht, weil die Gefahr besteht, dass die Heiden in dem Haus Götzen aufstellen könnten.“

Die meisten Juden halten zumindest in ihrem Privatleben nach Möglichkeit Distanz zu den Nichtjuden. Allerdings haben sie dafür nicht nur religiöse Gründe: Viele fühlen sich bedroht. Wenn beispielsweise ein Jude nicht alleine mit einem Heiden baden will, dann liegt das möglicherweise daran, dass der Heide ihn ertränken könnte. Mancher, der sich von einem Heiden die Haare schneiden lässt, schaut lieber einmal zu oft in den Spiegel. Wer nicht vor einem Heiden die Treppe hinunter gehen oder sich nicht vor ihm bücken will, hat vielleicht Angst, der Heide könnte ihm den Schädel einschlagen. Und bevor man die Hilfe einer heidnischen Hebamme in Anspruch nimmt, wird man sich sehr genau nach ihrem Ruf erkundigen – nicht dass sie am Ende das Kind tötet.

Dass ein Jude zu seinem nichtjüdischen Nachbarn Vertrauen gewinnt, kommt durchaus vor. Dann kann ihm der Nichtjude sogar eine Hilfe sein, um sein religiöses Gesetz zu erfüllen. Beispielsweise, wenn ein jüdischer Bauer seinen Stier kastrieren lassen will. Das ist nach dem Gesetz des Mose verboten. Unkastriert ist der Stier aber für die Feldarbeit nicht zu gebrauchen. Was also tun? Schön, wenn man in einem solchen Fall auf einen einfühlsamen Nachbarn heidnischen Glaubens zählen kann. Der tut dann so, als ob er den Stier stehlen würde. Kaufen wäre zwar anständiger, geht aber nicht, weil Juden kein Großvieh an Heiden verkaufen dürfen. Der nichtjüdische Nachbar „stiehlt“ also das Vieh und bringt es einen Tag später reumütig dem jüdischen Besitzer zurück. Und sieh einer an: Da hat der „Dieb“ doch tatsächlich in der Zwischenzeit das Tier kastriert (tö 128f).

Aber Alex, der Kontakt zu den Nichtjuden beschränkt sich doch nicht auf solche Tricksereien. Du blendest völlig aus, dass es auch Heiden gibt, die zum Judentum übertreten.“ –

Das tun vor allem Sklaven in jüdischen Haushalten (j62 364). Auch Bettler versuchen es gelegentlich. Die spekulieren darauf, dass sie nach ihrem Übertritt aus der Armenkasse der jüdischen Gemeinde mitversorgt werden (j62 354f).“

Anziehungskraft hat der jüdische Glaube durchaus. Aber die meisten Heiden, die sich dem Judentum verbunden fühlen, treten deshalb nicht gleich zum Judentum über: Als sogenannte „Gottesfürchtige“ halten sie den Sabbat, wie es eben geht, sind in der Synagoge gern gesehene Gäste (sd 265), stellen vielleicht auch an Chanukah, dem Lichterfest der Juden, Lichter in ihre Fenster. Oder sie halten sich wenigstens im Verborgenen an die Regeln, die nach jüdischem Glauben für alle Völker verbindlich sind.

„Jüdische Regeln, die für alle Völker gelten? Sowas gibt es?“ –

„Ja, Liz.“ –

„Was für Regeln sind das?“ –

„Man kann sie in fünf Geboten zusammenfassen (sd 267.269):

 

Erstens. Erkenne an, dass es nur einen Gott gibt.“ –

Zweitens: Behandle andere Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.

Drittens: Halte dich fern von allen götzendienerischen Kulten.

Diese Forderung ist schwieriger, als sie aussieht, Liz. Danach darf man nicht einmal miteinander Geburtstag feiern, weil auch dabei die Götzen angerufen werden.

Viertens: Iss kein Opferfleisch aus heidnischen Tempeln.“ –

„Das mache ich sowieso nicht, Alex.“ –

„Kunststück! Du lebst auch nicht in einer Gesellschaft, in der solches Opferfleisch in rauen Mengen auf dem Markt verkauft wird!

Fünftens: Enthalte dich von allen verbotenen sexuellen Handlungen.“

 

„Und welche Handlungen sind das?“ – „Verboten sind vor allem: Inzest mit Verwandten ersten Grades, Sex mit Tieren, Homosexualität und Onanie.“ –

„Und ein Heide, der sich an diese Regeln hält, wird also von den Juden als guter Mensch akzeptiert?“ –

„Im Prinzip ja.“ –

„Aber?“ –

„Erstens halten sich die wenigsten Nichtjuden daran. Zweitens: Diejenigen, die sich an diese Regeln halten wollen, schaffen es nicht. Drittens: Wenn es einer doch schafft, glaubt man ihm nicht (sd 270).“

„Dann läuft es ja doch darauf hinaus, dass die Juden in der Welt Jesu alle Nichtjuden unterschiedslos für schlechte Menschen halten?“ –

„Könnte man meinen. Aber warum sind sie dann in den Synagogen als Besucher willkommen? Und warum setzen sich angesehene jüdische Bürger persönlich bei Jesus für einen heidnischen Soldaten ein? Sie sagen, dass er die Juden liebt und ihnen eine Synagoge gestiftet hat. Deshalb habe er es verdient, dass Jesus seine Bitte erhört. Dabei gehört dieser Mann sogar zu der verhassten Besatzungsarmee.“

Bei allen Kontakten, die es zwischen Juden und Nichtjuden eben doch gibt: Familiäre Bindungen sind ausgeschlossen. Kein jüdischer Vater würde sein Kind mit einem heidnischen Partner verheiraten (s74 515). Seine Kinder werden auch kaum den Wunsch dazu verspüren: Jeder Junge will, dass seine Kinder einmal von einer jüdischen Mutter aufgezogen werden, und jedes Mädchen möchte seine Kinder einmal jüdisch erziehen. Schließlich sollen sie eines Tages nicht Isis oder Asklepios anbeten, sondern den Gott Israels.

 

* * *

 

Die Abscheu vor den Nichtjuden spiegelt sich im Sprachgebrauch: Juden bezeichnet man liebevoll als „Kinder“, Nichtjuden nicht ganz so nett als „Hunde“. Auch Jesus tut das. Die Bitte einer Kanaanäerin, ihre Tochter zu heilen, weist er mit den Worten ab: „Es ist nicht gut, das Brot den Kindern vorzuenthalten und es den Hunden vorzuwerfen.“

 

Passt es in Ihr Bild von Jesus, dass die Antwort der „Hündin“ ihn beschämt haben könnte – und dass er bei dieser Gelegenheit vielleicht etwas dazugelernt hat (Mk 7)?


II. Saul und der Stolz der Daviden

 

„Saul, Sohn des Gershom! Was stehst du schon wieder am Wegrand herum und pflückst irgendwelche Kräuter!“, ärgert sich der Fremde aus Alexandria, „Du traust dich wohl nicht nach Hause? Bald ist es dunkel.“ –

„Ich finde den Weg nach Hause auch in der Dunkelheit“, erwidert Saul. –

„Aber du hältst mich auf. Ich investiere auch so schon genug Zeit in deine Tochter. Ich hoffe, sie ist wirklich so schön, wie du sagst.“ 

„Sprich nicht mehr davon.“ –

„Du bist nervös. Das ist kein gutes Zeichen.“

Das Dorf, das die beiden endlich erreichen, besteht aus kaum mehr als drei Dutzend winzigen, dicht zusammengedrängten Häusern. In einem dieser Häuser wohnt Saul mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern und mit zwei Ziegen. Es bietet gerade mal Platz für einen einzigen, wohl etwa 12 mal 15 Schritte großen Raum.

Shalaam, sei gegrüßt, Fremder.“

Aquila – so der Name des Fremden – ist sichtlich angewidert, als er in das dunkle, stickige Innere tritt. Er lehnt das Wasser ab, das ihm Sauls Frau Naomi zum Waschen der Füße reicht, und lässt sich rasch über die Treppe auf das Flachdach führen.

Naomi bringt den Männern Wein, Brot, Käse und Oliven. Kaum ist sie ins Hausinnere zurückgekehrt, als Aquila auch schon auf den Zweck seines Besuches zu sprechen kommt: „Ich habe deine Tochter Bathseba noch nicht gesehen. Ruf sie doch zu uns.“ –

„Warte noch ein wenig. Lass uns noch ein wenig sitzen, damit meine Frau –“ –

„Für solche Geheimdiplomatie fehlt mir die Zeit. Ruf das Mädchen her.“

Saul stellt seine Schale nieder, erhebt sich langsam und steigt die Treppe hinab.

Bathseba!“ –

„Ja, Vater?“ –

„Komm mit herauf aufs Dach, unser Gast möchte mit dir sprechen.“

Naomi greift Saul am Arm. „Goliath!“

Mit diesem ungeliebten Spitznamen wird er nur von seiner Frau und ihren Verwandten angesprochen. Ihre Stimme klingt argwöhnisch: „Es gehört sich nicht für unser Mädchen, mit Fremden zu sprechen.“–

„Schweig, Frau. Unser Gast wünscht es.“ –

„Was ist das für ein Mann?“, flüstert sie, „Was will er von ihr?“ –

„Komm, Bathseba.“

Oben angekommen, erwidert das Mädchen schüchtern den Gruß des Fremden, schaut immer wieder zur Treppe, wo sich aber die Mutter nicht blicken lässt, und setzt sich dann schutzsuchend in die Nähe des Vaters.

„Hab keine Angst, Mädchen“, die Stimme Aquilas klingt sanft und angenehm. „Dein Vater hat dich sehr gelobt, darum wollte ich ein wenig mit dir sprechen. Sicher gefällt es dir hier in Gath Hepher bei deinen Eltern?“ –

„Ja.“ –

„Wie schön. Warst du auch schon einmal auf Reisen?“ –

„Ja.“ –

„Wohin bist du denn gereist?“ –

„Nach Nazareth.“ –

Nazareth, das Höhlendorf, zwei Wegstunden von hier. Was hast du dort getan?“ –

„Die Großeltern besucht.“ –

„Stell dir vor, du dürftest reisen, wohin du willst. Wohin würdest du reisen?“

Im flackernden Schein der Öllampe sieht der Fremde die Augen des Mädchens kurz aufleuchten. „Nach Jerusalem, zum Tempel.“ –

„Oh ja, da hast du gut gewählt. Wie das Gold und Elfenbein des Tempels in der Sonne glänzt! Die Pilger brechen jedes Mal in Jubel aus, wenn sie nach der langen Wanderung plötzlich den Tempel in seiner ganzen Pracht vor sich sehen. Aber sag, möchtest du nicht auch einmal aufs weite Meer hinaus, wie der Prophet Jona?“ –

„Niemals! Dann würde mich der Walfisch fressen. Ich möchte nicht fort von Gott wie Jona.“ –

„Aber Kind, Gott ist überall, auch auf dem Meer. Hab keine Angst. Ich war vor zwei Monden mitten im Meer auf einem großen Schiff, und schau mich an: Da bin ich noch. Kein Walfisch hat mich verschlungen.“

„Du warst auf dem Meer, Herr? Und hast die riesigen Walfische selbst gesehen?“ –

„Keinen einzigen. Die Walfische sind sehr scheu und fliehen die Menschen. Wie die Schrift sagt: ‘Furcht und Schrecken vor euch beherrsche alle Fische des Meeres.’“ –

„Auch auf die schrecklichen Seeungeheuer?“ –

„Liebes Mädchen, es gibt keine Seeungeheuer! Auf dem Meer siehst du allenfalls Delfine, Möwen oder ein paar springende Fische.“

„Aber Vetter Jakob war auch auf dem Meer, und er hat selbst ein Ungeheuer gesehen, mit eigenen Augen!“ –

„Das hat er geträumt. Du darfst nicht alles glauben, was man dir erzählt!“ –

„Und gegen furchtbare Piraten hat er gekämpft!“ –

„Dann ist dein Vetter mindestens 100 Jahre alt. Man kann gegen die Römer sagen was man will, aber mit den Piraten haben sie gründlich aufgeräumt. Ihre Nachkommen sind heute friedliche Bauern. Nein, wenn man nur einen wetterkundigen Kapitän an Bord hat, ist das Meer heute viel sicherer als der Landweg. Viele Händler fahren mit ihren teuren Schätzen eher übers Meer, als sich einer Karawane anzuschließen. Es ist schneller, weniger mühselig und sicher vor Räubern.“ –

„Hast du auch teure Schätze?“ –

„Ich bin Kaufmann und bringe viele Kostbarkeiten nach Alexandria: Vorhänge aus babylonischem Purpur und Byssus, feinstes Linnen aus Beth Sean. Außerdem Balsam, der so köstlich duftet, dass jeder Tropfen mit Gold aufgewogen wird. All das vertraue ich dem Meer an. Es gibt nichts Herrlicheres, als in den Großen Hafen von Alexandria einzufahren: rechter Hand der riesige Leuchtturm von Pharos, eines der sieben Weltwunder, linker Hand die Lochiasküste mit dem königlichen Palast. Überall Schiffe, die in den Wellen schaukeln. Sie tragen Gold, Silber, kostbare Stoffe und Gewürze aus Arabien und Indien bis nach Rom.“ –

„Wohnen in Alexandria nur fremde Völker?“ –

„Keineswegs, es sind viele Juden dort – viel mehr als in ganz Galiläa! Zwei große Stadtteile sind nur von Juden bewohnt. Tagelang kannst du durch die weiten Straßen laufen und hast doch noch nicht alle Straßen gesehen, in denen Juden wohnen. Sie lieben den Tempel genauso wie du. Jedes Jahr pilgern zehntausende zum Passahfest nach Jerusalem. Und sie lieben die Menschen aus dem Verheißenen Land. Wenn du zu ihnen fahren würdest, sie würden dich mit offenen Armen wie eine Fürstin empfangen.“ –

„Fährst du wieder dorthin zurück?“ –

„Sobald ich hier meine Geschäfte erledigt habe, kehre ich nach Alexandria zurück. Und da ich sehe, dass du so ein liebes Kind bist: Frag doch deinen Vater, ob er dich ziehen lässt. Wenn er es dir erlaubt, nehme ich dich gerne mit.“

„Nach Alexandria?“ –

„Nach Alexandria.“ –

„Auf deinem Schiff?“ –

„Auf meinem Schiff.“

Aquila lächelt einladend. Die Kleine sitzt mit offenem Mund eine Weile stumm da und sagt dann: „Darf ich dann auch die Stoffe aus Babylon berühren?“

Jetzt hält es die Mutter nicht länger hinter der Treppe: „Bathseba! Bathseba, sofort zu mir! Goliath, was redest du da!“ –

„Ich habe kein Wort gesagt!“ –

„Vater, bitte sag, dass ich nach Alexandria darf mit dem fremden Mann!“ –

„Goliath! Was redest du da!“ –

„Ich habe kein Wort gesagt!“ –

„Das Kind bleibt hier!“ –

„Schweig, Frau, und höre was ich dir sage!“ –

„Ich höre nichts! Was hast du vor!“ –

„Beruhige dich, ich werde dir alles erklären, aber unten im Haus. Du machst uns zum Gespött der Nachbarn!“ –

„Du willst unser Kind in die Fremde verkaufen!“ –

„Es ist eine fromme Familie!“ –

„Wie kann man fromm sein in der Fremde!“ –

„Es wird ihr dort sehr gut gehen!“ –

„Wie kann es einem gut gehen in der Fremde!“

Das Kind beginnt zu weinen. „Mutter, ich habe Angst!“

„Runter ins Haus mit dir! Was hast du auch mit fremden Leuten zu sprechen!“

Die Mutter wirft ihrer Tochter einen zornigen Bick hinterher: „Goliath! In ihren Adern rollt das Blut des Löwen von Juda!“ –

„Glaube nicht, dass ich meine Töchter an deine Nazarenischen Hungerleider verheiraten werde!“

Von den Nachbardächern dringt Gelächter herüber. Vor dem Haus haben sich Trauben von feixenden Kindern gebildet.

Naomi ist außer sich: „Gott hat mich gestraft, weil ich das Haus Davids verlassen und dich geheiratet habe, einen Mann von niedrigem Geblüt. Hart bestraft hat er mich und mir einen Sohn verweigert. Aber ich habe Sühne geleistet, und er wird sich erbarmen und meine Töchter dem Haus Davids zurückführen!“ –

„Schweig, Frau!“

Von den Nachbardächern klingen bereits die ersten Sprechchöre herüber: „Saul! Stopf dem Nazarenerweib das Maul!“

Die Stimme der Frau überschlägt sich, als sie über die Dächer brüllt: „Und ihr bekommt keine von ihnen! Keine!“ –

„Frau, bist du rasend, ins Haus mit dir!“

Zwei Dächer weiter lässt Sauls Vater seine Stimme vernehmen: „Und das von meiner Schwiegertochter! Saul, gebiete der Nazarenerin zu schweigen!“

„Schweig jetzt, Weib, ins Haus mit dir!“ –

„Ich schweige nicht, wenn man mir meine Tochter rauben will!“

„Ehre das Gastrecht, und schweig!“ –

„Meine Tochter bleibt hier!“

„Gute Frau, beruhige dich“, schaltet sich Aquila ein. „Ich werde deine Tochter nicht mitnehmen. Saul, führe mich zur Straße nach Sepphoris.“


3. Frauen

(j62 87.110.150.343.345.349.372f.386.395ff, il, il95, pr 327, ow 295f, mg 88.90, lg I 173ff, sd 72.75.122.184.218ff, tö 65.145.145.151.182.209.307.323f, s74 508ff, hd 81, co, dg, ww, 73ff)

 

Für einen Nichtjuden ist es schon schwer genug, von seiner jüdischen Umgebung akzeptiert zu werden. Für eine Nichtjüdin ist es praktisch unmöglich. Bezeichnenderweise ist für nichtjüdische Frauen unter den Juden Palästinas die Bezeichnung „Prostituierte“ geläufig. Dieser charmante Begriff wird sogar auf Frauen angewandt, die zum Judentum übergetreten sind – schließlich sind sie unter heidnischen Verhältnissen aufgewachsen. Eine Nichtjüdin ist also doppelt gehandicapt: Als Heidin und als Frau.

„Mann Alex, jetzt leg doch nicht schon wieder deine peinliche Frauenversteher-Platte auf. Das nimmt dir doch eh keiner ab.“ –

„Ich weiß, wovon ich rede, Liz.“ –

„Nein, weißt du nicht.“ –

„Ich kann dir Bücher zeigen, in denen –“ –

„Bücher! Bücher kannst du mir viele zeigen. Aber was ist mit deiner Zeitmaschine? Ich dachte, du wärst schon in der Welt Jesu gewesen und hättest dir selbst ein Bild gemacht?“

Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt die Entwicklung auf die nächste Eskalationsstufe hochfahre: „Also gut, Liz. Ich habe es mir überlegt. Ich nehme dich mit in die Zeit Jesu.“ –

„Na endlich! Ich ziehe nur schnell noch meine Lippen nach, dann können wir los.“ –

„Du solltest dich besser abschminken. Und nimm einen Stoff mit, mit dem du deinen Kopf verhüllen kannst.“ –

„Auch das Gesicht?“ –

„In Jerusalem ja, jedenfalls wenn du dich in vornehmen Kreisen bewegen willst. Du brauchst zwei Kopftücher, ein Stirnband mit kinnlangen Bändern und ein Haarnetz mit Bändern und Schleifen.“ 

„Herrje, muss ich mich dort wirklich hinter Tüchern verstecken wie in einem Taliban-Regime?“ –

„Nicht überall. Auf dem Land in Galiläa genügt ein einfaches Kopftuch. Aber in Jerusalem gibt es Frauen, die stolz darauf sind, dass nicht einmal die Balken ihres eigenen Hauses ihr Haar jemals gesehen haben.“ –

„Und schminken darf man sich wohl nicht?“ –

„Doch, viele Frauen schminken und parfümieren sich und hängen sich Ringe und bunte Fäden oder Wollflöckchen in die Ohren (as V 347ff). Aber nur für ihre Männer. Eine unverheiratete Frau wie du sollte in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend auftreten, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, dass sie das Haus verlässt.“ –

„Was heißt das?“ –

„Du solltest immer den Blick senken, wenn du einem fremden Mann begegnest, und ihn auf keinen Fall ansprechen.“ –

„Wieso das denn?“ –

„Weil sich die lieben Nachbarn nicht vorstellen können, dass ein Mann und eine Frau, die weder verheiratet noch verwandt noch verschwägert sind, einfach so miteinander plaudern. Von dir als Fremder wird man wohl nichts anderes erwarten. Aber eine Ehefrau, die mit einem Fremden spricht, würde ihren eigenen Mann derart blamieren, dass er sie sozusagen fristlos aus dem Haus werfen kann.“

Vielleicht will es der Eifersüchtige aber auch genau wissen, bevor er seine Frau vor die Tür setzt: Hat der Fremde meine Frau wirklich nur nach dem Weg gefragt, wie sie beteuert? Oder hat sie mir gar schon Hörner aufgesetzt? Hier verschafft ein biblisches Ritual Gewissheit. Dabei gibt der Priester der Verdächtigten ein schmutziges Fluchwasser zu trinken und spricht allerlei fromme biblische Wünsche aus, die nur im Fall der Untreue wirksam werden (Num 5): „Bist du deinem Mann untreu geworden und ist ein fremder Mann bei dir gelegen, so setze dich der Herr zum Fluch unter deinem Volk. Dann lasse dieses Fluchwasser deinen Bauch anschwellen und deine Hüften schwinden!“ –

„Amen, so geschehe es!“, darf ihm die Frau darauf antworten. Macht das Fluchwasser sie krank, war sie untreu. Wenn nicht, ist das Vertrauen zwischen den Eheleuten wieder hergestellt, und es herrscht wieder Friede Freude Feigenkuchen.

Diese Methode wurde dem Mose von Gott am Berg Sinai geoffenbart. Da kann eigentlich nichts schief gehen. Aber Glaube ist gut, Kontrolle ist besser: Wegsperren bietet im Zweifelsfall eben doch mehr Sicherheit, dass die Kinder tatsächlich die eigenen sind. Nur: Wer kann seine Frau schon komplett wegsperren?

In vornehmen städtischen Kreisen leben die meisten Frauen tatsächlich fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Bei den Ärmeren auf dem Land sieht das schon anders aus. Da sind die Männer auf die Mitarbeit ihrer Frauen angewiesen. Frauen gehen zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen, sie holen mit ihren Männern und Kindern die Ernte ein, klopfen an den Türen, um Oliven zu verkaufen, bieten auf dem Markt ihre Webarbeiten an (j62 395ff) – und wenn sie ihren männlichen Kunden etwas verkaufen wollen, dann müssen sie wohl oder übel auch mit ihnen reden.

Aber auch für die Frauen der vornehmen Jerusalemer Kreise gibt es „Fenster“ zur Außenwelt. Immerhin zweimal im Jahr dürfen selbst die wohlbehüteten Jungfrauen ihre Schönheit öffentlich zeigen. Dann tanzen die Mädchen in den Weinbergen unverschleiert vor den Augen ihrer Verehrer (as I 72 592f). Ganz anders treten die vornehmen Jerusalemer Frauen öffentlich in Erscheinung, die auf der Hinrichtungsstätte Golgota den Gekreuzigten einen Trank reichen, der ihre Schmerzen lindern soll. Dort stehen sie dann mit ihren getränkten Schwämmen vor nackten, blutenden Männern, die entsetzliche Laute ausstoßen und sich in Todesqualen winden. Wer wollte behaupten, dass diese Frauen von der Realität vor ihrer Haustür abgeschnitten sind?

 

Ehebruch

(dr 137, j62 395ff)

„Was passiert, wenn eine verheiratete Frau beim Seitensprung erwischt wird?“ –

„Dann steht ihr Leben auf dem Spiel, Liz.“ –

Aber ihr Liebhaber – der kommt natürlich ungeschoren davon! 

„Nein. Wenn die Römer den Juden die Todesstrafe nicht verboten hätten, würde man beide zu Tode steinigen.“ –

„Die Römer haben ihnen aber die Todesstrafe verboten.“ –

„Ich würde dennoch für nichts garantieren, wenn der Volkszorn hoch kocht, keine römischen Soldaten in der Nähe sind und die Steine griffbereit liegen.“

Und in einem solchen gesellschaftlichen Klima will Jesus Männer und Frauen um sich scharen! Das kann er nur, indem er jede sexuelle Annäherung zwischen ihnen im Keim erstickt. Zu viel steht für alle Beteiligten auf dem Spiel. Die strenge Sexualmoral Jesu und seine Offenheit für Frauen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Welches Schicksal wohl die in flagranti ertappte Frau erwartet, deren Steinigung Jesus verhindert hat? Ihr Mann verstößt sie. Zu dem anderen, mit dem sie eine Affäre hatte, darf sie nicht gehen; die Gesellschaft würde ihre Verbindung nicht akzeptieren. Ihre Kinder sieht sie nicht wieder: Die bleiben beim Vater. Dass man einer unglücklichen Frau, die aus einer Zwangsehe ausgebrochen ist, wenigstens zugestehen müsste, ihre eigenen Kinder von Zeit zu Zeit zu besuchen – auf diese abwegige Idee wird niemand kommen.

Stellt die Frau fest, dass sie von ihrem Liebhaber schwanger wurde, so weiß sie: Das Kind, das sie erwartet, wird die Schande der unehelichen Geburt nie mehr los. Aus einer ungesetzlichen Verbindung hervorgegangen, wird es niemals einen Partner aus geordneten Verhältnissen heiraten dürfen.