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Band 161

 

Faktor I

 

Michelle Stern / Madeleine Puljic

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

1. Abschiedsgeschenk

2. Trümmerwelt

3. Straße nach Karadon

4. ANDROS

5. Hof der Fragen

6. Ein neues Leben

7. Die erste Sichtung

8. Das Spiel beginnt

9. Gorata

10. Ein Weg aus Blut

11. Ein kleiner Tod

12. Die zweite Sichtung

13. Fremde Saat

14. Feuer der Sonne

15. Arkons Thron

16. Flucht nach vorn

17. Entscheidungen

Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu diesen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN am Ziel an. Dort erfahren die Menschen schnell mehr über die Situation. Insbesondere die mysteriösen Meister der Insel spielen eine zentrale Rolle.

Der Arkonide Atlan schafft es, Rhodan eine Datei zuzuspielen. Diese enthält wertvolle Informationen und vor allem Enthüllungen – es ist die Lebensgeschichte von FAKTOR I ...

Prolog

 

»Das Ziel ist in Reichweite, Meister«, sagte Hespra Katheen. Die Thetiserin, die Trinar Molat als Erste Offizierin eingesetzt hatte, wandte sich zu ihm um.

Sie war vorhersehbar und dumm, wie alle Sterblichen. Vielleicht suchte sie seine Bestätigung oder Anerkennung. Trinar Molat wusste, was sie stattdessen fand: das undurchdringliche, schwarze Spiegelfeld in seiner Kapuze, in dem langsam die Spiralgalaxis von Andrumida kreiste.

Er schenkte ihr keine der gewünschten Reaktionen, sondern trat mit einem einzigen, kalkulierten Schritt an die Hauptkonsole der Zentrale. »Zeig sie mir!«

Sie schauderte leicht, wie immer, wenn sie seine Stimme hörte. Die Stimme, die die Bewohner der ihm zugeteilten Planeten seit der Stunde ihrer Geburt kannten und verehrten. Für sie war er ein Gott.

Für ihn war sie nichts als ein atmendes, entbehrliches Stück Fleisch. Gut genug, um die Arbeit zu erledigen, die getan werden musste. Nicht mehr, nicht weniger.

Katheens Finger bewegten sich rasch über die Steuerfelder. Das Zentralholo flammte auf und zeigte das Bild des fremden Kugelraumschiffs. Die MAGELLAN. Düster und krude wirkte sie, verglichen mit den Schiffen der Meister. Aber Molat ließ sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen. Er unterschätzte niemals einen Gegner, und diesen erst recht nicht.

»Ich wünsche eine Funkverbindung«, verlangte er. »Ich will mit Rhodan reden. Mit niemandem sonst.«

Die Offizierin – die Einzige an Bord, der Molat gestattete, mit ihm zu sprechen – gab den Befehl an den Funker weiter. Trinar Molat wartete schweigend, bis die Verbindung aufgebaut war. Er rührte keinen Muskel. Er hatte es nicht nötig, die Schultern zu straffen. Er war Faktor II.

»Verbindung steht!«, meldete der Funker.

Molat ließ zu, dass Katheen die Freigabe erteilte, das Gespräch auf das Holo legen zu lassen. Gleich darauf blickte er in das Gesicht des Menschen.

Rhodan wirkte müde, seine Haut war blass und teigig. Unter seinen Augen prangten dunkle Ringe, Bartstoppel verunzierten die Wangen. Ein Bild, das Molat mit leiser Genugtuung sah.

»Perry Rhodan«, grüßte Molat. »Sie erinnern sich an mich?«

»Ich würde ja behaupten, dass mir Ihr Gesicht bekannt vorkommt«, erwiderte der Terraner. »Aber das Problem kennen Sie ja bestimmt.«

Molat ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er hatte das kurze Zucken um Rhodans Mundwinkel gesehen, als dieser Molats Stimme gehört hatte. Demnach hatte der Mensch ihn durchaus erkannt. Es war schließlich nicht ihre erste Begegnung. »Amüsieren Sie sich, solange Sie noch können«, warnte Molat. »Ihr Hochmut wird vergehen, sobald Sie Ihre Strafe ereilt.«

Die Gesichtszüge des Menschen wurden hart. »Wollen Sie mir drohen?«

Molat lachte. »Ihnen drohen? Nein. Eine Drohung würde bedeuten, dass es noch eine Alternative gäbe. Ich bereite Sie lediglich auf das Unvermeidbare vor.«

»Und das wäre?«, fragte Rhodan.

»Ihr Tod, Perry Rhodan.«

In der Zentrale der Menschen kam Unruhe auf. Stimmen wurden im Hintergrund des Kommunikationsholos laut. Die Anzeigen, die Katheen zeitgleich im Zentralholo einblendete, verrieten, dass die Terraner Molats Raumschiff scannten. Sollten sie nur. Die FAUGON war der MAGELLAN mehr als gewachsen. Das Schiff war nach Molats Wünschen gebaut worden: schwer bewaffnet und auch ohne große Besatzung zu steuern. Er schätzte seine Unabhängigkeit, und von austauschbaren Sterblichen wollte er sich nicht einschränken lassen.

Nun waren sie seine Tarnung. Rhodan sollte sich gern in Sicherheit wiegen, solange er konnte. Molat würde den Terraner nicht nur töten. Er würde ihn vernichten. Rhodans Schiff, seine Spezies, sein gesamtes Andenken auslöschen. Es musste Vergeltung geben für den Verrat, den Rhodan an Mirona Thetin begangen hatte, und für den Mord an Molats Sohn. Rhodans Widerstand gegen die Meister war nicht tolerierbar. Er durfte nicht leben, sonst würden andere kommen und ihm nacheifern. Sie würden denken, sie könnten sich ungestraft gegen die Meister der Insel erheben. Das musste Trinar Molat verhindern.

Ein Faktor hatte bereits sein Leben verloren. Beinahe hätte diese pelzige Bestie, die Rhodan mit sich führte, auch Mirona getötet, Faktor I. Dem musste Einhalt geboten werden.

Molat hob eine Hand. Der schwarze Stoff seiner Robe und der Handschuhe knisterte leise, als er drei Finger abspreizte. »Dreimal werde ich Sie finden, Perry Rhodan. Zweimal werden Sie mich noch sehen.« Er ließ die Hand sinken. »Beim dritten Mal töte ich Sie.« Damit unterbrach er die Verbindung.

1.

Abschiedsgeschenk

23. März 2055

 

Perry Rhodan starrte an die Stelle, an der das Kommunikationshologramm erloschen war. Er wusste, dass er sich die Meister der Insel zum Feind gemacht hatte. Nicht nur, weil er Mirona Thetins Angebot abgelehnt hatte, die Milchstraße auf die gleiche brutale Weise umzugestalten, wie sie es mit Andromeda getan hatte. Seine Begleiter hatten den Duplikator und das Physiotron zerstört – zwei wesentliche Bestandteile von Thetins Macht. Daraufhin war sie zum Angriff übergegangen, und Gucky war gezwungen gewesen, Gewalt anzuwenden, um Rhodan zu schützen.

Nein, Rhodan konnte wirklich nicht behaupten, dass er nicht mit Konsequenzen gerechnet hätte. Diese Warnung allerdings war ... ungewöhnlich.

Unsicher, wie er das Gespräch einordnen sollte, stieß Rhodan langsam den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte. Er wandte sich zu Conrad Deringhouse um, dem Kommandanten der MAGELLAN. »Du hast alles mitbekommen?«

Deringhouse nickte. »War nicht zu überhören. Was schätzt du, wer der Typ war?«

Wie alle Meister der Insel hatte auch dieser Faktor eine schwarze Robe mit silbernen Mustern getragen und das Gesicht hinter einem Spiegelfeld verborgen. Einer Sternenfratze, wie sie in Andromeda immer wieder genannt wurde. Rhodan hatte jedoch nicht auf das Gesicht geachtet, sondern auf die Stimme. Die hatte er bereits im Kur'shsystem aus unmittelbarer Nähe zu hören bekommen.

»Trinar Molat. Faktor Zwei.« Rhodan kniff die Augen zusammen, versuchte, seinen Eindruck von der ersten Begegnung mit Thetins Stellvertreter zu rekonstruieren. »Ein berechnender Mann. Er wirkte auf Soom nicht grausam, aber auch nicht wie die Güte in Person. Eher so, als interessierte ihn nur das Ergebnis.«

»Wenn man Hunderte oder Tausende Jahre an der Macht verbringt, bleibt offensichtlich nicht viel Empathie übrig«, stellte Deringhouse fest.

Seine Worte trafen Rhodan wie ein Hieb in die Magengrube. Er musste alle Willenskraft aufbringen, um nicht nach dem Zellaktivator zu tasten, den er um den Hals trug. Das wundersame Gerät, das ihn ebenso unsterblich machte wie die Meister. Hoffentlich nicht ebenso grausam. Denn für Reue war es zu spät. Ablegen konnte er den Zellaktivator nicht mehr. Er verdrängte den Gedanken. Stattdessen fragte er: »Wie hat er uns so schnell gefunden?«

Nach der unerfreulichen Entwicklung auf Multidon waren die Menschen mit der MAGELLAN aus dem Donitsystem geflohen und nahmen seither immer weiter Kurs auf den Zentrumsring der Galaxis. Sie entfernten sich, so schnell sie konnten, ohne dabei die Triebwerke zu überlasten. Die Ortung hatte keine fremden Impulse angemessen, zumindest nichts von Relevanz. Die Meister der Insel waren wohl zu sehr damit beschäftigt gewesen, den auf Multidon entstandenen Schaden einzugrenzen. Vielleicht hatte sich Atlan auch ein letztes Mal für die Menschen eingesetzt und Thetins Zorn besänftigt.

Was auch immer der Grund sein mochte: Molats Raumschiff hatte sie jedenfalls nicht verfolgt, so viel war sicher. Es war einfach direkt in die unmittelbare Nähe der MAGELLAN transitiert.

»Woher wusste er, wo wir zu finden sind?«, führte Rhodan den Gedanken laut zu Ende. »Auf diese Entfernung konnte er uns unmöglich orten.«

»Vielleicht verfügt Molat über etwas Ähnliches wie den Oxley-Orter?«, spekulierte Deringhouse. »Damit hätte er unserer Route einfach folgen können.«

Rhodan runzelte die Stirn. Der Oxley-Orter spürte Veränderungen im Hyperraum auf. Das Gerät befand sich nach wie vor im Experimentierstadium, aber womöglich waren die Meister der Insel bereits weiter, was diese Technik anging? Falls Deringhouse mit seiner Vermutung richtiglag, gab es wenig, was die Menschen tun konnten, um ihre Spur zu verwischen. Kein angenehmer Gedanke.

Deringhouse rieb sich mit dem Handrücken über das Kinn. »Sie könnten uns aber auch verwanzt haben«, sagte er.

Rhodan horchte auf. »Ein Peilsender?«

»Das, oder er hat uns anderweitig markiert«, gab der Kommandant widerwillig zu.

Rhodan fluchte lautlos. Denkbar war es. Gelegenheit hätte Molat zur Genüge gehabt, erst auf Soom, dann auf Multidon. Aber gegen diese Möglichkeit konnten sie wenigstens vorgehen. »Lass Leyden und sein Team danach suchen! Gib ihm jede Unterstützung, die er braucht. Falls es einen Sender an Bord gibt, müssen wir ihn finden und zerstören. Selbst wenn wir dafür jede Schraube einzeln umdrehen!«

Deringhouse sah so begeistert aus, wie Rhodan sich fühlte. Die Kernzelle der MAGELLAN durchmaß zweitausendvierhundert Meter. Eine mehr als sieben Kubikkilometer große Kugel aus Stahl, Technik und Lebensraum, während der Peilsender die Größe eines Fingernagels haben konnte. Die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen war das reinste Vergnügen dagegen. Immerhin würde der Sender im Gegensatz zu einer Nadel wenigstens Signale abgeben, die sich hoffentlich aufspüren ließen.

»Das kann dauern«, warnte Deringhouse.

»Das fürchte ich auch.« Rhodan seufzte und rollte seine verspannten Schultern. Die rechte Seite ließ ein beunruhigendes Knacken vernehmen, aber das Ziehen in seinen Muskeln wurde erträglicher. »Bis wir wissen, wie Molat uns aufspüren konnte, sollten wir erst mal versuchen, ihn loszuwerden«, fügte er hinzu. »Bring die MAGELLAN in den Ortungsschutz einer Sonne. Mal sehen, ob er uns dann immer noch findet.«

»Gut.« Deringhouse sprach sich kurz mit der Pilotin und dem Ortungschef ab. »Es gibt ein paar planetenlose Sterne ohne Trümmerringe in der Nähe«, berichtete er anschließend. »Die können wir im Zickzackkurs ansteuern, um Abstand zu gewinnen. Keine ausbeutbaren Ressourcen, also haben wir gute Chancen, dort unentdeckt und unbehelligt zu bleiben.«

»Danke, Conrad.« Rhodan betrachtete die Flut an Daten, die auf dem Hauptholo immer weitere Details des gegnerischen Raumschiffs auswies, das sich zu Beginn des Funkgesprächs mit dem Namen FAUGON identifiziert hatte.

Es war kein Kugelraumer wie die üblichen Schiffe der Thetiser, sondern glich einer metallenen Qualle. Die Halbkugel an der Oberseite des Gebildes endete in einem Ringwulst, darunter wölbte sich ein trichterartiger Unterbau, aus dem ein technisches Sammelsurium in Gestalt dicker, mechanischer Tentakel herausragte. Kleinere, kuppelförmige Auswüchse formten ein gleichmäßiges Netz auf der hellen Oberfläche des Schiffs.

Die FAUGON maß knapp hundertzwanzig Meter von der obersten Kuppel bis zum unteren Ende des Hauptantriebs. Ein Zwerg im Vergleich zur MAGELLAN. Allerdings ein äußerst wehrhafter. Die Abtastung offenbarte überstarke Impulsgeschütze im Bug. Rhodan war kein Hyperphysiker. Er konnte nur schätzen, welche Auswirkung ein Beschuss von diesem Kaliber hätte, aber seine Erfahrung reichte aus, um zu wissen, dass die terranischen Schutzschirme einem Angriff nicht lange standhalten würden. Trinar Molat hätte sie vernichten können. Warum tat er es nicht?

»Wozu dieses Spiel?«, sagte Rhodan, mehr zu sich selbst als zu Deringhouse.

Der Kommandant sah ihn trotzdem fragend an. »Was meinst du?«

Rhodan deutete auf das Holo. »Er hat jede Möglichkeit, uns in einen Kampf zu verwickeln, und den würde er ziemlich sicher mit Leichtigkeit gewinnen. Also wieso schießt er uns nicht einfach in Stücke?«

»Vielleicht ist er ein Sadist?«, antwortete Deringhouse. »Er will sehen, wie wir um unser Leben betteln.«

Wohl eher ich, dachte Rhodan. Die Drohung hatte überaus persönlich geklungen. »Oder er wartet auf ein Angebot«, mutmaßte er. »Die ganze Sippe der Meister der Insel lebt doch von Intrigen und der Gier nach Macht. Molat ist Faktor Zwei. Es gibt nur eine Person, die er beseitigen müsste, um sich das Sternenreich von Andrumidia unter den Nagel zu reißen: Faktor Eins.«

»Mirona Thetin«, sagte Deringhouse. »Und natürlich Atlan da Gonozal, der ihr neuerdings treu zur Seite steht. Aber falls Molat eine Allianz wollte – wäre seine Drohung nicht eher kontraproduktiv? Ich meine, diese Meister haben zwar gewaltig einen an der Waffel, wenn du mich fragst, aber wäre es nicht einfacher für ihn, eine Abmachung vorzuschlagen?«

Frustriert zuckte Rhodan mit den Schultern. »Es war nur eine Vermutung. Sie ergibt ebenso viel oder ebenso wenig Sinn wie diese ganze Sache mit den drei Begegnungen.«

»Da hast du recht«, gab Deringhouse zu. »Ich sage ja: Diese Unsterblichkeit macht sie unberechenbar ...« Irritiert sah er auf sein Komarmband. »Es ist Schablonski.«

Auch Rhodan fühlte den dezenten Vibrationsalarm an seinem Handgelenk und las die kurze Nachricht des Chefingenieurs: »Verdächtige Datei unbekannter Herkunft lädt sich in die Hauptpositronik. Kann Übertragung nicht stoppen.«

Rhodan presste die Kiefer aufeinander. »Molat!«, stieß er hervor. Dazu also diese bizarre Unterhaltung. Während die Menschen sein Schiff gescannt hatten, hatte der Meister etwas in die Positronik der MAGELLAN geschleust!

 

»Also gut.« Perry Rhodan wappnete sich gegen das Schlimmste. »Was wissen wir?«

»Wir haben die Datei umgehend isoliert«, antwortete Tim Schablonski. »Allerdings war das wohl gar nicht nötig. Es ist offenbar kein Virus.« Rhodan schloss für einen Augenblick dankbar die Augen und blendete damit die angespannten Gesichter um den Konferenztisch aus, bis die Stimme des Chefingenieurs der MAGELLAN ihn zurückholte. »Oder sonst etwas, was unserer Positronik schaden soll. Keinerlei aggressives Verhalten, genauer gesagt: überhaupt keine Aktivität, seit die Intrusion beendet ist. Es empfängt nicht, es sendet nicht.«

»In Ordnung«, sagte Autum Legacy, die Sicherheitschefin. »Aber was ist es dann?«

»Vor allem ist es groß.« Schablonski kratzte sich über die kurz geschorenen Haare. »Riesig. Eine einzelne Datei mit rund hundertzwanzig Petabyte, das entspricht in etwa hundertfünfundzwanzig Millionen Gigabyte.«

Reginald Bull stieß einen leisen Pfiff aus. »Da hat sich jemand Mühe gegeben!«

»Nicht nur bei der Erstellung dieser ominösen Datei«, bestätigte Schablonski. »Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie nicht von der FAUGON gesendet wurde. Sie ist bereits während unseres Alarmstarts von Multidon eingespeist worden.«

»Also stammt sie nicht von Trinar Molat«, fasste Rhodan zusammen.

Schablonski wiegte den Kopf. »Ich kann nicht ausschließen, dass er jemand anderen damit beauftragt hat, uns diese Datei zukommen zu lassen. Nach allen Untersuchungen, die wir vorgenommen haben, sind mein Team und ich uns aber zumindest sicher, dass es wirklich nur das ist, wonach es schon auf den ersten Blick ausgesehen hat: holografische Bild- und Toninformationen.«

»Also geht davon keine Gefahr für die MAGELLAN aus?«, hakte Legacy nach.

»Nicht auf positronischer Ebene«, versicherte Schablonski. »Ich kann mir allerdings vorstellen, dass eine Datei, die uns auf diese Weise zugespielt wird, Informationen enthält, die uns nicht unbedingt gefallen werden.«

Leider half es selten, schlechte Nachrichten einfach zu ignorieren. »Es könnte die Datei sein, von der Atlan gesprochen hat«, überlegte Rhodan laut. Und wenn der Arkonide sich die Mühe gemacht hatte die Daten an allen Sicherheitsvorkehrungen vorbeizuschmuggeln, sollten sie nicht lange um den heißen Brei herumschleichen. Rhodan nickte Schablonski zu. »Öffnen Sie die Datei!«

Es dauerte ein paar Sekunden. Dann stand Atlan da Gonozal in Lebensgröße vor ihnen.

Selbstverständlich war es nur eine dreidimensionale Projektion und nicht der Arkonide in persona. Er leuchtete dezent von innen heraus, seine Beine verschwanden in der Tischplatte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen und der müde Gesichtsausdruck sahen allerdings täuschend echt aus. Rhodan kannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn oft genug im Spiegel gesehen. Atlan sah aus wie jemand, der mit Ereignissen und Entscheidungen gehadert und verloren hatte.

»Hallo, mein Freund«, begann die Projektion. »Und auch wenn diese Bezeichnung nach den jüngsten Ereignissen seltsam anmuten mag – das bin ich immer noch, Perry.« Atlan atmete hörbar durch. »Ich habe diese Aufzeichnungen ohne Mironas Wissen in die Speicher der MAGELLAN geschmuggelt. Du hast unermesslichen Schaden angerichtet, eine Zerstörung, die vieles verändern wird, doch Multidon birgt weitaus mehr, als du ahnst.« Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Wir werden sehen, ob sich das als mein Glück oder mein Fluch erweist.«

Aus dem Augenwinkel sah Rhodan, wie Legacy etwas in das Ohr ihres Manns flüsterte. Bull nickte ernst und verschränkte die Arme vor der Brust.

Atlans Projektion sprach indessen weiter. »Was ich hier tue, ist Verrat. Es nicht zu tun, wäre auch einer.« Der Arkonide hob den Kopf, und Rhodan hatte den Eindruck, als würde Atlan ihm direkt ins Gesicht blicken. »Diese Aufzeichnung ... Sie war nicht für dich bestimmt, Perry. Es ist ein Teil von Mironas Lebensgeschichte. Weder Mirona noch ich sind deine Feinde, im Gegenteil. Aber da ich weiß, was für ein skeptischer Mistkerl du bist, wirst du meinen Worten allein nicht glauben. Also, sieh dir die Aufzeichnungen an. Und bilde dir selbst ein Urteil!« Die Projektion verstummte. Der holografische Atlan stand abwartend und mit neutralem Ausdruck in der Mitte des Raums. Wie ein Roboter im Leerlauf.

Rhodan nickte Schablonski zu, woraufhin dieser die nächste Dateiinformation abspielte.

Atlans Abbild verschwand. An seiner Stelle erschien eine Frau mit strengen, aber durchaus schönen Gesichtszügen und hartem Blick: Mirona Thetin. Sie hob herausfordernd das Kinn, presste für einen Moment unwillig die Lippen aufeinander. »Dies ist eine interaktive Aufzeichnung«, sagte sie dann. »Du kannst mir jederzeit Fragen stellen, und ich werde sie beantworten, soweit es mein Wissensstand zum Zeitpunkt der Aufzeichnung zulässt.«

Das erklärt die enorme Größe der Datei, dachte Rhodan. Bei jemandem von Thetins Lebensspanne mussten selbst Auszüge aus einem Tagebuch gewaltige Datenmengen umfassen.

»Bevor wir beginnen, habe ich indes zwei Bitten. Erstens: Transferiere diese Datei in eine einfache, externe Positronik. Zweitens: Hör mich zuerst allein an.«

»Das kann sie vergessen!«, brauste Legacy auf.

»Es ist nur eine Aufzeichnung«, versuchte Rhodan die Sicherheitschefin zu beschwichtigen. »Sie wird wohl kaum aus dem Holo springen und mich angreifen.«

»Ich traue ihr nicht«, beharrte Legacy. »Und deinem Freund auch nicht! Für mich riecht das eindeutig nach einer Falle.«

»Der Protektor hat recht«, unterstützte Schablonski Rhodan. »Es ist nur Bild- und Tonmaterial. Und da sie selbst vorschlägt, in eine externe Positronik verlagert zu werden ...«

»... weiß sie vermutlich, dass diese Aufzeichnung irgendwie schädlich ist. Falls es stimmt, dass die Daten ursprünglich nicht für uns bestimmt waren, hätte sie damit vielleicht nur ihr eigenes Schiff geschützt.«

Rhodan zögerte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er Atlan vertrauen konnte. Nach wie vor. Gut möglich, dass er dem Freund auch bloß trauen wollte. Vor allem jedoch vertraute er auf die Fähigkeiten seiner Mannschaft, und wenn Schablonski behauptete, die Daten wären sicher, waren sie das auch.

»Ich werde das Observatorium benutzen«, entschied er. »Allein.«

 

Von der dunklen Kuppel über ihm strahlte das künstliche Sternenlicht Andromedas herab. Als die Reise der MAGELLAN begonnen hatte, hatte Perry Rhodan es kaum erwarten können, die fremde Galaxis endlich zu erreichen. Inzwischen wünschte er, er könnte einmal mehr das blasse Band der Milchstraße über sich sehen – keine Darstellung davon, sondern die Sterneninsel selbst.

Nichts auf dieser Odyssee war verlaufen, wie die Menschen es erhofft hatten. Aber vielleicht würde Rhodan nun wenigstens ein paar der Antworten erhalten, die er suchte.

Er trat an die Steuerkonsole des Observatoriums und rief die Datei auf, die Atlan ihnen übermittelt hatte. Wieder erschien die Gestalt von Mirona Thetin vor ihm. Wieder hob sie das Kinn, presste die Lippen zusammen.

»Ich bin allein«, unterbrach Rhodan die erste Phase der Projektion.

Thetin nickte. »Danke.« Ein Wort, das er niemals aus ihrem Mund erwartet hätte. Ebenso verwunderlich war, dass die Hologestalt ihn mit »Du« anredete. Auf Multidon hatte Mirona Thetin ihn gesiezt. Rhodan schrieb beides dem Umstand zu, dass diese digitale Autobiografie ursprünglich für jemanden anders gedacht war. »Dann beginne ich nun mit der eigentlichen Aufzeichnung.« Der Blick ihrer strahlend grünen Augen traf Rhodan. Abermals hatte er das irritierende Gefühl, das Hologramm würde ihn direkt anstarren. Aber bei einer interaktiven Aufzeichnung war dieses Gefühl wohl unvermeidlich.

»Ich will dir meine Geschichte erzählen«, sagte Thetin. »Jedenfalls Passagen davon. In den langen, dunklen und lichten Jahren habe ich zu viel erlebt, um alles in Worte zu fassen. Lass mich dir einen Teil davon zeigen, damit du verstehst, wer ich bin.«

Sie hob die Hand, und hinter ihr erschien ein weiteres Hologramm. Ein Sternenhimmel, ähnlich dem in der Kuppel des Observatoriums. Nur dass die neue Projektion nicht Andromeda zeigte.

Rhodan schaute auf die schwebenden Sterne, die als einzelne Lichtpunkte in der Luft trieben. Was die Meisterin der Insel für ihn bereithielt, konnte alles sein: Antworten. Lügen. Eine Falle. Wissen würde er es erst, wenn er sie angehört hatte. »Einverstanden.« Er entschied sich auch seinerseits für die vertrauliche Anrede. »Erzähl mir davon!«

Mirona Thetin wandte den Blick in Richtung Milchstraße. Ein winziger Abschnitt am Rand der Galaxis wurde größer. Die Erde schoss in den Vordergrund. »Es begann mit der Ruyia, mit dem Exodus. Über fünfzigtausend Jahre vor eurer Zeitrechnung fasste unsere Anführerin Avayandra di Cardelah mit dem Rat den Entschluss, dass wir das Solsystem räumen. Sie war meine Großmutter und bereit, unseren Heimatplaneten, die Welt, die ihr heute Erde nennt, aufzugeben. Wir suchten nach einer neuen Zuflucht, fanden sie und brachen dorthin auf. Mit diesem Aufbruch begann etwas Neues.«

2.

Trümmerwelt

50.939 v. Chr.

 

»Mein Name ist Anathema di Cardelah. Ich bin eine Versagerin.

Ich wollte ein Heilmittel gegen das Taalvirus finden. Ein Virus, das nicht nur meine geliebte Großmutter Avayandra, sondern auch unzählige weitere Liduuri befallen hat.

Ich bin gescheitert. Meine Großmutter ist tot.

Ich wollte einen Weg finden, die Bestien aufzuhalten, die das Taalvirus auf die Liduuri losgelassen haben. Sie nennen sich Maahks und haben meinem Sternenreich ohne Grund den Krieg erklärt. Sie sind gesteuert von blindem Hass, vernichten eine unserer Welten nach der anderen und zwingen uns, unsere Heimat aufzugeben.

Ich bin gescheitert. Die Bestien wüten weiter. Wir ziehen uns nach Achantur zurück.

Ich wollte die Heimatwelt meiner letzten Jahre retten: Tiamur. Ein Planet der Wissenschaft, der laut meiner Familie geopfert werden musste, um die Forschungsdaten vor Plünderern zu schützen.

Ich bin gescheitert. Tiamur ist zerstört.

Nun sitze ich hier, diktiere diese Sätze, während wir den Trümmerring passieren, der einst meine Heimat war, und Splitter eben dieser Heimat im Schutzschirm verglühen. Unser Raumschiff zieht an den Überresten Tiamurs vorbei. An den kosmischen Scherben, die von meiner Welt geblieben sind, und mir ist bewusster als je zuvor: Ich bin eine Versagerin.

Ich habe versagt, genau wie all die Milliarden Liduuri, die wie ich ihre Heimat verloren haben. Ich werde trauern wie sie, leiden wie sie und vielleicht auch eines Tages auf einer fremden Welt sterben wie sie. Aber eins werde ich nicht: Ich werde nicht aufgeben!

Ich werde niemals aufgeben! Sie alle haben es getan: Meine Großmutter hat sich dem Taalvirus ergeben. Mein Vater und meine Mutter ordneten sich meiner Schwester unter. Meine Schwester, die uns nun anführt, hat vor den Maahks resigniert. Sie will vor diesen Ungeheuern fliehen – ich aber werde nicht fliehen. Ich bin nie geflohen. Wahre Liduuri kämpfen.

Seit einiger Zeit habe ich einen Geliebten. Er heißt Ges di Verren. Er hofft, dass ich bei ihm bleibe, dass ich vorübergehend mit ihm ins Exil nach Achantur gehe und dann zurückkehre. Doch zurück wohin? In eine Scherbenwelt? Einen Trümmerhaufen, der wie ein Sinnbild unseres Scheiterns noch in Jahrmillionen anzumessen sein wird?

Liduur ist Sperrzone. Tiamur ist nicht mehr. Soll ich Asche bewachen? Das wäre Verrat an mir selbst. Es würde mich zerreißen wie Tiamur. Irgendwann würden auch meine Splitter im Schirm eines belanglosen Schicksals vergehen. Es gibt einen anderen Weg. Einen besseren.

Ich fürchte nur, Ges wird das nicht verstehen. Er ist überzeugt von seiner Idee, dem Rat zu erzählen, dass er als Wächter zurückbleiben will. Er glaubt, dass ich zu ihm halte. Was wird er tun, wenn ich ihm sage, dass ich mich anders entschieden habe? Dass es manchmal etwas gibt, was wichtiger ist als Liebe oder der Tod? Dass ich nicht bereit bin, bei ihm zu bleiben, sondern will, dass er mit mir kommt, und dass ich ihn verlasse, wenn er es nicht tut?

Ich bin eine di Cardelah. Meine Familie bestimmt die Geschicke der Liduuri seit einer Ewigkeit. Es ist an der Zeit, dass ich aufhöre, mich hinter Wissenschaftsholos zu ducken. Drüben in Andrumida brauchen sie mich. Sie brauchen eine di Cardelah, die sie anführt. Wir wurden geboren, um zu herrschen.«

 

»Henut, du hast um eine Erinnerung gebeten. Wir landen in wenigen Minuten.«

Ich hob den Kopf, noch ganz gefangen von meinem Bericht. Hatte ich die Wahrheit geschrieben? War ich eher eine Versagerin oder eine Verliererin? Und war ich wirklich bereit, Ges zu verlassen, ihn ebenfalls zu verlieren?

Ich liebte ihn, doch in den vergangenen Wochen hatte ich insgeheim Dinge in die Wege geleitet, stets hinter Ges' Rücken. Zum Beispiel hatte ich Maschinen und wertvolle Geräte vor der Sprengung Tiamurs zur Seite geschafft. Ich hatte sie an Bord eines kleineren Raumschiffs bringen lassen. Es war eine Technik, die von meiner lieben Schwester und ihrem Mann aus Sicherheitsgründen hatte vernichtet werden sollen.

Ich hatte für mein Vorhaben Verbündete gefunden. Liduuri, die wie ich Gerechtigkeit wollten und nicht bereit waren, aufzugeben. Und ich hatte meinen Vater bestohlen. Das alles hatte ich getan, um meine Abreise vorzubereiten.