Inhalt



Paul Kearney

Die Königreiche Gottes 3

Der eiserne Krieg

Ins Deutsche übertragen von Michael Krug

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Juli 2016

Alle Rechte vorbehalten

Das Original erschien 1999 bei Victor Gollancz Ltd
The Iron Wars – Monarchies of God 3
© 1999 by Paul Kearney
Published by Arrangement with Paul Kearney

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-378-1
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-379-8

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich

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www.atlantis-verlag.de

Dieses Buch ist dem Andenken von
Richard Evans gewidmet.

Ich habe dich bewacht in leichtem Schlummer
Und dich vom eh’rnen Kriege murmeln hören …

Heinrich IV., Teil I

Prolog

Im schweißtreibenden Albtraumfieber der Dunkelheit spürte er, wie die Bestie seine Kammer betrat und über ihm thronte. Aber das war unmöglich. Gewiss konnte sie nicht von so weit her …

O gütiger Gott im Himmel, Herrscher der Erde, steh mir bei …

Beten, beten, beten. Geradezu lachhaft schien es, dass er zu Gott betete, er, dessen Seele pechschwarz und bereits verkauft war; längst verloren und zu ewigen Qualen in den Feuern der Hölle verdammt.

Heiliger Ramusio, steh mir bei. Sei bei mir in dieser verzweifelten Stunde.

Er weinte. Sie war hier, selbstverständlich war sie hier. Sie beobachtete ihn, geduldig wie ein Stein. Er gehörte ihr. Er war verdammt.

Schweißgebadet öffnete er die verkrusteten Lider und blickte in die allumfassende Finsternis der mitternächtlichen Kammer. Während er schlief, waren ihm Tränen über Wangen und Hals gekullert und die schweren Felldecken des Bettes lagen kreuz und quer. Ihre massige, haarige Beschaffenheit ließ ihn zusammenzucken. Aber da war nichts. Er war doch allein, Gott sei Dank. Allein mit der stillen Winternacht, die draußen vor der Kammer mit all ihrer frostigen Macht verstrich.

Vom Nachttisch ergriff er Feuerstein und Stahl, schabte beides aneinander. Nachdem der Zunder Feuer gefangen hatte, übertrug er den Glutkeim auf den Kerzendocht. Ein Licht, ein heller Schimmer in der drückenden Düsternis.

Mutterseelenallein. Sogar der Gott hatte ihn verlassen, den er einst verehrt und dem er die besten Jahre seines Lebens gewidmet hatte. Geistliche und Theologen behaupteten, der Schöpfer wäre überall, in jedem Winkel, jeder Nische der Welt. Nicht aber hier in dieser Kammer. Nicht heute Nacht.

Doch etwas anderes nahte. Er spürte, wie es durch die Dunkelheit auf ihn zuraste, unaufhaltsam wie die Sonne am Himmel, mit fliegenden Füßen, die kaum den Boden der schlummernden Welt berührten. Binnen eines Lidschlags vermochte dieses Etwas, Kontinente und Meere hinter sich zu lassen.

Die Felle auf dem Bett zuckten; er kreischte auf. Von Panik ergriffen, kroch er mit hervorquellenden Augen und wild pochendem Herzen zurück ans Kopfteil. Dann begannen die Felle zu wachsen, bauschten sich in der Düsternis und im Schein der Kerze. Jäh verwandelte die Kammer sich im nunmehr flackernden, unsteten Licht in eine Spielwiese huschender Schatten.

Unaufhaltsam richteten die Felle sich im Bett auf, überragten ihn. Und als sie über ihm thronten, riesig wie ein unförmiger Megalith, blinzelten in ihrer Mitte zwei gelbe Augen, grell und gierig wie eines Feuerteufels Flamme.

Es war hier. Es war gekommen.

Huldvoll ließ er sich mit dem Gesicht auf die feuchten Leinenlaken fallen. Wahrhaftig hier – er konnte den Moder der Erscheinung riechen, die Hitze der massigen Gestalt fühlen. Ein Speicheltropfen löste sich von der Schnauze, der ihm mit leisem Zischen die Haut versengte, als er in seinem Nacken landete.

Sei gegrüßt, Himerius, sprach die Bestie.

»Meister«, flüsterte der auf dem Bauch liegende Geistliche und wand sich in seinem entweihten Bett.

Fürchte dich nicht, mahnte die Stimme der Bestie geräuschlos.

Himerius antwortete mit einem unverständlichen, gurgelnden Laut des Entsetzens.

Die Zeit ist gekommen, mein Freund, sagte das Wesen. Sieh mich an. Setz dich auf und schau.

Eine riesige Tatze mit Fingern und Klauen, gleich einem unwirklich anmutenden Mittelding aus Mensch und Tier, zog ihn auf die Knie. Die Ballen der Tatze versengten ihm durch die Wolle seiner Winterkluft die Haut.

Das Antlitz des Winterwolfs, die Ohren gleich Hörnern über dem massigen, schwarz behaarten Schädel, in dem die Augen wie safrangelbe Lichter in dunklen Schlitzen funkelten, und eine lange, mit Fängen bewehrte Schnauze, von der in silbrigen Fäden Speichel tropfte; die schwarzen, bebenden Lippen zurückgezogen. Und zwischen den Zähnen glitzerte ein zinnoberroter Klumpen.

Iss.

Von unaussprechlichem Entsetzen erfüllt, weinte Himerius. »Bitte‚ Meister«‚ winselte er. »Ich bin noch nicht bereit. Ich bin nicht würdig …«

Iss.

Die Tatzen schlossen sich um seine Oberarme und hoben ihn von den Beinen. Das Bett knarrte unter ihm. Sein Gesicht wanderte dicht vor die heiß glühenden Kiefer; der Atem der Bestie, gleich der feuchten Hitze eines fauligen Dschungels, drehte ihm den Magen um. Ein Tor zu einer anderen, gottlosen Welt.

Er nahm den Fleischbrocken in den Mund, die Lippen zu einem grässlichen Kuss gegen die Fänge des Wolfs gepresst. Er kaute, schluckte, kämpfte den Drang zu würgen nieder, als der Bissen seine Kehle hinabglitt wie auf der Suche nach dem blutig finsteren Weg zu seinem Herzen.

Gut. Sehr gut. Und jetzt zum anderen Teil.

»Nein, ich flehe Euch an!«, wimmerte Himerius.

Er wurde bäuchlings auf das Bett geschleudert; ein beiläufiger Wink mit der Klaue, und das Wesen fetzte ihm die Kleider vom Rücken. Dann war der Wolf auf ihm. Das Furcht einflößende Gewicht drückte ihn nieder, presste ihm die Luft aus den Lungen. Er hatte das Gefühl zu ersticken, konnte nicht einmal schreien.

Ich bin ein Mann Gottes. O Herr, hilf mir in meiner Not!

Und dann der jähe, lodernde Schmerz, als die Bestie auf ihn stieg und mit einem einzigen, erbarmungslosen Stoß in seinen Leib eindrang.

Sein Verstand wurde vor Pein weiß und leer. Die Bestie keuchte ihm ins Ohr; von der Schnauze troff Speichel und verbrühte ihm den Hals. Die Klauen gruben sich in seine Schultern, während das Wesen ihn schändete. Das Fell fühlte sich auf dem Rücken wie Tausende Nadeln an.

Nach einigen wenigen Stößen ergoss sich die Bestie schaudernd in ihn; ein tiefes Grollen der Befriedigung entrang sich ihrer Kehle. Die mächtigen Lenden hoben sich von seinen Hinterbacken. Das Ungetüm zog sich zurück.

Nun bist du wahrlich einer von uns. Ich habe dich mit einer kostbaren Gabe gesegnet, Himerius. Wir sind Brüder unter dem Licht des Mondes.

Himerius fühlte sich wie in Stücke gerissen, vermochte kaum, den Kopf zu heben. Nun gab es kein Beten mehr, niemanden, den er anrufen konnte. Etwas Kostbares war seiner Seele entwunden und durch ein fauliges Übel ersetzt worden.

Der Wolf entschwand und mit ihm wich der Gestank aus der Kammer. Himerius weinte bitterlich; sein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, während ihm Blut zwischen den Beinen hinabrann.

»Meister«, stöhnte er. »Danke, Meister.«

Und als er schließlich den Kopf hob, war er allein auf dem großen Bett, allein in der Kammer, und draußen schwoll der Wind zwischen den verlassenen Kreuzgängen zu einem durchdringenden Heulen an.

Teil I.
Mittwinter

Ein Geist, der sich nicht zu unterwerfen weiß,
der vor keiner Gefahr zurückweicht,
weil sie Ruhm und Ehre für ihn birgt,
ist die Seele eines Soldaten

Robert Jackson, »Eine systematische Betrachtung zur Aufstellung, Disziplin und dem Unterhalt von Armeen«, 1804

Eins

Nichts, was man Isolla erzählt hatte, hätte sie auf diesen Anblick vorzubereiten vermocht. Selbstverständlich schwirrten wilde Gerüchte umher, schauerliche Geschichten von Zerstörung und Gemetzeln. Doch es erstaunte sie, welches Ausmaß die ganze Angelegenheit angenommen hatte.

Sie stand auf der leewärtigen Seite des Achterdecks der Karacke; ihre Zofen hielten sich stumm wie Eulen an ihrer Seite. Ein steter Nordwester blies von backbord herein und das Schiff stampfte im steifen Wind wie ein Hirsch auf der Flucht vor Jagdhunden; leewärts stieg eine zehn Fuß hohe Bugwelle auf, auf die der matte Schein der Wintersonne funkelnde Regenbogen malte.

Nicht der leiseste Hauch von Seekrankheit hatte Isolla befallen, was sie zutiefst erfreute; es war lange her, seit sie zuletzt auf See gewesen war, lange her, seit sie überhaupt irgendwo gewesen war. Die halsbrecherische Fahrt durch den Fimbrischen Golf war eine erfrischend aufregende Abwechslung gewesen, besonders nach der drückenden Wintertrübnis des Hofes – eines Hofes, der erst kürzlich einem versuchten Staatsstreich entronnen war. Isollas Bruder, der König von Astarak, hatte ein halbes Dutzend kleinerer Schlachten geführt, um sich den Thron zu wahren, und war als Sieger daraus hervorgegangen. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was sich in jenem Königreich ereignet hatte, in das ihre Reise führte. Überhaupt nichts.

Sie segelten beständig eine weitläufige Bucht entlang, an deren Ende sich die Hauptstadt von Hebrion befand, das schillernde, alte Abrusio, das gleich einer Dirne auf einem Nachttopf kauerte. Einst hatte Abrusio als der liederlichste und gottloseste Hafen der westlichen Welt gegolten. Und als der reichste, bunteste, belebteste. Nun war er nur noch eine verkohlte Hülle.

Der Bürgerkrieg hatte Abrusios Eingeweide zerfleischt. Ganze drei Meilen weit glich der Küstenstreifen einer rauchenden Ruine. Entlang der Überreste von Kais und Anlegestellen ragten die Rümpfe einst prächtiger Schiffe aus dem Wasser und vom Ufer erstreckte sich landeinwärts ein mehrere Hektar großes Ödland: das immer noch schwelende Gerippe der Unterstadt, die Häuser vom Inferno zerstört, das dort gewütet hatte. Einzig der Admiralsturm ragte großenteils unversehrt in den Himmel, wie ein ausgemergelter Wächter, ein Grabstein.

In den Außenstraßen lag eine mächtige Flotte vor Anker. Obwohl Hebrions Seestreitkräfte im Zuge des erbitterten Kampfes zur Rückeroberung der Stadt von den Glaubensrittern und den mit ihnen verbündeten Verrätern Verluste hinnehmen mussten, stellten sie auch jetzt noch eine beachtliche Macht dar: riesige Schiffe, deren Werften einem Nest verworrener Takelage und emsiger Matrosen ähnelten, die den Schaden zu beheben versuchten, den der Krieg angerichtet hatte. Abrusio besaß immer noch genügend scharfe Zähne.

Droben auf dem Hügel über dem Hafen standen nach wie vor der königliche Palast sowie das Kloster des Ordens vom Ersten Tage, wenngleich an beiden Bauwerken nur zu deutlich die Narben der Beschießung von See aus zu erkennen waren, mit der die letzten Sturmangriffe geendet hatten. Und irgendwo dort oben erwartete Isolla ein König, der auf die Ruinen seiner Hauptstadt hinunterschaute.

Isolla war die Schwester eines anderen Königs. Sie war eine groß gewachsene, hagere Frau, deren lange Nase über den Mund hinabzuhängen schien, außer wenn sie lächelte. Dazu ein Doppelkinn und eine breite, blasse, mit Sommersprossen gesprenkelte Stirn. Schon vor geraumer Zeit hatte sie es aufgegeben, nach der Porzellanpuppenreinheit zu streben, die man von einer Hofdame erwartete. Sogar auf Puder und Cremes verzichtete sie mittlerweile. Ebenso hatte sie die Vorstellungen verworfen, die sie überhaupt erst veranlasst hatten, derlei Tand zu benutzen.

Isolla segelte gen Hebrion, um zu heiraten.

Es fiel ihr schwer, sich des Knaben zu besinnen, der Abeleyn gewesen war, jenes Knaben, aus dem mittlerweile ein Mann und König geworden war. In jenen Tagen, die sie als Kinder miteinander verbrachten, war er grausam zu ihr gewesen, hatte sie ob ihrer Hässlichkeit verhöhnt, sie an den flammend roten Haaren gezogen, die ihre einzige Zierde darstellten. Aber schon damals hatte Abeleyn einen gewissen Glanz versprüht – irgendetwas, das es schwierig machte, ihn zu hassen, hingegen leicht, ihn zu mögen. »Issi Langnase« hatte er sie als Knabe genannt und sie hatte ihn dafür verwünscht. Und dennoch: Als der junge Prinz Lofantyr ihr eines Winterabends in Vol Ephrir ein Bein stellte, sodass sie in den Schlamm stürzte, drückte Abeleyn das Gesicht des künftigen Herrschers von Torunna in eine Pfütze und rieb die königliche Nase in dem Dreck, in dem Isolla stand. Warum er das getan habe, hatte Isolla wissen wollen. Weil sie Marks Schwester war, hatte Abeleyn geantwortet, und Mark sein bester Freund. Dann hatte er ihr mit unbeholfener, jungenhafter Zärtlichkeit die Tränen abgewischt. Isolla hatte ihn angehimmelt – um ihn am nächsten Tag aufs Neue zu hassen, als sie wieder zur Zielscheibe seiner Streiche wurde.

Nun würde er bald ihr Gemahl sein, der erste Mann, den sie je zu sich ins Bett ließ. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren bereiteten Isolla derlei Dinge kaum noch Kopfzerbrechen, obwohl es selbstverständlich ihre Pflicht sein würde, einen männlichen Thronfolger zu gebären, je früher, desto besser. Eine politische Ehe ohne jede Romantik, die aber praktisch war und gelegen kam. Isollas Leib verkörperte den Vertrag zweier Königreiche, ein Symbol ihres Bündnisses. Davon abgesehen, besaß er keinen echten Wert.

»Beim elften Breitengrad!«, rief der Lotse im Bug. Und dann: »Beim heiligen Blut Gottes! Steuerbord, Steuermann! Da ist ein Wrack im Fahrwasser!«

Der Steuermann schwang das Ruder der Karacke, die sich sogleich sanft drehte. Als der Kahn an der Backbordseite des Bugs vorübertrieb, sah die Schiffsbesatzung das Wrack eines versunkenen Kriegsschiffes, dessen Rahspitzen höchstens einen Fuß aus dem Wasser ragten. Die dunkle Masse des Schiffsrumpfs zeichnete sich deutlich im klaren Wasser ab.

Die gesamte Besatzung starrte auf die vom Krieg verwüsteten Überreste der Stadt. Zahlreiche Matrosen erklommen wie Affen die Wanten, um eine bessere Aussicht zu erlangen. Auf dem Achterdeck hatten die vier schwer bewaffneten astarakischen Ritter ihre teilnahmslose Haltung aufgegeben und blickten ebenso gebannt wie alle anderen.

»Abrusio, Gott steh uns bei!«, entfuhr es dem Kapitän, der mit seiner gewohnten Schweigsamkeit brach.

»Die Stadt ist zerstört!«, platzte einer der Männer am Steuer hervor.

»Klappe zu und Kurs halten. Lotse! Gib gefälligst Laut. Ihr hirnloses Pack! Ihr würdet den Kahn noch auf Grund laufen lassen, um einen Tanzbären zu begaffen. An die Brassen! Bei Gott, wollt ihr so kurz vor dem Hafen den Wind sausen lassen, damit uns die Hebrionen für verträumte Narren halten?«

»Da ist kein Hafen mehr«‚ meinte einer der Obermaate kurz und treffend und spuckte gleich darauf mit einem flüchtigen, schuldbewussten Blick zu Isolla über die leeseitige Reling. »Die Stadt ist bis zur Küste niedergebrannt, Käpt’n. Kaum ’n Kai übrig, an dem wir anlegen könnten. Wir werden wohl in den Innenstraßen ankern und ein Langboot reinschicken müssen.«

»Aye«, murmelte der Kapitän mit noch immer finsterer Miene. »Macht Tampen an die Nocks. Vielleicht hast du recht.«

»Augenblick, Kapitän«‚ rief einer der Ritter aus Isollas Leibwache. »Wir wissen noch nicht, wer über Abrusio herrscht. Vielleicht ist es dem König nicht gelungen, die Stadt zurückzuerobern. Sie könnte noch in der Hand der Glaubensritter sein.«

»Am Palast ist das königliche Banner aufgezogen«, warf der Obermaat ein.

»Aye, aber nur auf Halbmast«‚ fügte jemand hinzu.

Eine Pause entstand. Die Besatzung wartete auf Befehle des Kapitäns. Der öffnete den Mund, doch just als er etwas sagen wollte, überschrie ihn der Ausguck.

»Ausguck an Decksmannschaft! Ich sehe ein Boot, das vom Fuß des Admiralsturms ablegt. Es hat das königliche Banner gesetzt.«

Im selben Augenblick sah die Schiffsbesatzung Rauchwolken von den zerbombten Küstenwällen der Stadt aufsteigen. Einen Herzschlag später setzte das Krachen der Schüsse ein – ein entfernter, abgehackter Donner.

»Königliche Salutschüsse«‚ stellte der Anführer der Ritter fest, dessen Miene sich sehr aufgehellt hatte. »Die Glaubensritter und Thronräuber hätten uns nie und nimmer mit Salutschüssen begrüßt – eher mit einer Breitseite. Die Stadt gehört den Königstreuen. Kapitän, Ihr solltet Euch darauf vorbereiten, die Gesandten des Königs von Hebrion zu empfangen.«

Die Spannung an Deck ließ spürbar nach und die Seeleute redeten munter durcheinander. Isolla verharrte schweigend; es war der aufmerksame Obermaat, der ihre Gedanken für sie aussprach.

»Also‚ warum das Banner auf Halbmast weht, würde ich schon gern wissen. Eigentlich tun sie das nur, wenn der König …«

Seine Stimme wurde übertönt vom Gepolter bloßer Füße, die über die Decks rannten, als die Besatzung Vorkehrungen traf, das herannahende hebrionische Schiff zu empfangen. Als es sich näherte – eine königliche Barke mit zwanzig Rudern und einer scharlachroten Kanonenbatterie –, erkannte Isolla, dass die gesamte Besatzung Schwarz trug.

»Wie es scheint, ist die edle Dame eingetroffen«, stellte General Mercado fest.

Er stand mit im Rücken verschränkten Händen da und blickte vom Balkon des Königs auf die Welt hinunter. Die gesamte Unterstadt war seiner Obhut anvertraut, ebenso die großen Buchten, die Abrusios Häfen bildeten, sowie die seewärtigen Befestigungsanlagen, die sich entlang der Buchten verteilten.

»Was, um alles in der Welt, sollen wir jetzt tun, Golophin?«

In der Düsternis des spärlich erhellten Zimmers, dort, wohin das Licht vom offenen Balkon aus nicht reichte, ertönte ein Rascheln. Eine hagere Gestalt löste sich geräuschlos aus den Schatten und gesellte sich zum General. Sie war dürrer, als ein lebendes Wesen eigentlich sein konnte – eine wie aus Pergament, Stöcken und angenagten Lederfetzen erschaffene Kreatur, haarlos und knochenbleich. Der lange Mantel, den die Erscheinung trug, schien sie förmlich zu überschwemmen. Doch aus dem zerschundenen Antlitz leuchteten zwei strahlende Augen, und als der Mann sprach, klang seine Stimme tief und melodisch, als wäre sie das Lachen und Singen gewöhnt.

»Wir spielen auf Zeit, was sonst? Ein angemessener Empfang, eine angemessene Unterkunft und striktes Stillschweigen über den Gesundheitszustand des Königs.«

»Die ganze Stadt ist in Trauer. Ich wette, die Bevölkerung hält den König bereits für tot«‚ herrschte Mercado ihn an. Eine Hälfte seines Gesichts hatte sich zu einer Grimasse verzogen, die andere präsentierte sich als ernste, starre silberne Maske, die sich nie veränderte, kein einziges Mal in all den Jahren, seit Golophin sie eingepflanzt hatte, um dem General das Leben zu retten. Der Augapfel auf der silbrigen Seite glarte blutunterlaufen und lidlos, ein furchterregend Ding, das Mercados Untergebene stets einschüchterte. Den Mann aber, der die Maske geschaffen hatte, konnte sie nicht einschüchtern.

»Ich kenne Isolla, zumindest kannte ich sie«‚ entgegnete Golophin in ebenso barschem Tonfall. »Sie ist ein einfühlsames Kind – mittlerweile wohl eher eine Frau. Wichtig ist auch, dass sie viel Verstand besitzt und nicht im Handumdrehen in Angst und Schrecken verfällt. Und bei Gott, sie wird tun, was man von ihr verlangt.«

Mercado schien beschwichtigt. Er mied den Blick des leichenblassen Magiers. Stattdessen murmelte er nur: »Und du, Golophin? Wie steht es um dich?«

Auf Golophins Züge legte sich ein überraschend mildes Lächeln. »Ich bin wie die alte Hure, die ihre Beine zu oft breitgemacht hat. Ich fühle mich wund und müde, General. Weder für Mensch noch für Tier von großem Nutzen.«

Mercado schnaubte verächtlich. »So weit kommt’s noch.«

Gemeinsam wandten sie sich vom Balkon ab und kehrten zurück in die Tiefe des Zimmers – das königliche Schlafgemach, mit schweren, in der Düsternis kaum zu erkennenden Wandteppichen behangen, mit Läufern aus Ridawan und Calmar auf dem Boden und erfüllt von süßen Weihrauchdüften aus der Levangore. Und auf einem riesigen Himmelbett lag eine ausgemergelte Gestalt zwischen den Seidenlaken. Schweigend standen sie vor ihm.

Abeleyn, König von Hebrion – oder was von ihm geblieben war. Just im Augenblick des Sieges, als er Abrusio wieder in Händen und das Königreich vor einer grausamen Herrschaft der Kirche gerettet hatte, streckte ein Geschoss ihn nieder. Es war wohl einer Laune der älteren Götter zuzuschreiben, dass es so gekommen war, ging es Golophin durch den Kopf. Keine Spur von der sogenannten Gnade und dem Mitgefühl der ramusischen Gottheit. Abeleyns derzeitiger Zustand – ein Dahinvegetieren zwischen Tod und Leben – war wie ein blanker Hohn des Schicksals.

Der König hatte beide Beine verloren und die Stummel oberhalb der Stümpfe waren zerschunden und gebrochen, ein Gewirr grässlicher Wunden und zerschmetterter Knochen. Das einst knabenhafte Antlitz wirkte wächsern, die Lippen schimmerten blau und der schwache Atem ging pfeifend und angestrengt, aber regelmäßig. Zumindest das Augenlicht war ihm geblieben. Und noch lebte er.

»Beim gütigen Heiligen, ich hätte nie gedacht, je miterleben zu müssen, dass ihm so etwas widerfährt«, flüsterte Mercado heiser und Golophin hörte in der Stimme des harten, alten Soldaten einen Beiklang, der ihn verdächtig an ein Schluchzen erinnerte. »Kannst du denn gar nichts tun, Golophin? Überhaupt nichts?«

Der Zauberer stieß einen seltsamen Seufzer aus. Es war, als würde damit ein Teil seiner Lebenskraft entweichen.

»Ich halte seine Atmung in Gang. Mehr kann ich nicht tun. Mir fehlt die Kraft. Ich muss den Dweomer in mir wieder heranwachsen lassen. Der Tod meines Hausgeistes, die Schlachten: Das alles hat mich ausgesogen. Es tut mir leid, General. Unsagbar leid. Er ist auch mein Freund.«

Mercado straffte die Schultern. »Selbstverständlich. Verzeih. Ich führe mich auf wie eine alte Jungfer. Wir haben keine Zeit für Jammer und Klagen, Händeringen und Zähneknirschen, nicht in Zeiten wie diesen … Wo hast du seine Geliebte untergebracht, diese Schlampe?«

»In den Gästegemächern, wo sie unentwegt danach schreit, ihn zu sehen. Sie steht unter Bewachung – zu ihrem eigenen Schutz natürlich.«

»Sie trägt sein Kind im Leib«‚ brummte Mercado grimmig.

»Anscheinend. Wir müssen sie genau im Auge behalten.«

»Verfluchte Weiber«, fuhr Mercado fort. »Und jetzt haben wir noch eine hier, die wir verhätscheln und umsorgen dürfen.«

»Isolla ist anders, wie ich schon sagte. Und sie ist Marks Schwester. Das Bündnis zwischen Hebrion und Astarak muss durch ihre Heirat besiegelt werden. Zum Wohle des Königreichs.«

Mercado prustete verächtlich. »Heirat! Und wann wird die wohl stattfinden? Soll sie etwa einen …« Jäh verstummte er und neigte das Haupt; Golophin hörte, wie Mercado leise fluchte und sich selbst verdammte. »Ich habe ein paar Dinge zu erledigen«‚ meinte er plötzlich. »Sehr viele Dinge sogar, bei Gott. Lass mich wissen, falls eine Veränderung eintritt, Golophin.« Damit stapfte er davon, als müsste er vors Kriegsgericht.

Golophin setzte sich auf die Bettkante und ergriff die Hand seines Königs. Die Züge des Magiers verwandelten sich in die eines grässlichen Totenschädels; Zorn und Hass huschten über sein Antlitz; dann blinzelte er und die Wut wich unaussprechlicher Erschöpfung.

»Besser, du wärst gestorben, Abeleyn«, murmelte er sanft. »Der Letzte der Kriegerkönige hätte sich das Ende eines Kriegers verdient. Wenn du erst fort bist, werden all die Mickerlinge unter den Steinen hervorkriechen.«

Und er neigte den Kopf und weinte.