cover image

Nataly von Eschstruth

Jung gefreit

Komplettausgabe

Nataly von Eschstruth

Jung gefreit

Komplettausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962810-92-4

null-papier.de/490

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX

XXI.

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

I.

»Hast du auch al­les Hand­ge­päck, Sa­lo­me? Vier Stück zähl­te der Por­tier in die Drosch­ke – lass se­hen, ein Schirm­pa­ket –«

»Hier – Tan­te Klär­chen sitzt dar­auf!«

Ein lei­ser Schrei im höchs­ten Dis­kant. Tan­te Klär­chen schnell­te em­por, dass sich ihr stol­zer Schel­len­baum von Strauß­fe­dern auf dem Hut an dem Wa­gen­dach rund wie eine Neu­ne bog.

»Ich sit­ze dar­auf? – Gott sei Dank, es hat kein Mal­heur ge­ge­ben!« –

»Nein, al­les in Ord­nung, dei­ne fünf­und­fünf­zig Pfund kni­cken kei­nen Bam­bus!« – Die Spre­che­rin, eine stol­ze, im­po­sant wuch­ti­ge Er­schei­nung mit leicht er­grau­tem Lo­cken­haar über der Stirn, sah mit ei­nem leicht spöt­ti­schen Lä­cheln auf die ha­ge­re Schwes­ter nie­der, die sie ihr Le­ben lang als »Nest­puttch« – oder »sit­zen­ge­blie­be­nen Pud­ding« ver­höhn­te. Klär­chen streck­te die spit­ze Nase und das spit­ze Kinn noch spit­zer vor und be­merk­te an­züg­lich: »Nein, eben­so­we­nig wie dei­ne zwei­hun­dert­fünf­und­fünf­zig Pfund je­mals eine Lin­de oder Ei­che kni­cken konn­ten, lie­be Erna!« –

Die lie­be Erna wur­de kirsch­rot vor Zorn, so­wohl im Ge­dan­ken an ihre ehe­ma­li­gen treu­lo­sen Ver­eh­rer, den Leut­nant von Lin­de und den As­ses­sor Eich­berg, als auch über die Takt­lo­sig­keit der Schwes­ter, an die­se schmerz­li­chen Punk­te ih­res Le­bens zu rüh­ren. Sie steck­te die Hän­de mit stram­mem Ruck in die Ta­schen ih­res Sport­jacketts und warf den al­ten Kopf mit dem ju­gend­li­chen Jä­ger­hüt­chen her­aus­for­dernd in den Na­cken.

»Kni­cken konn­te? Nicht kni­cken woll­te, meinst du wohl, klei­ne Gift­krö­te?« – fuhr sie mit ih­rer tie­fen Stim­me auf: »Es ist al­ler­dings ein bil­li­ges Mit­tel für den Neid – – –«

Sie ver­stumm­te und schnell­te nach der an­dern Sei­te her­um. Ihre Nach­ba­rin, eine tief ver­schlei­er­te non­nen­haft in grau gehüll­te Er­schei­nung, hat­te sie in den Arm ge­knif­fen. – »Me­na­giert euch –« klang es ton­los hin­ter der un­durch­sich­ti­gen Gaze her­vor, »wir sind nicht al­lein.«

Und der Kopf der Spre­che­rin mach­te eine fei­er­li­che Be­we­gung ge­gen das jun­ge, zu­erst an­ge­re­de­te Mäd­chen, das ne­ben Tan­te Klär­chen auf dem Vor­der­sitz der Drosch­ke saß.

Sa­lo­me schi­en aber gar nicht be­ach­tet zu ha­ben, welch ein Kampf ne­ben ihr zu ent­bren­nen droh­te, sie neig­te das ro­si­ge Ge­sicht­chen un­ter dem ele­gan­ten, sehr ein­fa­chen Rei­se­hut dicht an das Wa­gen­fens­ter, und schi­en in schwär­me­ri­sches Be­wun­dern der präch­ti­gen Ma­ga­zi­ne und La­den­fens­ter ver­sun­ken.

»Also das Schirm­pa­ket ist da!« fuhr Erna, die Waf­fen stre­ckend fort, warf ih­rem Ge­gen­über Klär­chen noch einen ver­nich­ten­den Blick zu, und nahm sich vor, sie nach­her beim Aus­s­tei­gen tüch­tig auf die Füße zu tre­ten. »Nr. 2 war eine klei­ne Hand­ta­sche, wo ist sie?«

Sa­lo­me schlug die blau­en Au­gen sin­nend auf. »Hier un­ten, vor mei­nen Fü­ßen steht sie, lie­be Tan­te«, sag­te sie, weich und mild wie Früh­lings­we­hen.

»Bon, und die Hutschach­tel?«

»Bei dem Kut­scher drau­ßen auf dem Bock.«

»Aber es wa­ren vier Ge­päck­stücke!«

»Ge­wiss! Das Pa­ket aus der Buch­hand­lung, das du für Tan­te Si­do­nie mit­brin­gen soll­test?«

»Rich­tig – ein klei­nes Buch schi­en es … mein Gott, wo mag es hin­ge­ra­ten sein?«

»Steht mal alle auf!«

»Un­mög­lich, Erna – jetzt, in der en­gen Drosch­ke!«

»Willst du sie erst auf den Leis­ten schla­gen las­sen? Noch gib­t’s die Har­mo­ni­ka­drosch­ken erst in den flie­gen­den Blät­tern!«

»Au! Erna! – Toll­patsch! – Tram­pe­le mir doch nicht so mit den Ele­fan­ten­hu­fen auf den Fü­ßen her­um!« em­pör­te sich Klär­chen, be­reits jetzt schon der Ra­che der di­cken Schwes­ter zum Op­fer fal­lend.

»Ele­fan­ten­hu­fe!! – Glaubst du, die in­di­sche Ka­val­le­rie lie­ße die Dick­häu­ter be­schla­gen? Al­ler­dings – wenn man es im Le­ben nur bis zur zwei­ten Klas­se ge­bracht hat –«

»Bes­ser als wie in Fett und Weis­heit zu er­sti­cken!«

Aber­mals wog­te der graue Ga­ze­schlei­er mah­nend auf. – »Bit­te, me­na­giert euch. – Euer Streit schafft das Buch nicht her­bei. – Habt ihr es ge­fun­den?«

»Nein!«

Sa­lo­me ver­gaß alle ihre Schwär­me­rei und tas­te­te mit ner­vö­ser Hast um­her. – »O Him­mel, es wäre schreck­lich! Tan­te Si­do­nie ver­zeiht es mir ja nie, sie ist so son­der­bar – hält al­les für böse Ab­sicht – und Mama ließ in ih­rem Brie­fe durch­bli­cken, dass Tan­te Si­do­nie das Buch ge­wiss zum Kon­fir­ma­ti­ons­ge­schenk für Rose be­stimmt hat!!«

»Selbst­ver­ständ­lich, wie­der ir­gend­ein so ent­setz­lich from­mer Schmö­ker! Sol­chen Un­sinn dreht sie je­dem ih­rer un­glück­li­chen Pa­ten­kin­der zur Kon­fir­ma­ti­on an!«

»Erna! – Un­ter­lass sol­che scham­lo­se Be­mer­kun­gen!« Die graue Non­nen­ge­stalt an ih­rer Sei­te wur­de plötz­lich le­ben­dig: »Du weißt, dass du mit dei­nem Spott über Si­do­nies from­me Rich­tung auch mich be­lei­digst!«

Klär­chen nick­te tri­um­phie­rend Bei­fall, Erna aber zog eine ih­rer der­ben Gri­mas­sen und lach­te hart auf: »Na ja! Ihr habt ja bei­de den­sel­ben Spar­ren, Par­don – das hat­te ich ver­ges­sen! – Na, da wirst du dies­mal auf dem Ge­bet­büch­lein sit­zen und es an­däch­tig aus­brü­ten! – Sieh da … ha­ha­ha … da hast du es ja hübsch an­ge­wärmt – – edle See­len fin­den sich! … Ha­ha­ha … Hier, Sa­lo­me! Klär­chen be­sitz­t das Ü­ber­spann­te und Mar­tha mit dem Trä­nen­blick das From­me! – Wenn ich als Kind et­was aus­wen­dig ler­nen woll­te, leg­te ich mir das Buch un­ter den Kopf – Mar­tha scheint eine an­de­re Metho­de zu ha­ben – si­cher­lich die, die gleich ›vor- und rück­wärts‹ aus­wen­dig her­sa­gen lässt!«

Erna warf sich in den Wa­gen zu­rück und be­lach­te ihre Wit­ze mit dröh­nen­der Stim­me, Klär­chen schoss vor und tu­schel­te über Sa­lo­me her­über et­was in das Ohr der Ver­schlei­er­ten, de­ren Hän­de wie im Fie­ber beb­ten.

Das jun­ge Mäd­chen aber nahm hoch­au­fat­mend das ver­sie­gel­te Buch in Empfang, zerr­te ihre Hand­ta­sche em­por und schloss es vor­sich­tig dar­in ein.

Jetzt hielt der Wa­gen.

Er bil­de­te erst ein paar Mi­nu­ten in der Rei­he der an­fah­ren­den Drosch­ken vor der Bahn­hofs­hal­le Spa­lier, dann riss ein Dienst­mann den Schlag auf und rief: »Wol­len die Da­men noch mit dem Schnell­zug ›Hal­le-Ber­lin‹ mit? Dann aber marsch, marsch, hur­ra! Sonst pfeift er Ih­nen vor der Nase weg!« –

»Um Him­mels wil­len – ich muss noch mit­fah­ren!« schrie Sa­lo­me ent­setzt auf – »ach bit­te, bit­te, hel­fen Sie!«

»Schon so spät? – Selbst­ver­ständ­lich, Erna muss­te ja erst noch eine Stun­de lang Löck­chen bren­nen!«

»Und Fräu­lein Klä­re früh­stück­te erst – als ob sie sechs Wo­chen fas­ten soll­te –.«

»Nichts­wür­di­ge Ver­leum­dung!«

»Und das hei­li­ge Mar­th­chen sang noch eine Mor­ge­n­an­dacht –.«

»Em­pö­rend! – Ich sage dir, Erna –«

»Ja, mei­ne Da­men, wenn Sie erst noch eine Stun­de lang strei­ten wol­len, ist der Zug schon in Kas­sel, bis Sie ein­stei­gen!«

Sa­lo­me fass­te den Spre­cher be­schwö­rend am Arm.

»Wo ist der Bil­lett­schal­ter, lie­ber gu­ter Herr Dienst­mann?« – jam­mer­te sie, und ihre blau­en Au­gen stan­den vor Angst hoch un­ter Was­ser.

»Kom­men Sie mal mit, Fräu­lein­chen – he! Kon­rad, mal flink das Ge­päck hier – und nun vor­wärts, vor­wärts, mei­ne Da­men!«

Die drei streit­ba­ren al­ten Schwes­tern schos­sen in ih­rer Wut und Eile jede nach ei­ner an­dern Rich­tung da­von – hiel­ten nach et­li­chen Schrit­ten und stürm­ten Sa­lo­me und dem Dienst­mann nach, denn jede war ei­fer­süch­tig auf die an­de­re und woll­te ihr nicht das Ver­dienst gön­nen, die jun­ge Nich­te »sorg­lich und auf­op­fernd« be­hü­tet und spe­diert zu ha­ben.

Noch ein­mal ent­brann­te vor dem Bil­let­schal­ter der Kampf, wer die Fahr­kar­te für das »Kind« lö­sen soll­te, aber Sa­lo­me hat­te schon ihr Por­te­mon­naie in die Hand des Dienst­man­nes ge­drückt, und als Mar­tha mit dem Recht der Äl­tes­ten den bei­den an­de­ren Ohr­fei­gen an­bot, tauch­te der blaue Kit­tel der bra­ven Num­mer 25 schon wie­der vor ih­nen auf und hän­dig­te Sa­lo­me das Bil­lett ein.

»Nun zum Ge­päck! Kom­men Sie mal im­mer mit, Fräu­lein­chen! Alle Wet­ter! Wozu ha­ben Sie denn die drei al­ten Kol­lis zur Über­fracht hier­her mit­ge­bracht?« lach­te er in den Bart – »die Da­men sind ja viel zu cho­le­risch für so knap­pe Zeit! – Las­sen Sie den Spek­ta­kel nur hin­ter sich – viel­leicht ha­ben wir Glück und ver­lie­ren sie im Ge­drän­ge!«

Die­se Hoff­nung war eine eit­le. Die drei Tan­ten flat­ter­ten in wil­der Hast hin­ter dem, ih­rem Schut­ze an­ver­trau­ten Kü­ken her, und wa­ren Gott­lob in dem Sta­di­um al­ler­höchs­ten Zorns, in dem sie sich nicht mehr die Ehre ei­nes Wor­tes an­ta­ten.

Und end­lich stand man vor dem Zug, an dem der Schaff­ner schon die Tü­ren schloss.

Zum ers­ten Mal wa­ren die Tan­ten ei­nig: »In ein Da­men­coupé!« – schri­en sie im Chor.

Da­men­coupé! – Sa­lo­me seufz­te auf, aber sie flog dem win­ken­den Schaff­ner ent­ge­gen und sprang in den Wa­gen.

Leer! – Gott­lob leer!

Die Tan­ten ka­men keu­chend nach. – Sa­lo­me trat an das of­fe­ne Fens­ter und woll­te noch ein­mal für alle Güte und Gast­freund­schaft dan­ken – da pfiff es be­reits.

»Kind, ver­giss nicht, du musst in Mer­se­burg um­stei­gen!« – rief Tan­te Mar­tha mit gel­len­der Stim­me, und die bei­den an­de­ren är­ger­ten sich, die­se War­nung ver­ges­sen zu ha­ben und wie­der­hol­ten im höchs­ten Ei­fer: »In Mer­se­burg um­stei­gen!«

»Ich sag­te es dir ja schon vor­hin!« – setz­te Erna voll Tri­umph hin­zu.

»Ges­tern Abend mach­te ich dich schon dar­auf auf­merk­sam!« – über­bot Klär­chen sie voll gif­ti­ger Iro­nie.

»Lüg’ doch nicht so –«

»Ich lüge nicht – aber ge­wis­se an­de­re Leu­te.«

Die Spre­che­rin­nen ver­stumm­ten – ein Herr ging lang­sam an ih­nen vor­über und mus­ter­te sie.

Wie mit ei­nem Zau­ber­schla­ge ver­wan­del­ten sich die hass­fun­keln­den Au­gen und bö­sen Mie­nen.

»Tau­send Grü­ße zu Haus, mein Lieb­ling! Hof­fent­lich hast du dich in un­se­rem trau­li­chen Nest­chen wohl­ge­fühlt!«

»Es war rei­zend bei euch, Tant­chen!« stot­ter­te Sa­lo­me und fühl­te, wie sie bei die­ser Lüge dun­kel­rot wur­de.

»Komm bald wie­der zu uns Ver­las­se­nen – Ein­sa­men!« flö­te­te Klär­chen sen­ti­men­tal.

»Und be­stell’ Rose mei­ne treues­ten Se­gens­wün­sche zur Kon­fir­ma­ti­on – mein Ge­bet ist bei ihr!« hauch­te die Non­ne Mar­tha sal­bungs­voll.

»Zur Kon­fir­ma­ti­on kom­me ich nicht! Aber zu dei­ner Hoch­zeit, Klei­ne!« lach­te Erna forsch; »ich bin mehr fürs Hei­ra­ten!«

»Das merkt man!« – zisch­te Klär­chen heim­lich: »Willst du dem Herrn da drü­ben nicht gleich einen Hei­rats­an­trag ma­chen?!«

»Nein – wenn du ne­ben mir stehst, nimmt er mich nicht – dein An­blick verdirbt den Ge­schmack an dem Ewig­weib­li­chen!«

Sa­lo­me wand­te aber­mals das Köpf­chen dis­kret von die­ser un­er­quick­li­chen Sze­ne ab. Gott­lob – die Pfei­fen schrill­ten, der Zug ruck­te an.

»Also in Mer­se­burg um­stei­gen!« – tön­te es ihr noch ein­mal drei­stim­mig nach – und das letz­te, was das jun­ge Mäd­chen von den Tan­ten sah, war de­ren zor­ni­ge Über­ra­schung, den Ruhm die­ses ge­wich­ti­gen Be­fehls aber­mals mit den an­de­ren tei­len zu müs­sen. Sa­lo­me trat hoch­au­fat­mend zu­rück und sank in die Wa­gen­e­cke nie­der.

Sie press­te einen Mo­ment die schlan­ken Händ­chen ge­gen die Stirn, als wol­le sie alle Ge­dan­ken, die wäh­rend des kur­z­en Auf­ent­halts im Hau­se der Tan­ten wie scheue Vög­lein da­von­ge­flat­tert wa­ren, wie­der sam­meln.

Es war über­stan­den – die schreck­li­che Zeit bei die­sen ewig zan­ken­den, fried- und freud­lo­sen drei al­ten Da­men lag hin­ter ihr. Nur zwei Tage wa­ren es ge­we­sen, aber Sa­lo­me wa­ren de­ren Stun­den so lang ge­wor­den, als ob es Jah­re ge­we­sen sei­en, und wenn ihr der Be­griff »un­ver­hei­ra­tet sein« – schon in der Pen­si­on ein recht be­ängs­ti­gen­der ge­we­sen, der Auf­ent­halt im Hau­se der Tan­ten hat­te ihn zum Schreck­ge­spenst ge­macht. Sa­lo­me war noch viel zu jung, um schon die Aus­nah­men ei­ner Re­gel er­fas­sen zu kön­nen. Das un­glück­li­che Ver­hält­nis, in dem die drei un­ver­hei­ra­te­ten Tan­ten leb­ten, und die dar­aus ent­sprin­gen­de Sucht, ei­nem sol­chen un­er­träg­li­chen Zu­sam­men­le­ben noch jetzt durch eine Hei­rat zu ent­rin­nen, er­ach­te­te das Pen­si­ons­back­fisch­chen als Il­lus­tra­ti­on zu jed­we­dem al­ten Jung­fern­da­sein.

Hät­te sie Ge­le­gen­heit ge­habt, in so manch trau­li­ches be­hag­lich schö­nes Alt­jung­fern­stüb­chen zu schau­en, wo die Blu­men am Fens­ter in ewi­gem Früh­ling duf­ten, wo es hin­ter blan­ken Bron­ze­stä­ben zwit­schert und flö­tet und über­all sicht­bar ein Geist der Lie­be und des Frie­dens wal­tet – sie hät­te das Ge­sicht­chen nicht so schau­dernd in die Pols­te­r­e­cke der Ei­sen­bahn ge­drückt. Und hät­te sie gar in manch ele­gan­ten Sa­lon ge­schaut, wo bei Ker­zenglanz und üp­pi­gem Be­ha­gen eine Schar hei­te­rer Gäs­te schwelgt, wo sich bes­tern­te Ex­zel­len­zen vor ei­ner al­ten Jung­fer nei­gen, wo Leut­nants bei schäu­men­dem Sekt­glas für die »fa­mo­se alte Re­gi­ment­stan­te« schwär­men und die jun­gen Mäd­chen be­geis­tert die wel­ken Hän­de ih­rer grau­haa­ri­gen Freun­din küs­sen, die trotz ih­rer Jah­re mit der Ju­gend jung sein und füh­len kann – sie hät­te viel­leicht die blau­en Au­gen über­rascht auf­ge­sperrt und la­chend ge­ru­fen: »Solch ein Alt­jung­fern­le­ben las­se ich mir ge­fal­len! Das ist ja ent­zückend und lockt zur Nach­ah­mung!«

Aber Sa­lo­me hat­te we­der den ein­sa­men Frie­den ei­nes Er­ker­stüb­chens, noch die le­bens­fro­he, gast­li­che Hei­ter­keit ei­nes ele­gan­ten Hau­ses ken­nen­ge­lernt, in dem eine alte Jung­fer es der Welt be­weist, dass in vie­len Fäl­len »hei­ra­ten gut – aber nicht hei­ra­ten noch bes­ser ist!«

Sa­lo­me war in ei­ner Schwei­zer Pen­si­on er­zo­gen. Die Ver­hält­nis­se in ih­rem El­tern­hau­se hat­ten es sei­ner­zeit be­dingt, dass das jun­ge Mäd­chen den letz­ten »Schliff der hö­he­ren Toch­ter« fern­ab von ih­rem El­tern­hau­se er­hielt.

Ihr Va­ter stand der­ma­len als Ma­jor in ei­ner klei­nen Gar­ni­son, die we­nig Ge­le­gen­heit bot, eine jun­ge Dame in all den vie­len nütz­li­chen und un­nüt­zen Wis­sen­schaf­ten aus­zu­bil­den, die man­che mo­der­ne Mut­ter für die Bil­dung ih­rer Töch­ter als not­wen­dig er­ach­tet.

Auch Frau von Wel­fen er­klär­te ih­rem Gat­ten mit dem sanf­tes­ten Au­gen­auf­schlag und ih­rem un­wi­der­steh­lich lie­bens­wür­di­gen Lä­cheln, dass man sich wohl oder übel der all­ge­mei­nen Rich­tung an­schlie­ßen und Sa­lo­me für et­li­che Jah­re in Pen­si­on schi­cken müs­se.

»Aber warum denn, Dora?« seufz­te kopf­schüt­telnd ihr Mann. »Du bist doch sonst ein so ver­nünf­ti­ges, un­be­ein­fluss­tes, klu­ges Frau­chen, das sich nie­mals von der när­ri­schen Mode Ge­set­ze dik­tie­ren ließ, warum wur­dest du mit ei­nem­mal ihr Skla­ve?!«

Frau Dora zog den Spre­cher ne­ben sich auf das Sofa nie­der und blick­te ihn mit den schö­nen, see­len­vol­len Au­gen nach­denk­lich an. – »Ja, warum, Ernst! – Das habe ich mich sel­ber oft ge­fragt, in der Hoff­nung, mir die so sehr un­lieb­sa­me und un­sym­pa­thi­sche An­for­de­rung der Mode aus­re­den zu kön­nen, denn eine Mo­de­sa­che und nichts an­de­res sind die­se lei­di­gen Pen­sio­nen, die ein Kind dem El­tern­hau­se ent­frem­den. Aber ich bin im­mer zu dem­sel­ben Re­sul­tat ge­kom­men. Die klei­nen Ver­hält­nis­se un­se­rer hie­si­gen Ge­sel­lig­keit zwin­gen uns dazu. Alle an­de­ren jun­gen Mäd­chen sind in Pen­sio­nen ge­schickt, ehe die eit­len Müt­ter sich ent­schlos­sen, sie aus­zu­füh­ren, und die Kin­der ka­men mit ei­ner so be­ste­chen­den und blen­den­den ›Po­li­tur‹ zu­rück, dass es für un­se­re ein­fach er­zo­ge­ne Sa­lo­me gar nicht mög­lich wäre, im Kü­chen­schürz­chen ne­ben die­sen Sa­lon­da­men zu be­ste­hen. Wir bei­den Al­ten ha­ben lei­der kei­ne Ta­len­te. Wo soll­te un­se­re Äl­tes­te es ler­nen zu sin­gen, zu ma­len, Spra­chen zu spre­chen und mit sons­ti­gem Wis­sen und an­dern schö­nen Küns­ten zu bril­lie­ren, wenn wir sie nicht dar­in un­ter­rich­ten las­sen?«

»Ma­len – sin­gen – schnit­zen – pun­zen und dau­sen­der­lei Ge­lehr­sam­kei­ten, die eine bra­ve Mut­ter und Haus­frau nie nö­tig hat.«

»Ganz recht, Männ­chen! Auch ich hal­te die meis­ten die­ser Kunst­stück­chen, die­ses ›von al­lem et­was und von al­lem nichts‹ für sehr über­flüs­si­gen Bal­last bei ei­nem Mäd­chen, das bei un­se­ren heu­ti­gen so­zia­len Ver­hält­nis­sen mehr denn je eine gute Haus­frau sein muss, um ih­ren Haus­stand wa­cker und ver­ständ­nis­voll durch all die na­men­lo­sen An­sprü­che und An­for­de­run­gen der heu­ti­gen Zeit zu la­vie­ren. Sa­lo­me ist ein so emp­find­sa­mes und mi­mo­sen­haf­tes Ge­müt, dass sie es nicht er­tra­gen wür­de, geis­tig und künst­le­risch weit hin­ter ih­ren Al­ters­ge­nos­sin­nen zu­rück­zu­ste­hen. Und das wür­de der Fall sein, wenn ihre Freun­din­nen al­les kön­nen, und sie sel­ber nichts. Sie könn­te uns mit Recht Vor­wür­fe ma­chen, dass wir ihre Aus­bil­dung ver­nach­läs­sigt ha­ben, und einen sol­chen Vor­wurf ei­nes Kin­des wür­de ich nicht er­tra­gen. Wie ge­sagt, die Ver­hält­nis­se hier sind zu eng und klein. – Das Her­ge­brach­te schreibt hier die Ge­set­ze, und sich ih­nen ent­zie­hen, hie­ße dem Kin­de den Grund und Bo­den un­ter den Fü­ßen neh­men. Sie möch­te Din­ge, die sie in der Ge­sel­lig­keit ei­ner Groß­stadt nie be­geh­ren wür­de, sehr schmerz­lich hier ver­mis­sen, denn in un­serm Städt­chen be­darf der ge­sel­li­ge Ver­kehr viel äu­ße­rer An­re­gungs­mit­tel, um er­träg­lich zu sein. Was soll­ten wir bei all den Abend­ge­sell­schaf­ten schließ­lich noch an­fan­gen, wenn Fräu­lein von Hauf nicht Zither – Lor­chen nicht Kla­vier – El­schen nicht Gei­ge spiel­te! – Wenn nicht ge­sun­gen und de­kla­miert, nicht Thea­ter auf­ge­führt wür­de und geist­rei­che Spie­le Ge­le­gen­heit bö­ten, Schul­kennt­nis­se zur Schau tra­gen zu kön­nen!«

Frau von Wel­fen hielt lä­chelnd inne und sah ih­ren Mann for­schend an: »Du wür­dest es ja sel­ber am we­nigs­ten er­tra­gen, Al­ter­chen, wenn dein Lieb­ling als ein un­ge­schick­tes Gäns­chen be­spöt­telt und über die Ach­seln an­ge­se­hen wür­de.«

Nein, der Ma­jor hät­te es al­ler­dings nicht er­tra­gen, das sah man schon sei­nem grim­mi­gen Ge­sicht an, das er bei den letz­ten Wor­ten sei­ner Frau mach­te. Und so kam es, dass Sa­lo­me nach Lau­san­ne in ein Pen­sio­nat ge­schickt wur­de.

Sie schrieb ent­zück­te Brie­fe. Al­les in der neu­en Um­ge­bung mach­te ihr Freu­de, so­gar das Ler­nen. Und die­se Freu­de am Flei­ßig­s­ein war es, die die El­tern be­stimm­te, sie auch fer­ner dort zu las­sen, als sich die Ver­hält­nis­se im Hau­se des Ma­jors ganz un­er­war­tet än­der­ten. Er erb­te ein schö­nes, schul­den­frei­es Rit­ter­gut. Er er­hielt es, wie man das große Los ge­winnt, un­ver­mu­tet – über Nacht.

Sein Pa­ten­on­kel hat­te durch meh­re­re, schnell auf­ein­an­der­fol­gen­de Un­glücks­fäl­le drei blü­hen­de Söh­ne in das Grab sin­ken se­hen. Die ein­zi­ge Toch­ter leb­te in kin­der­lo­ser Ehe, wur­de Wit­we und krän­kel­te; ein in­ne­res Lei­den griff un­auf­halt­sam um sich und schloss jede Hoff­nung auf Ge­ne­sung aus. Da hat­te der tief­ge­beug­te alte Mann sei­nes Pa­ten ge­dacht, und den Ma­jor von Wel­fen zum Er­ben des Grund­be­sit­zes ein­ge­setzt.

Und der denk­wür­di­ge Tag kam, an dem der Va­ter Sa­lo­mes ein Ge­richts­schrei­ben in der Hand hielt, das ihn zum Rit­ter­guts­be­sit­zer mach­te. Er be­griff die­ses Glück kaum, er, der sein Le­ben lang in zwar wohl­ge­ord­ne­ten, aber doch sehr be­schei­de­nen Ver­hält­nis­sen ge­lebt hat­te. – Sei­ne Ge­sund­heit war seit dem Feld­zu­ge nicht im­mer die bes­te ge­we­sen, und da er viel prak­ti­schen Sinn und An­la­ge für spar­sa­me Öko­no­mie hat­te, folg­te er dem Wun­sche sei­ner Frau, nahm den Ab­schied und sie­del­te in die neue Hei­mat, das herr­lich ge­le­ge­ne Je­se­ritz, über.

Wohl fiel es Frau Dora un­end­lich schwer, die äl­tes­te Toch­ter auch jetzt noch ent­beh­ren zu müs­sen, sie mach­te den Ver­such und re­de­te Sa­lo­me zu, heim­zu­kom­men; aber selbst die in­ter­essan­te Neu­heit des Gu­tes konn­te den Zau­ber von Lau­san­ne nicht bre­chen.

In fle­hen­den Brie­fen bat sie die El­tern, ih­ren Auf­ent­halt in der Pen­si­on nicht ab­zu­kür­zen.

»Lola von Men­tsi­koff, Kit­ty Ail­way und die ent­zücken­de klei­ne Pa­ri­se­rin Ju­li­et­te Co­lom­bier blei­ben auch noch ein und ein hal­b­es Jahr hier! Wir kön­nen uns nicht tren­nen, wir sind so sehr, sehr glück­lich zu­sam­men, und un­ser Le­ben in dem Pen­sio­nat ist so un­ver­gleich­lich schön! Sei nicht böse, lie­bes, lie­bes Herz­mutt­chen – und du auch nicht, Vä­ter­chen! Weih­nach­ten kom­me ich ja sechs Wo­chen zu euch – wenn ihr wollt, auch acht –- und dann brin­ge ich mei­ne Bil­der mit, mei­ne ers­ten Öl­bil­der, von de­nen Mr. le pro­fes­seur sagt, sie sind Pro­ben ei­nes sel­te­nen Ta­len­tes! – Oh, und mei­ne Stim­me! – Sie ent­wi­ckelt sich so gut, ich sin­ge schon schwe­re Ari­en – Ko­lo­ra­tur – auch Ora­to­ri­en! Wie freue ich mich, in der Dorf­kir­che mit Beglei­tung der Or­gel das ›Ah ri­vol­gi o cas­ta diva! fau­sto il ciglio à voti miei!‹ zu sin­gen! Ihr sollt Eure Freu­de dar­an ha­ben! Auch mein gött­li­ches, son­ni­ges, won­ni­ges Lau­san­ne! Es gibt nichts Schö­ne­res, als auf den See, den blau­en, flim­mern­den hin­aus­zu­träu­men, als die wei­che Luft die­ses Pa­ra­die­ses zu at­men, als den gan­zen un­be­schreib­li­chen Zau­ber sol­cher un­ver­gleich­li­chen Stadt zu ge­nie­ßen!«

Frau Dora ließ mit tie­fem Auf­seuf­zen den Brief sin­ken. Sa­lo­me war eine sehr sen­si­ble, schwär­me­risch ver­an­lag­te Na­tur, leicht be­ein­flusst und sehr emp­fäng­lich für die Ein­drücke, die ihr im­po­nie­ren oder ihre Sen­ti­men­ta­li­tät an­re­gen.

Woll­te man sie jetzt mit Ge­walt zu­rück­ho­len, wür­de sie zeit­le­bens an der Sehn­sucht nach dem ver­lo­re­nen Pa­ra­die­se kran­ken, sie wür­de die Sehn­sucht der El­tern als grau­sa­men Ego­is­mus emp­fin­den und stets im Her­zen vor­wurfs­vol­len Groll he­gen, dass man sie mit­ten aus dem bes­ten Ler­nen und Stu­die­ren her­aus­ge­ris­sen. Nein, Frau von Wel­fen war eine zu klug und lo­gisch den­ken­de Frau, um nicht der Ei­gen­art ih­rer Toch­ter ge­recht zu wer­den.

»Sa­lo­me muss frei­wil­lig und gern in ihr El­tern­haus zu­rück­kom­men, sonst wird es nicht zum Se­gen für sie … Ver­las­sen ihre Freun­din­nen das Pen­sio­nat, kehrt auch sie un­ge­zwun­gen und dank­bar zu­rück.«

Frau Dora hat­te nie viel Sym­pa­thie für Mäd­chen­pen­sio­na­te ge­habt. Ein er­klär­li­ches Ge­fühl müt­ter­li­cher Ei­fer­sucht misch­te sich jetzt noch in die­sen Wi­der­wil­len, ge­paart mit der Ei­tel­keit ei­ner gu­ten Haus­frau, die ihre Toch­ter nicht nur von frem­den Leh­rern in der Kunst, son­dern mit ei­ge­nen Hän­den und ei­ge­nem Wis­sen in den eben­so wich­ti­gen Fä­chern des Haus­hal­tes aus­bil­den will.

Sa­lo­me hat­te sie von sich ge­ben müs­sen – ih­ren klei­nen Lieb­ling, ihr Nest­häk­chen, die fri­sche, la­chen­de Rose wür­de sie nie und nim­mer in die Welt hin­aus­schi­cken. Von ihr trenn­te sie sich nicht.

Wenn die äl­tes­te Toch­ter mit all den schö­nen, idea­len Küns­ten aus­ge­stat­tet, heim­kehr­te, soll­te Rose ihr zei­gen, dass es auch eine gar treff­li­che Kunst ist, einen gu­ten Bra­ten, Fisch und Pud­ding auf die Ta­fel zu lie­fern, einen Haus­halt zu re­gie­ren und im Lei­nen­schrank bes­ser Be­scheid zu wis­sen als un­ter den Klas­si­kern im Bü­cher­spind.

Gott sei Lob und Dank, Rose kam all den Wün­schen der Mut­ter mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men ent­ge­gen.

Nichts war dem wil­den, über­mü­tig fri­schen Mä­del lie­ber, als in Haus und Hof her­um­zu­wirt­schaf­ten. Die Schul­bü­cher hass­te sie eben­so in­nig wie die Gou­ver­nan­te, die sie da­mit ver­sorg­te; aber in der Kü­che, im Kuh- und Hüh­ner­stall, im Kel­ler und auf dem Bo­den war sie in ih­rem Ele­ment.

Nie­mand hat­te sich mehr über die neue Guts­hei­mat ge­freut als Rose. Haus, Gar­ten und Feld wa­ren ihr Wir­kungs­kreis, und moch­te Sa­lo­me in noch so über­schweng­lich fan­tas­ti­schen Bil­dern von Lau­san­ne schwär­men – Rose rümpf­te spöt­tisch das Näs­chen und reck­te mit bu­ben­haf­ter Ener­gie die run­den Arme. – »Ich käme um in all dem poe­ti­schen Sch­nick­schnack! Eben­so gräss­lich schön wie Sa­lo­mes Brie­fe duf­ten – riecht es ge­wiss in dem gan­zen Lau­san­ne!… Ve­ran­da sit­zen – ma­len… sin­gen … Kon­zer­te … fran­zö­sisch plap­pern … Pfui Dei­wel! – Da lobe ich mir hier mei­ne Frei­heit ohne Lack­schu­he und Glacéhand­schu­he! Mut­ter­chen, wenn du es mir je­mals an­tun wür­dest, mich in den Pen­si­ons­kä­fig zu sper­ren – ich sprän­ge am ers­ten Tage schon in den See!«

Frau Dora küss­te zärt­lich und glück­se­lig ihre wil­de, klei­ne Hum­mel, aus de­ren strah­len­den Au­gen die gan­ze süße Kind­lich­keit ei­ner un­ver­dor­be­nen Na­tur lach­te. Um die­ser wei­chen Arme wil­len, die sich so un­ge­stüm und doch so zart um ih­ren Na­cken schlan­gen, um die­ser ro­ten Lip­pen wil­len, die über­mü­tig keck und den­noch über­quel­lend von Lie­be ver­si­cher­ten: »Ich gehe nie von dir fort, Mama – nie!« – ver­zieh sie ih­rer Äl­tes­ten, dass ihr Lau­san­ne lie­ber ge­wor­den war als die Hei­mat.

Sa­lo­me hat­te sich et­was von ih­rer Auf­re­gung er­holt und tiefau­fat­mend den wei­chen Filz­hut von den gold­blond lo­cki­gen Haa­ren ge­zo­gen.

Die Hän­de fest in­ein­an­der­ge­schlun­gen saß sie ein Weil­chen re­gungs­los da, nur er­füllt von dem be­se­li­gen­den Ge­fühl, dem ent­setz­li­chen Hau­se der drei Tan­ten ent­ron­nen zu sein.

Welch ein un­er­träg­li­cher Kon­trast zu Lau­san­ne! Dort al­les zar­tes­te Fein­heit und Ele­ganz, idea­le Freund­schaft, Hei­ter­keit und Le­bens­lust, Ju­gend und Froh­sinn in­mit­ten ei­ner zau­be­ri­schen Na­tur, und hier bei den Tan­ten schau­er­li­che Pro­sa, Zank und Streit, sa­lop­pe Neg­ligés und Pa­pil­lo­ten, Herrsch­sucht, Neid und Bos­heit – und ver­steckt hin­ter dem al­len die fie­ber­haf­te Sucht, trotz der vor­ge­schrit­te­nen Jah­re noch zu hei­ra­ten.

Der Wech­sel war ein zu schrof­fer ge­we­sen, um nicht auf Sa­lo­mes wei­ches Ge­müt den Ein­druck des Un­ge­heu­er­li­chen, Uner­träg­li­chen zu ma­chen! Die Ab­schied­strä­nen hat­ten ihre Au­gen so­wie­so schon ver­schat­tet, dar­um sa­hen sie al­les kohl­pech­ra­ben­schwarz, was ih­nen sonst nur grau –- ja bei ei­ni­gem gu­ten Hu­mor viel­leicht ganz spaß­haft er­schie­nen wäre.

Aber Sa­lo­me sah nur die Exis­tenz drei­er al­ten Jung­fern, und der Ein­druck, den sie da­von emp­fing, nähr­te die et­was über­spann­ten und ro­man­haf­ten An­sich­ten, die sie im Ver­kehr mit den in­ter­na­tio­na­len Freun­din­nen zu den ih­ren ge­macht hat­te.

Der Ein­fluss die­ser Freun­din­nen war nicht ge­ra­de der bes­te ge­we­sen. Na­ment­lich die klei­ne Fran­zö­sin trug viel un­ge­sun­de Pa­ri­ser Luft in das Zim­mer­chen der drei Pen­sio­nä­rin­nen. Sie war es, die die Ei­tel­keit nähr­te, ober­fläch­li­che und so­gar et­was fri­vo­le Pas­sio­nen kul­ti­vier­te und den na­tür­li­chen und idea­len Sinn ih­rer Ge­nos­sin­nen verd­arb. All­zu stren­ge war die Auf­sicht in der Pen­si­on nicht, denn die In­ha­be­rin hul­dig­te dem be­kann­ten Prin­zip, dass der Zweck die Mit­tel hei­li­ge. Je bes­ser es den jun­gen Mäd­chen bei ihr ge­fiel, de­sto län­ger blie­ben sie, de­sto mehr schwärm­ten sie für ih­ren Auf­ent­halt und tru­gen Lob in die Welt hin­aus.

Sie drück­te ein Auge zu – und die zu­meist fran­zö­si­schen Leh­re­rin­nen lä­chel­ten, wenn Stu­den­ten oder in­ter­essan­te Tou­ris­ten mit der Keck­heit un­be­kannt Rei­sen­der vor der Vil­la Fens­ter­pa­ra­den mach­ten. Of­fi­zi­ell war man ent­rüs­tet, wenn es be­merkt wur­de, aber bei der sitt­li­chen Ent­rüs­tung blieb es. Ein Cour­ma­chen par di­stan­ce war ja eine harm­lo­se klei­ne Freu­de, die man ben großen Mäd­chen gön­nen konn­te. Flo­gen Bil­letts und Ro­sen über das Git­ter, wa­ren sie auf­ge­sam­melt, ehe sie be­merkt wur­den.

Ju­li­et­te war ein ko­ket­tes, we­ni­ger hüb­sches als pi­kan­tes Mäd­chen, das aus den Sa­lons der Mama eine recht leich­te Moral mit­ge­bracht hat­te. Sie hat­te zu lan­ge schon mit kind­li­cher Neu­gier in Pa­ris hin­ter die Ku­lis­sen der Bou­doirs ele­gan­ter Frau­en ge­lugt, um nicht von de­ren Gift­hauch be­rührt zu sein. Und nun trug sie die Ba­zil­len die­ser mo­ra­li­schen Seu­che hin­ein in die Pen­si­on. – Was nütz­te die »strengs­te Auf­sicht«, die Ma­da­me für ihre Pen­sio­nä­rin­nen zu­ge­si­chert, wenn Mlle. Ju­li­et­te auf den Spa­zier­gän­gen oder da­heim in stil­ler Abend­stun­de die schlüpf­ri­gen Ge­schich­ten ih­rer Pa­ri­ser Beo­b­ach­tun­gen den Mit­schü­le­rin­nen zum bes­ten gab? – Wenn sie heim­lich die ver­bo­te­nen fran­zö­si­schen Ro­ma­ne ein­schmug­gel­te und dar­in ex­zel­lier­te, Ma­da­me ein Schnipp­chen zu schla­gen und hin­ter dem Rücken der Leh­re­rin­nen klei­ne Aben­teu­er zu be­ste­hen? In den Au­gen der an­dern jun­gen Mäd­chen wur­de sie da­durch zur be­wun­der­ten Hel­din des Ta­ges. Die Rus­sin, de­ren Fa­mi­li­en­ver­hält­nis da­heim auch nicht die mus­ter­haf­tes­ten wa­ren – sie er­zähl­te voll Nai­vi­tät, dass ma­man je­den Som­mer mit ei­nem Freund in das Bad rei­se – war be­geis­tert von der »amüsan­ten« Freun­din Ju­li­et­te, und die­se räum­te mit dem Res­te kind­li­cher Un­schuld auf, die noch in der See­le des früh­rei­fen Mäd­chens zu­rück­ge­blie­ben war. Die Eng­län­de­rin war eine wirk­lich vor­neh­me, et­was phleg­ma­tisch ver­an­lag­te Na­tur, und dass sie sich in­ni­ger an Sa­lo­me an­schloss als die bei­den an­dern, war ein Glück für letz­te­re.

Es liegt ein Et­was in dem deut­schen Blut, das das fran­zö­si­sche Gift un­schäd­lich macht: Auch Sa­lo­me hör­te die Pa­ri­ser Er­leb­nis­se und las die Ro­ma­ne von Zola, aber ihr fehl­te das tiefe­re Ver­ständ­nis da­für, und die An­ste­ckung glitt an dem Pan­zer ab, der die sorg­sa­me deut­sche Er­zie­hung, die hei­li­ge Lau­ter­keit ih­res Va­ter­hau­ses, um ihr jun­ges Herz ge­schmie­det hat­te. Sa­lo­me ver­stand zu we­nig von dem Reiz der Ver­wor­fen­heit, um ihn ver­derb­lich auf sich wir­ken zu las­sen. – Er­zähl­ten Ju­li­et­te und Lola von den pi­kan­ten Sze­nen, die sie abends am Schlüs­sel­loch des Bou­doirs er­lauscht, ging es wie ein Schau­er des Schre­ckens durch die See­le des deut­schen Kin­des. Sa­lo­me sah dann im Geist das from­me, lie­be Ant­litz der Mut­ter, wie es sich über ihr Bett­chen ge­neigt, mit dem Lieb­ling zu be­ten, und die­ses fer­ne, längst­ge­spro­che­ne Ge­bet be­währ­te jetzt noch sei­nen hei­li­gen Zau­ber, es stell­te sich wie eine schüt­zen­de Mau­er zwi­schen das Herz des jun­gen Mäd­chens und das Las­ter.

Der Frie­den, die keu­sche Fröm­mig­keit und Lie­be, die das El­tern­haus Sa­lo­mes ge­weiht hat­ten, so lan­ge sie zu­rück­den­ken konn­te, wur­den ihr hier in der Frem­de zum Se­gen. Sie kann­te kei­ne Schlech­tig­keit und Ver­wor­fen­heit aus Er­fah­rung, und die Fan­ta­sie fehl­te ihr, sich in Si­tua­tio­nen hin­ein­zu­ver­set­zen, die sie nicht ver­stand. So prall­ten die töd­li­chen Pfei­le der Ver­su­chung macht­los an ihr ab, wenn­gleich noch manch häss­li­cher Staub in den rei­nen Kelch der deut­schen Li­lie flog und sei­nen ur­sprüng­li­chen Glanz ver­dun­kel­te. Man­che ver­schro­be­ne und un­ge­sun­de Idee blieb den­noch in Sa­lo­mes Köpf­chen zu­rück.

Die Ei­tel­keit. – Ju­li­et­te hat­te ge­sagt: »Der größ­te Tri­umph für ein Mäd­chen ist, so schnell wie mög­lich zu hei­ra­ten; alte Jung­fer wer­den ist hor­reur

Sa­lo­mes fie­bri­scher, sehn­süch­ti­ger Wunsch war es nun, so schnell wie mög­lich die­sen Tri­umph zu fei­ern und den Freun­din­nen die Ver­lo­bungs­kar­te zu sen­den. Über den tief­erns­ten Schritt des Hei­ra­tens, über die schwer­wie­gen­den Kon­se­quen­zen des ewi­gen Fin­dens und Bin­dens war ihr noch nie ein Skru­pel ge­kom­men.

Man hei­ra­tet, um frei zu sein, um sich ohne die läs­ti­ge Auf­sicht der El­tern und den fa­ta­len Zwang der Eti­ket­te amü­sie­ren zu kön­nen. Als Mäd­chen muss man sich über­all in acht neh­men und den Schein wah­ren – als Frau kann man tun und las­sen, was man will. – So lau­te­ten Ju­li­et­tes Theo­ri­en.

Und weil sie Sa­lo­me im­po­nier­ten, glaub­te sie dar­an. Ein gut Teil Schwär­me­rei und die Sen­ti­men­ta­li­tät der acht­zehn Jah­re ka­men bei ihr hin­zu. Sie träum­te Ro­ma­ne – Ro­ma­ne über­spann­tes­ter Art. Sie kann­te noch kei­ne Män­ner, hat­te kei­ner­lei Men­schen­kennt­nis, sie bil­de­te ihre Ro­man­hel­den nach den ver­schwom­me­nen Bil­dern, die sie sich aus un­ver­stan­de­ner Lek­tü­re mit Hil­fe ih­rer un­rei­fen und kin­di­schen Fan­ta­sie zu­sam­men­setz­te.

Und auch jetzt, als sie al­lein in der Ei­sen­bahn der Hei­mat ent­ge­gen­fuhr, be­schäf­tig­ten sie die Il­lu­sio­nen, die sie sich von ih­rer Rei­se, von ih­rem Ein­tritt in Welt und Le­ben mach­te.

Die ers­te Stre­cke von Lau­san­ne bis Ba­sel hat­te sie eine Leh­re­rin be­glei­tet. In Ba­sel nahm sie ein ver­wand­tes Ehe­paar in Empfang und brach­te sie nach end­los lan­ger Fahrt zu ei­nem kur­z­en Ras­ten in das schreck­li­che Haus der drei alt­jüng­fer­li­chen Tan­ten.

Bis da­hin war die Rei­se höchst lang­wei­lig und die »Aus­ru­he­pau­se« ge­ra­de­zu fürch­ter­lich ge­we­sen. Jetzt end­lich konn­te sie al­lein fah­ren, die Kraft ih­rer jun­gen Schwin­gen in selbst­stän­di­gem Flu­ge prü­fen, und ge­ra­de jetzt sperr­ten sie die Tan­ten in ein Da­men­coupé, in dem tö­ten­de Lan­ge­wei­le und Ein­sam­keit herrsch­ten.

Eine kur­ze Zeit über­leg­te Sa­lo­me, ob sie nicht auf der nächs­ten Sta­ti­on um­stei­gen und eine in­ter­essan­te Ro­man­rol­le als un­glück­li­che jun­ge Frau in ei­nem Coupé für Nicht­rau­cher spie­len sol­le? Ju­li­et­te hat­te ih­nen er­zählt, dass sie einst die­se klei­ne Far­ce in Sze­ne ge­setzt und sich himm­lisch da­bei amü­siert habe – aber ein Ge­fühl zag­haf­ter Scheu und Ban­gig­keit hielt Sa­lo­me da­von ab. Sie schäm­te sich vor dem Schaff­ner, der si­cher­lich durch das Be­neh­men der Tan­ten auf sie auf­merk­sam ge­wor­den war.

Was tun? – Je nun, war­ten, bis sie in Mer­se­burg um­stei­gen muss­te. Als­dann woll­te sie von vorn­her­ein mit frau­en­haf­tes­ter Si­cher­heit auf­tre­ten und es – coûte que coûte – durch­set­zen, ir­gend­ein klei­nes Aben­teu­er zu er­le­ben, das sie voll be­frie­dig­ter Ei­tel­keit den Freun­din­nen be­rich­ten kann.

Liest man nicht in den meis­ten Ro­ma­nen von jun­gen Mäd­chen, de­nen durch ir­gend­ein klei­nes Vor­komm­nis ein Rit­ter im Ei­sen­bahn­coupé er­wächst, ein jun­ger, ele­gan­ter, flot­ter Rit­ter, der sich sterb­lich ver­liebt, im zwei­ten Ka­pi­tel schon eine Lie­bes­er­klä­rung macht und die Hel­din im drit­ten hei­ra­tet? Und dann be­ginnt der ei­gent­li­che Ro­man mit der un­glück­li­chen Ehe, der Vet­ter ent­führt die un­ver­stan­de­ne jun­ge Frau, das Un­ge­heu­er von ei­nem Man­ne schießt sich mit ihm, bei­de fal­len, und die Hel­din hei­ra­tet zum Schluss ih­ren ver­kann­ten Ju­gend­freund, den sie ei­gent­lich im­mer ge­liebt hat.

Ja, so steht es in den Ro­ma­nen, und Sa­lo­me fühl­te sich be­rech­tigt, auch einen sol­chen Ro­man zu er­le­ben. Sah sie nicht schon wür­dig und in­ter­essant ge­nug aus, wie eine jun­ge Frau? Fräu­lein von Wel­fen blick­te prü­fend an sich nie­der, über das sehr ele­gan­te zart­far­be­ne Früh­lings­kleid von Pa­ri­ser Schick, zart­grün, um­wogt von Schlei­fen und Spit­zen, wie eine jun­ge Bir­ke im Schmuck ih­res we­hen­den Lau­bes steht. Ein sehr hüb­scher sand­far­be­ner Re­gen­man­tel ver­hüll­te es al­ler­dings, doch war er zu­vor­kom­mend ge­nug, hier und da zu­rück­zu­schla­gen, um die Pracht ah­nen zu las­sen. Die Un­ter­klei­der wa­ren nach Ju­li­et­tes An­ga­ben ein­zig aus Sei­de mög­lich, sie rausch­ten dis­kret um die klei­nen Füß­chen im wei­chen hoch­ge­knöpf­ten Stie­fel.

Das jun­ge Mäd­chen lä­chel­te sehr wohl­ge­fäl­lig und zog einen klei­nen Ta­schen­spie­gel aus dem Etui. Ihr ro­si­ges, zar­tes Ge­sicht­chen strahl­te ihr mit den großen, träu­me­ri­schen Blau­au­gen dar­aus ent­ge­gen, das Näs­chen hob sich in gra­zi­öser Li­nie über dem Mund, des­sen et­was kur­ze Ober­lip­pe die Vor­der­zähn­chen wie in rei­zend ko­ket­ter Schel­me­rei her­vor­b­lin­ken ließ.

Das gold­blon­de Haar war lo­ckig und sehr schick fri­siert, der wei­che Filz­hut mit dem groß­ge­tupf­ten Schlei­er mit viel Ge­schmack ge­wählt.

Sa­lo­me von Wel­fen lehn­te sich be­hag­lich in die Pols­ter zu­rück. Ja, sie war hübsch, sehr hübsch, sie wuss­te es, und sie konn­te ih­ren klei­nen Ro­man ver­lan­gen!

II.

Wäh­rend­des­sen hat­ten die drei feind­li­chen Tan­ten dem Zug noch se­kun­den­lang nach­ge­st­arrt, als ob sie ihn mit den Bli­cken aus der großen Glas­hal­le her­aus­schie­ben müss­ten, dann dreh­ten sie a tem­po die Köp­fe, fun­kel­ten sich in­grim­mig an und rausch­ten ohne ein ver­söh­nen­des Ab­schieds­wort da­von – jede in ei­ner an­de­ren Rich­tung. We­ni­ge Mi­nu­ten, und kei­ne wuss­te mehr von der an­dern, wo sie sich be­fand.

Fräu­lein Erna stell­te sich, ihre gro­tes­ke Ge­stalt recht vor­teil­haft zu prä­sen­tie­ren, vor einen der großen Fahr­plä­ne in der Durch­gangs­hal­le und stu­dier­te noch ein­mal die Rou­te, die Sa­lo­me so­eben ge­nom­men.

Ihr Blick such­te me­cha­nisch die Sta­ti­on Mer­se­burg, auf der das »Kind« so al­lein und hilf­los den Zug wech­seln muss­te. – Selt­sam … es war gar kei­ne Zweig­bahn dort an­ge­ge­ben … erst in Hal­le … ein töd­li­cher Schreck er­griff die Tan­te, sie, die ver­ant­wort­lich für die Rei­se­rou­te der Nich­te war. Soll­te Mar­tha in ih­rer Su­per­klug­heit die Sta­tio­nen ver­wech­selt, und Kla­ra und sie im Ei­fer nach­ge­schri­en ha­ben, was jene vor­schrie?

Wie von bö­sem Geis­te ge­plagt, stürz­te Fräu­lein Erna an den Fahr­kar­ten­schal­ter, sich des Nä­he­ren zu er­kun­di­gen. Wahr­haf­tig! Sa­lo­me muss­te erst in Hal­le um­stei­gen.

Se­kun­den­lang stand das alte Fräu­lein sprach­los, dann blitz­te ein Ge­dan­ke durch ihr Hirn und ein Ge­fühl höchs­ter Ge­nug­tu­ung schwell­te ihre Brust. Der Zug war noch nicht weit ent­fernt –- sie wür­de an die nächs­ten vier oder fünf Sta­tio­nen te­le­gra­fie­ren und Sa­lo­me von dem Irr­tum in Kennt­nis set­zen. Dann aber wür­de es eine ganz be­son­de­re Freu­de für sie sein, den wei­sen Fräu­lein Schwes­tern da­heim hohn­lä­chelnd zu sa­gen: »Ich habe eue­re un­glaub­li­che Dumm­heit noch recht­zei­tig gut­ge­macht und mir ge­bührt die Aner­ken­nung, wenn Sa­lo­me ohne die fa­tals­ten Wi­der­wär­tig­kei­ten, in die sie ein falsches Aus­s­tei­gen ver­setzt ha­ben wür­de, die Hei­mat er­reicht.«

Ge­dacht, ge­tan.

Tan­te Erna stürm­te auf die Te­le­gra­fen­sta­ti­on des Bahn­ho­fes und gab an die nächs­ten vier Sta­tio­nen die wich­ti­ge De­pe­sche auf.

Wäh­rend­des­sen hat­te Fräu­lein Kla­ra im Ge­schwind­schritt die Stra­ßen durch­eilt und woll­te ih­ren Är­ger in ei­ner höchst ap­pe­tit­lich aus­se­hen­den Kon­di­to­rei ver­ges­sen.

Als sie, noch im­mer et­was er­regt, mit dem Tee­löf­fel in der Scho­ko­la­den­tas­se rühr­te, er­schi­en eine be­kann­te Dame, nahm ne­ben ihr Platz und be­gann eine Un­ter­hal­tung.

Kla­ra be­rich­te­te von ih­rem Op­fer­mut, heu­te schon um sechs Uhr auf­ge­stan­den zu sein, um die klei­ne Nich­te Wel­fen auf die Bahn zu brin­gen. Das Kind rei­se zum ers­ten Mal al­lein, müss­te so­gar in Mer­se­burg um­stei­gen.

»In Mer­se­burg? Un­mög­lich! Mer­se­burg ist ja gar kein Kno­ten­punkt!«

Kla­ra starr­te sie mit of­fe­nem Mun­de an und ver­gaß vor Schreck wei­ter­zu­kau­en.

»Um Got­tes wil­len … für Mag­de­burg um­stei­gen?…«

»Muss sie in Hal­le!«

»In Hal­le?«

»Ja, erst in Hal­le!«

Als habe der Blitz vor ihr ein­ge­schla­gen, saß Fräu­lein Kla­ra da, und dann fing sie an, über die Tor­heit der Schwes­tern zu to­ben und das un­glück­li­che ver­las­se­ne Kind zu be­kla­gen!

»Aber mei­ne Teu­ers­te, re­gen Sie sich doch nicht so un­nö­tig auf! Sie kön­nen den fa­ta­len Irr­tum Ih­rer Fräu­lein Schwes­tern sehr leicht gut­ma­chen, wenn Sie der Nich­te te­le­gra­fie­ren! Wie viel Uhr ist es? – Eine Stun­de ist der Zug erst un­ter­wegs, Sie fas­sen ihn noch recht­zei­tig ab, wenn Sie viel­leicht an die sechs­te, sie­ben­te und ach­te Sta­ti­on de­pe­schie­ren. Si­cher­heits­hal­ber kön­nen Sie ja an meh­re­re Sta­tio­nen zu­gleich ab­schi­cken!«

Klar­as Au­gen fun­kel­ten Tri­umph. »Herr­li­che Idee! Tau­send Dank, Liebs­te! – Ganz in der Nähe auf der Haupt­post ist ja ein Te­le­gra­fen­amt – ich flie­ge, die Sa­che in Ord­nung zu brin­gen – kom­me gleich zu Ih­nen zu­rück!« – Und die Hand­schu­he vom Tisch raf­fend, saus­te Fräu­lein Kla­ra aus der Türe. Welch eine Ge­nug­tu­ung den Schwes­tern ge­gen­über, wenn sie de­ren un­er­hör­ten Lap­sus noch recht­zei­tig be­merkt und wie­der gut­ge­macht hat! Und sie te­le­gra­fier­te an sechs wei­te­re Sta­tio­nen.

Auch Schwes­ter Mar­tha ent­deck­te durch einen Zu­fall den Irr­tum.

Sie, die so­li­de, from­me, war di­rek­ten We­ges nach Hau­se ge­eilt und fand da­selbst auf dem Früh­stücks­tisch einen Brief von Sa­lo­mes Va­ter. Er gab noch ein­mal aus­führ­lich die Rei­se­rou­te für die Toch­ter an, und leg­te es den Tan­ten be­son­ders drin­gend an das Herz, sie dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass sie in Hal­le um­stei­gen müs­se. Glü­hend heiß wall­te es durch die Adern der Le­sen­den. Der Schreck schi­en sie se­kun­den­lang zu läh­men, dann rang sie in rat­lo­ser Ver­le­gen­heit die Hän­de und lief im Zim­mer auf und ab, sich mit den grau­sigs­ten Fan­tasi­en quä­lend, was für schreck­li­che Unan­nehm­lich­kei­ten der Un­glücks­nich­te in Mer­se­burg er­wach­sen wür­den! Und sie, sie al­lein war an dem gan­zen Un­glück schuld! Wie konn­te sie auch nur die Sta­tio­nen ver­wech­seln! Es war un­be­greif­lich! Und wie wür­den die Schwes­tern höh­nen und spot­ten!

In ih­rer Hilf­lo­sig­keit fing sie an bit­ter­lich zu wei­nen, und dann be­kam sie Herz­krämp­fe, klin­gel­te Sturm und jag­te das Mäd­chen zum Arzt.

Die­ser kam erst nach Stun­den. Als er sei­ne Pa­ti­en­tin in trost­lo­sem Zu­stand fand, forsch­te er nach der Ur­sa­che, und Fräu­lein Mar­tha er­zähl­te ihm mit bre­chen­der Stim­me die schreck­li­che Ver­wechs­lung von Mer­se­burg und Hal­le.

Der Dok­tor, ein sonst sehr erns­ter, teil­neh­men­der Mann, be­gann so hef­tig zu la­chen, dass Fräu­lein Mar­tha vor Ent­rüs­tung wie­der zu Kräf­ten kam, ehe sie aber Wor­te fand, fuhr der Arzt kopf­schüt­telnd fort: »Und um sol­cher Ba­ga­tel­le wil­len Ihre kost­ba­re, teu­re Ge­sund­heit al­te­rie­ren, mein gnä­di­ges Fräu­lein? Das ist ja der rei­ne Selbst­mord aus Pf­licht­ge­fühl! Die Sa­che ist ja so äu­ßerst ein­fach, dank un­sern Te­le­gra­fen­dräh­ten! – Wenn Sie ge­stat­ten, brin­ge ich die An­ge­le­gen­heit so­fort auf dem nächs­ten Amt (hier in uns­rer Stra­ße, in der Un­fall­sta­ti­on be­fin­det sich ja ei­nes!) in Ord­nung. Wenn wir an die letz­te Sta­ti­on vor Mer­se­burg oder si­cher­heits­hal­ber an et­li­che der letz­ten Sta­tio­nen te­le­gra­fie­ren, er­reicht die Ge­gen­or­der noch völ­lig recht­zei­tig Ihr Fräu­lein Nich­te, und sie kommt wohl­be­hal­ten in Hal­le an!« – Der Spre­cher zog sich ei­ligst hin­ter den Tisch zu­rück, denn Fräu­lein Mar­tha hat­te Mie­ne ge­macht, ihn in höchs­tem Ent­zücken zu um­ar­men. – Sie war auch so­fort wie­der so be­deu­tend viel woh­ler, dass sie in al­len Ton­ar­ten die Schwes­tern an­kla­gen konn­te, sich nicht um die Rei­se der Nich­te be­küm­mert zu ha­ben. »Ich sel­ber lebe ja der Welt so fern« – hauch­te sie zum Schluss mit from­mem Au­gen­auf­schlag, »habe so viel mit mei­nen Wer­ken christ­li­cher Lie­be und der in­ne­ren Mis­si­on zu tun, dass ich kei­nen Sinn und kei­ne Ge­dan­ken für an­de­res mehr habe!« Der Dok­tor be­wun­der­te sie und emp­fahl sich schleu­nigst, um eine De­pe­sche für Fräu­lein von Wel­fen an die letz­ten sechs Sta­tio­nen vor Mer­se­burg zu sen­den. – – –

Wäh­rend­des­sen hat­te der Zug, in des­sen ein­sa­mer Da­men­coupée­cke Sa­lo­me die in­ter­essan­tes­ten Aben­teu­er er­sehn­te und un­mu­tig die Stirn kraus­te, weil sich ab­so­lut nichts au­ßer­ge­wöhn­li­ches er­eig­ne­te, die drit­te Sta­ti­on nach der Ab­fahrt er­reicht.

Fräu­lein von Wel­fen lehn­te am Fens­ter und schau­te halb be­lus­tigt, halb in­di­gniert auf eine sehr über­mü­ti­ge und sicht­lich durch einen er­gie­bi­gen Früh­schop­pen höch­lichst an­ge­hei­ter­te Ge­sell­schaft. Es war der Männer­ge­sangs­ver­ein »Wald­vög­lein«, der mit teil­wei­ser Da­men­be­glei­tung eine Kun­st­rei­se Un­ter­nom­men hat­te, und nun be­rauscht durch Er­folg und Al­ko­hol der Hei­mat wie­der ent­ge­gen­dampf­te.

So er­zähl­te we­nigs­tens ein Herr sei­nen Mit­rei­sen­den; er stand vor der Türe des Ne­ben­coupés und ver­zehr­te eine Schin­ken­sem­mel, die er an dem Büf­fet er­stan­den.

Sei­ne Au­gen husch­ten zum öf­tern zu Sa­lo­me em­por, de­ren rei­zen­des Ge­sicht­chen nicht nur ihm, son­dern auch den fi­de­len San­ges­brü­dern auf­zu­fal­len schi­en.

Die »Wald­vög­lein« flat­ter­ten we­nigs­tens recht aus­ge­las­sen am Zuge auf und nie­der, stürm­ten Bier- und But­ter­brot­büf­fet und mach­ten es sich zum be­son­de­ren Ver­gnü­gen, dem jun­gen Mäd­chen in dem Da­men­coupé zu­zu­ni­cken und zu­zu­trin­ken. Zwei der Jüng­lin­ge schie­nen be­son­ders ly­ri­scher Stim­mung zu sein.

Arm in Arm, be­reits et­was un­si­cher ge­hend, pen­del­ten sie vor dem Coupé auf und nie­der.

Der eine, ein ha­ge­rer, grob­kno­chi­ger Mensch, mit lang­ge­bo­ge­ner, vor­sprin­gen­der Nase, die sich an­schei­nend mit dem spitz nach oben stre­ben­den Kinn ein Ren­dez-vous ge­ben woll­te – Sa­lo­me dach­te mit spöt­ti­schem Lä­cheln: »Aha, der scheint der Kreuz­schna­bel un­ter den Wald­vög­lein zu sein!« und der an­de­re, ein fet­tes, un­ter­setz­tes klei­nes Kerl­chen, im kar­rier­ten Frack d’a­mour, aus dem ein ro­ter Ta­schen­tuch­zip­fel ko­kett her­vor­we­del­te – die­ser an­de­re schi­en frag­los das »Rot­schwänz­chen« un­ter den Wald­ge­nos­sen re­prä­sen­tie­ren zu wol­len!

Fräu­lein von Wel­fen muss­te un­will­kür­lich bei die­sem Ge­dan­ken la­chen – und der klei­ne Dick­sack nahm es wohl für eine Avan­ce, denn er brei­te­te jäh­lings die Arme aus, und sang mit schmet­tern­der Stim­me zu dem Da­men­coupé em­por: »Komm her­ab, o Ma­don­na The­resa!« – Lau­tes Ge­läch­ter und Bei­fall.

Des Rot­schwänz­chens Hei­ter­keit steck­te an, die zu­rück­strö­men­den Sän­ger der Kunst wink­ten hul­di­gend zu der jun­gen Dame em­por und stimm­ten joh­lend und gröh­lend in den Ge­sang ein.

Da die Ova­ti­on harm­los war, lach­te das Pub­li­kum, auch die Schaff­ner und der Bahn­hofs­in­spek­tor, und Sa­lo­me dach­te ver­gnügt, »mein Gott, es kennt mich ja nie­mand hier!« und lach­te auch mit, eine Freund­lich­keit, die sämt­li­che Wald­vög­lein zu be­geis­tern schi­en.

In dem­sel­ben Au­gen­blick aber – »war es Täu­schung, ist’s ein Wahn?« – hör­te sie laut ih­ren Na­men ru­fen.

»Wel­fen!! Sa­lo­me von Wel­fen! – Sa­lo­me von Wel­fen!!« – Ent­setzt riss sie das Fens­ter auf und neig­te sich her­aus. Ein De­pe­schen­bo­te stürm­te an dem Zug ent­lang. »Sie, Fräu­lein?«

»Ja – ja – ich bin’s!« stot­ter­te Sa­lo­me.

»Te­le­gra­fi­sche Nach­richt. Nicht in Mer­se­burg, son­dern erst in Hal­le um­stei­gen!«

»Dan­ke bes­tens!« stot­ter­te das jun­ge Mäd­chen, blut­rot vor Ver­le­gen­heit, und zog sich has­tig zu­rück, um all den neu­gie­ri­gen Au­gen, die sie auf dem ge­füll­ten Per­ron an­starr­ten, zu ent­ge­hen.

»Sa­lo­me! Weeß Kneb­chen, se heeßt Sa­lo­me! Hib­scher Name! ›Komm her­ab, o Ma­don­na Sa­looo­me!‹« schmet­tert er aber­mals los.

»Ein­stei­gen! Ein­stei­gen, mei­ne Her­ren!« – dräng­te der Schaff­ner, die Pfei­fe schrill­te – und die San­ges­brü­der stürz­ten in wil­dem Schwarm nach der drit­ten Klas­se zu­rück.

Gott­lob es ging wei­ter!

Sa­lo­me lach­te hell auf. Also doch ein Aben­teu­er! Ein paar Her­ren hat­ten sich vor ihr Coupé ge­stellt und ihr eine Ova­ti­on durch ein Lied ge­bracht. Das wür­de gu­ten Ef­fekt in ih­rem Brie­fe an Ju­li­et­te und Lola ma­chen. – Eine nä­he­re Be­schrei­bung der »Wald­vög­lein« war ja nicht nö­tig – »an­schei­nend wa­ren es Stu­den­ten«, wür­de sie schrei­ben.

Und dann dach­te sie über die De­pe­sche nach, und wie sehr gut es doch von den Tan­ten war, ihr den Irr­tum noch recht­zei­tig zu mel­den.

Gut? – Je nun – es wäre ja viel­leicht ganz amüsant ge­we­sen, an falscher Sta­ti­on aus­zu­stei­gen, wie viel hät­te sich da­bei er­le­ben las­sen! Sie wäre ge­nö­tigt ge­we­sen, selbst­stän­dig in ei­nem Ho­tel zu über­nach­ten, hät­te sich selbst­ver­ständ­lich als rus­si­sche Fürs­tin aus­ge­ge­ben, die nur fran­zö­sisch spre­chen kann und das Deut­sche so ori­gi­nell und sehr ge­bro­chen mit scharrr­fem Rrrr – schnarrt! – Al­ler­liebst! Wie man sie wohl an­ge­st­arrt und mit de­vo­tes­ten Kom­pli­men­ten be­dient hät­te. Ent­setz­lich dumm von den Tan­ten, zu te­le­gra­fie­ren. Sa­lo­me fand die Idee, in Mer­se­burg als rus­si­sche Fürs­tin auf­zu­tre­ten, so aus­ge­zeich­net amüsant, dass sie sich gar nicht wie­der da­von tren­nen kann. Un­sinn! Wer konn­te es denn be­wei­sen, dass ich die De­pe­sche er­hal­ten habe? Ich be­kam gar kei­ne! Wo ist sie denn? Was der Mensch mir zu­schrie, habe ich in mei­ner Ver­wir­rung gar nicht ver­stan­den!

Ich spie­le jetzt schon die Rol­le der Fürs­tin So­bileff und ver­ste­he kein Wort deutsch. Punk­tum – und in Mer­se­burg stei­ge ich aus. – Die Tan­ten ha­ben es ja zu ver­ant­wor­ten!

Sa­lo­me lach­te mit glü­hen­den Wan­gen vor sich hin. Es war ein sehr spaß­haf­ter Ge­dan­ke. Sie träum­te sich mit all ih­rer schwär­me­ri­schen über­spann­ten Fan­ta­sie in die­ses Aben­teu­er hin­ein.

Und der Zug saus­te rast­los wei­ter. Dör­fer und klei­ne Sta­tio­nen flo­gen vor­über, und nach ge­rau­mer Zeit hielt man wie­der an ei­ner äu­ße­ren Sta­ti­on.

Die »Wald­vög­lein« muss­ten sich furcht­bar durs­tig ge­zwit­schert ha­ben; kaum dass der Zug hielt, tön­te auch schon ihr nicht ge­ra­de me­lo­di­sches Ge­joh­le nach »Kell­ner! La­ger­bier!!« – aus den Wa­gen her­aus, und einen Au­gen­blick spä­ter wälz­te sich der Schwärm in wüs­tem Durchein­an­der nach den Re­stau­ra­ti­ons­räu­men.

Sa­lo­me sah den we­nig rit­ter­li­chen Ge­stal­ten nach. Wie ekel­haft sind doch die Leu­te, wenn sie so zü­gel­los hei­ter sind. Der deut­sche Mi­chel ist doch un­ver­kenn­bar – wenn er sich »fühlt« und sich amü­siert, kann er nicht an­ders, er muss über die Strän­ge schla­gen. Sei­ne Hei­ter­keit wird gar zu leicht Ro­heit, sei­ne »ge­ho­be­ne Stim­mung« Fle­ge­lei! Wie an­ders der fran­zö­si­sche Schwei­zer! – Selbst in der Be­trun­ken­heit bleibt er maß­voll.

Sa­lo­me hat­te die großen ti­res fédéraux in Lau­san­ne er­lebt. Un­ge­zähl­te Men­schen­mas­sen aus der gan­zen Schweiz ström­ten her­bei, ein Volks­fest im wei­tes­ten Sin­ne, wo alle Ele­men­te, auch die nie­ders­ten und schlech­tes­ten, ver­tre­ten wa­ren, und wäh­rend der gan­zen Tage, wäh­rend all der Näch­te voll un­ge­zü­gel­ten Le­bens – nur zwei Mes­seraf­fä­ren, de­ren An­stif­ter Ita­lie­ner ge­we­sen, wie die Zei­tun­gen »stolz« be­rich­te­ten. – Sa­lo­me ent­sann sich noch leb­haft ei­ner klei­nen Be­ge­ben­heit, die ihr tie­fen Ein­druck ge­macht hat­te.

Es war eine Stra­ßen­sze­ne.

Eine Men­schen­men­ge dräng­te sich um zwei »Schüt­zen«, die vor ei­nem Re­stau­rant, auf off­ner Stra­ße, einen Wort­wech­sel fort­führ­ten, der sei­ne Ver­an­las­sung in dem Lo­kal ge­fun­den hat­te.

Bei­de Män­ner ge­hör­ten dem Ar­bei­ter­stan­de an, und bei­de hat­ten sicht­lich ein Glas über den Durst ge­trun­ken. Ob­wohl sich bei­de in zit­tern­der Er­re­gung und feind­se­ligs­ter Stim­mung be­fan­den, schi­en doch eine Prü­ge­lei aus­ge­schlos­sen, da sie sich bei­de re­ser­viert, in bei­na­he thea­tra­li­scher Pose, ge­gen­über­stan­den.

Der eine schimpf­te in fran­zö­si­scher Spra­che auf den an­dern ein. »Sie Schuft! Sie Ehr­lo­ser! Sie ge­mei­ner Ta­ge­dieb! Sie Be­trü­ger!« schrie er ihn mit ge­ball­ten paus­ten an, und als er tiefau­fat­mend Luft schöpf­te und eine klei­ne Pau­se mach­te, schob der an­de­re hoch­mü­tig die Hand in die Brust­ta­sche und sag­te ge­las­sen: »Ha­ben Sie den Mut, vor all die­sen an­stän­di­gen Men­schen Ihre un­an­stän­di­gen Wor­te zu wie­der­ho­len?«

»Un­an­stän­di­ge Wor­te?« – braus­te sein Ge­gen­über auf. »Wah­re Wor­te sind es! – Und ich sage es Ih­nen vor der gan­zen Welt ins Ge­sicht, dass Sie ein er­bärm­li­cher Wicht, ein Nichts­wür­di­ger, ein Tau­ge­nichts sind! He, Sie! – Ha­ben Sie ver­stan­den?«

»Ge­wiss, mein Herr« – lä­chel­te der an­de­re ver­ächt­lich, »ich habe ver­stan­den und weiß Ih­nen nur ei­nes dar­auf zu er­wi­dern, dass Sie – eine sehr schlech­te Er­zie­hung er­hal­ten ha­ben! Bon­jour, Mon­sieur!« sprach’s, wand­te dem ver­blüff­ten Be­lei­di­ger stolz den Rücken und schritt da­von.

Es wa­ren Schwei­zer – und ein deut­scher Herr, der ne­ben Sa­lo­me die Sze­ne an­ge­hört hat­te, sag­te kopf­schüt­telnd zu sei­nen Beglei­tern: »Un­fass­lich. War das nun mus­ter­haf­te Selbst­be­herr­schung oder Fisch­­­­­­­­­­­­­