Mit dem Glauben
durch angstvolle Zeiten
Ein CAMINO-Buch aus der
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand.de
Umschlagmotiv: © KreativKolors / shutterstock.com
Lektorat: Claudia Gröhn
Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz
Druck und Bindung: finidr s. r. o., Český Těšín
Printed in the Czech Republic
www.caminobuch.de
ISBN 978-3-96157-003-4
Das Buch ist auch als E-Book erhältlich
unter ISBN 978-3-96157-994-5.
Einleitung
Von der Angst
Von der Unerschrockenheit
Ein Blick auf die angstvollen Zeiten
Die Ängste heute
Vom Umgang mit der Angst
Unerschrocken – Von der Spiritualität und den Haltungen
Unerschrockene Gestalten
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
Oscar Arnulfo Romero (1917–1980)
Martin Luther King Jr. (1929–1968)
Therese Martin (von Lisieux) (1873–1897)
Etty Hillesum (1914–1943)
Haltungen der Unerschrockenheit
Nicht von der Sehnsucht lassen
Ängste wahrnehmen und sich ihnen stellen
Das »Ich weiß es nicht« oder das »Vielleicht« stehen lassen
Gott nicht in Ruhe lassen
Wagemutig und tapfer sein
Vertrauensvoll leben
Mit dem Tod und der Hoffnung auf Auferstehung leben
Psalm 27 – Mein Psalm für Unerschrockene
Texte und Impulse
Angst
Evangelische Kirche Deutschlands (Hans-Albrecht Pflästerer): Vom Mut zur Angst
Sven Petry: Fürchtet euch nicht!
Das Geheimnis des Menschen und Gott
Dietrich Bonhoeffer: Wer bin ich?
Sören Kierkegaard: Von der Nachfolge
Nicht von Gott lassen
Elie Wiesel und andere Holocaust-Überlebende
Magnus Striet: In der Gottesschleife
Wider die Mutlosigkeit
Oscar Arnulfo Romero
Josef Pieper: Von der Tapferkeit
Dietrich Bonhoeffer: Zivilcourage
Martin Luther King Jr.: Gewaltloser Widerstand
Anfechtungen und die »Dunkle Nacht«
Altvater Antonius
Therese von Lisieux
Regina Bäumer / Michael Plattig
Das Leben und der Tod
Schriftsteller über Friedhöfe
Franz von Assisi
Literatur
Anmerkungen
Textnachweis
Zum Autor
Ich bin seit mehr als dreißig Jahren im Orden der Kapuziner. Seit sechsundzwanzig Jahren bin ich Priester, und ich muss gestehen: Ich habe Angst. Ja, ich habe Angst, wenn ich an das Leben, an die Zukunft, an den Tod und vieles mehr denke. Muss ich mich deswegen schämen? Sollte es bei mir aufgrund meines Glaubens nicht so viel anders sein? Gesichert und gefestigt im Glauben, in angstvollen Zeiten ohne Angst, mit großer Zuversicht, mit Mut und Hoffnung? Wagen, das Leben zu gestalten – sollte ich nicht eine solche Haltung haben, und keine Angst? Zeugt das von der Kleingläubigkeit im Menschen, von der Jesus im Evangelium immer wieder einmal spricht? Zeugt das von meiner Wankelmütigkeit und meinem mangelnden Vertrauen in Gott und Jesus Christus? Ich Kleingläubiger und Zweifler, Fragender und Suchender?
Angst ist ein Lebensthema. Und gerade im Moment ist es ein beherrschendes Thema in Deutschland. German Angst, die Angst vor den Populisten, die Angst vor Überfremdung, die Angst vor der Altersarmut, vor dem nächsten Terroranschlag direkt vor der Haustür. Die Medien berichten darüber, in allen Varianten und Schattierungen. Manche nutzen es, manche schüren sie, manche versuchen sie zu verharmlosen, die Angst, die umherschleichende, beunruhigende Angst vor einer ungewissen Zukunft. Verschiedene Ängste werden benannt und statistisch mit Zahlen unterlegt. Leben wir in angstvollen Zeiten, in ängstlicheren Zeiten im Vergleich zur Vergangenheit? Oder gibt es weniger vertrauensvolle Deutungsmuster von Leben und Welt, die helfen würden, mit Ängsten umzugehen, mit den existenziellen Ängsten, die immer schon da waren und immer da sein werden, und den anderen, den »modernen« und den aktuellen Ängsten?
Ja, ich habe Angst und ich bekenne meine Angst! Oft fühle ich mich hin- und hergerissen zwischen Hoffnung, Resignation, Mut, Optimismus und Angst, Sorge, Furcht. Es ist das Auf und Ab meines Lebens. Und ich denke mir oft, vielleicht ist das auch gut so. Ich bin mir nicht sicher, meiner selbst nicht und meines Lebens nicht. Vieles entzieht sich meiner Machbarkeit und meiner Planbarkeit. Ich muss es geschehen lassen und weiß nicht, was sich daraus ergibt, und es mir am Ende bescheren wird. Das Leben ist eine Reise vom Gewissen in das Ungewisse und vom Ungewissen in das Gewisse – und nur wenig davon habe ich in meiner Hand und kann frei darüber verfügen. Und selbst das macht manchmal Angst und bereitet Sorge: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Kann und darf ich mir trauen? Da ist doch so vieles in mir selbst, das mir ständig zu Frage wird, wo ich mich nicht mehr kenne und nur noch wundere, über mich selbst, über meine Unfähigkeit, über meine dunklen Seiten … und das macht mir Angst. Diese Angst kann ich auch nicht hinwegreden oder schönreden. Wenn sie da ist, dann ist sie da und lässt sich nicht erweichen, nicht harmonisieren oder frömmelnd wegbeten.
Ja, vielleicht ist das kleingläubig, aber vielleicht ist es auch einfach menschlich, allzu menschlich. Ich bin kein Held im Glauben, sondern manchmal verzagt. Glaube und Angst gehen Hand in Hand, schon immer und auf ewig. Angst und Glaube schließen sich jedoch nicht aus, denn der Glaube ist gewiss und ungewiss zugleich. Die Frage, ob ich als Christ und als Priester Angst haben darf oder nicht, stellt sich mir nicht. Die Angst gehört zum Glauben, trotz und in allem. Mir scheint, dass die Art und Weise, wie ich mit der Angst umgehe, der entscheidende Punkt ist und mich als Christen auszeichnet, als Ordensmann und Priester.
Angst ist ein schlechter Ratgeber, so heißt es oft. Das stimmt sicherlich, das lässt sich aber nicht verallgemeinern und stimmt in vielen Einzelfällen eben auch nicht. Generell kann man auch sagen, dass Angst eine Dimension von Vorsicht beinhaltet – und Vorsicht tut allemal gut! Angst kann lebensrettend werden, Angst macht alarmbereit. Doch hilft mir das? Stärkt mich das? Lässt mich das ehrlich und redlich meinen Ängsten in die Augen schauen? Oder laufe ich nicht allzu gerne vor ihnen davon, und das zu Recht? Augen zu, Ohren zu, nicht daran denken! Was nicht sein darf, kann nicht sein?
Auch Jesus hatte Angst im Garten von Getsemanie: Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Das war eine tiefe existenzielle Angst, und er hat sie bekannt, hat seinen Vater um Hilfe gebeten. Blieb die Angst, nachdem man ihn im Garten Getsemanie festgenommen hatte, als er vor Herodes und Pilatus stand? Blieb die Angst am Kreuz? Er betete den Psalm 22: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Der Psalm wendet sich von tiefer Klage in eine Gottesgewissheit und in ein starkes Vertrauen dem lebendigen Gott gegenüber. Wie im Leben? Vom Ungewissen in das Gewisse? Oder ist das nicht auch schon Interpretation des Autors, Wunschdenken, Hoffnungsdenken, Glaubenswissen?
Ich möchte Sie, lieber Leser, liebe Leserin, im Folgenden an meinen Gedanken über die Angst im Glauben teilhaben lassen und nehme Sie mit auf eine Reise. Ganz bewusst hat dieses Buch den Titel »Unerschrockenheit«. Denn das scheint mir die Tugend zu sein, die mir oft fehlt, die ich aber auch manchmal habe, die so viele Menschen im Glauben, trotz ihrer Angst und einer angstvollen Zeit, in der Vergangenheit und in der Gegenwart auszeichnet. Und das ist für mich die Art und Weise, wie ich mit meiner Angst in angstvollen Zeiten umgehen darf. Ich stelle Ihnen weiter einige Gestalten unseres Glaubens vor Augen, die in ihrer Unerschrockenheit Vorbild sein können. Menschen, die gängigen Mustern, Ängsten und Versuchungen getrotzt haben – um des Lebens willen.
Außerdem möchte ich gerne einige Haltungen beschreiben, die sich aus der Unerschrockenheit im Glauben ergeben. Es sind Haltungen, die mit Fragen einhergehen, mit vielen Fragen, denn diese sind Ausdruck der Gewissheit in aller Ungewissheit, meiner Ungewissheit in der Gewissheit des Glaubens. Zuletzt habe ich einige Texte und Gedanken von Menschen und Heiligen zusammengetragen, versehen mit kurzen Anmerkungen, Gedanken und Fragen, die als Reflexionshilfe für die eigene Sammlung oder für das Gespräch in Gruppen dienen können.
Doch zunächst beginne ich mit einer kurzen Beschreibung der angstvollen Zeit. Etwas, das für mich in vielen Punkten im wahrsten Sinne des Wortes fragwürdig erscheint und manchmal nichts anderes darzustellen scheint als einen Hype, von den Medien gefördert, gelenkt und thematisiert.
Bevor ich auf diese Fragen eingehe, möchte ich diese Einleitung mit einigen persönlichen Gedanken und Assoziationen abschließen, die mir auf verschiedenen Reisen in den letzten Monaten gekommen sind. Vielleicht finden Sie sich mit Ihren Gedanken in meinen Assoziationen wieder, vielleicht ergänzen Sie diese oder widersprechen. Aber letztlich sind das meine Fragen und Gedanken, die mir im Umgang mit meiner Angst kommen. Sie könnten deshalb genauso gut auch am Ende meines Buches stehen.
Ich fahre durch die weiße Winterlandschaft in Deutschland
Es ist so wunderschön
Alles ist ruhig weiß bedeckt
Die rote Abendsonne verleiht allem dieses schöne warme Licht
Frieden
Genügsamkeit
Zufriedenheit
Stille
Und das soll irgendwann vorbei sein
Dahinein fällt eine Bombe
Erschießt ein Mensch andere Menschen
Zünden Menschen Häuser von Fremden an
Prügeln und mobben Fremde …
Ein Buch über Angst – Hoffnung – Perspektiven
Was macht mir in meinem Leben Angst?
Da gibt es vieles und wenig
Eine Fülle und eine Leere
Berge und Täler
Sümpfe und klare Seen
Angst
ein einsames Gefühl
überwältigend
es überzieht mich wie eine Eisschicht
es nagt an mir
es befreit mich
lähmt mich
Angst vor dem Alter
vor der Zukunft
vor mir selbst
vor dem Tod
Letztlich ist es der Tod, der Angst macht
alles durchdringt mit seiner Fragwürdigkeit
mit seiner Endgültigkeit
Es ist nicht mehr
gar nichts
gähnende Leere
nicht einmal mehr Langeweile
rein gar nichts
Das Leben ist wie eine Reise auf einem Fluss
Die Landschaften ziehen vorbei
Menschen sind zu sehen
verschwinden
und dann: das Aus
das Ziel
das Nichts
wozu all die Mühen
wozu all das Schöne
wozu all das Erleben
Wenn ich es doch nicht festhalten kann
Wir sind alle kleine Fausts
faustisches Leben
Am Ende ist nichts mehr zum Festhalten
zum Anhalten
zum Innehalten
zum Verweilen
zum Trost
Nichts
ausgelöscht
Wer warst Du
warum und wozu
Nimm dich nicht so wichtig
ein Staubkorn im Kosmos
Gegangen versucht
vergangen
schneller oder langsamer
Ein Sinn
Das Leben ist eine vergebliche und
zum Scheitern verwirklichte Sinnsuche
Warum bin ich ins Leben gerufen
zum Leben verdammt
wenn dann doch alles umsonst ist
Danke für …
Ist Religion dann hilfreich
meine Religion
meine Spiritualität
Geist? –
Ich kann sehr gut darüber schreiben
über Inkarnation
über das Faszinierende aus der christlichen Spiritualität
darüber, dass Gott die Welt geschaffen hat
dass er ist
Dass es, wie es ist, gut ist
Weil es ein Später
ein anderes
ein etwas
die Fülle im Nichts
gibt –
Doch stimmt das?
Schreibe ich darüber so viel, weil ich es mir
und den anderen beweisen will?
Das Leben ist kein Trugschluss
kein hoffnungsloses Hin und Her
keine Einbahnstraße
kein Umsonst
keine Eintagsfliege
Glaube, ja, natürlich
Sinn des Lebens
Gott des Lebens
Gott über Leben und Tod
Gott Urheber des Sinns
Sinn in Gott
Sinnengott
sinnlos
betäubendes Hin und Her
um dem Endgültigen auszuweichen
der gähnenden Leere
dem schwarzen Loch
das mich mit gierigem Lechzen
empfängt
umschließt
verschlingt
betäubendes Nichts
das mich auslöscht
Du bist nicht mehr
Du warst nie
Just forget it
Ich schreie diese unerträgliche Leere
diese wahnsinnige Schwärze
aus
Lass mich in Ruhe
Lass von mir ab
Verschone mich
Das ist meine Angst
ein Leben lang sich etwas vormachen
weil ich es nicht besser weiß
nicht besser wissen will
Augen zu
Ohren zu
ein großes, lautes ohrenbetäubendes NEIN
Weil ich leben will
Weil ich nicht vergehen will
Weil ich ich bin
Weil ich –
Weil
AUS
All die anderen Ängste sind zweitrangig im Leben
Sie sind Ausdruck der einen großen
Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens
Angst vor Altersarmut
Angst vor Gewalt und Terror
Angst vor Überfremdung
Angst vor Krankheit
Weil wir das Leben nicht akzeptieren
wie es ist
eben sinnlos?
Hilft der Glaube?
Kann er eine Perspektive geben inmitten aller Lebensangst?
Der Glaube an Christus, der wiederkommen wird
Es wird kein Tod mehr sein, Gott wird abwischen alle Tränen
der Angst
Das Kind wird am Loch der Schlange spielen
Siehe, ich mache alles neu
Es gibt etwas anderes
Größeres, das trägt und stützt
hilft und Trost spendet
das den Blick auf eine umfassende Perspektive lenkt
eben nicht auf das AUS, sondern auf das Weiter?
Unerschrockenheit: Was heißt das eigentlich?
Mit Mut durch die Welt gehen, sich nicht erschrecken lassen
trotz Erschrockenheit weitermachen
sich nicht langfristig beirren lassen
wagemutig
freimütig
Bin ich unerschrocken?
Es hat etwas mit Stellung beziehen zu tun
weil ich an etwas glaube
weil ich dem Menschen glaube
weil ich an den Menschen glaube
Ich bin doch eher feige
Halte mich gerne im Hintergrund
Kann trotzdem meinen Mund manchmal nicht halten
Habe aber Angst vor Auseinandersetzungen
Doch stelle ich mich
Stelle ich mich hin und bekenne
Setze ich mich ein
für die Sache, die mir am Herzen liegt?
Mut, Furchtlosigkeit, Tapferkeit
drei verschiedene Bedeutungen
Kühnheit, Zivilcourage
andere Worte für Unerschrockenheit
Spart die Angst nicht aus
Lässt sich von der Angst anspornen
Geht Hand in Hand mit der Angst
Bin ich unerschrocken
Tapfer und furchtlos
Lasse ich mich ansprechen
oder bin ich nicht einfach nur satt
Lasse mich nur ungern stören
Stehe nur ungern auf
Erhebe nur ungern meine Stimme
Habe mich eingerichtet
Will mich nicht stören lassen
Will nichts aufgeben
Will nichts riskieren
Will mich nicht aus der Reserve locken lassen
Will will will nicht –
Doch warum geht es immer nur um meinen Willen
sehnsüchtig
suchend und fragend
Gott wo bist du
Lass mich zu Dir stehen
Lass mich zu mir stehen
Lass mich zur Welt stehen
Lass mich ein Held werden
nur im Kleinen
nur ein wenig
sodass ich mit Stolz auf mich schauen kann
Gott
Du Kleingläubiger
Wem traust Du
nur dir
Dann lass es sein
Dann vergiss es
Unerschrocken in Zeiten der Angst
Ach Gott
Ein Publizist spricht vom Mut zur gepflegten Polemik
vom Mut zur intellektuellen Unerschrockenheit
die die Dinge beim Namen nennt
nicht schwafelt
nicht auf die Konsequenzen schaut
sondern auf Redlichkeit
Wahrheit und Engagement
gepflegt polemisch mit dem Finger in der Wunde
der Versuch, wie Vaclav Havel es sagt, in der Wahrheit zu leben
eben – UNERSCHROCKEN …
Was ist überhaupt Angst, und wem hilft es, wenn man die Ängste untersucht und dabei offensichtlich feststellt, dass Deutschland ein Land der Angst ist und es in den vergangenen Jahren zunehmend mehr geworden ist? Stimmt das so überhaupt?
Ich möchte mich nicht allzu lange bei diesen Fragen und Phänomenen aufhalten, muss aber doch einen kurzen Blick darauf werfen. Denn es scheint in der Tat so zu sein, dass die Zeiten im Moment angstvolle Zeiten sind, und dass viele Menschen vor allem keinen Weg sehen, wie sie mit dieser Angst umgehen sollen. Unzählige Autoren haben sich in jüngster Vergangenheit und in der Gegenwart mit der Angst und insbesondere mit Deutschland, als einem Land der Angst, beschäftigt und Bücher wie Artikel publiziert. Es lassen sich verschiedenste Ratgeber finden, die helfen wollen, mit der Angst umzugehen und mit ihr zu leben. Manche stellen den Glauben in den Mittelpunkt, den Glauben, der Hoffnung verleiht und der Angst den Garaus macht.
Die sogenannte R+V Studie »Die Ängste der Deutschen in 2016« stellt nach der Befragung von ca. 2400 deutschen Mitbürgern fest, dass der Angstindex der Deutschen, den die R+V Versicherung in Wiesbaden seit 25 Jahren analysiert und festlegt, im Jahr 2016 um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen sei.1 Die Ängste haben zugenommen beziehungsweise von den zwanzig erfragten Ängsten sind inzwischen zwölf bereits in einer Skala von eins bis einhundert bei über fünfzig Prozent der Befragten real. Im Jahr 2015 haben es nur vier zu einer »Beliebtheit« von über fünfzig Prozent geschafft. Das Jahr 2016 ist das Jahr der Ängste: An erster Stelle steht die Angst vor terroristischen Anschlägen, gefolgt von der Angst vor politischem Extremismus und dem weiteren Zuzug von Flüchtlingen und Ausländern. Nach wie vor sind die üblichen Ängste genannt, wie die Sorge vor einem wirtschaftlichen Ruin oder auch vor Krankheit, doch ist insbesondere die Angst vor der Eskalation von Gewalt und vor Konflikten durch Zuwanderungen enorm gestiegen, so die Analyse. Die Angst vor den Kosten der Euro-Schuldenkrise ist nach wie vor auch groß, ebenso die Angst vor der Pflegebedürftigkeit im Alter. Außerdem gehört die Angst vor Naturkatastrophen und der Zerstörung der Umwelt und den damit folgenden Klimaveränderungen im Ranking immer noch zu den großen Ängsten der Deutschen. Interessanterweise stellt das Zerbrechen von Partnerschaften stets das Schlusslicht im Ranking der Ängste dar. Das heißt auch, dass aktuelle Bedrohungen und Entwicklungen in der Gesellschaft größere Ängste hervorrufen als das Nachdenken über die eigene und persönliche Lage und Zukunft. Natürlich bedingt das eine oft das andere.
Es ist sehr interessant, und ich frage mich beim Lesen, ob das auch bei mir so der Fall ist. Kann ich für mich unterstreichen, dass die Angst vor Terroranschlägen, die Angst vor politischem Extremismus sowie die Angst vor einem Kontrollverlust in Bezug auf die Flüchtlinge auf einer Ängsteskala weit oben rangieren? Ich glaube kaum. Und sind das wirklich die beherrschenden Ängste der Deutschen, wie die Studie es herausstreicht? Vieles macht Angst, aber es beherrscht mich nicht. Gerade jetzt im Moment des Schreibens dieser Zeilen frage ich mich, ob nicht die Muskelspiele von Nordkorea, den USA und anderen Ländern in einen globalen Krieg führen. Davor habe ich große Angst, aber diese Angst nagt nicht an mir, zerfrisst mich nicht. Hier passt das gängige Wort: »Ängste fressen Seele auf« nicht, zumindest nicht für mich. Nein, es sind schon die existenziellen Ängste, die nagen, die ihre Finger ausstrecken und mich immer wieder streifen, gerade auch dann, wenn ein lieber Mensch gestorben ist, wenn ich von Krankheiten anderer höre – oder mich frage, wie meine Zukunft aussehen wird.
Welche Ängste habe ich im Jahr der Ängste 2016 vor allem gespürt? War es auch für mich ein Jahr der Angst?
Vieles heute kann Angst machen, und generell findet man in der Literatur über Angst und den vielen Artikeln seit ein/zwei Jahren über die Angst in Deutschland die von der R+V Versicherung aufgeführten Ängste. Ich füge noch andere hinzu, die mir in den Begegnungen mit Menschen aufgefallen sind, und die, so meine ich, zunehmend bedrohlicher werden und anfangen, auf der einen Seite destruktiv zu werden, aber auf der anderen Seite aber auch Energien und Widerstand freisetzen:
– Die zunehmende Mobilität und Flexibilität machen vielen Menschen zu schaffen und lassen die bedrängende Frage aufkommen: Komme ich überhaupt noch mit?
– Die zunehmende Digitalisierung und Virtualisierung der Welt stellen die beängstigende Frage nach der Bedeutung der Wirklichkeit: Was heißt überhaupt noch Realität und was Welt? Werde ich es noch erleben, dass die Technik mich überholt und beherrscht?
– Gemeinschaft erlebe ich mehr und mehr als ein sehr brüchiges und fragiles Geschehen. Es gibt so viele Parallelgemeinschaften, und herkömmliche Gemeinschaftsmodelle scheinen immer mehr ihre Geltung zu verlieren. Was heißt überhaupt noch Gemeinschaft? Und was heißt Bindung?
– Die traditionellen Sinnstifter wie die Religionen und Kirchen verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Was gibt heute noch Halt und Sicherheit? Was hilft mir, mein Leben zu deuten und einen Sinn zu finden?
– Die Zukunft der Welt scheint angesichts der Entwicklungen in einer globalisierten Welt am Scheideweg zu stehen: Gerechtigkeit und Frieden, die Bewahrung der Schöpfung stehen weltweit nicht nur auf dem Prüfstand, vielmehr sind sie mehr als bedroht – und bedrohen die Zukunft der ganzen Welt. Wie sieht die Zukunft aus? Vielen macht das Angst, auch im persönlichen Bereich. Stehen wir vor einer ökologischen Apokalypse?
– Wie sieht überhaupt die Zukunft aus, meine Zukunft? So war vor zwei Jahren das Stichwort von der Angst vor der Altersarmut vielfach zu hören.
– Im Herbst 2016 empfahl die Bundesregierung, dass jeder Bürger in Deutschland einen individuellen Vorrat an Lebensmitteln für zehn Tage vorhalten solle. Viele hat das verängstigt – und die Angst vor Krieg mit all seinen grausamen Folgen wird seitdem mehr und mehr greifbar, ein bedrohliches Inszenario in den Händen von populistischen oder machthungrigen sogenannten »starken Männern und Frauen«.
– Viele Eltern haben für ihre Kinder Angst vor der ungewissen Zukunft. Was wird aus ihnen werden? Werden sie die Chance auf eine gute Bildung und Ausbildung haben, Familien gründen und ein erfülltes Leben führen? Oder wird ihre Zukunft geprägt sein von Zerstörung und Krieg?
– Und schließlich der Tod. Er macht noch immer Angst, große Angst. Ist er nicht die Mutter aller Ängste?
Über Ängste zu schreiben, bedeutet ehrlich hinzuschauen. So manche der genannten Ängste teile ich, andere weniger. Es gibt verschiedenste Kategorien von Ängsten im Leben. So allem voran die existenziellen Ängste, die von innen kommen und vielleicht immer im Hintergrund mitschwingen, die einfach zum Leben dazugehören, wie die Angst vor der unheilbaren Krankheit, die Angst vor dem Tod, die Angst vor dem Leben, die Angst davor, liebe Menschen ganz plötzlich und unwiderruflich zu verlieren. Es sind schleichende Ängste, die mich plötzlich ergreifen, innerlich erschauern lassen, die ich gerne ganz schnell zur Seite schiebe, die sich aber nicht zur Seite schieben lassen. Sie sind da, weil sie zum Leben gehören, das so ungewiss und gewiss zugleich ist. Die Schriftstellerin Mechthild Borrmann beschreibt solche Ängste eine ihrer Protagonistinnen in ihrem neuesten Roman sehr treffend wie folgt: »Als Lehrerin hatte sie ein gutes und gesichertes Einkommen, ging überaus sparsam mit Geld um und investierte einen großen Teil in ihre Zukunftssicherung. Wenn aber etwas Unvorhergesehenes passierte, stieg diese Angst in ihr auf, die sich in letzter Zeit immer wieder bis zu Panik steigerte. Ein großer grauer Hund, der sie unvermittelt ansprang. Dann rang sie nach Atem und meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Eine grundlose, existenzielle Angst, die sie sich nicht hat erklären können, von der sie manchmal dachte, dass es nicht ihre war.«2
Dazu kommen die Ängste, die von außen geschürt werden oder von außen an mich herangetragen werden: die Angst vor dem Fremden oder der Überfremdung, die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg, Altersarmut, Verlust des Jobs. Ängste, die sich einstellen, weil ich Situationen erleben muss, derer ich mich nicht erwehren kann, mit denen ich umgehen muss. Angst ist dabei eine Reaktion, die mein Verhalten bestimmen kann. Schließlich gibt es noch die Ängste, die vielleicht gar keine Ängste sind, sondern Sorgen und die Furcht davor, dass mir lieben Menschen etwas widerfahren und ihnen etwas passieren könnte.
Was ist überhaupt der Unterschied zwischen Furcht und Angst? Furcht scheint rational begründet zu sein, wenn man einschlägigen Publikationen folgt. Angst ist mehr ein unausgerichteter Gefühlszustand, etwas, das bedrohlich wirkt und eine einengend bedrängende Gefühlswirkung auslöst. Mit Ängsten kann man also spielen, sie kann man provozieren, mehr noch als Furcht.
Zwei Publikationen aus den letzten Monaten seien an dieser Stelle exemplarisch zu erwähnen. Sie sind bezeichnend für die vielen Auseinandersetzungen mit der Angst. Beide machen mir zugegebenermaßen Angst.
Die erste Ausgabe des Magazins »Spiegel Classic« (mit dem interessanten Untertitel »Für Menschen mit Erfahrung und Entdeckergeist«) von 2017 trägt die Überschrift: »Sehnsucht nach Sicherheit. Strategien für ein angstfreies Leben«. In dem Hauptartikel wird gleich zu Beginn wie selbstverständlich behauptet, dass die Deutschen Angst haben. »Gesellschaftliche Umbrüche – Flüchtlingskrise, Terrorismus, Rechtspopulismus verunsichern eine ohnehin furchtsame Nation im Privaten wie im Politischen. Doch es gibt Wege, mit solchen Ängsten umzugehen.«3 Gewarnt wird vor der Tatsache, dass die Ängste vieler Menschen heute als politisches Kapital genutzt werden, so zum Beispiel durch die AfD. Doch gibt es Möglichkeiten, das zu verhindern, indem man sich den Ängsten stellt, diese anspricht und ernst nimmt. Der Spiegel stellt Menschen vor, die genau das tun und sich für das Leben und für ein Leben in der Überwindung von Ängsten, oder besser im Umgang mit den Ängsten einsetzen, so im Einsatz für die Flüchtlinge im Dorf, um so dem Fremdenhass oder der Angst vor den Fremden im Dorf entgegenzutreten; in der Führung eines Haushaltsbuches, um so der eigenen Angst vor der Altersarmut zu begegnen; in einer erhöhten Wachsamkeit und mit Sicherheitsmaßnahmen, um der Angst vor Diebstahl ihre Kraft zu nehmen, und schließlich im Zusammenhalt der Familie, um mit der Angst vor der eigenen Pflegebedürftigkeit und dem Alter umzugehen. Eine eigenartige Mischung von Ängsten, die hier geschildert wird. Und wer will, der kann sich online noch über weitere Möglichkeiten im Umgang mit der Angst informieren und Tipps einholen.
Sind das die Ängste, die Menschen heute bewegen? Oder sind es Sorgen, Befürchtungen, Ungewissheiten, die das Leben so mit sich bringt, und die nun einmal da sind, ob ich es will oder nicht? Oder sind es schon Phobien? Vieles wird hier vermengt, vieles wird miteinander verglichen, wie wenn man Äpfel mit Birnen vergleichen würde. Hilfreich? Weiterführend? Erhellend? Nicht für mich!
Auf einer dreimonatigen Reise durch Deutschland beschreibt der Journalist Dirk Gieselmann und fotografiert der Fotograf Armin Smailovic die gemeinsamen Eindrücke aus einem Land, in welchem die Angst zu herrschen scheint. In der Einleitung schreibt Gieselmann: »Was ist das für eine Reise, die ihr macht?, fragt mein Sohn. Wir machen eine Reise durch Deutschland, sage ich. Das ist weit, sagt mein Sohn, warum macht ihr denn so eine weite Reise? … Weil wir Angst haben, müsste ich sagen, um dieses Land und vor diesem Land, und wir wollen wissen, woher sie kommt. … Deutschland hat sich verändert, sage ich also zu