Cover

EVELYNE BINSACK –GRENZGÄNGERIN – Ein Leben für drei Pole – Geschrieben von Doris Büchel – WÖRTERSEH

 

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2017 Wörterseh, Gockhausen
2. Auflage 2017

Lektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Korrektorat: Brigitte Matern, Konstanz
Fotos Umschlag und Bildteil: Privatarchiv Evelyne Binsack
Bildbearbeitung: Michael C. Thumm, Blaubeuren
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Karten, Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-093-8
E-Book ISBN 978-3-03763-739-5

www.woerterseh.ch

 

»Die Ernte von Erfahrungen ist Erkenntnis.«

EVELYNE BINSACK

 

INHALT

Über die Autorinnen

Über das Buch

Prolog

Intro

Nach Mount Everest und Südpol

Die Vorbereitung

Etappe 1
Von Geissholz bis ans Nordkap mit dem Fahrrad
Etappe 2
Auf der Nansen-Route quer durch Grönland
Etappe 3
Spitzbergen im Alleingang, ein Versuch
Etappe 4
Auf zum Nordpol

Über den Nordpol hinaus

Bildteil

Epilog

 

ÜBER DIE AUTORINNEN

Evelyne Binsack
© Binsack Outdoor GmbH

EVELYNE BINSACK, geb. 1967, ist die erste Schweizerin, die – im Jahr 2001 – auf dem höchsten Punkt unseres Planeten, dem Mount Everest, stand. Schon damals war ihr klar, dass sie auch den südlichsten Punkt der Welt erreichen wollte. Fünf Jahre später machte sie sich daher auf, die 25 000 Kilometer, die zwischen ihrer Haustür und dem Südpol liegen, mit dem Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten zu überwinden. Dabei durchquerte sie in 484 Tagen 16 Länder. Fast zehn Jahre später folgte der dritte Streich, der nördlichste Punkt unserer Erde. Die charismatische Abenteurerin erreichte den Nordpol nach elf Monaten Planungsphase und 105 Tagen Expedition am 12. April 2017, gut einen Monat vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Als eine der ersten Frauen in Europa absolvierte sie 1991 zudem die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin. Später ließ sich die gelernte Sportartikelverkäuferin noch zur Helikopterpilotin und zur Filmerin ausbilden. Die Grenzgängerin hat zudem bereits die zwei Bücher »Schritte an der Grenze« und »Expedition Antarctica« (Wörterseh) veröffentlicht. In ihrem dritten, jetzt vorliegenden Buch wird klar, warum die Frau, die in ihrem Leben auch immer wieder Rückschläge einstecken musste, derart erfolgreich ist. Es sind ihre emotionale Stärke und ihre fokussierte Willenskraft, ganz entscheidend aber ist ihre Fähigkeit, nicht zurück-, sondern vorwärtszuschauen. Und zumindest das können wir versuchen, ihr gleichzutun.
www.binsack.ch

Doris Büchel
© Eddy Risch

DORIS BÜCHEL, geb. 1971 in Buchs SG, schreibt als freischaffende Journalistin Reportagen, Porträts, Interviews und Kurzgeschichten. Gern auch rund um den Themenbereich Sport. Im März 2016 lancierte sie die »Edition Onepage«, in der sie alle zwei Monate ein »reduziertes Magazin im wunderbaren Plakatformat A1« herausgibt. Auf die Anfrage, ob sie Evelyne Binsacks drittes Buch begleiten würde, meinte sie: »Da ich Projekte mag, bei denen ich Wort an Wort reihen darf, packe ich diese Chance gern.« Doris Büchel lebt in Liechtenstein.
www.onepage.li | www.sleepless-sheep.com

 

ÜBER DAS BUCH

Eisbär

»Nur wenige Monate sind vergangen seit der Anfrage, Evelyne Binsacks Buch schreibend zu begleiten, bis zur Abgabe des fertigen Manuskripts. Eine intensive Zeit, in der wir – zwei Frauen, die sich bisher nicht persönlich kannten – eine Nähe aufbauen konnten, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Evelynes Vertrauen in mich, vor allem aber ihre Gabe, noch einmal tief in Erlebtes einzutauchen, und ihre lebhafte Erzählkunst machten die Arbeit mit ihr zu einem inspirierenden Erlebnis, das ich nicht mehr missen möchte. Unglaublich, was diese Frau alles geschafft hat. Schön, dass ich dabei helfen konnte, ihre Geschichte zu Papier zu bringen.«

Doris Büchel, Autorin

 

PROLOG

Metamorphose

Daheim bin ich Evelyne Binsack, die Bergführerin. Hier habe ich mein Haus, meine Freunde, meine Arbeit, halte Referate, gehe auf Skitouren, klettere. Manchmal bereite ich mich auf eine Expedition vor, und es kommt der Tag, an dem ich meinen Alltag und die Verpflichtungen hinter mir lasse und aufbreche. Ich bin dann zwar physisch unterwegs, in meinen Gedanken aber immer noch in meinem Haus, mit meinen Freunden, bei meiner Arbeit – alles haftet noch an mir.

Unterwegs kenne ich nur den Ausgangspunkt und das Ziel. Dazwischen lasse ich mich von meinem Gefühl leiten. Wenn ich möchte, halte ich an, betrachte, verweile, ab und zu klettere ich auf einen Berg. Oft bekomme ich unterwegs Nachrichten von Menschen, die mich fragen: »Was ist dein Plan für heute, Evelyne?« oder »Wie viele Kilometer legst du heute zurück?«. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Ich nehme es, wie es kommt. Das bedeutet aber nicht, dass ich in den Tag hinein lebe. Es ist nur so, dass ich gern spontan entscheide. Dadurch bekomme ich ein Gefühl für das Unterwegssein.

Je weiter ich mich von daheim entferne, desto mehr bin ich den Umständen ausgesetzt, die mich auf meinen Reisen umgeben: Hitze, Kälte, Sturm, Hunger, Gefahren. Um all das zu erdulden, streife ich mein altes Leben langsam ab, Schicht um Schicht, so lange, bis nur noch meine Persönlichkeit übrig bleibt, pur. Dieser Übergang ist mit viel Schmerz verbunden. Schließlich verlasse ich jemanden, der mir lieb ist. Ich werde sehr empfindsam und empfänglich. Aber nicht nur in Zusammenhang mit Negativem, sondern vor allem in Bezug auf die Pracht dieser Welt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich die meiste Zeit im Zelt auf dem Boden schlafe? Das ergibt eine starke Verbindung zwischen mir und Mutter Erde.

Dann bin ich diese neue Person, mehr Tier als Mensch, nehme mich nicht mehr als Individuum wahr, sondern als Teil des Ganzen. Mein Verstand ist wach, meine Sinne sind geschärft, in einer Notsituation gibt es nur noch drei Möglichkeiten: Angriff, Flucht oder mich tot stellen. Das ist der pure Instinkt. Auch die Tiere reagieren anders auf mich. Sie verstecken sich nicht mehr vor mir, sind vielmehr neugierig. So wie damals: Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zum Nordkap – der ersten meiner vier Etappen auf dem Weg zum Nordpol –, als plötzlich eine Elchkuh und ein Elch aus dem Nichts auftauchten. Es war sehr früh am Morgen, es regnete leicht, und ich war spät dran, denn ich wollte unbedingt die nächste Fähre erwischen, weshalb ich heftig in die Pedale trat. Vermutlich hatte ich die Tiere aufgeschreckt, doch sie flüchteten nicht vor mir, sondern galoppierten eine ganze Weile neben mir her. Ihr geschmeidiger Gang, ihre reine Gegenwart ließen mich meine Eile vergessen. Es existierte nur noch das Hier und Jetzt. Die absolute Präsenz. Glück. Daran denke ich manchmal, wenn mich Menschen nach dem schönsten, dem härtesten, dem besten Moment meiner Expeditionen fragen. Nein, es war nicht nur die Ankunft auf dem Gipfel des Mount Everest und auch nicht, als ich den Südpol oder den Nordpol erreichte. Es waren die kleinen, feinen, vermeintlich gewöhnlichen Momente, die einerseits kaum der Rede wert, andererseits aber so unglaublich wertvoll sind.

Irgendwann komme ich wieder heim und durchlaufe dieselbe Phase, in umgekehrter Reihenfolge. Ich bin dann Evelyne Binsack, die Abenteurerin. Hart im Nehmen, gleichzeitig verletzlich. Ich erinnere mich an einen Abend – ich war noch nicht lange zurück von meiner 484-tägigen Expedition zum Südpol –, an dem ich nach einem meiner Referate aus dem Saal kam und den Vollmond erblickte. Er strahlte mich an, und wie ich so dastand und mich in seinem bleichen Rund verlor, fühlte ich mich, als würde man mir mein Herz aus der Brust reißen. Einfach, weil mich der Mond in jenem Moment so sehr an die prägende Zeit erinnerte, als ich allein in der endlosen Weite unterwegs war. Weil ich realisierte, wie sehr ich mich nach dieser Verbundenheit mit dem Himmel, der Erde und den Tieren zurücksehnte. Und weil ich die Stille vermisste. Die Stille in meinem Kopf. Denn hier finde ich sie nicht. Diese Welt ist laut. Und rau. Rauer als jeder Sturm in der unendlichen Weite der Arktis oder der Antarktis. Der Sturm dort ist auch rau und unerbittlich. Er zeigt mir meine Verletzlichkeit auf. Aber auf meinen Expeditionen lebe ich mit dieser Verletzlichkeit. Sie ist ein Teil von mir. Ich nehme sie an, wie sie ist. Sie ist keine Schwäche. Und wenn sich der Himmel mitten im Sturm wieder auftut und das Wetter Erbarmen mit mir zeigt, dann erzeugt das in mir eine unendliche Dankbarkeit und Demut.

Ist das Unterwegssein nicht ein Ur-Antrieb, der in jedem von uns schlummert? Sind wir nicht alle Nomaden? Und Pilger? Kommt nicht daher diese diffuse Sehnsucht, die so viele von uns umtreibt? Weil wir vom Ur-Instinkt her Reisende sind? Wir wissen um unsere Verletzbarkeit, wenn wir unterwegs sind. Das sind die Momente, in denen wir uns nahe sind, offen und empfindsam. Nur: Wenn wir aufbrechen, um dieses Gefühl zu finden, dann kommen wir nicht in diese Empfindung hinein. Wir können nur in etwas Neues aufbrechen, wenn wir das Alte hinter uns lassen. Zu Pilgern werden und zu Nomaden. Zu dem, was wir seit Jahrtausenden sind.

 

INTRO

Der Schuss fällt am 11. April 2017 um 10.55 Uhr. Er hallt noch immer in mir nach. Der Eisbär zuckt zusammen, wendet sich ab, flieht in die entgegengesetzte Richtung, bleibt abrupt stehen, schüttelt seinen mächtigen Kopf und verschwindet in langen Schritten, taumelnd, hinter den Eisblöcken und damit aus unserem Blickfeld. Ich schalte die Kamera aus. Entsetzen in meinen Augen, Adrenalin in meinem Blut. Ich kann nicht glauben, dass Dixie gegen alle Regeln verstoßen und Pavel, nach nur einem einzigen Warnschuss, befohlen hat, auf den Eisbären zu schießen. Ich gehe zu den Fußspuren des Bären, sehe vereinzelte Blutstropfen im Schnee. Marin fragt Dixie, ob der Bär überleben wird, und Dixie, als könnte er dies wissen, sagt Ja. Mir ist schlecht.