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Nr. 2950

 

Der Sternenwanderer

 

Es ist ein letztes Geschenk – ein Mann erreicht eine ferne Galaxis

 

Uwe Anton / Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Ein Erwachen

1. Etwas Merkwürdiges

2. Eine Begegnung

3. Etwas Übles

4. Eine Gefangennahme

5. Etwas Tod

6. Eine Schlacht

7. Etwas Erstaunliches

8. Eine Flucht

9. Etwas Interessantes

10. Ein Zusammentreffen

11. Etwas Glück, etwas Pech, oder etwas dazwischen?

Epilog: Zwei Reisen

Stellaris 62

Vorwort

»Die peinlichste Stunde des Konsul Gruner« von Thomas Frick

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodans Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, lebt nach wie vor. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen immer noch Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.

Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten. Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, einst ein von ES erwähltes und dann vertriebenes Volk. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden in der Lokalen Gruppe im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Aus einer Zeit jenseits aller Zeiten und einem Raum jenseits aller Räume tritt nun eine mythische Gestalt ins Licht, die von einer langen Reise zu einer neuen langen Reise aufbricht – und der ihr eigenes Ziel vollkommen unbekannt ist. Es heißt, sie sei DER STERNENWANDERER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide kehrt aus den Jenzeitigen Landen zurück.

Julian Tifflor – Der Atopische Richter kehrt in die Jenzeitigen Lande zurück.

Oliver Mäuser – Der Metallurg begegnet Fremdweltlern.

Fitz Klem – Mäusers Kollege ist nicht, was er zu sein scheint.

Beim Schlafengehen sollten wir uns sagen:

Ich habe gelebt und den mir vom Schicksal bestimmten Weg zurückgelegt.

Lucius Annaeus Seneca

(4 v. Chr. – 65 n. Chr.)

 

Prolog

Ein Erwachen

 

Wo bin ich?

Der Gedanke war unvermittelt da, ganz klar und deutlich, und aus irgendeinem Grund wunderte mich das.

Es beunruhigte mich. Ich hätte verstanden, wenn die drei Wörter langsam und verschwommen aus dunklen Tiefen aufgetaucht wären, oder aus fernen Regionen, von denen ich nicht einmal genau wusste, ob sie überhaupt existierten. Aber dass sie mit einem Mal einfach vorhanden waren und ...

Nein! Ich empfand Besorgnis, dass es nichts außer diesem Gedanken gab.

Aber nicht lange. Ein zweiter Gedanke stellte sich ein, vielleicht noch wichtiger und seltsamer als der erste.

Wer bin ich?

Aus der Beunruhigung wurde Besorgnis. Wo ich war, konnte ich mit Sicherheit irgendwie herausfinden. Aber wenn ich mich fragen musste, wer ich war, steckte ich in gewaltigen Schwierigkeiten.

Ich versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang mir nicht.

Hatte ich überhaupt Augen? War ich körperlich? Oder nur ... ein Geist, ein Etwas, das ich selbst nicht verstand? Ich war solchen Wesenheiten schon begegnet. Daran erinnerte ich mich seltsamerweise ganz genau.

War ich ebenfalls zu einem Geisteswesen geworden?

Ich hatte einmal einen Körper!, dachte ich. Und ich hatte mich sehr wohl darin gefühlt. Wenn ich ihn aus irgendwelchen Gründen verloren hatte, wollte ich ihn zurückbekommen.

Als die Besorgnis sich zur Panik zu steigern drohte, erinnerte ich mich wieder an etwas. Nur an einen Begriff, der genauso überraschend auftauchte wie mein erster Gedanke und allein dastand, ohne jeden Bezug oder Zusammenhang.

Dagor.

Dann kamen neue Assoziationen.

Der All-Kampf.

Das Erreichen der Harmonie zwischen Körper und Geist.

Der Körper ist nichts, der Geist ist alles. Er hat die völlige Herrschaft über das Fleisch.

Also gab es doch noch etwas anderes.

Und plötzlich fluteten weitere Begriffe über mich hinweg.

Dagorcai.

Die verschiedenen Atem- und Meditationstechniken. Wie viele Stufen gab es gleich von ihnen? Die Bewegungs- und Konzentrationstechniken, die dazu beitrugen, dass sich Körper- und Geisteskräfte auf dem optimalen Niveau einpendelten, ermöglichten die effektivste Anwendung der eigentlichen Kampftechniken.

Instinktiv entspannte ich mich, überließ meinem Körper die Arbeit.

Instinktiv? Nein. Schon wieder falsch. Der Vorgang hatte nichts mit meinen Instinkten zu tun. Ich beherrschte die Dagortechniken seit vielen Jahren.

Seit Jahrhunderten.

Jahrtausenden?

Ich hatte sie noch vor Kurzem angewendet.

Also hatte ich einen Körper.

Es musste so sein, denn nun spürte ich, dass ich atmete. Sauerstoff strömte in meine Lungen, wurde vom Blut an den Körper weitergeleitet, zuerst unzulänglich, dann in zumindest ausreichenden Mengen. Die Dagortechniken halfen mir, einen minimalen Einfluss auf den Prozess zu nehmen.

Meine Besorgnis ließ etwas nach. Wenn ich einen Körper habe, habe ich auch Augen, und wenn ich Augen habe, kann ich sie öffnen. Ich muss pragmatisch vorgehen. Ein Schritt nach dem anderen ...

Pragmatisch.

Kaltschnäuzig, konsequent und kompromisslos.

Ja, das fühlte sich vertraut an.

Mein nun tiefer, gleichmäßiger Atem setzte einen Herzschlag lang aus, als ich plötzlich wieder meinen Körper spürte. Ein Prickeln breitete sich in mir aus, ein starkes, fast schmerzhaftes Kribbeln.

Aber Schmerz war besser als gar nichts. Nichts machte mir Angst. Nichts war gleichbedeutend mit Existenzlosigkeit.

Ich hatte Augen, und ich öffnete sie.

Und sah eine Welt in Rot.

 

*

 

Das Rot war überall.

Es schimmerte hell, durchdrang mit seinem Licht die gesamte Umgebung. Es strömte aus einer alles überwuchernden, unregelmäßig dicken Schicht, die sämtliche Flächen um mich bedeckte, aus einer glatten euklidischen Geometrie etwas völlig anderes machte, etwas ... Organisches, das gleichzeitig alles andere als organisch war.

Patronit, dachte ich, ohne mit diesem Begriff etwas anfangen zu können. Und: Technogeflecht.

In welche Art Welt hatte es mich verschlagen?

War dies vielleicht gar nicht die Wirklichkeit? Oder träumte ich?

Der Anflug einer anderen Erinnerung durchdrang mich, kaum fassbar, verschwommen, eher der Hauch einer Wirklichkeit, die sich aufgelöst hatte, die längst vergangen war.

Ja, es war möglich, dass ich träumte. Ich entsann mich, dass ich mich am Ende einer langen Reise zum Schlaf gebettet hatte, zu einem Schlaf voller Hoffnung, der sowohl Abschluss als auch Neubeginn war.

Und wer konnte sagen, welche Träume in solch einem Schlaf kommen mochten?

Einen Moment glaubte ich, unvermittelt durch das rote Schimmern zu stürzen. Die Welt stülpte sich um, und ich glitt durch das Leuchten, das Struktur annahm, sich verdichtete und ausdünnte, zu etwas anderem wurde, einem ...

... einem Schiff? Einem Raumschiff?

Ich glitt hindurch, schwebte durch Lagerräume und Mannschaftsquartiere, durch eine Funkzentrale und einen Hangar, überwand Schotten und Deckböden, als wären sie gar nicht vorhanden.

Schließlich konnte ich mir ein erstes Bild des Raumers machen.

Er war nicht besonders groß, hatte eine Länge von einhundert Metern, vielleicht einhundertfünfzig, höchstens. Außerdem hatte er nicht die Form einer Kugel, wie ich es aus irgendeinem Grund fast erwartet hatte, sondern die einer lang gezogenen Walze.

Ein Walzenraumer? War ich an Bord eines Springerschiffs gefangen?

GAUPELLAR GUZDRIN, dachte ich, konnte aber mit diesem Begriff nichts weiter anfangen.

Unsinn!, meldete sich unvermittelt eine andere Stimme. Kein eigener Gedanke, tatsächlich eine Stimme, mitten in meinem Kopf. Eine fremde, aber gleichzeitig so vertraute, dass ich glaubte, sie so gut zu kennen wie mich selbst.

Abrupt kehrte meine Denkfähigkeit zurück. Keine Erinnerungen an mein Leben, die blieben verschüttet, aber meine Fähigkeit, aufeinander aufbauende Muster zu erkennen und darauf zu reagieren.

Wer ... bist du?, dachte ich.

Hast du denn alles vergessen?, antwortete die Stimme. Sogar mich, du Narr?

 

*

 

Sämtliche Dämme brachen. Ein einziges Wort riss sie nieder.

Narr.

Plötzlich war alles wieder da: die Jenzeitigen Lande; die Atopische Sonde, die mich aus dieser Region am zeitlichen Ende des Universums zurückbringen sollte ...

Moment!, dachte ich. Da stimmt etwas nicht.

Sicher, die Sonde, mit der seinerzeit Julian Tifflor zu den Jenzeitigen Landen vorgestoßen war, war nach dem Vorbild des alten Walzenraumers GAUPELLAR GUZDRIN aus Technogeflecht erschaffen worden und hatte im typischen Patronitrot geschimmert. So weit entsprach sie dem, was ich gerade gesehen hatte.

Sie war von einem Autopiloten gesteuert worden, den Jabarim geprägt hatte, da Julian in der Synchronie nicht hätte fliegen können. Doch sie war im Neuland zurückgeblieben, mitten auf dem Rückweg nach Hause.

Daher konnte ich mich nicht in Julians Atopischer Sonde befinden.

Nicht unbedingt ein Widerspruch, sagte die Stimme. Es gibt Erklärungen dafür. Dieses Schiff kann nach dem Vorbild der Sonde geformt worden sein, oder Tifflor hat die ursprüngliche Sonde geborgen. Über solche trivialen Fragen solltest du dir nicht den Kopf zerbrechen. Es gibt Wichtigeres.

Die Stimme – mein Extrasinn – hatte natürlich recht. Meine Gedanken waren noch vom Schlaf beeinträchtigt, verharrten in jenem seltsamen Zustand zwischen soeben erfolgtem Erwachen und vollständigem Wachsein, in dem ein Herzschlag zur Ewigkeit wurde, sich Raum und Zeit dehnten und zusammenzogen oder die Gedanken lediglich kreisten, ohne voranzukommen.

Wie lange hatte ich geschlafen?

Jahrhunderte, Jahrtausende?

Die Frage berührte mich seltsamerweise nicht. Ganz gleich, wie viel Zeit vergangen war, es würde sich alles finden.

Ganz der Pragmatiker, spöttelte der Extrasinn. Aber ich sehe, allein wirst du die Beharrungskräfte deines kleinen Nickerchens nicht überwinden können. Du brauchst Hilfe.

Hilfe? Von dir?

Ja. Was macht dein Zellaktivator?

Ich schnappte nach Luft, setzte mich auf und griff an mein Schlüsselbein.

Nichts.

Die Haut dort wirkte unverletzt.

Als ich sie berührte, fiel mir alles wieder ein.

Den Zellaktivatorchip, den ich von ES erhalten hatte, trug ich nicht mehr. Ich hatte ihn zurückgegeben. Fast gegen meinen Willen hatte Julian Tifflor mir einen neuen Zellaktivator ausgehändigt, ein nur einen Zentimeter großes Ei aus einem feinen Gewebe mit einem Tropfen Vitalliquor darin. Als ich es an meine Schulterwunde gehalten hatte, war es darin versunken.

Ich stöhnte leise auf.

Wie ich sehe, bist du wieder wach, Kristallprinz, stellte der Logiksektor zufrieden fest.

 

*

 

Der Extrasinn war nicht der Einzige, der es bemerkte. Es wurde langsam heller um mich, und ich nahm zum ersten Mal meine Umgebung einigermaßen deutlich wahr. Die Sonde reagierte darauf, dass ich wieder Lebenszeichen zeigte.

Das Technogeflecht war verschwunden, das Schimmern des Patronits hingegen geblieben. Aber die Geometrie war für meine Begriffe wieder normal. Die Wände des kleinen Raums, in dem ich auf einer bequemen Pritsche lag, die sich den Ausprägungen meines Körpers perfekt anpasste, senkten sich in einem rechten Winkel von der Decke. Die Kammer bildete ein lang gezogenes Viereck mit der Liege als einzigem Einrichtungsgegenstand. Eine Tür oder Ähnliches konnte ich nicht entdecken.

Ein leiser Summton erklang, und mitten im Raum, einen halben Meter neben dem Bett, öffnete sich ...

Ich kniff die Augen zusammen.

... öffnete sich ein Portal, hatte ich soeben denken wollen, aber es war etwas anderes. Die Struktur von Raum und Zeit blieb unberührt; aus dem Nichts tauchte eine Gestalt auf, drehte kurz den Kopf nach rechts und links, sah mich und lächelte.

Ein Holo von einer Person, die ich sehr gut kannte.

»Wie geht es dir, Atlan?«, fragte Julian Tifflor.

Es war nicht der, den ich über lange Jahrtausende gekannt hatte, sondern einer, der mir völlig fremd geworden war. Den früheren Tifflor hatte man oft mit Perry Rhodan verglichen. Er hatte ihm sehr ähnlich gesehen, aber jünger gewirkt, da sein Alterungsprozess mit 35 Jahren angehalten worden war. Jener Tifflor hatte nichts mehr mit dem über einsachtzig großen, schlanken jungen Mann mit den braunen Augen und dem braunen Haar gemeinsam, der gerade das Wort an mich gerichtet hatte. Zu diesem höheren Wesen – zu dieser Wesenheit – fand ich keinen echten Bezug mehr.

Er war etwas fülliger als damals und deutlich gealtert, und in seinem Blick schwang eine gewisse Weisheit mit.

Was hatten die Jahrmillionenwanderung, seine Zeit auf ARCHETIMS Welt und danach – und seitdem – der Aufenthalt in den Jenzeitigen Landen sonst mit ihm angestellt?

Und was hat er mit dir angestellt?, meldete sich der Logiksektor. Hast du dich ebenfalls verändert? Du solltest das überprüfen!

Ich sah mich nach einer spiegelnden Oberfläche um, fand keine und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Tifflor.

Auf sein Gesicht. Es hatte sich vielleicht am stärksten gewandelt. Während seiner unglaublich langen Reise durch den Zeitspeer hatte sich überall Kristallstaub festgesetzt, der eine dünne zweite Haut bildete. Sie hüllte Tifflor komplett ein und hatte bisher nicht entfernt werden können. Aber nicht das machte den Unterschied aus, der mich völlig von ihm absonderte.

Mit der Reise durch den Zeitspeer war Tifflors Wandlung nicht zu Ende gewesen. Er war auf den Spuren der Superintelligenz ARCHETIM gewandelt und in einem dritten Schritt schließlich zu einem Richter des Atopischen Tribunals geworden. Damit hatte er sich endgültig in eine Entität verwandelt, die selbst ein rund 24.200 Jahre alter Arkonide nicht mehr verstehen konnte.

Falls mein Alter noch aktuell ist ...

Ich betrachtete das Holo aus zusammengekniffenen Augen. Zeigte es Julian Tifflor, wie er in diesem Augenblick irgendwo stand, weit entfernt von mir, an einem Ort, den ich nie wieder würde erreichen können?

Ich schwieg, und das Holo schwieg ebenfalls.

»Ich bin wach«, sagte ich schließlich lapidar.

Nun reagierte auch Tifflor. »Deine Reise nähert sich dem Ende.«

Es ist eine Aufzeichnung, stellte der Extrasinn fest. Ein Holo, allerdings so fortgeschritten, dass es mit dir interagieren kann.

Ich verstand. Ein Programm, dazu geschrieben, mir wichtige Informationen zu übermitteln. Tifflor war ganz woanders, irgendwo, irgendwann, wo ich ihn nicht mehr greifen konnte.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte ich. »Wieder Jahrhunderte, wie bei meiner Hinreise zu den Jenzeitigen Landen?« Ging ich von derselben Reisezeit aus, wären seit meinem Aufbruch aus der Milchstraße anderthalb Jahrtausende vergangen. Nichts mehr wäre so wie damals, vielleicht keiner meiner Freunde mehr am Leben.

Möglicherweise nicht einmal mehr Perry Rhodan.

Tifflor schüttelte den Kopf. »Nein. Nur wenige Jahre. Es ist mir gelungen, für deine Reise die eine oder andere Abkürzung zu nutzen.«

Abkürzung, dachte ich. Abkürzungen sind nur selten gut. Auch auf dem Weg zu einer Superintelligenz. Meistens erweist es sich im Nachhinein als besser, den langen Weg zu nehmen.

»Und wohin führt mich die Reise?«

»Ich will dir damit ein letztes Geschenk machen«, antwortete Tifflor ausweichend, »bevor ich mich endgültig auf Thez' Seite der Scherung zurückziehe.«

Ich brauchte einen Augenblick, um die Bedeutung dieser Aussage zu verdauen. »Dieses Universum«, setzte ich dann nach, »mein Universum ... an seinem Ende steht also nicht mehr Thez?«

»Nein. Es ist ein offenes Universum, offen im Guten wie im Bösen, offen für alles. Vielleicht zu offen. Thez hat sich abgewendet.« Trauer klang in diesen Worten mit.

Ich ahnte verschwommen, was Tifflor damit meinte. »Was genau hat das zu bedeuten?«

»Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen. In diesem Universum bin ich nur so etwas wie eine Idee. Ich kann mich hier nicht halten. Und auch die Sonde wird sich nicht halten können. Mach von ihr Gebrauch, solange es möglich ist.«

»Ist die Sonde das Geschenk?«

»Nein. Das Geschenk ist, an deinem Ziel anzukommen. Am rechten Ort und zur rechten Zeit, gerade rechtzeitig.«

»Wo werde ich ankommen?«

Nun lächelte Tifflor. »Dort, wo du stets am liebsten warst, alter Freund. Mitten im Getümmel. Aber wundere dich nicht – und lass dich vor allem nicht täuschen.«

»Worüber soll ich mich nicht wundern?«

»Dein Ziel ist nicht die Milchstraße! Es ist sehr weit davon entfernt. Und nun leb wohl, alter Freund. Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«

1.

Etwas Merkwürdiges

 

»Mäuser!«

Eine kurze Pause folgte, dann, lauter: »Mäuser!«

Oliver Mäuser seufzte. Er war ein gutmütiger Typ und stets bereit zu helfen ... aber er mochte es nicht, gestört zu werden, wenn er sich wirklich konzentrieren musste. Doch darum scherte sich sein neuer Kollege nicht, der übereifrig ans Werk ging, seit er vor über einem Monat in der metallurgischen Abteilung des Bergwerks angefangen hatte.

»Sird Oliver, hörst du mich?«

Weil er sich ohnehin nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren konnte – er untersuchte die merkwürdigen Werte des Metalls in der Bodenprobe –, rief er: »Bist ja nicht zu überhören, Fitzgerald.«

Der Kollege lugte um die Ecke der Trennwand aus flexiblem Kunststoff, die Oliver nutzte, um seinen Arbeitsbereich abzugrenzen und um darauf ein Foto seiner Familie zu projizieren – seine Frau, sein Sohn und sein Ungeborenes. Vor allem Letzteres gefiel ihm; eine perfekte Hochrechnung der Holoanalyse. So würde das Kind nach der Geburt aussehen.

Im grellen Kunstlicht der Werkshalle sah Fitzgerald Klem blasser aus als sonst, aber sein Grinsen schien wie immer auf seinem Gesicht festgemeißelt. Die hellbraunen, fingerlangen Haare hingen unordentlich; er sah müde aus. Nein – übermüdet.

»Hab ich dir das nicht bereits hundertmal gesagt? Nenn mich Fitz, wie alle meine Freunde.«

»Sind wir das?«

»Freunde?«

Mäuser nickte, während er wehmütig die Gesteinsprobe mit der Metallader beäugte. Das Spektrometer zeigte höchst interessante Werte.

Merkwürdige Werte.

Er wandte sich endgültig seinem Besucher zu. Das projizierte Schutzfeld vor seinem Arbeitsplatz erlosch automatisch.

»Klar sind wir Freunde!« Klem kam näher und beugte sich über die Mulde im Arbeitstisch. »Schön, übrigens.«

»Die Probe?«

»Unsinn! Die Fotowand deiner Familie.«

»Danke.«

»Wann kommt das Kind?«

Oliver hatte keine Lust auf eine Plauderei, doch sein Kollege redete ohnehin weiter, war offensichtlich nicht ernsthaft an einer Antwort interessiert.

»Ich wünschte, ich hätte auch ... oh.« Klem unterbrach sein beiläufiges Gemurmel, als er die Tabelle mit den Analysewerten musterte. »Hast du falsch gefluxt? Die Magnetpulverprüfung ist ...«

»Soll das ein Witz sein?«, begehrte Mäuser auf. »Selbstverständlich nicht. Die Werte sind korrekt.«

»Hm«, machte Fitz Klem. »Ein erstaunlich reines Metall. Eine Sichtprüfung unter UV-Licht ...«

»Habe ich längst erledigt.«

»Kohlenstoff, Mangan, Molibdän, Chrom?«

»Hör zu, Fitz – lass mich meine Arbeit tun. Ich weiß, welche Fragen sich hier stellen.«

»Aber dieses Metall ist ...«

»... nicht natürlich, ja. Sehe ich genauso. Es ist bearbeitet, und zwar auf sehr fortschrittliche Weise. Fragt sich, wie es in unberührte Erde tief unter der Oberfläche kommt. Wenn wir morgen den neuen Stollen abteufen, um dorthin vorzustoßen, sollten wir uns auf eine Überraschung gefasst machen.«

»Glaubst du, dass es von früheren Bewohnern stammt? Eine Art ... Hinterlassenschaft? Schließlich wohnen wir erst seit ein paar Jahrtausenden auf Cessair.«

»Ich bin weder Prophet noch Archäologe, sondern Metallurg. Ich interessiere mich nicht für unsere Vergangenheit. Die eine Legende sagt, die frühen Menes kamen von hier, die andere Geschichte erzählt, sie kamen von dort. Wen interessiert's? Ändert es etwas an meinem Leben?«

»Aber du hast eine Meinung.«

»Habe ich.«

»Und?« Fitz sah ihn auffordernd an

Oliver schwieg und sprach nicht aus, was er dachte: Und ich wüsste nicht, warum ich sie dir verraten sollte. Vielmehr frage ich mich, weshalb du so neugierig bist. Deshalb gab er sich auch so uninteressiert. »Sagen wir so, es beunruhigt mich«, wich er aus.

»Verständlich.« Klem gab sich offenbar Mühe, immer noch gut gelaunt auszusehen, doch die Heiterkeit erreichte seine Augen nicht.

Er ist kein guter Schauspieler, dachte Mäuser, und das war eine der vielen Merkwürdigkeiten, die ihm in letzter Zeit auffielen. Und das nicht etwa nur in den Bodenproben des geplanten Bergwerkstollens – vor allem im Verhalten seines Kollegen.

Mit dem ach so jovialen Fitzgerald »Fitz« Klem stimmte etwas nicht. Oliver fürchtete, dass er gar kein Menes war, sondern nur vorgab, einer zu sein. Dass er gar nicht von Cessair stammte. Dass er ein Fremdwesen war, ein Spion der Gauchen ... von einem fremden Planeten gekommen, um eine Invasion vorzubereiten ...

Aber ausgerechnet auf Britonia sollte ein Gauche aktiv sein? Im Labor des Bergwerks? Auf den ersten Blick wirkte diese Vorstellung lächerlich, doch je länger Oliver darüber nachdachte, umso logischer erschien es ihm.

In ihrer Anlage bauten sie wertvolle Metalle ab, die sich beim Raumschiffbau als unverzichtbar erwiesen. Und mit ihren Raumschiffen stießen die Menes ins All vor – bislang sehr zaghaft, aber der Heimatplanet der Gauchen lag in erreichbarer Entfernung. Angeblich beherrschten die Gauchen das überlichtschnelle Reisen viel besser.

Würden die Fremden also nicht versuchen, die Raumfahrt zu sabotieren? Und ausgerechnet das wichtigste Bergwerk, das essenzielle Rohstoffe lieferte, bot einen guten Ansatzpunkt für diverse terroristische Anschläge ...

Fitzgerald Klem wäre es dank seiner Position außerdem ein Leichtes, die Bodenprobe zu manipulieren oder auszutauschen. Nur – zu welchem Zweck? Darüber hatte sich Oliver schon lange den Kopf zerbrochen, ohne eine Antwort zu finden. Er wusste nur, dass ein derart reines Metall nicht in der Natur vorkam.

Die Vorstellung, er könnte in diesem Augenblick vor einem Angehörigen eines fremden Volkes stehen, erschütterte ihn bis ins Mark und ängstigte ihn, aber er wollte dieser Furcht nicht nachgeben.

Er hatte überlegt, wie er sich Klem unbemerkt nähern könnte, und nun war dieser zu ihm gekommen. Ein Wink des Schicksals? Bloßer Zufall? Wie auch immer, er würde herausfinden, ob Klem ein Spion der Fremden war!

Es gab eine einfache Möglichkeit, das zu testen. Gauchen unterschieden sich grundlegend von Menes, obwohl sie sich perfekt zu maskieren wussten. Oder weitaus mehr als das, denn keine Maske, die sich Oliver vorzustellen vermochte, könnte ein Echsenwesen in einen Menes verwandeln.

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Illustration: Swen Papenbrock

Nicht dass Mäuser jemals einen echten Gauchen gesehen hatte. Aber es kursierten Bilder, und die zeigten eindeutig echsenhafte, aufrecht gehende Wesen, nur weniger zierlich als der durchschnittliche Menes und dummerweise ohne Schwanz – sonst wäre die Maskerade weitaus schwieriger. Außerdem überzog Schuppenhaut den ganzen Körper, die sie perfekt verbargen. Angeblich gab es ein chirurgisches Verfahren, das ihnen weiche Haut aufpflanzte, die tatsächlich lebendig aussah. Je nach Quelle hörte man auch von anderen Methoden.

Oliver schüttelte die Gedanken ab. Er hatte Angst, aber er wusste, dass er handeln musste. Wer nicht gegen das Böse kämpfte, machte gemeinsame Sache mit ihm und war nicht besser als der, der einen tödlichen Schuss abgab.

Wie auch immer – er wusste, wie er Klem enttarnen konnte, sollte er ein Fremder sein.

Er würde ihn bluten lassen.

 

*

 

»Sieh es dir ruhig etwas genauer an!«, forderte er seinen Kollegen auf.

»Danke.«

Oliver fragte sich, ob er sich das beinahe unmerkliche Zögern nur einbildete. Wie dem auch sein mochte, Fitz Klem vertiefte sich in die Analysedaten und beugte sich über die Mulde im Untersuchungstisch.

Mäuser wollte zum Angriff übergehen. Es musste wie ein Unfall aussehen. Sein Herz raste. Sollte er seine Beweisführung verschieben? Vielleicht gab es später eine bessere Gelegenheit ...

Nein.

Wann, wenn nicht sofort?