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Karin Bucha
– Box 2 –

E-Book 6-10

Karin Bucha

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-905-4

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Klaus Heimburg kämpft um Jutta

Roman von Karin Bucha

Jutta Dahlen, die älteste Tochter des Besitzers der Dahlen-Werke, schritt ihrem Lieblingsplätzchen zu.

Der Weg lief steil hinan zu einer kleinen Anhöhe, von der aus man weit in die Umgegend sehen konnte.

Die Hand über die Augen gelegt, schaute sie um sich.

Nach einiger Zeit schritt sie gedankenverloren den Weg zurück, der zum Hause führte.

Ihrem Vater, dessen Wesen seit Tagen tiefernst und sorgenvoll war, galten ihre Gedanken.

Welche Sorgen drückten den Vater, geschäftliche – oder persönliche?

Plötzlich verhielt Jutta den Schritt. Tante Hermine trat aus dem Haus und schritt auf das Auto zu.

Schnell trat Jutta hinter das Gebüsch. Es wäre ihr unmöglich gewesen, mit der Tante zu reden.

Sie atmete auf, als Tante Hermine verschwunden war. Doch kaum hatte sie den Fuß vorwärts gesetzt, blieb sie abermals stehen.

Dicht vor ihr ging Bernhard Dahlen dem Hause zu. Sein Gang war wie der eines Schwerkranken.

Ein eiskaltes Gefühl kroch Jutta nach dem Herzen, als sie in kurzem Abstand der schwankenden Gestalt folgte.

In der dämmrigen Kühle, die in der hohen Halle herrschte, schöpfte er tief Atem. Dann schlug er den Weg zu seinem Arbeitszimmer ein, das im ersten Stockwerk lag.

Hart fiel die Tür hinter ihm ins Schloß, dann wurde ein Schlüssel umgedreht.

Wie vor einer unüberwindlichen Mauer stand Jutta vor der hohen Tür. In ihren blauen Augen stand das Entsetzen.

Etwas Furchtbares hatte den Vater tief erschüttert. Aber was? Sie mußte Gewißheit haben.

Voller Verzweiflung klopfte sie an.

Aber nichts rührte sich.

Jutta war wie von Sinnen. Wie sollte sie zu Vater gelangen?

Da kam ihr ein Gedanke: der Balkon, der das Billardzimmer mit Vaters Arbeitszimmer verband!

Sie riß die Tür zum Nebenzimmer auf und stand Sekunden später auf dem Balkon.

Ihre eiskalte Hand griff nach dem Drücker – unverschlossen!

Mit einem Satz war sie neben dem zusammengesunkenen Mann, umklammerte die wachsbleiche Hand, die den Browning umspannt hielt.

»Vater!«

Bernhard Dahlen erwachte aus seiner Erstarrung. Ein Zucken ging durch seinen Körper.

Jutta überwand das Grauen. Sie griff nach dem Revolver, sicherte ihn, warf ihn in das halbgeöffnete Schreibtischfach und legte in überströmender Liebe die Arme um den Hals des Vaters.

Ein Strahl unendlicher Liebe brach aus Bernhard Dahlens Augen.

»Ich danke dir, mein Kind!« Seine Stimme klang wie gesprungenes Glas. »Aber helfen kannst du mir – unmöglich!«

Nicht nur die Schönheit ihrer Mutter hatte Jutta geerbt, nein, auch den wertvollen Charakterzug, den Melitta besessen hatte. Melitta, die aus seinem Leben gegangen war und einen Teil seiner Lebenskraft mit sich genommen hatte.

Jutta, die des Vaters neue Fassungslosigkeit dem Vorhergegangenen zuschrieb, neigte sich zu ihm.

»Vater! Ich bitte dich herzlich, sprich dich aus!«

Das war auch ihre Stimme! So hatte sie, die teure Verlorene, gesprochen; und mit einer Leidenschaftlichkeit, die Jutta neu an dem Vater war, zog er sein Kind an sich.

»Jutta! Ich danke dir tausendmal, daß du mich vor dem Entsetzlichen bewahrt hast! Beinahe wäre ich fahnenflüchtig geworden –!«

»Vater!« mahnte Jutta leise, als dieser nun wieder gedankenverloren vor sich hinstarrte.

Und er begann zu sprechen, zuerst stockend, dann freier werdend, und Jutta hörte zu. In ihren Augen stand das Grauen, als seine Rede mit folgenden Worten schloß:

»Und so habe ich mir nach und nach die Leitung aus den Händen nehmen lassen. Immer wieder hat Tante Hermine den Rat gegeben, ich hätte es nicht nötig zu arbeiten; Direktor Pegau sei der zuverlässigste Mensch, den es nur geben kann – und sie hat auch recht. Ich kann mich ganz auf ihn verlassen, schließlich trägt er doch keine Schuld daran, daß unsere Spekulation fehlgeschlagen ist. Jedenfalls stehen wir vor dem Zusammenbruch. Bis morgen mittag müssen dreihunderttausend Mark beschafft werden! Ullrich Andersen hat die Frist schon einmal verlängert, doch er scheint aufmerksam geworden zu sein, denn als letzten Termin hat er den fünfzehnten Juni gestellt – und der ist morgen. Ich bin ruiniert – weiß keinen Ausweg mehr!

Nun wirst du mich verstehen, Jutta, und mich verachten, weil ich so schwach war und aus dem Leben gehen wollte.«

»Vater, davon wollen wir nicht mehr sprechen«, unterbrach Jutta die Selbstanklage des Vaters. Dann blickte sie sinnend ins Leere. Ihre Gedanken hetzten wild durcheinander. Wo gab es einen Ausweg? Er mußte gefunden werden! Dem Vater Vorwürfe machen, war zwecklos, obwohl er nicht schuldlos war. Sie hatte von vornherein gegen Direktor Pegau Zurückhaltung geübt – niemals hatte sie verstehen können, warum Tante Hermine diesen unterwürfigen Menschen so schätzte.

»Vater!« Ihre Stimme zitterte leise. »Du kennst doch Ullrich Andersen – geh nochmals zu ihm – vielleicht hilft er dir.«

»Ausgeschlossen, Jutta. Niemals wird Ullrich Andersen mein unverantwortliches Handeln unterstützen!«

»Wer ist Ullrich Andersen?« fragte Jutta, deren Interesse geweckt war.

»Ullrich Andersen?« Bernhard Dahlen sprach völlig ohne Bewegung »Man erzählt, daß er ungeheuer reich sein soll, jedoch ein bescheidenes Leben führt. Man sagt, er kenne nichts als seineArbeit – und als Liebhaberei dichtet man ihm eine grenzenlose Liebe zu Tieren an. Er unterhält einen kostspieligen Tierpark auf seinem Gut in der Mark.«

»Große Liebe zu Tieren?« Gedankenvoll sagte es Jutta vor sich hin.

»Aber – warum erkundigst du dich mit so offensichtlichem Interesse nach diesem Manne?«

»Warum?« Langsam stand Jutta auf. »Weil ich ihn aufsuchen werde.«

Fassungslos blickte Dahlen auf sein Kind.

»Gib dein Vorhaben auf, ich bitte dich, es würde nur eine Demütigung für dich werden!«

»Ich gehe doch, Vater! Ein Mensch, der Tiere über alles liebt, muß auch ein Herz für seine Mitmenschen haben!«

Dahlen gab keine Antwort. Er grübelte. Sein Kind sollte er diesen schweren Gang gehen lassen? War das nicht ein neuer Beweis seiner Schwäche? Aber er würde nicht viel ausrichten können. Stellte sich Jutta Widerstand entgegen, wurde sie leicht trotzig – und es würde auch diesmal so sein.

So sagte er denn ergeben:

»Ich weiß, daß ich dich nicht zurückhalten kann; doch ich prophezeie dir: elender, als du jetzt bist, wirst du wiederkommen!«

Jutta fühlte deutlich: der Vater malte ihr das Vorhaben absichtlich so schwarz. Aber es gab kein Zurück – nun erst recht nicht! Ohne auf seinen Einwand einzugehen, fragte sie:

»Und wo trifft man Ullrich Andersen?«

»In Berlin, in der Andersen-Bank.«

*

Nun war Jutta in Berlin und ließ sich von einem Taxi nach dem »Esplanade« fahren.

Dann verließ Jutta das Hotel und ließ sich von einem Taxi zur Andersen-Bank bringen.

Dort angekommen, betrachtete sie mit bangen Augen den riesigen Bau.

Ehrfurcht beschlich sie, als sie kurz darauf durch die Drehtür in das Innere trat und sich an den Pförtner wandte.

»Ich möchte Herrn Andersen sprechen.«

»Das wird schwerhalten«, sagte er kurz und kratzte sich hinter dem Ohr.

Jutta brachte ihre Bitte noch einmal vor, diesmal in bestimmterem Ton.

Da verwies der Mann sie weiter, und es gelang ihr endlich, zu der Sekretärin Andersens vorzudringen.

Erst hier nannte sie ihren Namen und trug ihr Anliegen nochmals vor.

Auch die Sekretärin zeigte Erstaunen.

Seit wann hatte der Chef Damenbekanntschaften?

Doch sogleich schämte sie sich ihrer Gedanken. Etwas im Wesen des schönen Mädchens rührte sie, und freundlich sagte sie:

»Das tut mir leid, Herr Andersen ist verreist.«

»Verreist?« Juttas Stimme war ohne jeden Klang.

»Ja, Fräulein Dahlen, es ist auch sehr unbestimmt, wann er wieder in Berlin sein wird.«

In diesem Augenblick rasselte der Fernsprecher.

»Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick«, bat die Sekretärin Jutta. Doch als sich Fräulein Keßler nach Beendigung des Ferngespräches umwandte, hatte Jutta das Zimmer bereits verlassen.

Verreist – verreist!

Ihre Reise war umsonst – umsonst ihr schöner Plan!

Wie gehetzt irrte sie durch die Straßen und bemerkte nicht, daß ihr ein Mann folgte.

Gerade als sie aus der Andersen Bank getreten war, war Klaus Heimburg vorübergegangen, und sofort fiel ihm das verstörte junge Mädchen auf.

Aber er mußte tüchtig achtgeben, damit er sie nicht aus den Augen verlor.

Dann kam eine Straßenkreuzung! Eben verschwand das rote Licht – da schrie er leise auf.

Jutta lief geradewegs in einen Wagen hinein, wurde im letzten Augenblick von einem Fußgänger zurückgerissen.

Mit starkem Bremsen stand der Wagen. Der Chauffeur stieg aus. Ein Schutzmann nahte.

Halb ohnmächtig lehnte Jutta an der Seite des älteren Herrn, der den Arm um das zitternde Mädchen gelegt hatte.

Der Chauffeur zeigte seine Papiere vor, und die Umstehenden bezeugten, daß Jutta in den Wagen gelaufen war.

Der einzige Insasse des schweren Reisewagens wurde aufmerksam. Sein Blick fiel auf Jutta. Hastig beugte er sich vor. Er sah in ein paar entsetzte, unnatürlich weit geöffnete blaue Augen; unter einem weißen Hut quollen blonde Locken hervor. Reizvoll umgaben diese ein bleiches, feingeschnittenes Mädchengesicht.

In diesem Augenblick fuhr sein Wagen weiter, und er wurde in seiner Betrachtung gestört. War es möglich? Gab es solch eine Ähnlichkeit?

Jutta aber riß sich los, als sie den Schutzmann auf sich zukommen sah, und floh den Weg zurück, den sie gekommen war.

Enttäuscht sah Klaus Heimburg ihr nach. Dann folgte er ihr schnell. Er hatte sie jedoch bereits aus den Augen verloren.

Jutta lief immer weiter. Sie ahnte nicht, daß sie beinahe in den Wagen des Mannes gelaufen wäre, den sie so sehnlichst herbeiwünschte: Ullrich Andersen.

Vor einem kleinen Café machte sie halt. Sie mußte unbedingt etwas Stärkendes zu sich nehmen.

In eine Ecke setzte sie sich und bestellte einen Kaffee und einen Kognak.

In einem Zug stürzte sie das scharfe Getränk hinunter und fühlte, wie allmählich das Zittern in den Beinen nachließ.

Zehn helle Schläge gab die Uhr von sich, die in ihrer Nähe hing.

Noch zwei Stunden! Sie mußte Vater anrufen, mußte ihn von ihrem Mißerfolg unterrichten!

Sie ließ sich den Weg zur Telefonzelle weisen. Dann blätterte sie im Telefonbuch.

Richtig – sie mußte das Gespräch am Büfett anmelden. Schon wollte sie die Zelle wieder verlassen, als ihr Blick auf ein Reklameschild fiel.

›Andersen-Bank‹, stand darauf.

Ein Stöhnen kam aus ihrer Brust. Ihre große Hoffnung, dahin – zerschlagen!

Plötzlich begann sie fieberhaft nach einer Nummer zu suchen. Hier: Andersen-Bank.

Kurz entschlossen wählte sie die Nummer und ließ sich mit der Sekretärin verbinden.

Ein Knacken im Apparat, dann eine Frauenstimme:

»Hier ist die Sekretärin von Herrn Andersen.«

»Hier Jutta Dahlen, verzeihen Sie bitte –«

»Ach, Fräulein Dahlen, warum sind Sie davongelaufen?« klang die Stimme ein wenig ärgerlich. »Gerade, als Sie hinaus waren, ist Herr Andersen gekommen. – Hallo – sind Sie noch da?«

Der Hörer war Juttas Hand entfallen. In ihren Ohren war ein Sausen und Brausen: »Soeben gekommen – soeben gekommen!«

Ganz bedächtig legte sie denHörer auf und begab sich an ihren Platz, bezahlte und ging.

Nach einer Viertelstunde stand sie abermals im Zimmer der Sekretärin Ullrich Andersens.

Offensichtliche Verlegenheit spiegelte sich in Anni Keßlers Zügen beim Anblick Jutta Dahlens.

Zögernd trat sie auf Jutta zu.

»Es tut mir wirklich leid, Fräulein Dahlen, aber im Augenblick kann ich Sie nicht melden! Herr Andersen wünschte nicht gestört zu werden.«

»Wann kann ich Herrn Andersen sprechen?« Tiefe Mutlosigkeit klang durch die wenigen Worte.

Anni Keßler zuckte die Achseln.

»Wenn Sie einstweilen Platz nehmen wollen?«

Jutta setzte sich, und die Sekretärin neigte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Bange Minuten vergingen – Jutta erschienen sie eine Ewigkeit. Endlich hielt sie es nicht länger aus.

»Bitte, Fräulein Keßler, versuchen Sie, ob mich Herr Andersen empfängt.« Und als die Sekretärin unentschlossen aufblickte, sagte sie noch: »Ich trage die Verantwortung.«

»Ich kann es ja mal versuchen«, antwortete sie und klopfte an die Tür des Chefzimmers. Zu ihrem größten Erstaunen wurde sie aufgefordert, einzutreten.

»Herr Andersen, eine Dame wünscht Sie zu sprechen!«

»Eine Dame?« kam es überrascht vom Fenster her, und dann, nach kurzer Pause: »Soll eintreten.«

Anni Keßler öffnete Jutta die Tür.

Jutta stand nun in dem großen Raum. Ihr Herz setzte aus – dort am Fenster, den Rücken dem Zimmer zugewandt, lehnte ein großer kräftiger Mann.

Jutta wagte kaum zu atmen – und da, langsam drehte sich Ullrich Andersen um.

Zunächst fesselten sie nur ein paar helle Augen, die in seltsamem Widerspruch zu der dunkelgetönten Hautfarbe standen; ein Zeichen, daß sich der Mann viel im Freien bewegte.

Jutta stand dem großen Andersen gegenüber.

*

Klaus Heimburg war, nachdem er Jutta aus den Augen verloren hatte, mißmutig in sein Hotel zurückgekehrt.

In seinem Wohnzimmer warf er sich in einen Sessel.

»Klaus Heimburg«, sagte er sich, »kaum bist du einige Tage in Deutschland, und schon bist du auf dem besten Wege, dich zu verlieben.«

Wenn er Glück hatte, lief sie ihm vielleicht noch einmal in den Weg, die zierliche blonde Frau. –

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Andersen zu Jutta. Nichts in seinem Gesicht verriet, daß er aus seinem Gleichgewicht gebracht war.

Sofort hatte er in Jutta die junge Dame erkannt, die in seinen Wagen gelaufen war. Auch sonst wäre es unmöglich gewesen, dieses schmale Mädchengesicht wieder zu vergessen – dafür sorgte schon die Vergangenheit. Aber gleichzeitig wappnete er sich mit eisiger Unnahbarkeit.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er knapp.

Plötzlich schwang eine dunkle warme Stimme im Zimmer: »Ich bin Jutta Dahlen.«

Schwerfällig ließ sich Andersen hinter seinem Schreibtisch nieder und wandte keinen Blick von dem bleichen Antlitz. – Diese Stimme – die Stimme!

Juttas Herz klopfte zum Zerspringen. – Diesen Mann wollte sie um etwas bitten? – Ihr mühsam zurechtgelegter Plan brach zusammen wie ein Kartenhaus.

Sie hatte nur einen Gedanken: Ich muß fort – sonst breche ich in Tränen aus! Nur so kann ich mich noch mit Anstand aus der peinlichen Lage retten! Unwillkürlich machte sie einige Schritte rückwärts.

Da sprang Ullrich Andersen auf und stand nun vor Jutta. Wenn er erst nicht klug aus ihr geworden war – jetzt fühlte er: vor ihm stand ein Menschenkind, das Hilfe suchte. Die künstliche Maske der Verhärtung, die er getragen, fiel, und nichts war mehr übriggeblieben von dem seinen Willen durchsetzenden Andersen, als er jetzt Jutta zu dem Ledersessel führte, der seinem Platz gegenüberstand.

»So«, sagte er, »nun müssen Sie offen zu mir sein – womit kann ich Ihnen helfen?« Dann trat er weg von ihr, so daß er im Schatten stand.

Er merkte, daß seine Nähe sie ängstlich gemacht hatte. So gab er ihr Gelegenheit, sich zu sammeln.

Und Jutta sprach. Schon nach den ersten Sätzen hatte sie sich wiedergefunden. Nicht nur verstandesgemäß – mit ganzem Herzen trug sie ihr Anliegen vor.

Andersen beugte sich aufmerksam vor.

Da saß ein junges Mädchen vor ihm und sprach von einem Werk und einem Vater, der um dieses Werk zu halten, um Verlängerung seines Kredits nachsuchte. Und er hatte geglaubt – –?

Er schämte sich plötzlich seiner Gedanken. Wenn er nicht schon um dieses tapferen Mädels willen helfen würde, dann ganz bestimmt um eines Werkes willen, wie das Bernhard Dahlens, das Weltruf genoß und gehalten werden mußte.

Aber er würde sich erst einmal die Werke anschauen, ob da auch alles in Ordnung war.

Innerlich war er längst entschlossen, zu helfen, doch zögerte er, als wollte er sich noch ein paar Minuten gönnen, in das junge Gesicht zu schauen. – Und dann hing diese Frage doch in der Luft.

»Würden Sie mir den Mädchennamen Ihrer Frau Mutter nennen?«

Jutta riß die Augen auf. – Was hatte der Mann? Was ging ihn ihre tote Mutter an?

Leise antwortete sie:

»Meine Mutter war eine geborene von Erlstett – Melitta von Erlstett.« Sie wollte noch hinzusetzen: Sie ist schon lange tot, ich habe sie nicht gekannt. – Aber ein Stöhnen verschlug ihr die Worte; es schien von dort zu kommen, wo Ullrich Andersen stand.

Doch sie mußte sich geirrt haben. Andersens Gesicht war beherrscht wie immer, nur – die kräftige Hand lag jetzt zur Faust geballt auf der Schreibtischplatte. Unbeschreibliches ging in Andersen vor. Seine Ahnung, seine Ahnung!

Jutta Dahlens Mutter war seine einzige, große Liebe! Um ihretwegen war er einsam geblieben, und aus seiner Liebe zu ihr hatte er die Kraft geschöpft, zu seiner gegenwärtigen Höhe emporzusteigen – und nur sie sollte der Lohn sein, um den er gearbeitet hatte. Doch als er dann so weit war, sie zu holen, hatte sie dem anderen ihr Herz geschenkt – Bernhard Dahlen! In seiner Verzweiflung hatte er nicht nach dem Namen des Mannes gefragt, der ihm das Höchste entrissen. In diesem Augenblick war sie ihm verloren: die Liebe hatte den Sieg davongetragen, nicht sein vieles, schwer erarbeitetes Geld! In törichter Verblendung hatte er geglaubt, sich Melitta von Erlstett nur erringen zu können, wenn er ihr den kostbaren Rahmen geben konnte, der zu ihrer Schönheit gehörte. Das war sein großer Fehler gewesen, der ihn sein Lebensglück gekostet hatte.

Abermals war nun sein Schicksal eng mit dem seines Nebenbuhlers verknüpft. Der Mann, der ihm das Köstlichste entführt, verlangte jetzt Hilfe von ihm – in seiner Macht stand es, Bernhard Dahlen zu retten oder zu vernichten.

Fast scheu sah sich Andersen um.

Nein, nein! wies er sich zurecht. Auch für die Zukunft willst du anständig bleiben!

Er ging auf Jutta zu und faßte ihre Hände.

»Ich helfe Ihrem Herrn Vater. In den nächsten Tagen sende ich einen meiner Direktoren zu ihm, der alles Nötige besprechen wird.«

*

Sie nahm sich einen Wagen und ließ sich ins Hotel zurückbringen.

Sie war so glücklich, daß sie nicht den schlanken Herrn bemerkte, der ihr nachstarrte.

Sie steuerte auf den Pförtner zu.

»Bitte, melden Sie ein Gespräch an nach – –.« Doch dann überlegte sie rasch. »Nein, danke, ich werde ein Telegramm aufsetzen. Sorgen Sie bitte dafür, daß es schnell befördert wird.«

Jutta nahm ihren Schlüssel in Empfang und eilte die Treppe hinan.

Klaus Heimburg stand wie angewurzelt.

Seine blonde Frau hatte er wiedergesehen! Nur ein paar Schritte hätte er zu machen brauchen, und er wußte auch ihren Namen. Aber – er würde ihr wieder begegnen.

Er brauchte seine Ungeduld nicht lange zu zügeln. Nach kurzer Zeit trat Jutta aus dem Fahrstuhl, ging abermals zum Pförtner und gab ihr Telegramm auf. Dann schlug sie den Weg zum Speisesaal ein.

Ganz nahe mußte sie an Klaus Heimburg vorüber. Lieber Gott, dachte Klaus, wenn ich sie doch unter einem Vorwande ansprechen könnte! –

Und – als hätte sein Wunsch Erhörung gefunden – rollte einer der großen Perlmuttknöpfe, die das weiße Kostüm Juttas schmückten, über den Läufer.

Jutta hatte es nicht gemerkt.

Klaus hob ihn auf und folgte ihr.

Kaum hatte Jutta Platz genommen, als ein Schauen über den gedeckten Tisch fiel.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen Ihr Eigentum zurückgeben? Soeben fand ich es hier!«

Jutta sah auf den Knopf in der Hand des Mannes und griff danach.

»Ja, wirklich – er gehört mir!« stammelte sie, verwirrt geworden unter dem langen Blick dieser dunklen zwingenden Augen. »Ich danke Ihnen!«

Sie reichte ihm unwillkürlich ihre Hand, die er mit einem Glücksgefühl ohnegleichen an seine Lippen führte.

Eine tiefe Verbeugung – dann saß Jutta wieder allein.

Eigenartig machtvolle Augen! dachte Jutta. Dann vertiefte sie sich in die Speisekarte. Ihr Magen verlangte energisch sein Recht.

*

»Guten Tag, Bernhard. Eben erfahre ich, daß Jutta verreist ist. Ich finde es höchst seltsam, daß man mich davon nicht unterrichtet hat.«

Mit diesen Worten trat Hermine von Erlstett in das Zimmer Bernhard Dahlens. Sie war sichtlich verärgert.

»Darf man wenigstens wissen, was das zu bedeuten hat?«

Dahlen reichte ihr freundlich die Hand.

»Verzeih, Hermine, das ging alles so überstürzt vor sich.«

Unwillig unterbrach sie ihn.

»Wohin ist Jutta gefahren, und was veranlaßte sie dazu? Man läßt doch ein junges Mädchen nicht ohne Begleitung in der Weltgeschichte umherfahren!«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Hermine...« Sein Ton war verbindlich, aber bestimmt. »Ich bin genau über Juttas Ziel unterrichtet. Ich möchte aber nicht vorgreifen; es soll Jutta überlassen sein, dich über ihre Reise aufzuklären.«

Nur widerwillig suchte er das Speisezimmer auf und setzte sich still auf seinen Platz.

Auf Hermine von Erlstetts Gesicht lag wieder die gewohnte Kühle. Mit keinem Wort brachte sie das Gespräch auf Jutta zurück.

Aufmerksam wie immer bediente sie ihn.

Dahlen stand aber bald schon wieder auf.

»Entschuldige bitte, ich habe zu arbeiten; laß mir eine Tasse Kaffee in mein Zimmer bringen.«

Sie neigte den Kopf und beugte sich wieder über ihren Nachtisch.

Kaum hatte er jedoch das Zimmer verlassen, sprang sie auf. Ihre Züge waren leidenschaftlich erregt.

Keiner ahnte, daß Hermine von Erl­stett neben einem eisernen Willen auch ein leidenschaftliches Herz besaß, das sie meisterhaft hinter ihrer Unnahbarkeit zu verstecken verstand.

Ihr einziges Sinnen und Trachten war von jeher, Herrin in diesem Haus zu werden; aber es wollte ihr nicht gelingen, die Schwester, die sie gehaßt hatte, aus dem Herzen des Mannes zu vertreiben.

»Jutta muß heiraten.« Halblaut sagte sie es vor sich hin, und sie hatte auch schon den Mann für die verhaßte Nichte ausgewählt: Reinhold Pegau!

Durch ihre Vermittlung war Pegau in die Werke gekommen, und bei jeder Gelegenheit zog sie ihn in das Haus Dahlens.

Ihre ganz besondere Zuneigung besaß dieser Mann, der in den Dahlen- Werken eine hervorragende Stellung einnahm, trotz seiner jungen Jahre.

Damit kam sie auch den Wünschen Pegaus entgegen, der sich seinem Chef unentbehrlich gemacht hatte und über dessen Gunst hinweg er zu der unnahbaren Jutta Dahlen gelangen wollte.

Lange grübelte sie darüber nach. Endlich glaubte sie einen Weg gefunden zu haben. Sie hatte den Schwager unlängst darauf aufmerksam gemacht, daß man verpflichtet wäre, eine Gesellschaft zu geben.

Entschlossen erhob sie sich. Ja – so würde es gehen! Sie wollte Pegau ebenfalls einladen – und vorher ihren Schwager dahingehend beeinflussen, daß eine Verbindung zwischen Jutta und Pegau dem Werk nur von Nutzen sein könnte.

Der Tag verging. Bernhard Dahlen blieb unsichtbar. Seine Stimmung wurde immer unerträglicher – dabei vermied er offensichtlich, Hermine zu begegnen.

Er hatte nach dem Werk telefoniert, daß er heute fernbleiben würde.

Ob er morgen kommen würde, hatte Pegau zurückgefragt.

»Kann ich noch nicht sagen«, gab er zur Antwort.

Und nun saß er im Dunkeln und starrte vor sich hin. Er ging auch nicht zur Abendtafel. Er hätte sich den forschenden Augen Hermines gegenüber nicht verstellen können.

Endlich herrschte Stille im Hause.

Bernhard Dahlen lehnte am offenen Fenster seines Schlafzimmers.

Unablässig sah er sein Kind vor sich. – Was würde ihm der nächste Tag bringen?

Schon einmal hatte er solch eine qualvolle Nacht verbracht – damals, als ihn Melitta, seine Frau, verlassen hatte.

Um den Kindern nicht den Glauben an die Mutter zu nehmen, hatte er erzählt, sie wäre gestorben.

»Melitta – warum gingst du von mir? Ich wollte dich doch nicht verlieren! Nur verteidigen solltest du dich gegen das Ungeheuerliche, das man mir zugetragen hatte!« flüsterte er in die Nacht.

Sie hatte nicht geweint, nicht gebettelt, sondern ihm schweigend den Rücken gewandt und sich langsam durch das Zimmer bis zur Treppe geschleppt; dort hatte sie sich noch einmal umgedreht – nie würde er diesen verzweifelten, anklagenden Blick vergessen!

Am nächsten Morgen war sie verschwunden. – Wie hatte sie ihre Kinder nur verlassen können? War sie ihnen nicht die beste Mutter gewesen?

Damals hatte es begonnen. Sein Lebensmut war immer mehr geschwunden.

Hermine hatte ihn damals aufgerichtet, wirklich liebevoll, soweit es ihre kühle Natur erlaubte.

*

Jutta verließ den Speisesaal, verfolgt von einem Paar dunkler Augen.

»Bitte, schicken Sie mir meine Rechnung. In einer Stunde fährt mein Zug!« gebot sie dem Pförtner.

»Jawohl, gnädiges Fräulein!«

Klaus Heimburg verließ ebenfalls den Speisesaal. Er zögerte. Sollte er sich nach ihr erkundigen?

Wieder kam ihm da das Schicksal zu Hilfe.

»Fritz, trag die Rechnung zu Fräulein Dahlen, Zimmer vierzehn!«

Klaus Heimburg horchte auf.

»Dahlen? – Bestand ein Zusammenhang? – Er trat an den Tisch.

»Können Sie mir sagen, ob Fräulein Dahlen die Tochter des Fabrikbesitzers Bernhard Dahlen ist?«

»Wenn Sie die Dahlen-Werke in Narbach meinen, dann stimmt das, Herr Heimburg«, gab der Pförtner ihm zur Antwort.

Klaus dankte und suchte sein Zimmer auf.

Er sehnte sich plötzlich nach der Mutter; sie würde ihm raten, fand immer das Richtige! – Jetzt wußte er auch, woher die große Ähnlichkeit kam.

Mit einem Male kam ihm ein Gedanke. Und sofort handelte er. Er drückte den Finger auf die Klingel.

Das Zimmermädchen erschien.

»Schnell, meine Rechnung, ich reise in einer Stunde!«

In aller Eile warf er alles in den Koffer, verließ das Hotel und ließ sich nach dem Bahnhof fahren.

In letzter Minute loste er eine Fahrkarte nach Narbach – und bestieg den Zug.

Da – endlich sah er Jutta den Bahnsteig betreten! Den eleganten Lederkoffer in der Hand, bestieg auch sie den Zug.

Klaus Heimburg war hochbefriedigt. Er drückte sich in seine Ecke und vergrub sich hinter einer Zeitung.

Gesehen wollte er keinesfalls von ihr werden.

*

In Narbach angekommen, wartete Klaus, bis Jutta den Zug verlassen hatte. In kurzem Abstand folgte er ihr, sah, wie sie vor dem Bahnhof mit einem großen Wagen davonfuhr.

In das nächste Taxi steigen und nachfahren, war eins.

»Kennen Sie die Dame?« fragte Klaus den Chauffeur.

»Und ob – mein Bruder arbeitet doch in den Dahlen-Werken. Fräulein Dahlen ist der gute Engel der Arbeiter!« sagte er stolz.

In Klaus Heimburgs Augen trat ein Leuchten. Das paßte ganz zu dem Bilde, das er sich von Jutta gemacht hatte.

»Soll ich bis ans Tor fahren?« fragte der Chauffeur, als sie vor der Fabrik angekommen waren.

»Nein, ich fahre wieder mit zu­rück!« antwortete Klaus, ließ aber keinen Blick von dem weißgekleideten Mädchen, das er eben hinter dem großen Tor verschwinden sah. Und dann kam ihm ein neuer Gedanke.

»Können Sie mir sagen, wo ich hier in der Nähe ein Zimmer haben kann?«

Der biedere Mann ließ einen prüfenden Blick über Klaus Heimburg gleiten.

»Meine Schwägerin sprach neulich davon, ein Zimmerchen abzugeben – aber, ob Ihnen das genügen wird?«

»Wo liegt denn das Zimmer?« Klaus war sofort interessiert.

Der Chauffeur zeigte in die Richtung der Dahlen-Siedlung.

»Mein Bruder hat ein Häuschen in der Arbeiterkolonie. Es ist nur klein – doch gut aufgehoben wären Sie.«

»Wollen Sie das Zimmer für mich mieten? Ich gedenke mich nämlich in den Dahlen-Werken um eine Stellung zu bewerben«, sagte Klaus.

Wieder machte der Chauffeur große Augen.

»Gut«, sagte er dann. »Ich fahre schnell mal vorbei. Wohin kann ich Ihnen Nachricht geben?«

Sie wurden schnell einig. »So – der Anfang wäre gemacht«, sagte Klaus zufrieden vor sich hin.

*

»Guten Morgen!«

Bernhard Dahlen betrat das Frühstückszimmer.

»Guten Morgen«, grüßte Hermine zurück und erschrak heftig – der Schwager hatte über Nacht fast weißes Haar bekommen.

Hatte er finanzielle Sorgen? Sie mußte sofort mit Pegau sprechen, erwar doch in alles eingeweiht.

Während Dahlen ihr die Tasse aus der Hand nahm, die sie gefüllt hatte, bemerkte sie das Zittern seiner Hände.

»Du bist mir hoffentlich nicht böse, Hermine, daß ich dich gestern nicht sprechen konnte – ich hatte wirklich sehr viel Arbeit«, sagte Dahlen dann.

Wie er lügt! dachte Hermine, meinte aber nach einigem Nachdenken:

»Ich weiß nicht, ob du gerade jetzt in Stimmung bist, mich anzuhören.«

»Aber bitte!« Überstürzt hastig forderte er sie auf.

»Ich hatte dich kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß wir unsere diesjährige Gartengesellschaft noch zu geben haben; es wäre an der Zeit.«

»Ja, wenn es sein muß – nur – –«

»Was – nur?« fiel sie ihm ins Wort.

Er zögerte. Juttas Worte fielen ihm ein: »Wir müssen uns in unserer Lebenshaltung einschränken.«

Er wußte, jetzt mußte er ›nein‹ sagen, aber er brachte es nicht fertig, sich mit ihr in Auseinandersetzungen einzulassen.

»Ich überlasse alles dir, Hermine«, sagte er ergeben. »Wann soll das ungefähr sein?«

»Ich spreche noch einmal mit dir darüber«, sagte sie, ein kleines triumphierendes Lächeln um den Mund. »Aber noch etwas hätte ich mit dir zu besprechen.«

»Ja – und das wäre?«

Sie lehnte sich behaglich zurück.

»Hast du noch nie den Gedanken erwogen, Jutta zu verheiraten?« fragte sie.

»Jutta verheiraten?« stammelte er fassungslos. »Nein, daran habe ich noch nicht gedacht.«

»Jutta hat das Alter dazu«, beharrte Hermine.

»Aber das muß doch von Jutta ausgehen! Wenn es ihr Wille ist, kann ich schließlich nichts dagegen sagen. Aber ich – ich sollte für Jutta einen Mann bestimmen? Das kannst du doch nicht ernstlich gemeint haben!«

»Warum nicht?« lächelte sie scheinbar harmlos.

»Du sprichst wie von einer feststehenden Tatsache, Hermine. Bist du etwa in Juttas Herzensgeheimnisse eingeweiht?«

In seinen Augen lag die Furcht vor einem »Ja«.

»Herzensgeheimnis?« spöttelte sie. »Ich spreche von einer Vernunftehe, die Jutta im Interesse des Werkes eingeht.«

»Und – wer soll der Mann sein, den du dir für mein Kind gedacht hast?« Voll Spannung wartete er auf Antwort.

»Reinhold Pegau.«

Nun war der Name gefallen. Was hatte Hermine nur immer mit diesem Manne? Bei jeder Gelegenheit schob sie seine Person in den Vordergrund.

Entschlossen richtete er sich auf.

»Wenn Jutta ihn liebte, würde ich ihr kein Hindernis in den Weg legen; ich schätze tüchtige Männer. Aber er ist nicht der richtige Mann für sie.« Ganz bestimmt kam das aus seinem Munde.

»Ich glaubte, damit dem Werk zu dienen. Pegau würde noch mehr leisten, wenn er dein Schwiegersohn wäre.«

»Verzeih, Hermine. Bisher hast du dich immer ferngehalten von allem, was mit der Fabrik zusammenhängt. Nur Pegau legtest du mir immer wieder warm ans Herz. Eine Mutter kann wahrhaftig nicht besorgter sein!«

Er hatte es in gutem Sinne gemeint und war überrascht über die Wirkung seiner Worte.

Hermine lehnte mit farblosem Gesicht im Sessel.

»Ich meinte es nur gut – mit dir und Jutta.«

Dahlen war gerührt und – versöhnt. Sie ist bestimmt ohne jeden Eigennutz, dachte er – doch wäre er tief erschrocken gewesen, hätte er Minuten später Hermines wutverzerrtes Gesicht gesehen, als sie sich unbeobachtet wußte.

Dahlen war allein im Frühstückszimmer geblieben.

Er trat auf die Terrasse und behielt dauernd das Tor im Auge, als müßte jeden Augenblick Jutta eintreten.

Da sah er den Telegraphenboten das Tor öffnen.

Wie festgebannt verharrte er auf seinem Platz, bis der Mann die Treppe zur Terrasse heraufkam.

»Ein Telegramm für Herrn Dahlen.«

Dahlen gab dem Boten ein Trinkgeld, grüßte und ging ins Haus.

Alles vollzog sich in äußerster Ruhe. Er suchte sein Zimmer auf und zog die Tür hinter sich zu.

Vor ihm auf dem Schreibtisch lag das Telegramm – vielleicht sein Todesurteil.

Seine Hand zitterte nicht, als er es erbrach.

›alles in ordnung – komme mit mittagszug – jutta.‹

Die Buchstaben verschwammen. Dahlen fühlte sich in einem Wirbel mit fortgerissen.

Ein Seufzer, tief, voll Erlösung, zitterte durch das Zimmer – dann war es totenstill.

Dahlens Haupt sank schwer auf die Schreibtischplatte. Das Glück mußte erst gefaßt werden.

Endlich raffte er sich auf.

Gegen sechs Uhr würde Jutta da sein. Hier, in seinem Zimmer wollte er ihr danken – sie erwarten.

Hochaufgerichtet, mitten im Zimmer, stand Dahlen, als draußen ein Wagen vorfuhr.

Mit allen Sinnen lauschte er hinaus. Dann öffnete sich die Tür!

»Vater!«

»Jutta!«

Nun lag sie an seinem Herzen, lachend und weinend, und wußte sich vor Glück nicht zu fassen.

Es war die schönste Stunde in Bernhard Dahlens Leben. – –

»Aber nun beginnt ein neues Leben, Vater«, sagte Jutta, nachdem sie sich gegenübersaßen und sie von ihrem Zusammentreffen mit dem ›großen Andersen‹ berichtet hatte. »Laß mich dir helfen, Vater – ich will deine Mitarbeiterin werden!«

»Ja, Jutta, beide wollen wir dem Werk dienen!«

Ihre Hände lagen im festen Druck zusammen. –

Aber plötzlich kauerte ein neues Gespenst im Zimmer – das Gespenst, Jutta zu verlieren. Um sich Gewißheit zu verschaffen, ergriff er das Wort:

»Jutta – und wenn du heiraten willst, wenn es einem Mann gelingt, dein Herz zu erringen?«

Ungläubiges Lachen war in dem Zimmer und dieses Lachen machte Dahlen froh und frei.

»Aber, Vater, ich mit meinen achtzehn Jahren denke noch lange nicht daran!«

Damit nahm sie Dahlen die letzten Zweifel – das Zimmer war wieder voll des schönsten Sonnenscheins.

*

»Wirklich so, wie ich es mir gewünscht habe«, sagte Klaus Heimburg zu der freundlichen Wirtin. »Wir werden uns gut verstehen, nicht wahr, Mutter Helmer?«

Frau Liese atmete auf. Die Vorstellung, die sie sich von dem Manne nach den Schilderungen ihres Schwagers gemacht, wurden bei weitem übertroffen.

Eigentümlich, daß man gleich solches Vertrauen zu ihm fassen konnte.

»Ich lasse Sie nun allein, Herr – Herr –« Sie hatte seinen Namen schon wieder vergessen.

»Heimburg, Mutter Helmer, Klaus Heimburg!«

»Schön, Herr Heimburg. Sie werden es sich bequem machen wollen; frisches Wasser, Handtuch, alles ist da!«

»Danke schön, Mutter Helmer, ich bin rechtschaffen müde! Mein Gepäck lasse ich nachkommen.« Er dehnte die Arme und gähnte herzhaft.

»Ich werde Ihnen den Koffer auspacken«, bot sich Frau Liese liebenswürdig an und machte große Augen Noch mehr Gepäck? Ihr Zimmerherr war doch etwas ganz Besonderes, gleich beim ersten Sehen hatte sie es sich gedacht.

Unschlüssig sah Klaus auf die hilfsbereite Frau.

Nein, er wollte sich nicht bedienen lassen. Er war jung genug, das selbst zu tun; und so lehnte er freundlich ab.

Klaus Heimburg war allein.

Auf einmal spürte er keine Müdigkeit mehr. Er wusch sich und verließ dann sein Zimmer. Er hörte Frau Liese in der Küche hantieren. Zögernd trat er näher.

»Kommen Sie nur, Herr Heimburg, ich bin soeben dabei, Ihnen eine Limonade zu brauen. – Aber, ja, Sie wollten doch schlafen?«

Erstaunt sah sie, daß Klaus Heimburg zum Ausgehen bereit vor ihr stand.

Er lachte.

»Der schöne Abend lockt, Mutter Helmer, ich will mir ein wenig die Gegend besehen.«

»Und meine Limonade?« klang es enttäuscht.

»Die trinke ich selbstverständlich erst.«

Klaus hob das Glas und hielt es Frau Liese strahlend entgegen.

»Auf gute Freundschaft, Mutter Helmer!«

*

»Ich danke Ihnen, meine Herren; im Augenblick liegt nichts weiter vor«, sagte Ullrich Andersen zu seinen Direktoren.

Er erhob sich und mit ihm die anwesenden Herren.

»Einen Augenblick noch, Martin. In den nächsten Tagen besuchen Sie die Dahlen-Werke und überzeugen Sie sich von der geschäftlichen Gesamtlage.«

»Jawohl, Herr Andersen.«

Direktor Martin verbeugte sich; die übrigen Herren folgten seinem Beispiel und Sekunden später war der Raum leer.

Nur Andersen stand noch darin, unbeweglich.

»Das ist nun dein Leben, Ullrich Andersen. – Arbeit – Arbeit – Arbeit!«

Ganz laut sagte er es.

»Für wen schaffst du eigentlich, Ullrich? – Damit später lange Berichte in den Zeitungen erscheinen, in denen es heißt:

›… er war ein Mann der Tat, ein Wohltäter, der Gründer bedeutender Stiftungen‹ – und so weiter.«

Mit einer müden Bewegung fuhr er sich durch das grauschimmernde Haar.

Wahrhaftig: er war müde – so müde!

Was hinderte ihn daran, einmal nur sich selbst zu gehören?

Pflichten! beantwortete er sich die Frage selbst.

Aber jeder Mensch war zu ersetzen – warum nicht auch er? Er sehnte sich plötzlich nach der Stille seines Gutes.

Merkwürdig, er kam sich seit Tagen so verändert vor – nein – seit dem Tage, da das blonde Mädel vor ihm gesessen, dessen Anblick genügt hatte, ihn an seine Jugend zu erinnern.

Er nahm seinen Hut und – was noch nie vorgekommen war – verließ die Bank, ohne zu hinterlassen, wohin er gegangen war.

Der Pförtner riß die Tür vor ihm auf.

»Der Wagen ist noch nicht da, Herr Andersen!«

Andersen winkte ab.

»Ich gehe.«

Als er die Stadt hinter sich hatte, nahm er seinen Hut ab und ließ sich den Wind um die heiße Stirn wehen.

In einer Wirtschaft am See kehrte er ein und bestellte eine Tasse Kaffee. Er trank ihn in kleinen Schlucken, und hatte eine stille Freude in sich, seinen Pflichten davongelaufen zu sein. – Eine andere Szene, dieser ähnlich, trat vor sein geistiges Auge.

Er sah sich als vierzehnjährigen Jungen auf einer Wiese sitzend, neben sich ein kleines blondes Mädelchen: Melitta! Im Obstgarten hatten sie sich die Taschen voll Äpfel gestopft und waren nach den Wiesen gelaufen.

Bedächtig, in kleinen Bissen, hatte er, Melitta neben sich, die Äpfel verzehrt. –

Andersen bezahlte und brach auf. Am Ufer des Sees entlangging er stadtwärts – und ihm war, als ginge Melitta neben ihm.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, so ungeheuerlich, daß er mitten auf dem Weg stehenblieb.

Wie – wenn er selbst nach Narbach fuhr, um sich vom Stand der Dinge zu überzeugen und – um Melitta zu sehen?

Der Gedanke ließ ihn nicht los. Und als er sich der Bank wieder näherte, war er fest entschlossen, zu fahren, und von da weg einige Tage auf sein Gut; dann konnte das Schuften weitergehen.

*

Klaus Heimburg hatte sich »neu eingekleidet«. Das heißt, er hatte sich zwei Anzüge von der Stange gekauft, denn zu seinem Vorhaben paßte seine elegante Garderobe durchaus nicht. Aus Hamburg hatte er sich Zeugnisse schicken lassen. Nun steckte er sich hinter Friedrich Helmer, seinen Wirt.

»Papa Helmer, können Sie für mich eine Lanze brechen? Ich habe alle guten Eigenschaften, die ein tüchtiger Angestellter besitzen muß; es gibt keine Arbeit, die ich nicht bewältigen könnte.«

Papa Helmer lachte herzlich auf.

»Wollen mal sehen, was sich tun läßt«, sagte er.

Zwei Tage später überbrachte Helmer Klaus die Nachricht, daß der Personalchef wieder da sei.

So begab sich Klaus am nächsten Morgen nach den Dahlen-Werken und wurde sofort vorgelassen.

Prokurist Härtig sah von seinem Schreibtisch auf: »Sie wünschen?«

»Arbeit.«

Erstaunt betrachtete Härtig den großen kraftvollen Mann und je länger er in die offenen, ehrlichen Augen blickte, desto freundlicher wurde

er.

Er erhob sich, ging einige Schritte auf Klaus zu.

»Was können Sie?« fragte er dann.

»Alles.« Klaus Heimburgs Gesicht war todernst. »Geben Sie mir zur Probe irgendeine Arbeit auf, das soll mein bestes Zeugnis sein außer diesen hier.« Damit überreichte er dem Prokuristen seine Papiere.

»Hm, also in Hamburg waren Sie zuletzt angestellt.« Er schmunzelte. »Warum haben Sie denn Ihre schöne Stellung aufgegeben?«

»Weil es mir dort zu laut war.«

Klaus fiel im Augenblick nichts anderes ein.

»Sie gefallen mir«, sagte Härtig lachend. »Wenn Sie in Ihren Arbeiten auch so einzigartig sind wie in Ihren Antworten, können Sie sich als angestellt betrachten.«

Klaus schlug in die dargebotene Hand. Wenig später hatte er seine Anstellung für den nächsten Ersten in der Tasche.

Als Klaus bei seiner Wirtin ankam, schwenkte er sie vergnügt herum.

»Mutter Helmer, ich bin angestellt! Hurra!«

»Nein, so was; das ging aber schnell!«

Klaus’ Augen leuchteten vor Glück.

»Hier, Mutter Helmer, heute abend wird gefeiert. Machen Sie es besonders hübsch.«

Dann lief er schnell davon. Bestürzt sah Frau Liese hinter ihm her. Zehn Mark hatte er ihr in die Hand gedrückt! Das war doch zuviel; davon konnte sie ihm glatt die Hälfte zu­rückgeben.

*

Vor den Dahlen-Werken hielt ein schwerer Wagen.

Ullrich Andersen stieg heraus.

So sehr er sich auch zur Ruhe zwang, er fühlte deutlich, daß jeder Nerv an ihm zum Reißen gespannt war.

Viele Augenpaare starrten ihn an, als er seinen Namen nannte.

Das also war der »große Andersen«, dessen Macht sogar bis hierher reichte?

Das erste, was seinen Blick fesselte, als er Dahlens Privatbüro betrat, war ein blonder Mädchenkopf. Jetzt drehte er sich um. Juttas Blick hing wie gebannt an dem Mann, vor dem sie größte Hochachtung besaß.