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bibel & musik

Matthias Henke · Hans-Ulrich Weidemann

Die Sieben letzten Worte
unseres Erlösers am Kreuze
von Joseph Haydn

unter Mitarbeit von Alexander Sieler

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In der Reihe bibel & musik

Michael Theobald / Wolfgang Bretschneider

Meinrad Walter

Beate Kowalski / Michaela C. Hastetter

Jam Assmann

Elisabeth Birnbaum

© 2017 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

Gesamtgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

www.bibelwerk-impuls.de

Inhalt

Vorwort zur Reihe bibel & musik

Vorwort der Autoren

I. Die biblische Vorlage: Die letzten Worte Jesu in den vier Evangelien

Sterben als Summe des Lebens: Zur literarischen Gattung der ultima verba

Die biblischen Sterbeszenen als Quellen? Was wir über den Tod Jesu wissen

Bühne, Ort und Zeit: Die Inszenierungen des Todes Jesu in den neutestamentlichen Sterbeszenen

Jesu letzte Worte nach dem Markus- und dem Matthäusevangelium

Jesu letzte Worte nach dem Lukasevangelium

Jesu letzte Worte nach dem Johannesevangelium

II. Von den vier Evangelien zu den Sieben letzten Worten

Die Sterbeszenen in den Evangelienharmonien

Die letzten Worte Jesu im Diatessaron des Tatian

Die letzten Worte Jesu in der Schrift De consensu Evangelistarum des Augustinus

Der Septenar der Kreuzesworte im Mittelalter

Von Bellarmin zu del Castillo und Messía Bedoya: Der Septenar bei den Jesuiten

III. Der Gottesdienst der Tres Horas am Karfreitag

Die frühchristliche Feier von Tod und Auferstehung Jesu

Heilige Zeit am heiligen Ort: Der Karfreitag in Jerusalem

Heilige Zeit an jedem Ort: Der Karfreitag im mittelalterlichen Westen

Der barocke Karfreitag

Die Tres Horas am Karfreitag

Von Bellarmins Septenartraktat zu den Tres Horas

Die drei finsteren Stunden der Agonie: Der Ablauf der Andacht

Contemplar: Die Rolle der Musik in der Andacht

IV. In nomine Domini – drei Kapitel zu Haydns Religiosität

Religiöse Sozialisation: Volks- und Staatsfrömmigkeit

Zäsuren: Der höfische Haydn und die Josephinische Kirchenmusikreform

Spiegel der Welt: Die späten Messen

V. Die Entstehungsgeschichte von Haydns Komposition

Zur Vorgeschichte des Auftrags

Auftrag und Auftraggeber

Der Beitrag Maximilian Stadlers

Die Tres Horas mit Haydns Musik in Blanco Whites Letters from Spain

VI. Dramaturgie und Großform der Komposition

Zur Anlage des Textes

Exkurs: Haydns Fassung des siebten Wortes

Zur Disposition der Musik

Tempobezeichnungen

Die Tonarten und ihre formbildende Funktion

Die Funktion der Einleitung (Introduzione) und des Finales (Il terremoto)

Metrik

Umfang der Sätze

VII. Analyse der einzelnen Sätze

Introduzione

Sonate I (Pater, dimitte illis, quia nesciunt, quid faciunt)

Sonate II (Hodie mecum eris in Paradiso)

Sonate III (Mulier, ecce filius tuus)

Sonate IV (Deus meus, Deus meus, utquid dereliquisti me?)

Sonate V (Sitio)

Sonate VI (Consummatum est)

Sonate VII (In manus tuas, Domine, commendo spiritum me)

Il terremoto

VIII. Perspektivenwechsel: Die Sieben Worte instrumental und als Oratorium

Allgemeines zum Schaffensprozess

Versuch einer Ehrenrettung I: Die Herstellung der instrumentalen Fassungen

Versuch einer Ehrenrettung II: Das Oratorium

Anmerkungen

Anhang

Literatur (Auswahl)

Diskografie (Auswahl)

Namensregister

Zu den Autoren

bibel & musik

im Verlag Katholisches Bibelwerk

Die Bibel mit ihrem Reichtum an Erzählungen, Bildern und tiefgründigen Gedanken ist und wirkt bis zum heutigen Tag auch kulturprägend. Dieses Wissen um ihre gestaltende Kraft und um die Einordnung großer kultureller Leistungen geht zunehmend verloren oder ist schon gar nicht mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass die Kirche mit ihren Lebens- und Glaubensvollzügen erheblich an Akzeptanz eingebüßt hat. Viele Menschen ziehen es selbst in geprägten Zeiten vor, statt Gottesdienste kirchenmusikalische Veranstaltungen zu besuchen. Diese Aufführungen werden nicht selten zu einem spirituellen Erlebnis. Die werkbezogene Reihe bibel & musik setzt sich zum Ziel, das Gehörte wissensmäßig zu vertiefen und das jeweilige biblische Fundament herauszuarbeiten. Die legendäre Frage an den Äthiopier, die Philippus in der Apostelgeschichte stellt, kann in diesem Kontext leicht abgewandelt werden: Verstehst du auch, was du hörst?

DIE HERAUSGEBER:

MICHAEL THEOBALD UND

WOLFGANG BRETSCHNEIDER

Vorwort

Joseph Haydn hat seinen Zyklus „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit geschaffen – nicht nur im Hinblick auf das südspanische Cádiz und die dortige Kirche Santa Cueva, den Schauplatz der vermutlich 1787 erfolgten Uraufführung; sondern auch, weil seine Musik an einem Karfreitag zu erklingen hatte, jenem Tag, an dem die Kirche des Todes Jesu in liturgischer Form gedenkt. Mehr noch: Die Darbietung sollte zwischen 12 und 15 Uhr in einer abgedunkelten Kirche stattfinden und den gesprochenen Meditationen über die Sieben Worte an die Seite treten, Betrachtungen, die der Jesuitenpater Alonso Messía Bedoya Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hatte. Die auf ihn zurückgehende Passionsandacht der Tres Horas ist ein Musterbeispiel für die sakral-theatralische Inszenierung eines Gottesdienstes in der Barockzeit. Durch die liturgische und musikalische Performanz, aber auch durch die Einbeziehung des Kirchenraumes entsteht ein geistliches Gesamtkunstwerk. Es regt die Gläubigen nachdrücklich an, sich nach Golgotha zu versetzen und den Gekreuzigten in den letzten drei Stunden seines Lebens zu begleiten, die er laut Mk 15,33 in Finsternis zugebracht hatte.

In unserem Band über Haydns „Sieben Worte“ verfolgen wir daher nicht nur das Ziel, neben der musikalischen Analyse das biblische Fundament des Werkes zu erarbeiten. In Erweiterung des programmatischen Reihentitels „Bibel und Musik“ gilt es, auch die ‚Liturgie‘ in unsere Betrachtung einzubeziehen. Stärker als in den bisherigen Untersuchungen von Haydns Komposition haben wir also die Karfreitagsandacht der Tres Horas und das Andachtsbuch von Messía Bedoya in den Blick genommen, das diesem im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreiteten Gottesdienst zugrunde lag. Das schließt die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Analyse des Andachtsbuches ebenso ein wie die Darstellung seiner konkreten liturgischen ‚Performanz‘ und die Verortung der Tres Horas in der Geschichte des Karfreitags.

Die Erweiterung des bipolaren Reihenkonzepts um einen dritten Schwerpunkt ist keineswegs eine akademische Pflichtübung. Denn in der konkreten Auseinandersetzung mit Haydns Vertonung zeigt sich, in welch erheblichem Maß der Komponist die theologischen Impulse barocker Passionsfrömmigkeit im Allgemeinen und der Tres Horas im Besonderen aufgenommen und musikalisch kongenial umgesetzt hat. Bekannt ist, dass Haydn über den äußeren Ablauf des Gottesdienstes, dem er vermutlich niemals beiwohnte, bestens informiert war. Im Lauf unserer Arbeit haben wir Haydn aber auch als einen ‚Theologen‘ kennengelernt, der nicht nur musikalische Untermalungen bereitstellt, sondern eine eigene ‚klingende Exegese‘ der Sieben Worte kreierte. Ihr theologischer Gehalt steht den abendländischen Ikonen sakraler Musik, etwa Guillaume Dufays Domweihmotette „Nuper rosarum flores“ oder Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ nicht nach.

Der Abschluss dieses Bandes, der für uns aber keineswegs das Ende der Beschäftigung mit der genannten Thematik bedeutet, gibt uns Anlass, Institutionen und Personen zu danken, die uns in unterschiedlicher Weise unterstützt haben. Unser Dank gilt zunächst der Universität Siegen, insbesondere den Dekanaten unserer Fakultäten I und II, die das Projekt zu einem „Interfakultären Forschungsschwerpunkt“ erklärt und großzügig für zwei Jahre gefördert haben. Wichtige Informationen über Haydns Zeit am Wiener Stephansdom verdanken wir Reinhard H. Gruber, dem dortigen Archivar, während Olaf Nippe, der Leiter der Moravian Archives Herrnhut, uns mit ausführlichen Informationen über die Rezeption von Haydns „Sieben Worten“ bei den Herrnhuter Brüdern versorgte. Auch vor Ort in Siegen hatten wir wertvolle Unterstützung: Sabine Sczuka stellte uns eine Arbeitsübersetzung von Messía Bedoyas Andachtsbuch zur Verfügung, während Moritz Vollmer die Notenbeispiele setzte. Wichtige Einzelhinweise verdanken wir außerdem Michael Theobald, dem Herausgeber der Reihe bibel & musik, sowie Barbara Stollberg-Rilinger und Rainer Henke (beide Universität Münster). Für ihr engagiertes Korrekturlesen möchten wir uns bei unseren MitarbeiterInnen Sara Beimdieke und Reinke Schwinning bedanken. Auch unserer Lektorin, Claudia Gröhn, und dem Grafiker, Matthias Bumiller, danken wir für die gute Zusammenarbeit.

SIEGEN, AM. APRIL 2017

MATTHIAS HENKE UND HANS-ULRICH WEIDEMANN

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Christian Ludwig Seehas, Porträt von Joseph Haydn, 1785, Ölgemälde, Haydn-Haus Eisenstadt, Österreich

I. Die biblische Vorlage: Die letzten Worte Jesu in den vier Evangelien

Die Vorgeschichte der Karfreitagsandacht zu den Sieben letzten Worten Jesu, also der Tres Horas, beginnt ungefähr 1700 Jahre vor Haydns Komposition mit den kanonisch gewordenen Evangelien. Diese Vorgeschichte ist für uns nur noch teilweise und auch nur im Nachhinein rekonstruierbar. Denn erst der Blick zurück lässt die entscheidenden Weichenstellungen erkennen, die auf die in Cádiz im Jahre 1787 mit Haydns Musik bereicherten Tres Horas hinführen. Quasi im Rückspiegel sind die folgenden vier Stationen erkennbar:

1. Ausgangspunkt sind natürlich die vier neutestamentlichen Passionserzählungen mit ihren Sterbeszenen. Sie dienen, wie andere literarische Sterbeszenen der Antike auch, der narrativen Inszenierung der letzten Worte (lat. ultima verba) Jesu und damit zugleich als Fluchtpunkt der jeweiligen Jesusbiografie.

2. Ein zweites, sich über viele Jahrhunderte hinziehendes Stadium bilden die in der Wirkungsgeschichte von Tatians Diatessaron stehenden Evangelienharmonien. Sie werden schon in der Alten Kirche von Diskussionen darüber flankiert, in welcher Reihenfolge die auf ursprünglich vier Sterbeszenen ‚verteilten‘ letzten Worte Jesu anzuordnen sind.

3. Im hohen Mittelalter entsteht dann der „Septenar der Kreuzesworte im engeren Sinne“1. Er ist gegenüber der bis dahin vorherrschenden reinen Aufzählung oder dem bloßen Arrangement der letzten Worte Jesu am Kreuz die im Hinblick auf die Tres Horas entscheidende Innovation. Nun wird die Anzahl der Worte ausdrücklich auf sieben festgesetzt und mit anderen Siebenerreihen (den sieben Todsünden, Tugenden, Gaben des Heiligen Geistes et cetera) in Beziehung gesetzt. Dieser Septenar der Kreuzesworte entsteht nicht zufällig im 12./13. Jahrhundert im Umfeld des Bernhard von Clairvaux († 1153). In den folgenden Jahrhunderten wird er durch zisterziensische, vor allem aber durch franziskanische Theologen in einer Vielzahl von Traktaten zur festen Größe in Theologie und Passionsfrömmigkeit. Er breitet sich schnell auch in den Volkssprachen aus und inspiriert eine Vielzahl von religiösen, literarischen und künstlerischen Ausdrucksformen.

4. Das letzte Stadium der Vorgeschichte unserer Karfreitagsandacht ist dann mit dem umfangreichen Traktat „De septem verbis a Christo in Cruce prolatis“ (1618) aus der Feder des Kardinals Robert Bellarmin SJ (1542–1621) erreicht. Bellarmin schließt an die mittelalterliche Linie der lateinischen Septenartraktate an. Gegenüber den diversen protestantischen Positionen, vor allem im Hinblick auf den Verlassenheitsruf Jesu, bekräftigt er die Grundkoordinaten mittelalterlicher Christologie. Bellarmins Text fungierte aber auch als eine Art Transmissionsriemen der Septenartraktate in den Jesuitenorden hinein und war eine der Voraussetzungen für die „Devoción a las tres horas de la agonía de Cristo Nuestro Señor“, die der peruanische Jesuitenpater Francisco del Castillo (1615–1673) ein knappes halbes Jahrhundert später entwarf und die sein Ordensbruder P. Alonso Messía Bedoya SJ (1655–1732) dann schriftlich fixierte. Der Gattungswechsel vom lateinischen Traktat zur volkssprachlichen Andacht, die den Bedürfnissen der barocken Passionsspiritualität stark entgegenkam, war außergewöhnlich erfolgreich. Der von del Castillo und Messía Bedoya entworfene Karfreitagsgottesdienst der Tres Horas breitete sich mitsamt dem von letzterem verfassten Andachtsbuch im Laufe des 18. Jahrhunderts schnell auch in Europa aus. Damit haben wir die Zeit Joseph Haydns erreicht.

Sterben als Summe des Lebens: Zur literarischen Gattung der ultima verba

Sterbeszenen sind ein ganz entscheidendes Element der antiken biografischen Literatur. Die große, oft entscheidende Bedeutung, die diese Szenen für die literarische Konzeption einer Biografie (bios/vita) haben, kommt daher, dass in der griechisch-römischen Antike das Sterben eines Menschen als essentieller Akt verstanden wurde. In ihm wurde sozusagen die Summe eines ganzen Lebens gezogen. Christian Gnilka formuliert das so: „Man empfand, dass die Art des Sterbens dem Leben das letzte, gültige Siegel aufdrückte.“2 Laut dem lateinischen Schriftsteller Valerius Maximus enthält „vor allem der erste und der letzte Tag“ (primus et ultimus dies) die Bestimmung des menschlichen Lebens, „weil es viel ausmacht, unter welchen Vorzeichen es beginnt und mit welchem Ende es abgeschlossen wird“ (et quo fine claudatur) (9,12). Das schließt für Valerius Maximus allerdings nicht aus, dass es auch zufällige und unverdiente Umstände eines Lebensendes geben kann (ebd.).

Diese weitverbreitete Sicht des Sterbens als Summe des Lebens manifestiert sich nun in literarischer Form: Abschieds- und Sterbeszenen werden im Kontext von biografischen Texten so konzipiert, dass auf sie die entscheidenden Linien der Lebenserzählung zulaufen – und umgekehrt von ihnen her das gesamte erzählte Leben unter ein bestimmtes Vorzeichen gestellt wird. Das leitende Motiv – positiv wie negativ – ist die Übereinstimmung zwischen Lebensführung und Sterben.

Die entsprechende literarische Inszenierung des Sterbens einer großen Persönlichkeit lässt sich schon lange vor der römischen Kaiserzeit nachweisen. Archetyp dieser literarischen Gattung ist die Erzählung vom Tod des Sokrates am Ende von Platons „Phaidon“. Dieser Dialog zwischen Echekrates und Phaidon beginnt damit, dass Echekrates, nachdem er sich versichert hat, dass Phaidon beim Tod des Sokrates persönlich anwesend war, zwei programmatische Fragen formuliert: „Was also hat denn der Mann gesprochen vor seinem Tode? Und wie ist er gestorben?“ (Phaidon 57 a). Nicht nur die Umstände des Sterbens interessieren Echekrates also, sondern insbesondere und vor allem die letzten Worte des Sokrates.

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Jacques-Louis David, Der Tod des Sokrates, 1787, Öl auf Leinwand, Metropolitan Museum of Art, New York, USA

Der lange Dialog gibt Auskunft über diese beiden Sachverhalte. Phaidon berichtet, dass Sokrates seinen letzten Tag mit philosophischen Gesprächen zugebracht habe, „seine Lebensführung und sein Gang in den Tod passen also zusammen“3. In der literarischen Konzeption Platons wird das lange Gespräch „über die Seele“, über ihre Unsterblichkeit und ihre Trennung vom Körper im Tod, das Sokrates mit Apollodoros, Kriton und anderen führt, dann aber klar von seinen eigentlichen letzten Worten unterschieden. Diese spricht er, als das Gift bereits wirkt und der Tod unmittelbar bevorsteht. Sokrates’ ultima verba, die vom Autor mit der Wendung „das waren seine letzten Worte“ auch explizit als solche markiert werden, lauten: „Kriton, dem Asklepios schulden wir einen Hahn! Wohlan denn, entrichtet ihm den und versäumt es nicht.“ Den Dialog schließt Phaidon dann mit den Worten: „Dies war das Ende unseres Freundes“, der in allem der beste, besonnenste und gerechteste gewesen sei (Phaidon 118 a).

Diese eindrückliche Szene setzte eine immense Wirkungsgeschichte in Gang. Der solchermaßen literarisch inszenierte Tod des Sokrates mit seinen bis heute umstrittenen letzten Worten lieferte nicht nur die Koordinaten für weitere literarische Sterbeszenen, sondern inspirierte offensichtlich auch Männer späterer Zeiten dazu, ihr Sterben nach diesem literarischen Vorbild real in Szene zu setzen, was dann ebenfalls wieder literarisch ausgeformt wurde. Beispiele dafür liefern die beiden römischen stoischen Philosophen Seneca und – nach seinem Vorbild – Thrasea, zumindest in der Darstellung des Tacitus (vgl. Tacitus, Ann 15,64,3 f. und 16,35). Tacitus formuliert in diesem Kontext auch eine Art Programmatik des Sterbens: Ziel des Thrasea sei es gewesen, unentweiht und unbefleckt seinem Ende entgegenzugehen, wie diejenigen, deren Spuren und Bestrebungen er in seiner Lebensführung gefolgt sei (quorum vestigiis et studiis vitam duxerit, eorum gloria peteret finem) (Ann 16,26,3). „Vita“ und „finis“ müssen sich entsprechen.

Umstritten ist, ob Tacitus Zugang zu Sammlungen exemplarischer Sterbeszenen großer Männer hatte. Plinius d.J. deutet die Existenz von solchen Anthologien von Todeserzählungen an, den sogenannten „exitus illustrium virorum“, vor allem von Opfern der Herrschaft Neros (ep V 5). Sollte eine solche Sammlung existiert haben, dann dokumentiert sie erneut das immense Interesse der Zeitgenossen am Sterben großer Männer.

Innerhalb der literarischen Sterbeszenen, nicht zuletzt im Kontext von Biografien, sind nun die ultima verba von entscheidender Bedeutung. Man versteht darunter – im Unterschied zu den Abschiedsreden – pointierte Aussprüche von Sterbenden. Sie sind insbesondere für die römische Literatur stilprägend. Laut Ulrich Huttner bringen diese literarischen letzten Worte die Wesensart eines ganzen langen Lebens knapp auf einen Nenner.4 Sterbende ziehen in ihrem Verhalten und in ihren letzten Worten eine Art Summe aus ihrem (zuvor geschilderten) Leben. In der paganen (heidnischen) Literatur wurde den letzten Worten Beachtung geschenkt, „weil sich in ihnen das Wesen eines Menschen zu konzentrieren schien, oft wohl auch nur wegen einer besonderen Pointe oder Merkwürdigkeit“5.

Es ist also davon auszugehen, dass im Falle eines literarischen biografischen Textes die Sterbeszene mit ihren letzten Worten in Entsprechung zum zuvor Erzählten konzipiert ist. Im Anschluss an Christian Gnilka kann man sagen, dass die Verfasser im letzten Wort den zentralen Punkt der vorangegangenen Mahnungen ein letztes Mal hell aufleuchten lassen, damit er nie wieder in Vergessenheit geraten möge.6

Dass hier die Gesamtsicht auf die jeweilige Person – und weniger eine historische Überlieferung – leitend ist, zeigt eine bemerkenswerte Passage bei Tacitus: Laut dem römischen Historiografen werden die letzten Worte (extremam eius vocem) des ermordeten Galba unterschiedlich überliefert (varie prodidere), je nachdem, ob Hass oder Bewunderung die Überlieferung steuern: Einmal erscheint er als Feigling, der um ein paar Tage Aufschub bittet, ein andermal als mannhaft Sterbender, der seinen Mördern den Hals zuwendet mit dem Satz, sie sollten sich nur an die Arbeit machen und zustoßen, wenn es so dem öffentlichen Interesse diene (agerent ac ferirent, si ita e re publica videretur) (Tacitus, Hist I 41).

Die biblischen Sterbeszenen als Quellen? Was wir über den Tod Jesu wissen

Aus diesem Befund ergibt sich, dass auch die Sterbeszenen der neutestamentlichen Evangelien, die in einem weiteren Sinne zur antiken biografischen Literatur gehören, zunächst als literarische Szenen zu würdigen sind. Als literarische Kompositionen haben sie zunächst eine ganz bestimmte Funktion für die hier erzählte Jesus-Vita. Wie andere biografische Autoren der Antike, so vernetzen die vier Evangelisten gerade über die letzten Worte ihre jeweiligen Sterbeszenen mit ihrer Fassung der Jesus-Vita. Treffend arbeitet Jürgen Becker heraus, dass „die jeweils letzten Worte Jesu Ausdruck je einer eigenen christologischen Konzeption sind“. Die Evangelisten bringen „an diesem typischen gewichtigen Ort ihr Jesusbild nochmals auf einen kurzen Nenner“. Die letzten Worte Jesu sind damit „Ausdruck christologischer Besinnung, nicht aber historischer Berichterstattung“7.

Streng historisch (!) gesehen sind die genauen Umstände des Sterbens Jesu für uns unwiderruflich im Dunkel der Geschichte verschwunden. Man wird daher Rudolf Bultmanns berühmter, allerdings suggestiver Formulierung nicht widersprechen können: „Ob und wie Jesus in ihm [sc. seinem Schicksal] einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man nicht verschleiern“8. Historisch sicher ist, dass Jesus „unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet wurde“ (Tacitus, Ann 15,44,3) und dass „Pilatus ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte“ (Josephus, Antiquitates 18,63 f.). Jesus wurde demnach unter Beteiligung von Vertretern hohepriesterlicher Kreise von der römischen Besatzungsmacht gekreuzigt. Es ist auch weithin unbestritten, dass wir die Umrisse seines Verhaltens in seinen letzten Tagen und Grundzüge des jüdischen wie des römischen Verfahrens gegen ihn noch erkennen können. Doch spätestens an diesem Punkt haben wir den ohnehin schwankenden Boden historischer Rekonstruktion wohl schon verlassen.

Zwar liegt uns mit der Darstellung des Markusevangeliums (Mk 15,21–41) die in literarischer Hinsicht vermutlich älteste der vier neutestamentlichen Sterbeszenen vor. Nach der derzeit immer noch gängigen, weitgehend bewährten Arbeitshypothese neutestamentlicher Wissenschaft diente sie den Verfassern des Matthäus- und des Lukasevangeliums als Vorlage. Allerdings gilt es als sicher, dass Markus, der seinen Text um das Jahr 70 nach Christus verfasste, ältere Quellen verarbeitete, deren Rekonstruktion jedoch hypothetisch bleibt. Diese Quellen dürften zudem ebenfalls keine neutralen Augenzeugenberichte gewesen sein (Von wem auch? Die Jünger waren geflohen, die Frauen standen fernab), sondern stammten vermutlich aus den Jerusalemer judenchristlichen Gottesdiensten. Aus der Zeit vor dem Jüdischen Krieg sind sie also ebenso gedeutete Erzählung wie die Markuspassion auch. Das zeigt schon ihr Sprachmaterial, das insbesondere aus den Klagepsalmen und anderen biblischen Texten vom leidenden Gerechten stammt. Juden, die zum Glauben an Jesus Christus kamen, erzählten von Anfang an seine Passion in der Sprache der Heiligen Schrift Israels, nicht zuletzt deswegen, um das Geschehen sagbar und verstehbar zu machen. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die Ausformulierungen der Passion Jesu an kaum einer Stelle literarisch am Vorbild jüdischer Martyriumserzählungen ausrichteten, wie sie exemplarisch im 2. Makkabäerbuch (2 Makk 6 + 7) vorliegen, obwohl das im jüdischen Kontext eigentlich nahegelegen hätte. So werden im Unterschied zu diesen Martyriumserzählungen die körperlichen Qualen Jesu kaum mehr als angedeutet und nirgendwo ausgemalt. Hier besteht in den biblischen Erzählungen eine bemerkenswerte Leerstelle, die dann die spätere Passionsfrömmigkeit ausfüllen konnte. Damit geht die Tatsache einher, dass die neutestamentlichen Autoren Jesus nicht mit heroischen Zügen ausstatten und ihn nicht als ‚Athleten des Martyriums‘ schildern. Auch folgen die letzten Worte der sterbenden Märtyrer erkennbar einer anderen Programmatik als diejenigen, die Jesus zugeschrieben werden.

Über die bereits hypothetische vormarkinische Passionsüberlieferung kommen wir historisch jedenfalls nicht hinaus. Auch die älteste Erzählung vom Tod Jesu mit dem Schrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) ist also in streng historischer Hinsicht keineswegs ‚näher dran‘ als die anderen. Sie ist zunächst und zuerst die Sterbeszene der markinischen (!) Jesus-Vita und ist von dieser nicht ablösbar. Wie alle ultima verba der antiken Literatur so haben auch die des Markusevangeliums die primäre Funktion, die ‚Summe des Lebens‘ Jesu zu ziehen und sein Leben unter ein bestimmtes Vorzeichen zu stellen: das im Evangelium erzählte Leben. Historische Fakten des Sterbens Jesu können aus ihr ebensowenig herauspräpariert werden wie aus den drei anderen Evangelien. Markus erhebt, wie die anderen Evangelisten auch, den Anspruch, die Wahrheit (!) über den Tod Jesu zu sagen, was nicht identisch ist mit dem Abfassen eines historischen Protokolls.

Die drastischen Eingriffe des Lukas in den markinischen Text belegen, dass auch die anderen Evangelisten dies so sahen. Da die ihm überlieferte Sterbeszene des Markusevangeliums sich offenbar nicht eignete, um die Summe des Lebens Jesu zu ziehen, musste er sie umgestalten. Ob er dafür auf ältere Quellen zurückgriff, ist nicht mehr zu rekonstruieren, aber eher unwahrscheinlich. Denn die von ihm festgehaltenen letzten Worte Jesu passen geradezu verdächtig perfekt zu seinem Jesusbild.

Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern ist umstritten. Sollte der Verfasser sie gekannt haben – wovon die Alte Kirche überzeugt war –, dann ist seine radikale Umgestaltung der Sterbeszene geradezu atemberaubend. Aber auch wenn eine Kenntnis der Synoptiker nicht nachweisbar ist, so ist das eigene Profil der johanneischen Sterbeszene mehr als auffällig. Das Problem wird dadurch verschärft, dass sich die Darstellung des Johannesevangeliums im Unterschied zu den drei Synoptikern auf die Anwesenheit eines Augenzeugen unter dem Kreuz beruft (Joh 19,26 f./35). Diesem sogenannten Lieblingsjünger, der in den anderen Evangelien nicht auftaucht, wird auch die Abfassung des Evangeliums zugeschrieben (21,24 f.). Diese Informationen werden in ihrer historischen Tragfähigkeit in der Exegese aber weithin bezweifelt.

Wir legen also im Folgenden die Sterbeszenen mit den letzten Worten Jesu konsequent als literarische Inszenierungen des Sterbens Jesu und als Quintesssenz des zuvor im Evangelium geschilderten Lebens Jesu aus.

Bühne, Ort und Zeit: Die Inszenierungen des Todes Jesu in den neutestamentlichen Sterbeszenen

Alle vier Evangelisten sind sich einig, dass die eigentliche Kreuzigungsszene auf Golgotha stattfand, also im Unterschied zu den vorherigen Prozess- und Verhörszenen in der Öffentlichkeit unter freiem Himmel. Das ist typisch für vormoderne Prozesse, bei denen die Verhöre und der Prozess nichtöffentlich, die Bestrafung dagegen öffentlich vollzogen wurden. Markus übersetzt den Namen Golgotha mit „Schädelstätte“ (Mk 15,22). Damit war ursprünglich vermutlich die Schädelform des Hügels gemeint. Die spätere christliche Rezeption hat dahinter den Begräbnisort des Schädels Adams vermutet, was wiederum in der bildenden Kunst stark nachwirkte. Der Ort der Kreuzigung befindet sich – im Unterschied zu den Palästen des Hohenpriesters und des Prätoriums – außerhalb der Stadt, deswegen führen ihn die Soldaten hinaus (Mk 15,20, vgl. Hebr 13,11 f.). Jesus wird symbolisch aus der Gemeinschaft seines Volkes ausgeschlossen.

Für Markus ist die Zeitstruktur der Kreuzigungsszene von großer Bedeutung, auch wenn die Gründe dafür umstritten sind. Damit verbunden sind die Lichtverhältnisse. Nach dem nächtlichen Prozess vor dem Hohenrat wird Jesus – nach dem Hahnenschrei (Mk 14,72) – in der Morgendämmerung vor Pilatus gebracht (Mk 15,1). Die Kreuzigung terminiert Markus genau auf „die dritte Stunde“ (Mk 15,25). Diese erste Zeitangabe streicht Matthäus später.

Besonders auffällig ist der Dreistundenrhythmus, den Markus der eigentlichen Sterbeszene unterlegt (15,25.33.34, vgl. Mt 27,45.46), ohne dass eindeutig zu erkennen wäre, was er damit bezweckt: Jesus wird zur dritten Stunde gekreuzigt, und zur sechsten Stunde bricht eine dreistündige Finsternis über das Land (beziehungsweise die Erde) herein, die bis zur neunten Stunde, Jesu Todesstunde, andauert. Sechs Stunden hängt Jesus also am Kreuz. Das Hereinbrechen der Finsternis genau in der Mitte, zur sechsten Stunde, markiert einen Einschnitt. In den ersten drei Stunden ist Jesus Opfer von Verspottung und Schmähungen (Mk 15,29–32 par Mt 27,39–44), die mit Anbruch der Finsternis enden. Während der Finsternis herrscht offenbar Schweigen. Die Finsternis wiederum endet bei Markus und Matthäus mit dem letzten Wort Jesu: „Mein Gott, mein Gott, wozu [beziehungsweise: warum] hast du mich verlassen?“ Als der Gekreuzigte diese Worte hervorstößt, wird es wieder hell (Mk 15,33 f./Mt 27,45 f.). Es ist bemerkenswert, dass weder Markus noch Matthäus einen Hinweis darauf geben, wie sie die Finsternis verstanden haben möchten. Diskutiert wird, ob unter Anspielung auf Amos 8,9 eine Gerichtsfinsternis evoziert werden soll, die über den Gekreuzigten und „das ganze Land“ hereinbricht. Wenn Lukas dann explizit davon spricht, dass „sich die Sonne verdunkelt“, will er vermutlich auf die in griechisch-römischer Literatur belegten Sonnenfinsternisse beim Tod berühmter Männer, wie zum Beispiel beim Tod Cäsars, anspielen. In jedem Fall zeigt das Hereinbrechen der seit der Schöpfung eigentlich auf die Nacht begrenzten Finsternis (Gen 1,1–5; vgl. Ps 104,19–23) mitten am Tag, dass die Schöpfungsordnung kurzzeitig aus den Fugen gerät.

Gegenüber den Synoptikern fällt vor allem auf, dass dem Johannesevangelium ein anderer Zeitindex zugrunde liegt. Gegen Ende des Pilatusprozesses platziert der vierte Evangelist die folgende Zeitangabe: „Es war am Rüsttag des Passafestes, um die sechste Stunde“ (Joh 19,14). Pilatus präsentiert „den Juden“ Jesus als „euren König“ also um die Mittagszeit des Rüsttages zum Passafest und liefert ihn danach zur Kreuzigung aus. Von einer Finsternis von der sechsten bis zur neunten Stunde ist gar keine Rede. Alle folgenden Ereignisse, also Kreuzweg, Kreuzigung und Tod Jesu, finden am Nachmittag des Rüsttages statt. Im Vergleich mit den Synoptikern hängt Jesus also später und deutlich kürzer am Kreuz, und er stirbt nicht am Passafest selbst, sondern am Rüsttag davor. Damit fallen Kreuzigung und Tod Jesu genau in jene Zeitspanne, in der im Tempel die Lämmer für das am Abend vor dem Passafest stattfindende Passamahl geschlachtet werden, am Nachmittag des Rüsttages nach dem (auf kurz nach der Mittagszeit vorgezogenen) Tamidopfer. Im Johannesevangelium ist Jesus demnach das wahre Passalamm, dessen Gebeine dann auch nicht zerbrochen werden (Joh 19,36; vgl. Ex 12,46).

Jesu letzte Worte nach dem Markus- und dem Matthäusevangelium

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34/Mt 27,46)

Beide Evangelisten überliefern das letzte Wort Jesu im Wesentlichen gleich. Matthäus ändert im Zitat das aramäische elōi in das hebräische ēli ab, das aber als Hebraismus auch in aramäischen Texten belegt ist. Außerdem ändert er das markinische eis ti („Wozu? Mit welchem Ziel?“) in hinati („Warum? Aus welchem Grund?“) ab.

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Jesus schreit zu Gott mit lauter Stimme die erste Zeile von Psalm 22, er klagt, dass dieser sich von ihm abgewendet hat und stellt die (rhetorische) Frage nach dem Ziel (Mk) beziehungsweise dem Grund (Mt) für diese Verlassenheit. Dass Jesus gerade Ps 22,2 ausruft, hängt mit der im Psalm geschilderten Situation des Beters zusammen: Im Unterschied