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Band 168

 

Die MAGELLAN-Morde

 

Kai Hirdt

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu diesen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN an ihr Ziel. Rasch erfahren die Menschen mehr über die Situation. Insbesondere die Meister der Insel – auch Faktoren genannt – spielen eine zentrale Rolle.

Auf dem Weg zu einem Geheimtreffen begegnet Rhodan dem Volk der Gaids. Nach positivem Erstkontakt kommt es zu grausigen Todesfällen. Die Gaids machen die Menschen verantwortlich für DIE MAGELLAN-MORDE ...

Prolog

 

Lautlos und im Schutz seines Deflektorschirms folgte Hak Gekkoor dem vorgegebenen Weg. Faktor II hatte Gekkoor ausdrücklich befohlen, ohne die geringste Verzögerung vom Hangar zum privaten Arbeitsraum des Meisters der Insel zu kommen. Faktor II hatte sogar vorgegeben, welche von mehreren möglichen Routen Gekkoor nehmen sollte.

Diese Anweisung hatte den Meutenführer überrascht, doch nun verstand er ihren Sinn. Der Meister hatte die Korridore räumen lassen. Er verließ sich nicht allein auf die Unsichtbarkeit, die der Deflektor Gekkoor gewährte, sondern schloss obendrein jede noch so zufällige Begegnung mit einem Untergebenen aus. Dazu passte, dass Gekkoor mit einer gefälschten Schiffskennung hatte einschleusen müssen. Faktor II wollte unter allen Umständen vermeiden, dass jemand erfuhr, wen er zur Audienz einbestellt hatte.

All das versprach ein heikles und damit interessantes Gespräch. Gekkoor hegte eine gewisse Hoffnung, dass es nicht mit seinem Tod enden würde. Falls der Meister ihn dafür bestrafen wollte, dass Gekkoor bei der Jagd auf Perry Rhodan versagt hatte, hätte er sich nicht solche Mühe bei der Tarnung gegeben.

Gekkoor wusste, dass er wertvoll war, keinesfalls aber unersetzlich. Insofern hatte durchaus Anlass zur Sorge bestanden. Tatsächlich hatte er bereits begonnen, seine Flucht zu planen. Dass Faktor II ihn nun unter Aufbietung höchster Geheimhaltung zu sich bestellte, sprach jedoch für seine Rehabilitierung. Oder zumindest dafür, dass jemand anderes den Meister noch viel mehr verärgert hatte und er nun Gekkoors Dienste als Jäger in Anspruch nehmen wollte, um den Missetäter auszumerzen.

Er erreichte den Zielort einige Augenblicke zu früh. Die Tür öffnete sich zunächst nicht; erst zum vereinbarten Zeitpunkt glitten die beiden Flügel lautlos in die Wand. Der Meister hatte wohl die technische Überwachung des Gangs abschalten lassen, andernfalls hätte die Positronik selbsttätig auf Gekkoors Anwesenheit reagiert. Ein weiteres Zeichen dafür, dass das bevorstehende Gespräch hohe Brisanz hatte.

Gekkoor trat über die Schwelle. Die Tür schloss sich hinter ihm.

»Zeig dich!«

Gehorsam desaktivierte Gekkoor seinen Deflektor. Ein Roboter erschien aus einer verborgenen Nische und durchsuchte ihn nach Waffen und Aufzeichnungsgeräten. Die Maschine beließ es nicht bei einem Scan, sondern tastete auch manuell jedes denkbare Versteck ab. Faktor II hatte nicht Jahrzehntausende überlebt, indem er vermeidbare Risiken einging.

Gekkoor streckte dem Roboter seinen Arm entgegen. Der suchte sich eine Vene und nahm eine Blutprobe. Erst die DNS-Analyse galt als verlässliche Bestätigung seiner Identität.

»Komm näher!«

Er setzte sich in Bewegung, auf den schlichten Tisch zu, hinter dem der Meister saß. Die Gestalt in ihrer schwarzen Kutte, das Gesicht hinter einer holografischen Darstellung der Galaxis Andrumida verborgen, saß reglos und wartete.

Gekkoor war noch nicht oft an diesen Ort geladen worden. Sein letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Er stellte fest, dass Faktor II in den Jahren seitdem noch mehr Einrichtungsgegenstände hatte entfernen lassen. Schon damals war der Raum eher karg gewesen. Nun standen darin nur noch ein Tisch und zwei schlichte Stühle. Schon länger hegte Gekkoor den Verdacht, dass der Meister um seine geistige Gesundheit rang; dass ihm nach und nach jedes Verständnis für die Gedankenwelt der Sterblichen abhandenkam. Das Zimmer spiegelte diese wachsende mentale Isolation passend wider.

»Setz dich!«

Gekkoor folgte dem Befehl und verharrte, gespannt, was nun folgen würde. Die Momente zogen sich. Keiner von ihnen sprach.

Schließlich war es der Meister, der in die Stille rief: »Ich habe diese Narren gewarnt!«

Noch immer wartete Gekkoor ab. Solange er die Lage nicht einschätzen konnte, wollte er keinesfalls riskieren, mit einer unbedachten Bemerkung den Zorn des Meisters auf sich zu lenken.

Mit einer fahrigen Geste aktivierte Faktor II ein Hologramm. Gekkoor hob überrascht die Brauen. Er sah fünf in schwarze Roben gekleidete Gestalten mit den typischen Sternenfratzen. Der Meister, so sehr auf Geheimhaltung bedacht, hatte eine Unterredung unter seinesgleichen aufgezeichnet! Gekkoor fragte sich, ob die anderen Faktoren im Hologramm wohl davon wussten – und wie sie darauf reagieren würden, wenn sie von einer heimlichen Aufzeichnung erführen.

Eine Figur hatte sich in die Mitte des Zirkels gedrängt, wild gestikulierend und lauthals lamentierend. »Ihr ist die Kontrolle entglitten!«, rief der Schemen. Gekkoor erkannte die Stimme – es war Faktor II, der ihm gegenüber hinter dem Holo saß und ihn wahrscheinlich aufmerksam beobachtete. »Perry Rhodan dringt nach Multidon vor, und Faktor Eins lässt es einfach zu. Rhodan zerstört das Physiotron und den Duplikator – und Faktor Eins lässt ihn ziehen!«

Gekkoor war überrascht, in mehrerlei Hinsicht: Zum einen hatte er nicht gewusst, dass das Ziel seiner erfolglosen Hetzjagd den Meistern solch empfindliche Schäden zugefügt hatte. Zwar wusste er nicht, wie viele Duplikatoren und Physiotrone die Mächtigen des Sternenreichs von Andrumidia besaßen. Häufig waren diese Geräte jedoch mit Sicherheit nicht, und die Zerstörung jedes einzelnen erschütterte eine wichtige Säule ihrer Herrschaft.

Zum anderen, und im Grunde viel erstaunlicher: Faktor II zweifelte Faktor I an, völlig offen! Das kam einer Meuterei nahe – und darauf kannte die Führerin des Zirkels nur eine einzige Antwort. Wenn sie von diesem Gespräch erfuhr, hatte Faktor II sein Leben verwirkt. Und wenn man bedachte, wer alles davon wusste, gab es eigentlich keine Möglichkeit, dass ihr nichts davon zu Ohren kam.

Die Gestalt im Holo zeterte weiter. »Faktor Zehn ist tot, und wer war dabei? Perry Rhodan! Es wird keine Baphometen mehr geben, und wer trägt die Schuld? Perry Rhodan. Was aber tut Faktor Eins? Sie lässt ihn nicht nur davonkommen! Sie befiehlt mir sogar, ihn ziehen zu lassen! Rhodan wird das ganze Sternenreich von Andrumidia destabilisieren! Er gefährdet unser Ziel, für das wir äonenlang gearbeitet haben – und Faktor Eins ist nicht willens oder nicht mehr fähig, das zu verhindern! Wir müssen handeln!«

Gekkoor konzentrierte sich auf die vier Zuhörer. Die Kutten verbargen ihre Körper, doch sie konnten nicht jede Körperbewegung verdecken. Und als Jäger hatte er gelernt, die Regungen seiner Beute zu lesen. Hier ein kleiner Schritt zurück, dort ein kaum merkbares Kopfschütteln. Faktor II erreichte sie nicht mit seiner Rede. Sie distanzierten sich von ihm. Was auch immer er von ihnen verlangen würde: Er hatte schon verloren.

»Wir müssen den Kreis der Meister retten!«, rief die zentrale Figur im Holo mit durchdringender Stimme.

Das kam einer Meuterei nicht mehr nahe – das war Meuterei. Selbst ohne die emotionale Tirade vorneweg, die erhebliche Zweifel am Urteilsvermögen des Sprechers weckte, konnte Gekkoor sich nicht vorstellen, dass sich einer der anderen Faktoren zur offenen Aktion gegen Faktor I bereit erklären würde.

Stille folgte. Erst nach einer Weile sprach jemand. »Wir werden darüber nachdenken.« Eine Gestalt trat zurück und verließ den Zirkel.

»Der Kreis der Meister wird eine Lösung finden«, sagte jemand anderes und zog sich ebenfalls zurück.

Zuhörer drei und vier dankten für die Denkanstöße und gingen ab.

Faktor II schaltete das Holo ab. »Sie werden nichts tun.«

Gekkoor nickte. Er schätzte die Lage genauso ein. Zumindest in dieser Hinsicht hatte Faktor II also den Realitätsbezug noch nicht völlig verloren.

»Sie wollen die Gefahr nicht erkennen«, drang es hinter dem Galaxishologramm hervor.

Gekkoor nickte. Verdrängung war ein häufiger Fehler bei Intelligenzwesen und üblicherweise ein tödlicher.

»Aber Sie kennen die Gefahr, Meister«, sagte er. »Was planen Sie zu tun?«

»Nichts«, antwortete Faktor II. »Du wirst etwas tun.«

Es war nicht schwer, vorauszusehen, was nun folgen würde.

Faktor II ließ seine Hand unter der Kutte verschwinden. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen Dolch. Er legte die Waffe zwischen sich und Gekkoor auf den Tisch. Die Waffe war edel gearbeitet. Ihre Klinge glänzte, als würde sie das wenige Licht im Raum nicht nur reflektieren, sondern verstärken. Der Griff war aus fünf unterschiedlich großen Kugeln zusammengesetzt, über die sich die filigrane Gravur eines Blütenmusters zog.

»Ein Freundschaftsdolch«, sagte Faktor II. »Er hat früher Mirona gehört. Sie hat mir einmal anvertraut, dass sie sicher war, selbst einst durch genau diese Klinge zu sterben.«

Der Jäger schwieg.

Der Meister schob ihm die Waffe entgegen. »Und wir wollen doch nicht, dass sie sich irrt. Du wirst ihre Prophezeiung erfüllen.«

Ein kaltes Lächeln umspielte Gekkoors Lippen. Er hatte stets gewusst, dass er etwas Besonderes war, zu Großem berufen. Er hatte es schon auf Etrinon gewusst, als er in die Thetisische Raumflotte aufgenommen wurde. Er hatte es gespürt, als er in den Rängen aufgestiegen war und erst Pilot, dann Anführer eines Hetzgeschwaders wurde. Endgültig sicher war er gewesen, nachdem er Einsatz um Einsatz, Jahr um Jahr überlebte und er weder den Kämpfen noch den Drogen zum Opfer fiel, die Hetzpiloten zur Synchronisation mit ihrem Schiff einnehmen mussten.

Irgendwann hatte er bemerkt, dass er nicht mehr alterte – dass Faktor II, sein Gönner, ihn unbemerkt mit einer Zelldusche konserviert hatte. Stets hatte er sich gefragt, zu welchem Zweck.

Nun wusste er es.

Er nahm die Waffe, wog sie in der Hand. Sie war exzellent gearbeitet, fühlte sich wie eine natürliche, organische Ergänzung seines Körpers an. Er schlug drei rasche Schnitte in die Luft.

Faktor II lehnte sich zurück. »Es wird nicht einfach werden.«

Dem konnte Gekkoor uneingeschränkt zustimmen. Die älteren Meister lebten schon unzählige Tausend Jahre, und jeder von ihnen hatte Dutzende oder Hunderte Attentatsversuche überlebt. Umso reizvoller empfand Gekkoor die Aufgabe. Seit er vor einigen Jahren festgestellt hatte, dass Faktor II seinen Alterungsprozess unterbrochen hatte, wusste er, dass er selbst einmal in den innersten Zirkel der Macht aufsteigen würde. Dafür war jedoch eine Vakanz nötig – ein Meister musste sterben.

Nach dem Tod von Faktor X hatte ihn niemand eingeladen. Er hatte sich damit getröstet, dass es eine weitere Gelegenheit geben würde. Er hatte nur nicht so schnell damit gerechnet. Und nicht damit, dass er sie selbst schaffen würde.

Faktor II reichte ihm eine schlichte, unverzierte Lederscheide für die Klinge. Gekkoor band sie um und steckte den Dolch ein.

»Wo finde ich sie?«, fragte er.

»Am Rand der Ödnis«, sagte der Meister. »Ich vertraue darauf, dass du nicht noch einmal so versagst wie bei Rhodan.«

Gekkoor lächelte darüber hinweg, dass Faktor II seine größte Niederlage ansprach. Noch war er nicht in der Position, so etwas angemessen zu bestrafen. Die Möglichkeit dazu musste er sich erst erarbeiten.

»Nach meinen Informationen folgt Faktor Eins dem Raumschiff der Menschen sowie den Paddlern, die sie begleiten«, informierte ihn der Meister. »Angeblich nähern sie sich der Grenze des Hellen Kopfrunds der Gaids zur Ödnis. Bei Orientierungspunkt KALOX-Achtundzwanzig müsstest du sie einholen können. Spür sie auf und finde einen Weg, an Bord zu gelangen. Ich vertraue auf deinen Einfallsreichtum.«

»Das können Sie, Meister.« Tatsächlich entwickelte sich bereits ein Plan in Gekkoors Geist. Nicht einfach umzusetzen. Ganz und gar nicht einfach. Im Gegenteil, er würde dem Jäger körperlich und geistig mehr abverlangen, als er in den vielen Jahren in den Diensten von Faktor II je auf sich genommen hatte. Dafür winkte eine süße Belohnung, der Triumph einer erfolgreichen Jagd – einer ganz besonderen Jagd. Einem Unsterblichen hatte er noch nie das Leben genommen.

»Fragen?«

Gekkoor verneinte.

Faktor II neigte das Haupt und widmete sich irgendwelchen Aufzeichnungen, die auf seinem Tisch erschienen.

Die Unterredung war beendet.

Hak Gekkoor stand auf, ging so lautlos, wie er gekommen war, Richtung Tür und aktivierte seinen Deflektor.

1.

 

Die Tür des Gleiters hatte sich geschlossen. Dass sich daran so schnell nichts ändern würde, dafür sorgten die bewaffneten Gaids rechts und links davon. Tim Schablonski und seine Begleiter waren gefangen.

Bislang waren die Gaids nichts als fürsorgliche Gastgeber gewesen, eigentlich sogar überfürsorglich. So freundlich, so engagiert, dass sich Schablonski schon länger gefragt hatte, wie man die dunkle Seite dieser Geschöpfe zum Vorschein bringen konnte. Nun wusste er es: Man missbrauchte ihr Vertrauen und drang ohne guten Grund, geschweige denn eine Genehmigung, in ihr mysteriöses Sperrgebiet ein.

Schablonski versuchte, aus der Haltung ihrer Wächter deren Stimmung abzulesen. Waren sie so gereizt, dass jede falsche Bewegung zur Katastrophe führen würde? Oder war das ein vergleichsweise entspannter Gefangenentransport, und die Waffen kämen nur bei einer echten Provokation zum Einsatz? Während seiner Jahre bei den Raumlandetruppen hatte sich Schablonski oft genug in Feindeshand wiedergefunden, um ein Gespür für diese Nuancen zu entwickeln. Dass er noch lebte, bewies, dass er üblicherweise richtiglag.

Meistens allerdings waren die Wachen ausreichend menschenähnlich gewesen, sodass er ihre Mimik zumindest in Ansätzen hatte deuten können. Bei den Gaids gab es diese Chance nicht. Wo beim Menschen das Gesicht saß, hatten diese Wesen ein einziges, riesiges Facettenauge. Deshalb bewegte sich dort kein Muskel. Keine gehobene oder heruntergezogene Augenbraue signalisierte Offenheit oder Feindseligkeit.

Vorsichtig setzte sich Schablonski in Bewegung und ging zu seinen Begleitern, die an der gegenüberliegenden Seite der Kabine warteten. Baar Lun, der Außerirdische vom Planeten Modul, wirkte völlig entspannt. Tatsächlich war er der einzige Gefangene, auf den im Augenblick keine Waffe gerichtet war. Ganz anders Alexander Kapescu, der junge Techniker, den Schablonski selbst ins Team geholt hatte: Er zitterte vor unterdrückter Wut, ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder, und das Ganze wieder von vorn.

Schablonski atmete tief durch. Nicht zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen mit den Gaids fragte er sich, welcher Teufel ihn geritten hatte, sich diesen Mann als Gehilfen auszuwählen. Kapescu war ein Macho und ein Gernegroß, zugleich ein vollkommenes Greenhorn. Bei seinen idiotischen Versuchen, die zugegeben bildschöne, aber auch deutlich ältere Wissenschaftlerin Luan Perparim zu beeindrucken, hatte er sämtliche Sicherheitsvorschriften ignoriert. Er war im grellen Licht der Gaidwelt beinahe erblindet, hatte mit seiner Behandlung die ganze Mission aufgehalten.

Und das war nicht alles. Wenn Schablonski die Körpersprache des jungen Manns richtig deutete, stand er kurz vor der nächsten Idiotie. Diese möglicherweise mit tödlichem Ausgang.

»Machen Sie nichts Dummes, Junge«, raunte er Kapescu im Vorbeigehen zu. »Gekränkte Eitelkeit schmerzt, aber nicht so sehr wie Thermostrahlen.«

Kapescus Kopf ruckte herum. Schablonski konnte seine Augen nicht sehen – auch im Innern des Gleiters herrschte jene gleißende Helligkeit, die Gaids für ihr Wohlbefinden brauchten. Die Menschen mussten daher Schutzbrillen tragen. Doch in diesem Fall konnte sich Schablonski auch ohne direkten Blickkontakt ausrechnen, was die Miene seines Gegenübers signalisierte. Früher oder später würden Kapescus Emotionen sich entladen. Nach der Ermahnung richtete Kapescus Zorn sich allerdings nicht mehr auf die Gaids, sondern auf seinen Chef. Das war insofern gut, als ihre Wächter möglicherweise nicht schießen würden, wenn die Gefangenen untereinander eine Prügelei begannen.

Schlecht hingegen war es unter dem Gesichtspunkt, dass Schablonski Besseres zu tun hatte, als einem spätpubertierenden Hitzkopf eine Abreibung zu verpassen. Beispielsweise einen Ausweg aus ihrer Lage zu finden, bei dem niemand verletzt wurde.

Er trat neben Luan Perparim und flüsterte: »Irgendwelche Vorschläge?«

Die Exolinguistin schüttelte den Kopf. Ihre wuschelige Mähne wippte. »Ich kann mich vielleicht am besten mit ihnen verständigen, aber die wollen ja nicht mehr mit uns reden. Wir bräuchten Abha, der wüsste vielleicht etwas.«

Ja, Abha Prajapati als Experte für außerirdische Biologie und Kulturen hätte helfen können, indem er eine Verständigung ermöglichte. Ebenso Gucky, der sie einfach aus ihrer blamablen Situation hätte herausteleportieren können.

Oder Tani Hanafe.

Schablonskis ohnehin miserable Laune verschlechterte sich weiter, als er unvermittelt an seine Freundin dachte. Oder Ex-Freundin. Wer wusste das schon genau? Sie war nicht offiziell aus der gemeinsamen Kabine ausgezogen, benutzte sie allerdings kaum noch, seit sie ihre Technikausbildung bei den Paddlern begonnen hatte. Schablonski bekam sie nur selten zu Gesicht, und noch seltener allein. Irgendwann mussten sie das Gespräch führen. Bisher hatte er die Gelegenheit dazu nicht genutzt, aus Angst, was dabei herauskommen würde.

Er verstand nicht, was auf dieser Reise Unheilvolles geschehen war, das sie in diese Lage gebracht hatte. Sie hatten doch schon so viel gemeinsam ...

Konzentrier dich!, rief er sich zur Ordnung. Außerirdische richten Strahler auf dich. Ist das nicht ein bisschen wichtiger?

War es, definitiv. Auch wenn Schablonski keine Idee hatte, wie sie die missliche Situation bereinigen sollten – Träumen und Trübsal blasen half sicher nicht. Perry Rhodan verhandelte mit dem Regierungschef der Gaids über eine sichere Passage durch das Territorium der Einäugigen. Schablonski konnte nur ahnen, was passieren würde, wenn die Nachricht von ihrer Verhaftung in diese Gespräche platzte. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, diese Sache vorher zu regeln oder die Meldung zu verzögern ...

Schablonski wägte seine Alternativen ab. Vier Wachen befanden sich mit ihnen im Gleiter, der fünfte aus dem Stoßtrupp saß in der räumlich getrennten Pilotenkabine. Vier konnte man überwältigen, wenn eine überraschende, koordinierte Attacke gelang.

Zudem hatten sie ein Ass im Ärmel: die seltsame Wirkung von Baar Lun. Der Außerirdische stammte aus der Raumregion, deren Existenz die Gaids in bemerkenswerter Realitätsverleugnung ignorierten. Sie taten so, als sei der Modul überhaupt nicht anwesend. Selbst bei der Verhaftung von Schablonskis Team hatte der seltsame Verdrängungsreflex die Oberhand behalten – Baar Lun befand sich nur deshalb mit ihnen im Gleiter, weil er freiwillig mit eingestiegen war.

Sie könnten nun auf die harte Tour herausfinden, wie weit dieser Mechanismus reichte. Konnte Baar Lun sich unbemerkt einem Gaid nähern, um eine erste Waffe zu erobern? Oder würde der Selbstverteidigungstrieb sich gegen die Ignoranz durchsetzen und siegen?

Luan Perparim berührte Schablonski sanft am Oberarm. Er zuckte zusammen.

»Das sollten wir lassen«, flüsterte die Wissenschaftlerin. Wie es schien, waren seine Gedanken nicht schwer zu erraten gewesen.

Er nickte grimmig. Perparim hatte recht. Die ganze Idee war schwachsinnig.

»Ruhe!«, donnerte die Wache, die ihnen am nächsten stand.

»Entschuldigung«, sagte Perparim leise. Sie trat einen Schritt zurück.

Die Gaidwache folgte, den Strahler hoch erhoben, und drosch den Kolben gegen die Schulter der Wissenschaftlerin. »Ruhe, habe ich gesagt!«

Perparim sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie.

Schablonski hob beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück.

Nicht jedoch Kapescu. Der Jungspund hatte sein Testosteron einmal mehr nicht unter Kontrolle. Er sprang auf und schrie den Gaid an. »Eine Dame schlagen? Macht man das so bei euch?« Er hieb nach dem Kopf des Gaid. Der zuckte zurück, doch Kapescus Faust verfehlte das Facettenauge nicht komplett. Der Gaid ließ sich fallen, brüllte auf und hob beide Hände vor den Kopf.

Der junge Techniker wollte nachsetzen. Schablonski warf sich dazwischen und hämmerte seinen Schützling ohne Warnung mit einer linken Geraden von den Beinen. Der junge Rumäne hatte sicher Kampferfahrung, aber auch Schablonski hatte in jüngeren Jahren die eine oder andere Schlägerei hinter sich gebracht. Und besser, sie prügelten sich untereinander als mit den Wächtern. Dass die anderen drei Gaids noch nicht geschossen hatten, lag sicher nur daran, dass dies ihren eigenen Mann gefährdet hätte.

»Hören Sie auf, verdammt!«, brüllte Schablonski, während Kapescu sich unter ihm wand und zappelte.

»Auseinander!«, rief eine Gaidwache. Ein energetisches Fauchen ertönte. Für einen Moment wurde es noch heller im Gleiter, schneller, als die Schutzbrille es kompensieren konnte. Ein Warnschuss von niedriger Intensität war knapp über Schablonskis Schulter hinweggegangen und hatte ihm einige Haare versengt. Er zog den Kopf ein und kniff die Augen zu.

Kapescu nutzte den Moment, um sich zu befreien. »Ich lasse mir nicht ...«

»Schnauze!«, schrie Schablonski. »Kapieren Sie nicht, dass ...«

Dass die Gaids uns gleich abknallen, hatte er sagen wollen. Nur: Das stimmte nicht. Stattdessen hatten die Außerirdischen entspannt ihre Waffen wieder sinken lassen. Sie beachteten die Streitenden nicht einmal.

Verblüfft ließ Schablonski die Fäuste sinken.

Kapescu zuckte noch einmal, doch als sein Vorgesetzter warnend den Finger hob, hielt auch er inne. Was war geschehen? Warum waren die eben noch hoch aggressiven Wachen auf einmal so locker wie vier Rettungsschwimmer am Badestrand bei totaler Flaute?

Hatte Baar Lun etwas damit zu tun? Es hatte sich nichts im Gleiter verändert, außer dass der Modul seinen Platz gewechselt hatte. Er stand nun zwischen den beiden streitenden Ingenieuren und den Gaids. Grinsend streckte er die Arme zu beiden Seiten aus, sodass sein Mantel einen Sichtschutz bildete und die Menschen für die Gaids verdeckte.

Kapescu wollte etwas sagen. Schablonski verbot ihm mit einer Geste den Mund und forderte mit der anderen Hand Baar Lun zum Sprechen auf.

»Es war nur eine Ahnung«, sagte der kahlköpfige Hüne. »Seit wir hier gelandet sind, ignorieren mich die Gaids komplett. Das schlägt auf die Dauer aufs Selbstwertgefühl, aber ich hatte die ganze Zeit die Hoffnung, dass es vielleicht auch zu etwas nützlich ist.«

Erneut öffnete Kapescu den Mund. Erneut hinderte Schablonski ihn mit einer energischen Handbewegung am Sprechen. Was hatte ihn bloß geritten, diesen Hitzkopf unter seine Fittiche zu nehmen?

Schablonski tippte schnell auf seinem Komarmband herum und zeigte Baar Lun die Eingabe auf dem Display. »Sie können uns tarnen?«

»So sieht es zumindest aus«, antwortete Baar Lun. »Sie sehen mich oder meine Kleidung, blenden sie aus der Wahrnehmung aus und damit zugleich alles, was von mir verdeckt wird.«

Schablonskis Gedanken rasten. Diese Wirkung war besser als jeder Deflektorschirm. Sie waren nicht nur unsichtbar für die Gaids. Ihre Wächter schienen zudem völlig zu ignorieren, dass etwas in ihrer Wahrnehmung fehlte. Was Baar Lun verdeckte, war für sie nicht da und konnte somit kein Problem darstellen.

Damit musste sich doch etwas anfangen lassen! Wenn der Modul sich geschickt platzierte, konnten sie unbeobachtet zum Ausgang schleichen und ...

Ja, was und? Aus einem fliegenden Gleiter springen? Sich auf offener Strecke erneut einfangen lassen? Riskieren, dass die Gaids einen Fluchtversuch endgültig als kriegerischen Akt bewerteten? Ihre Gastgeber mochten grundsätzlich friedfertig sein. Aber die Besatzung der MAGELLAN hatte schon beobachten dürfen, mit welcher Todesverachtung sie sich verteidigten, wenn sie sich bedroht fühlten.

Auf der anderen Seite: Wenn ihr Team einfach nur Zeit gewann, bis Rhodan fertig verhandelt hatte? Wenn die schlechte Nachricht erst ans Licht kam, sobald die FERNAO zur MAGELLAN und PE-hilfreich zurückgekehrt war, das System der Gaids verlassen und die Ödnis halb erreicht hatte?

Wunschdenken. Die Gaids beherrschten die interstellare Raumfahrt, beherrschten die ganze Raumregion Helles Kopfrund. Also würden sie auf ihrer Heimatwelt nicht gerade mit Brieftauben kommunizieren. Selbstverständlich war ihre Führung längst darüber informiert, dass die Staatsgäste in ein Sperrgebiet eingedrungen waren.

Oder? Schließlich verdrängten die Gaids die Inhalte der Schwarzen Lichtung, auf der die Menschen verhaftet worden waren, fast genauso wie den Modul. Bestand nicht zumindest die Chance, dass die Meldung deshalb nur an diejenigen aus der Befehlskette ging, die sich direkt damit auseinandersetzen mussten?

Kapescu hielt Schablonski den linken Arm vors Gesicht. Er hatte seinerseits eine stumme Nachricht in sein Multifunktionsarmband eingetippt. »Habe im Gaidkrankenhaus ihre Kommunikationstechnik gesehen. Kann sie hacken. Rausfinden, wer von uns weiß. Baar Lun gibt Deckung.«

Schablonski presste nachdenklich die Lippen aufeinander, dann nickte er. Das war eine sinnvolle Vorgehensweise. Risikoarm, und sie verschafften sich die Grundlage für eine bessere Planung. Wenn der Junge nicht gerade seine drolligen fünf Minuten hatte, kam er durchaus auf gute Ideen.

Er schickte Kapescu zu Baar Lun. Der las die Nachricht und nickte ebenfalls. »Ich verdecke Sie mit meinem Mantel, bis Sie fertig sind«, bestätigte der Modul ohne jeden Versuch, auch nur zu flüstern.

Schablonski konnte nur den Kopf schütteln. Der Verdrängungsreflex der Gaids hatte etwas Unwirkliches. Er suchte Blickkontakt mit Perparim, doch auch die Exolinguistin stand nur schulterzuckend da.

Sie setzte sich. Schablonski nahm neben ihr Platz. Baar Lun folgte Kapescu zu einer Kommunikationsstation in der Trennwand zwischen Passagierraum und Pilotenkanzel. Sobald sein Mantel Tim Schablonski und Luan Perparim nicht mehr verdeckte, richteten die Wächter sofort wieder ihre Waffen auf sie.

Die zwei Menschen schwiegen, ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen. Das Glück war ihnen schon oft zu Hilfe gekommen. Aber dass jemand aus ihrem Team direkt vor der Nase des Feinds dessen Technik sabotierte, nur gedeckt durch einen Ledermantel, den ein anderes Teammitglied in klassischer Exhibitionistenpose ausgebreitet hielt – das versprach ein Husarenstück für die Flottenannalen zu werden.

Das Lächeln verging ihnen, als der Gleiter landete. Ob Alexander Kapescus Plan funktioniert hätte, würden sie nie erfahren. Sie waren einfach zu langsam gewesen.

2.

 

Perry Rhodans Verhandlungen waren gründlich gescheitert, das sah Schablonski auf den ersten Blick. Der Protektor und der Paddler Pelok schauten in mindestens zwanzig Strahlermündungen, während man Tim Schablonski, Luan Perparim und Alexander Kapescu in den Saal führte und Baar Lun stumm neben den Gefangenen herschlenderte.

Die Gaids setzten auf ihre bewährte Taktik: Was der Gegner ihnen an technischen Möglichkeiten voraushatte, machten sie durch Überzahl und Opferbereitschaft wett. Es gab keine Möglichkeit, gegen den Willen der Hausherren aus diesem Raum zu entkommen. So einen großen Mantel konnte Baar Lun gar nicht tragen, dass sie alle daruntergepasst hätten.