Sophienlust ab 300 – 362 – Geliebtes Kuckuckskind

Sophienlust ab 300
– 362–

Geliebtes Kuckuckskind

Eigentlich sollte ich dich hassen ...

Aliza Korten

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-238-2

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Das kleine blaue Auto hielt vor dem ehemaligen Herrenhaus. Für einige Augenblicke verharrte die blonde junge Fahrerin regungslos auf ihrem Sitz. Dann schöpfte sie tief Atem und stieg aus. Ihr Blick ging an der stolzen Fassade des Gebäudes empor, in dem sie selbst einmal Schutz und Geborgenheit gefunden hatte.

Nun öffnete sich das Portal, und eine schlanke Frau trat heraus. Sie trug Schwesterntracht und führte ein kleines Mädchen an der Hand. Mit freundlichem Lächeln ging sie auf die Fremde zu und fragte: »Kommen Sie zu uns nach Sophienlust?«

»Ja, mein Name ist Ricarda. Ich habe einmal im Haus der glücklichen Kinder gelebt. Kann ich Tante Isi sprechen?«

»Ich bin Schwester Regine, und dies ist unsere Heidi.«

»Guten Tag! Es ist seltsam für mich, nach so langer Zeit wieder hierherzukommen. Finde ich Frau von Schoenecker hier oder drüben in Schoeneich? Ich könnte sonst gleich weiterfahren.«

Schwester Regine bemerkte recht gut, daß Ricarda, die ihren Familiennamen nicht genannt hatte, ernst und traurig wirkte.

»Tante Isi ist natürlich im Biedermeierzimmer, Tante Ricarda«, erklärte Heidi wichtigtuerisch. »Soll ich dich hinbringen? Oder kennst du dich allein aus?«

»Ich finde den Weg. Vielen Dank, Heidi.«

»Dann gehen wir jetzt zu den Ponys, Schwester Regine«, sagte Heidi.

Ricarda nickte. »Ja, Sie brauchen auf mich keine Rücksicht zu nehmen.« Sie wartete, bis die Schwester mit dem munter hüpfenden Kind nicht mehr zu sehen war, dann betrat sie das Haus und blickte sich in der großen Halle um, ehe sie zur Tür des Zimmers ging, in dem Denise von Schoenecker, wie sie wußte, ihre schriftlichen Arbeiten erledigte. Sie klopfte leise an und wurde sogleich hereingebeten.

»Ricarda – das ist eine schöne Überraschung!« Mit ausgebreiteten Armen empfing Denise ihren ehemaligen Schützling.

Die blonde junge Frau flüchtete sich an die Brust der Herrin von Sophienlust und Schoeneich. Wie eine Heimkehr nach langer Irrfahrt war das.

»Du bist traurig, Ricarda!« Wie hätte Denise das auch nur entgehen können?

Tränen traten in Ricardas Augen. Sanft legte Denise den Arm um die Schultern der Besucherin und geleitete sie zum Sofa.

Denise von Schoenecker ließ der blonden Besucherin Zeit, sich zu fassen. Sie bedrängte sie nicht mit ungeduldigen Fragen. Wenn es um das Leid und die innere Not anderer Menschen ging, ließ sie grundsätzlich jede noch so dringende Arbeit liegen.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee oder Tee haben, Ricarda?«

»Nein, danke – gar nichts, Tante Isi. Ich bin erleichtert, daß ich endlich bei dir bin.« Ricarda schloß die Lider. Ihr junges Gesicht wirkte erschöpft und von feinen Linien des Kummers gezeichnet.

Denise dachte zurück. Ricarda war vor vielen Jahren für mehrere Wochen in Sophienlust gewesen. Auch damals hatte sie sich ausgeweint, fast noch ein Kind und doch schon auf der Schwelle zum Erwachsensein. Das war nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters gewesen, als es keinen Menschen mehr zu geben schien, bei dem sie Zuflucht finden konnte. Die Mutter war schon früh gestorben, als Ricarda noch ein kleines Mädchen gewesen war. Durch die Vermittlung von Bekannten hatte der verwaiste Teenager zunächst Aufnahme im Haus der glücklichen Kinder gefunden. Es war seinerzeit nicht leicht gewesen, Ricarda wieder ein wenig Mut und Zuversicht einzuflößen. Doch die heitere Atmosphäre und das Zusammenleben mit den übrigen Kindern hatten sich heilsam ausgewirkt. Schließlich hatte sich eine entfernte ältere Verwandte des jungen Mädchens bereit erklärt, Ricarda bis zur Beendigung ihrer Schulzeit bei sich aufzunehmen. Diese Tante hatte ein gütiges Herz besessen und es in erstaunlicher Weise verstanden, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt des verwaisten Kindes hineinzuversetzen. Dennoch war die Verbindung zwischen Ricarda und Sophienlust niemals abgerissen.

Dann hatte es den Anschein gehabt, als würde sich das Geschick Ricardas zum Guten wenden. Zwar war die Tante gestorben, doch war Ricarda zu dieser Zeit bereits verheiratet gewesen. Sie hatte den sympathischen Architekten Lothar Osterkamp kennen- und liebengelernt. So hatte sie eine neue Heimat gefunden und gemeinsam mit ihrem Mann den Weg in die Zukunft angetreten.

Denise von Schoenecker ging an den Kirschbaumsekretär, der – wie alle Möbel in diesem Raum – noch aus dem Besitz der alten Sophie von Wellentin stammte. Aus einer wohlgeordneten Kartei nahm sie Ricardas gedruckte Heiratsanzeige und ein gut gelungenes Foto des jungen Paares. Eine strahlende Braut lächelte sie an. Ach, die bekümmerte blonde Frau auf dem Sofa zeigte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dieser Aufnahme, die doch erst drei Jahre zurücklag. Was mochte inzwischen geschehen sein?

Mit dem Bild in der Hand kehrte Denise zu ihrem Sessel zurück. Nun hob Ricarda den Kopf. Sie bemerkte das Foto und brach in bittere Tränen aus.

»Ich hätte nicht heiraten sollen, Tante Isi«, stieß sie schluchzend hervor.

Insgeheim atmete die lebenserfahrene Denise auf. Menschliche Schwierigkeiten ließen sich im allgemeinen leichter regeln oder beheben als unwiderrufliche Ereignisse wie Krankheit und Tod. Ganz offensichtlich hatte es zwischen Ricarda und ihrem Mann ein Zerwürfnis gegeben. Wie gut, daß die junge Frau gleich zu ihr gekommen war.

Natürlich wußte Denise, daß man nicht jeden Streit schlichten konnte. Doch einen Ausweg gab es immer, auch wenn die Betroffenen anfangs nicht daran glauben mochten.

Endlich sprach Ricarda weiter, durch Denises freundliches Abwarten ermutigt. »Eigentlich habe ich drei Jahre lang mit einer schönen Illusion gelebt, Tante Isi. Stell dir vor, Lothar hat ein Kind.«

Unwillkürlich griff Denise nach Ricardas eiskalter Hand.

»Nicht etwa aus der Zeit, ehe wir uns kannten«, fuhr Ricarda erregt fort. »Damit könnte ich mich wohl abfinden, auch wenn es schwierig wäre. Aber dieses kleine Mädchen ist anderthalb Jahre alt. Begreifst du, was das bedeutet? Lothar war mit der Mutter des Kindes befreundet, während er mir den liebevollen Ehemann vorspielte. Er lebte in einer Art Doppelrolle, wie es scheint, und ich war dumm genug, nichts davon zu bemerken.«

Das war eine wenig erfreuliche Story. Es sah nicht so aus, als sei diese Ehe noch zu retten. Manchmal war ein rascher Schnitt besser als endlose Streitigkeiten.

»Du selbst hast bisher kein Kind, nicht wahr?« warf Denise leise ein, obgleich sie dessen eigentlich sicher

war.

Mutlos schüttelte Ricarda den Kopf. »Nein, Tante Isi. Ich habe mir von ganzem Herzen ein Baby gewünscht und machte mir Sorgen, weil sich meine Hoffnungen nicht erfüllten. Schließlich habe ich einen sehr guten Frauenarzt aufgesucht, der mir nach vielen Tests die betrübliche Mitteilung machte, daß ich kaum Chancen habe, jemals Mutter zu werden. Weißt du, das war ziemlich hart für mich.«

Denise setzte sich neben Ricarda aufs Sofa und legte den Arm um deren Schultern. Dankbar lehnte sich die junge Frau an. Es tat ihr gut, das warme Mitgefühl von Tante Isi zu erleben, die auch jetzt noch ihr Vertrauen besaß.

»Na ja«, hob Ricarda aufseufzend wieder an, »und dann kam ich durch einen ärgerlichen Zufall dahinter, daß Lothar längst Vater eines Kindes ist. Das war sozusagen ein doppelter Schlag für mich. Es kam mir vor, als stünde ich mit leeren Händen da. Alles war mir genommen. Mein Leben

schien jeden Sinn verloren zu haben. Ich habe es eigentlich bis jetzt noch nicht so richtig begriffen. Lothar hat sich meisterhaft verstellt. Das kränkt mich ganz besonders.«

Nun weinte sie wieder, doch es waren Tränen des Zorns. Auch das konnte Denise durchaus verstehen. Es war Ricarda übel mitgespielt worden. Zwar kannte Denise vorerst die Hintergründe nicht, doch handelte es sich zweifelsohne um einen schweren Vertrauensbruch des Ehemannes.

»Liebe läßt sich nicht einfach abschalten wie zum Beispiel das elektrische Licht, Tante Isi«, klagte Ricarda. »Ich verachte Lothar, ich will nichts mehr mit ihm zu schaffen haben, aber trotzdem tut es weh…«

»Habt ihr euch ausgesprochen? Hat er dir eine Erklärung geben können, Kind?«

»Was gibt es denn da noch zu besprechen oder zu erklären, Tante Isi?« fuhr Ricarda auf. »Lothar hätte mich doch nur belogen, wie wahrscheinlich seit dem ersten Tag unserer Ehe. Nein, davon habe ich genug – und zwar endgültig. Doch du brauchst nicht zu befürchten, daß ich kopflos davongefahren sei. Nein, das nicht. Ich habe mir die Sache eine Nacht lang gründlich überlegt. Gegen Morgen habe ich meine Koffer gepackt und bin dann losgefahren. Etwas anderes als Sophienlust fiel mir nicht ein. Auch wollte ich nicht erst vorher hier anrufen, denn am Telefon erklärt sich das alles nicht so gut.«

»Es war sicherlich eine vernünftige Idee, daß du gleich hierher gekommen bist, Ricarda. Selbstverständlich kannst du bleiben, solange du magst.«

Ricarda küßte Denise auf die Wange. »Seit ich hier im Biedermeierzimmer bin, fühle ich mich schon ein klein wenig besser, Tante Isi. Unterwegs hatte ich Angst, du könntest verreist sein. Natürlich hätte ich auch mit Tante Ma reden können, aber so gut wie ein Gespräch mit dir wäre das nicht gewesen.«

Denise strich ihr beruhigend über das helle Haar. »Wir richten dir das Gastzimmer zum Park ein. Da bist du ein bißchen aus dem allgemeinen Betrieb heraus, falls du einmal Ruhe haben möchtest.«

»Danke, Tante Isi.« Ricarda zog ein Taschentuch hervor. »Eigentlich fühle ich mich schon viel besser. Schlimm war natürlich der Aufbruch. Das hübsche Haus in Karlsruhe habe ich mit sehr viel Liebe eingerichtet. Der Entwurf stammt natürlich von Lothar – ach, vergessen wir das lieber. Ich werde nie mehr dorthin zurückgehen. Soviel steht fest, und es ist nur vernünftig, wenn ich mir das klar vor Augen halte.«

»Hast du schon Pläne, Kind?«

»Ja, ich bin entschlossen, mich von Lothar scheiden zu lassen. Er soll auf diese Weise die Möglichkeit erhalten, die Mutter des kleinen Mädchens zu seiner Frau zu machen.«

»Du bist sehr großzügig, Ricarda.«

»Ich denke dabei an das Kind, Tante Isi. Es soll den Namen erhalten, der ihm zusteht. Dieses Kind ist unschuldig.«

»Darin hast du recht.«

»Außerdem weiß ich, daß Lothar sich ein Kind gewünscht hat. Von Anfang an wollten wir ein Kind – beide.«

»Also bist du doch äußerst fair ihm gegenüber.«

Ricarda hob die Schultern. »Ich nehme die Tatsachen, wie sie nun einmal sind. Das ist alles. Noch zuletzt versicherte Lothar mir, daß er mich liebe. Aber das kann ich ihm beim besten Willen nicht mehr glauben.«

»Ihr habt also doch miteinander über die Angelegenheit gesprochen?«

»Nicht ausführlich oder gar in Ruhe, wie du es dir wohl vorstellst, Tante Isi. Es gab eine Auseinandersetzung, nachdem ich die Wahrheit entdeckt hatte. Am nächsten Morgen – also heute früh – bin ich weggefahren. Ich glaube nicht, daß Lothar eine so schnelle Reaktion erwartet hat. Er muß noch geschlafen haben, als ich aus dem Haus ging. Weißt du, ich hatte mir mein Bettzeug ins Gästezimmer geholt.«

Denise konnte sich das eheliche Drama recht gut vorstellen. Daß Ricarda behauptete, sie sei nicht Hals über Kopf abgefahren, wirkte wenig überzeugend. Doch es war nun einmal geschehen, und vielleicht ließ sich das alles aus der Entfernung doch irgendwie regeln und klären. Auf jeden Fall konnte auf diese Weise kein weiteres Porzellan zerschlagen werden.

Es klopfte, und Nick trat ein, ehe Denise ihn daran hindern konnte. Selbstverständlich erinnerte er sich an Ricarda.

»Also, dir gehört das Auto da draußen, Ricarda«, begrüßte er die Besucherin herzlich. »Ich habe mich schon gewundert.«

»Hallo, Nick! Wie geht es dir?« Ricarda reichte ihm die Hand.

»Uns geht es immer gut, Ricarda. Die Ferien stehen bald vor der Tür. Was will man mehr?«

Nick, der Erbe von Sophienlust, sah seine Mutter verstohlen an. Diese legte rasch den Finger auf die Lippen, ohne daß Ricarda es bemerkte. Der lange Gymnasiast verstand – er sollte nicht viel fragen. Daß Ricarda sehr betrübt war, ließ sich nicht übersehen.

»Bleibst du ein Weilchen bei uns, Ricarda?« fragte Nick freundlich. »Du weißt, daß wir immer gern Besuch haben.«

Ricarda nickte. »Ja, deine Mutti hat mich eingeladen.«

»Um so besser! Sag mir Bescheid, wenn ich deine Koffer nach oben tragen soll.«

»Danke, Nick. Was macht Henrik?«

»Du wirst dich wundern. Er ist ziemlich groß geworden.«

»Er war so niedlich – damals…«

Nick verzog den Mund. »Jetzt finde ich ihn manchmal ganz schön frech, meinen kleinen Bruder«, meinte er lachend. »Aber er ist schon in Ordnung, und wir mögen ihn alle.«

»Was wolltest du, Nick?« erkundigte sich Denise.

»In Bachenau ist ein Puppenspieler, Mutti. Nur heute. Dürfen wir gleich nach dem Essen alle hinfahren?«

»Selbstverständlich, Nick. Sag Schwester Regine Bescheid.«

»Das ist es ja – sie muß zum Zahnarzt nach Maibach. Und Tante Ma hat heute nachmittag auch keine Zeit, weil sie morgen abreist, wie du weißt. Wir Großen können natürlich mit den Rädern fahren, aber für die Kleinen brauchen wir den Schulbus und wenigstens einen Erwachsenen.«

Ricarda vergaß ihren Kummer ein wenig. »Wenn es recht ist, begleite ich den Bus«, erbot sie sich.

»Prima – du kommst wie gerufen«, stellte Nick befriedigt fest. »Bis später. Ich sage nur schnell dem Chauffeur Bescheid.«

Schon war er wieder draußen.

»Nett, daß du dich gleich einspannen läßt, Ricarda«, meinte Denise.

»Das tue ich gern, Tante Isi. Hier gehöre ich wenigstens noch richtig dazu. Außerdem betrachte ich diesen Ausflug als Vorübung für meinen späteren Beruf.« Sie warf den Kopf hoch und blickte Denise entschlossen an.

»Du willst also arbeiten?«

»Ich denke schon.«

»Nun, fürs erste kannst du dich hier nützlich machen, falls du das möchtest. Tante Ma geht in Urlaub, und Schwester Regine ist sicherlich nicht böse, wenn du ihr hilfst. Du kennst das Haus von früher, so daß man dir nicht viel zu erklären braucht.«

»Danke, Tante Isi. Ich würde höchst ungern untätig herumsitzen und grübeln. Das bringt nichts. Du hast früher immer zu uns gesagt, daß Arbeit eine gute Medizin ist.«

»Ja, mein Kind, das halte ich bis heute für richtig. Sei also von Herzen willkommen bei uns.«

*

So hielt Ricarda zum zweitenmal in ihrem Leben Einzug im Haus der glücklichen Kinder. Einige Kinder kannte sie. Daran, wie groß sie geworden waren, merkte sie, daß seit ihrem ersten Aufenthalt eine lange Zeit vergangen war.

Nick hatte sich bereits seine eigene Version über die Gründe von Ricardas Besuch zusammengereimt. Er flüsterte Pünktchen, Angelika, Vicky und einigen anderen Kindern hinter vorgehaltener Hand zu, daß man Ricarda nicht mit Fragen behelligen dürfe – sie habe ihren Mann verloren. Alle sollten besonders lieb und nett zu ihr sein, damit sie bald wieder fröhlich lachen könne.