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HORZ

Heinrich Glareans Dodekachordon
Zu den textuellen Bezügen des Musiktraktats

WIENER FORUM
FÜR ÄLTERE MUSIKGESCHICHTE

Herausgegeben von Birgit Lodes

BAND 8

ANDREA HORZ

Heinrich Glareans Dodekachordon
Zu den textuellen Bezügen des Musiktraktats

HEINRICH GLAREANS
DODEKACHORDON

ZU DEN TEXTUELLEN BEZÜGEN DES MUSIKTRAKTATS

VON
ANDREA HORZ

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Wissenschaftlicher Beirat

Umschlaggestaltung und Satz: Gabriel Fischer

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.

© 2017 by HOLLITZER Verlag, Wien

ISBN 978-3-99012-314-0

INHALT

I. Praefatio – Ad lectorem

II. Glareani ΔΩΔΕΚΑΧΟΡΔΟΝ – Memoria, Freundschaft und Glaubensfragen

1. Scholastische Bildung und humanistische Lebenshaltung

2. Glaubensfragen – Humanismus und Reformation

3. Autobiographische Momente in einem Musiktraktat: Resümé

III. Nomenclatura authorum – Im Umfeld enzyklopädischer Bildung

1. Intertextuelles Gewebe

2. Zwischen Philosophie und Grammatik – Vorbilder und Ideale

3. Polyhistoria – Panepistemon

4. Ars corrigendi – Aspekte philologischer Arbeit im 15. und 16. Jahrhundert

5. Chambre d’échos: Resümé

IV. Graeci et Latini – Antikes Erbe

1. Phonasci et Poetae

2. Natura et Ingenium

V. Latini ab D. annis – Mittelalterliches Erbe

1. Cantus ecclesiasticus I – Choralreform und Reformation

2. Cantus ecclesiasticus II – Glarean und der gregorianische Choral

VI. Latini A C. et infra annis – Rezeptionsstudien

1. Symphonetae – Oder: Von polyvalenten Sinnbezügen mehrstimmiger Exempla

2. Zwischen Katholizismus und Protestantismus: Ludwig Senfl

3. Lehrer eines berühmten Humanisten: Jacob Obrecht

4. Boethiusrezeptionen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

VII. Literaturverzeichnis

VIII. Register

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Glarean, Dodekachordon, Basel 1547
[Exemplar D-Mbs, Z L.impr.c.n.mss. 73], Titelblatt

Abb. 2: Glarean, Dodekachordon, Basel 1547
[Exemplar D-Mbs, Z L.impr.c.n.mss. 73], Nomenclatura authorum

Abb. 3: Poliziano, Opera omnia, Venedig 1498
[Exemplar D–Mu, 2° Inc.Lat. 919], Panepistemon

Abb. 4: Poliziano, Opera omnia, Venedig 1498
[Exemplar D–Mu, 2° Inc.Lat. 919], Miscellanea, Caput C

Abb. 5: Celtis, Melopoiae, Augsburg 1507
[Exemplar D-Mbs, Rar. 291], Inhaltsverzeichnis

Abb. 6: Glarean, Dodekachordon, Basel 1547
[Exemplar D-Mbs, Z L.impr.c.n.mss. 73], S. 181

Abb. 7: Glarean, In Q. Horatium Flaccum Annotationes, Freiburg 1540
[Exemplar D-Mbs, A.lat.a. 259], S. 13

Abb. 8: Gaffurio, De Harmonia, Mailand 1518
[Exemplar D-Mu, W2°Art. 239], fol. LXXXIIIIv

Abb. 9: Gaffurio, De Harmonia, Mailand 1518
[Exemplar D-Mu, W2°Art. 239], fol. LXXXXIv

Abb. 10: Glarean, Dodekachordon, Basel 1547
[Exemplar D-Mbs, Z L.impr.c.n.mss. 73], S. 62

Abb. 11: Poliziano, Opera omnia, Venedig 1498
[Exemplar D–Mu, 2° Inc.Lat. 919]

Abb. 12: D-Mu Cod. mus. 322, fol. 15r

Abb. 13: D-Mu W2° Art. 239#2

Abb. 14: D-Mu W2° Art. 239#2

Abb. 15: D-Mu W2° Art. 239#2

Abb. 16: Listenius, Musica, Nürnberg 1541
[Exemplar D-Fru F 9302, aw]

Abb. 17: Listenius, Musica, Nürnberg 1541
[Exemplar D-Fru F 9302, aw]

I. PRAEFATIO – AD LECTOREM

Als ein verwegenes Unternehmen beschreibt Heinrich Glarean zu Beginn sein Vorhaben in der Dedikationsepistel des Dodekachordon, als ein Vorhaben, mit dem er sich der Gefahr aussetze vom gesamten Erdkreis verbannt zu werden.1 Schließlich maße er sich an, nicht allein eine Saite hinzuzufügen, wie Timotheus von Milet, sondern den Achtsaiter zu einem Zwölfsaiter zu ergänzen.2 Gewagt, zwar nicht existenzbedrohend, doch bei Weitem nicht selbstverständlich, erprobt auch die vorliegende Studie einen Zugang, der keineswegs gewöhnlichen Gepflogenheiten bei der Behandlung musiktheoretischer Texte folgt. Mit der Tonartenlehre, dem Modus – eine Kategorie, die seit der Antike nicht allein Musikalisch-Technisches bezeichnet, sondern mit Konnotationen von emotionalen Eigenheiten bis hin zu spezifischen Charakteristika eines ganzen Volkes aufgeladen war,3 zu Beginn des lateinischen Mittelalters durch Verschmelzung mit weiteren Traditionen, wie den byzantinischen Oktoechoi, als Ordnungssystem gregorianischer Melodien transformiert, im 15.–16. Jahrhundert wieder vermehrt in das Blickfeld theoretischer Auseinandersetzung rückend – war Heinrich Glareans Traktat innerhalb der musikhistorischen Forschung dazu prädestiniert, Beachtung allein deshalb zu finden, um hieraus Hilfestellung für den Umgang mit den Stücken zu destillieren; das Werk also als Steinbruch dafür zu nutzen, Analysekriterien für die Musik, allem voran für die Bestimmung der Tonarten polyphoner Stücke, zu legitimieren. Reichlich zitiert ist diese Abhandlung auch deshalb, weil sie eine Vielzahl von Anekdoten und zeitgenössischen Sichtweisen auf Komponisten und Kompositionen bietet, was zur Folge hat, dass Glareans Name in einschlägigen Monographien und Artikeln sehr häufig zu lesen ist.4 Diese positiven Vereinnahmungen des Textes konterkariert das vernichtende Urteil von Claude Palisca, der Glarean eine Fehlleistung bescheinigt, ein Scheitern bei der Rekonstruktion antiker Tonarten. Denn, so dessen Perspektive, seine Ausführungen haben nichts mit antiker Wirklichkeit zu tun.5 Quelle für Methoden heutiger Analyseversuche, Anekdotenpool, um wissenschaftliche Befunde mit zeitgenössischen Bemerkungen zu würzen, fulminantes Scheitern hinsichtlich der wissenschaftlichen Leistung des Autors vor dem Hintergrund neuerer Forschung zur Musikpraxis in der griechischen Antike, das ist das disparate Bild, für das das Dodekachordon häufig steht.

Die vorliegende Studie hingegen zielt darauf, das Dodekachordon als solches in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen – doch weniger, indem die soeben genannten Punkte aufgegriffen und dann in ein vermeintlich richtigeres Licht gerückt werden. Das Dodekachordon ist vielmehr Fokus, ein Haltepunkt, von dem ausgehend verschiedene geschichtliche respektive musikgeschichtliche Stränge exploriert werden sollen, denn die bereits aufgezählten Zugänge machen eben auch die vielschichtige Anlage der Abhandlung deutlich. Damit verfolge ich ein Anliegen, das getragen ist von dem Gedanken, den Erkenntniswert von Traktaten, die gemeinhin der Musiktheorie zugeschlagen werden, nicht allein daran zu bemessen, welchen Gewinn sie für einen unmittelbar musikbezogenen Wert, also für die Musikanalyse oder für notationskundliche Probleme bieten respektive welchen Nutzen sie für das biographische Bild eines Komponisten zeitigen – eine solche Behandlung ist bei der diachrone Erforschung musikalischer Kategorien gängig. Vielmehr ist das Dodekachordon als Schnittstelle verschiedenster Diskurse aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu lesen.

Dementsprechend möchte ich das Dodekachordon über die unmittelbaren musiktheoretischen Belange hinaus zu Wort kommen lassen – ein Zugang, der nicht ohne Archegeten ist: Cristle Collins Judd ist hier zu nennen, deren Ausführungen jedoch auf die die mehrstimmigen Exempla des Traktats beschränkt sind.6 Mehr noch war es Sarah Fuller in ihrem seitens der Forschung äußerst positiv rezipierten Artikel „Defending the Dodekachordon“ ein Anliegen, Glareans Position als Katholik zu berücksichtigen, der zugleich in einer durch Glaubensstreitigkeiten explosiv aufgeladenen Atmosphäre mit seiner Neupositionierung des Tonartensystems für Eingriffe in die traditionelle Chorallehre plädiert. Das Dodekachordon ist ihrer Ansicht nach unter diesen Auspizien als ein von Ideologien und rhetorischen Strategien durchdrungener Text zu lesen, derer sich Glarean bediente, um seine Theorie durchsetzen zu können. Doch bleiben hier Leerstellen, so beispielsweise die Frage, weshalb Glarean überhaupt daran gelegen war, zwölf Modi zu propagieren. Diese Frage stellt sich nicht allein deshalb, weil er sich damit, wie Fuller meint, in Gefahr bringen könnte, sondern auch darum, weil von seiner Profession ausgehend zunächst überhaupt kein Interesse an praktischer Musikausübung auszumachen ist, denn er war kein professioneller Musiker. Sein Status war vielmehr derjenige eines philologisch tätigen Humanisten, also derjenige eines Gelehrten.7 Zudem ist unter den Forschungsarbeiten auf den von Nicole Schwindt herausgegebenen Sammelband von 20058 hinzuweisen, der – von verschiedenen Autoren getragen und damit von unterschiedlichen Ansätzen bestimmt – eine gute Ausgangsbasis für die vorliegende Untersuchung bot: Viele Einzelbeobachtungen konnten erweitert und unter neuer Perspektive eingeordnet werden.

Zuletzt erfuhr Heinrich Glarean Aufmerksamkeit im Rahmen des von Inga Mai Groote 2008–2011 geleiteten Forschungsprojektes Humanistische Theorie der Musik im Wissenssystem ihrer Zeit. Pluralisierung eines Kunstdiskurses, das in den Sonderforschungsbereich Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit, LMU München eingebettet war.9 Die auf Heinrich Glarean bezogenen Resultate liegen zum einen mit der Dissertation Autorität der Autorschaft des Projektmitarbeiters Bernhard Kölbl vor10, die die vorliegende Studie sehr gut ergänzt. Kölbls Interesse ist vor allem auf die Rezeption des Dodekachordon gerichtet, untersucht also insbesondere die Verwendung des Traktats ab seinem Erscheinen 1547, ein Forschungsfeld, das hier nur vereinzelt gestreift werden kann. Zum anderen widmet sich der von Groote und Iain Fenlon gemeinsam herausgegebene Band Heinrich Glarean’s Books. The Intellectual World of a Sixteenth-Century Musical Humanist Glareans Umgang mit Büchern. Glareans handschriftliche Eintragungen in seinen Büchern, die im Mittelpunkt der Beiträge stehen, belegen das vielfältige Interesse des Humanisten – ein Grund mehr, das Dodekachordon unter dem Blickpunkt eines philologisch tätigen Humanisten zu ergründen. Während die Spezialisten aus unterschiedlichen Fachgebieten bei Groote/Fenlon die einzelnen Wissensbereiche und Bücher gesondert würdigen, ist es das Anliegen der folgenden Arbeit im Netzwerk von Glareans annotierten Büchern und von ihm herausgegebenen Drucken in unterschiedlichster Weise Bezüge zum Dodekachordon aufzuzeigen: Damit liegt der entscheidende Unterschied zur Veröffentlichung von Groote/Fenlon im Zugriff auf das Quellenmaterial, das in der vorliegenden Schrift dezidiert in Konzentration auf die Verknüpfung mit dem Dodekachordon gelesen wird.

Dass bei einem solchen Anliegen nicht allein musiktheoretische Fragestellungen im klassischen Sinn verhandelt werden und ein derzeit gängiges Modell innerhalb der Musiktheorie auf den Kopf gestellt wird, dürfte nunmehr deutlich geworden sein. Weniger steht das Erkunden einer kompositorischen, historischen oder ästhetischen musikalischen Idee im Mittelpunkt, die anhand einer bestimmten Gruppe von Werken behandelt werden soll, sondern umgekehrt sind jene Elemente ausgehend von einem Gegenstand – dem Dodekachordon – zu eruieren.11 Damit ist mit dem Druck – gleichsam als historisches Fenster – die Möglichkeit geboten, den Stellenwert der Musik zu einem bestimmten Zeitpunkt unter einer bestimmten Konstellation zu erkunden.

Dieser Ansatz steht demjenigen Pierre Bourdieus nahe,12 der beispielsweise in seiner Schrift Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes die Struktur des in Gustave Flauberts Roman Erziehung des Herzens eingeschriebenen Raum als äquivalenten sozialen Raum des Werkautors selbst liest.13 Abgesehen von den unterschiedlichen literarischen Gattungszugehörigkeiten der Untersuchungsgegenstände, d.h. dort ein Roman, hier eine wissenschaftliche Abhandlung, besteht jedoch eine entscheidende Differenz im Zugriff. Während sich Bourdieu bei seinem Vorhaben auch den Methoden seines Faches – also der Soziologie – bedient, erschließt sich mir das als „Feld“ bezeichnete Terrain des Textes vor allem über die eingeschriebenen intertextuellen Vernetzungen, die Briefe, Bücher, Annotationen, Drucke, Manuskripte, aber auch die religionspolitischen Verstrickungen und persönlichen Verbindungen anzeigen. Die durch den Druck erzeugten Felder und Denkräume sind über diese intertextuellen Verstrickungen nachzuverfolgen. Die in der vorliegenden Dissertation am Beginn der Hauptkapitel stehenden Motti – einzelne Zitate aus Gérard Genettes Palimpseste sowie aus Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches – verweisen gleichsam in spielerischer Weise auf eine der Inspirationsquellen für die Ausrichtung der Arbeit allgemein, sowie auf Leitgedanken der Kapitel im Speziellen.

Die Quellenlage ist für eine derartige Annäherung an die Abhandlung günstig, liegen heute nicht allein die Werke Glareans vor, sondern sind mehr noch Bestandteile seiner Bibliothek erhalten,14 womit über den Nachweis der von ihm zurate gezogenen Exemplare hinaus seine handschriftlichen Eintragungen studiert werden können.15 Eine derartige mehrdimensionale intertextuelle Lesart des Dodekachordon ist bis dato noch nicht geleistet worden. Auf diese Weise können über die direkten musikalischen und musiktheoretischen Belange hinaus weitere Denkräume erschlossen werden, in denen sich Musik bewegte.

Der Autor ist als eine maßgebliche Instanz zu sehen, weniger als Instanz für die Deutungshoheit einer Interpretation oder gar um Rückschlüsse auf psychische Befindlichkeiten zu schließen – die langjährigen Debatten über den Tod des Autors und der der Verschiebung des Werkes zu Text haben die Schwächen jenes Konzeptes hinreichend aufgezeigt.16 Doch bietet der Autor durch seine geschichtliche Verortung eine Koordinate für die Einbettung des Textes im Kulturzusammenhang. Dem Autor, präziser: dem impliziten Autor, ist in dieser Weise Aufmerksamkeit zu schenken, Text und Kontext fallweise in ihrem Verhältnis zueinander zu reflektieren.17

Die methodische Konzeption, d.h. die Konzentration auf das Dodekachordon als Fixpunkt innerhalb der Geschichte, spiegelt sich im Aufbau der vorliegenden Studie. Die Kapitelabfolge orientiert sich – hierin ebenfalls homageartig an Genettes Anmerkungen zu den Paratexten anschließend – an der von Glarean gesetzten nomenclatura authorum, die die maßgeblichen Schriftsteller und Komponisten des Dodekachordon anzeigt. Unter deren Rubriken sind die Einzelstudien geordnet, die ausgehend vom Text des Traktats bisherige, die unterschiedlichsten Kontexte der Schrift tangierende Forschungsergebnisse kritisch reflektieren und vielfältige neue Sichtweisen bieten.

Unter den aufgeführten Namen lassen sich Glareans Lehrer und Vorbilder ausmachen, die er im Textverlauf durch autobiographische Anekdoten und Hinweise signiert. Die im ersten Teil vorgenommene Kontextualisierung dieser sich innerhalb eines Musiktraktats äußerst ungewöhnlich ausnehmenden Splitter lotet den soziokulturellen Rahmen der Schrift aus. In den Verweisen reflektieren sich die (bildungs-)wissenschaftlichen Koordinaten des Autors und dessen Verflechtungen in die politisch-religiösen Kämpfe der Zeit. Denn Glareans Selbstreferenzen legen seine Positionen und Grundsätze in den verschiedensten Auseinandersetzungen offen, denen er sich in seinem Leben gegenübergestellt sah. Sie kennzeichnen die Schrift als den Maximen des biblisch-philologischen Humanismus erasmischer Prägung verpflichtet, Idealen, denen Glarean offenbar nach der Reformation im selben Maße wie davor anhängt. Aus dieser Perspektive können sein Wirken als Gelehrter und seine Äußerungen zur Reformation differenziert verortet werden. Ist seitens der bisherigen Forschung Glareans Position als treuer Katholik und Gegner der Reformation beschrieben,18 so ist demgegenüber aus der hier vorliegenden Perspektive sein Anliegen nicht als Umschwung seiner früheren, vorreformatorischen Ideale zu sehen. Sein humanistisch orientierter Katholizismus ist vielmehr dem traditionellen katholisch-scholastischen Denken gegenüber zu stellen – eine für den weiteren Verlauf der Studie folgenreiche Erkenntnis, die dem Dodekachordon auf unterschiedlichste Weise eingeschrieben ist.

Folgt der erste Teil der Studie den autobiographischen Inskriptionen, geht es im zweiten um die intellektuelle Situierung der Schrift innerhalb des durch die nomenclatura authorum angezeigten intertextuellen Gewebes. Das Dodekachordon steht innerhalb von Glareans Œuvre nicht für sich, noch ist ob des musikologischen Gegenstandes ein sich von seinen anderen Abhandlungen unterscheidender Denkhorizont auszumachen. Die Exploration der durch die intertextuellen Verweise angezeigten philologischen Grundhaltung legt Glareans Position als Philologe offen. Zwar knüpft er an die italienischen Vorbilder an, distanziert sich aber in einigen Punkten entschieden. Glarean hat also in einer bestimmbaren Weise teil an der Ausprägung der philologischen Disziplin, die erst zur Jahrhundertmitte regelrechte Lehrschriften hervorbringt, wie beispielsweise Francesco Robortellos Ars corrigendi (1555), in der Glarean als vorbildhafter Korrektor genannt wird. Über das Dodekachordon partizipiert die Disziplin Musik in umfassender Weise an der humanistischen Idee, die Disziplinen über philologische Arbeit zu erneuern.19 Einzelne, bislang unbeachtete Kapitel indizieren den über den engeren Musikkontext hinaus gehenden philologischen Diskurs, konkret gesagt sind in das Dodekachordon Glareans Responsen zu den berühmtesten Philologen seiner Zeit eingesenkt: zum einen zu Angelo Polizianos in einem Miscellaneum ausgeführten terminologische Überlegungen, zum anderen zu Erasmus’ Ausführungen zu einem Adagium. Sie verweisen auf den außerhalb der engen Fachdisziplin liegenden Kontext, wo Glareans Wissen über Musik zum Tragen kommt und woraus er wiederum schöpft – Einzelstudien, die mithilfe der Erschließung von Glareans Annotationen in seinen Büchern ebenfalls auf detaillierte Weise Licht auf die Arbeitsweise eines Humanisten werfen und somit über die Musikwissenschaft hinaus einen Beitrag zur Geschichte der Philologie liefern.

Antikenrezeption ist das Identifikationsfeld, das jeglichem Humanismus zu eigen ist – unübersehbar markiert Glarean dieses Anliegen in seiner nomenclatura mit der Auflistung antiker Autoren unter der Rubrik Graeci und Latini. Dieser Spur folgend sind unter diesem Stichwort zwei Studien gefasst, die Glareans Rückgriff auf antike Ideen in besonderem Maße zeigen. Wie andere poetae laureati verfolgt er, wie auch Conrad Celtis, die Inszenierung eines wiedergeborenen Horaz – doch differiert seine Auffassung von der antiken Praxis des Odengesangs von jener, der des heute als gattungsprägend eingeschätzten Erzhumanisten. Gilt in der bisherigen Forschungswahrnehmung die Humanistenode als vierstimmige, dem Schulkontext zuzurechnende syllabische Vertonung antiker Metren, so ist diese Gattungsbeschreibung zu korrigieren, denn (u.a.) Glareans Beispiel belegt eine einstimmige Gesangspraxis, die flexibler auf den Textinhalt eingeht und der Selbstinszenierung als poeta laureatus dient.20 Daneben ist der Humanist Glarean um den Transfer antiker Bildungsideale bemüht: Natura und ingenium, zwei über Musikbelange hinaus wichtige Begriffe, prägen Glareans Abhandlung wie keinen zweiten Musiktraktat. Eine detaillierte Begriffsstudie führt zur Erkenntnis, dass Glarean hier ein vor allem in Quintilians Institutio oratoriae beschriebenes pädagogisches Programm auf die Musik überträgt: Den von der Natur aus gegebenen Modi kommt jene, das ingenium formende Funktion zu. Erst im Zusammenspiel von menschlicher Begabung und dem aus Naturbeobachtung gewonnenen Wissen kann ein vollkommenes Stück Musik geschaffen werden. Rückprojektionen im Sinne des neuzeitlichen Geniebegriffes, wie sie vereinzelt in der Forschung auftauchen21 – und seien sie auch nur teilweise vorgenommen –, sind dementsprechend nachdrücklich zu revidieren.

Verbindet man humanistische Bestrebungen zuallererst mit antiker Bezugnahme, so fungiert dafür insbesondere auch das Mittelalter als Folie. Mehr noch: Das Verhältnis zur unmittelbaren Vergangenheit, der Umgang mit dem mittelalterlichen Erbe kann als Abgrenzungspunkt zwischen verschiedenen humanistischen und schließlich auch reformatorischen Konzeptionen gelesen werden. Mit der Nennung von mittelalterlichen Autoren unter einer gesonderten Kategorie in der nomenclatura authorum signalisiert Glarean seine, dem Humanismus Erasmus’ verpflichtete Einstellung zu diesem für Humanisten und Reformatoren gleichermaßen problematischen Zeitalter. Es ist die Stellung zum mittelalterlichen gregorianischen Choral, die im Dodekachordon Glareans besondere Umsetzung humanistischer Grundsätze verifiziert. Anders als bisher kann die Abhandlung diesem Impetus nach als eine Antwort auf die verschiedenen Entwürfe gelesen werden, den Kirchengesang zu erneuern; sie ist so gesehen mitnichten als ein auf ideologischen Strategien beruhender Text einzustufen, mit dem Ziel, etwaige Neuerungsabsichten zu verschleiern.22

Das Dodekachordon ist als ein Versuch zu werten, das erasmische Gedankengut in verschiedenster Hinsicht in die Praxis umzusetzen, eine Sichtweise, die erst der Revision bisheriger Forschungsmeinungen auf verschiedenen Feldern bedarf. Entgegen dem bisherigen Forschungsstandpunkt, nach dem Erasmus von Rotterdam insbesondere mehrstimmiger Musik im Gottesdienst ablehnend gegenübersteht, ergibt die erneute Durchsicht der Quellen, die auch die späten Schriften berücksichtigt, ein anderes Bild, das mit demjenigen von Glarean übereinstimmt: Nicht die polyphone Musikpraxis per se lehnt Erasmus ab,23 sondern gemäß seiner Fürsprache für eine gemäßigte Gottesdienstgestaltung tritt er für eine Mäßigung in der Musikausübung ein. Darüber hinaus ist Glareans Dodekachordon in den Kontext der verschiedenen reformatorischen Bewegungen zu stellen, die nicht allein von Martin Luther bestimmt sind. Vielmehr dürfte seine kritische Haltung gegen die Vorgänge in seinem direkten Lebensumfeld gerichtet sein, denn viele seiner vormaligen engen Vertrauten wurden Reformatoren. Verfolgt man die Streitigkeiten in kritischer Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschungsliteratur, so können verschiedene Diskursstränge ausgemacht werden, die – wie auch Glareans eigene Überlegungen – den Anschluss an Erasmus’ Ideen suchten. Nach diesen Überlegungen ist festzuhalten, dass Ulrich Zwingli – Glareans Jugendfreund – entgegen dem heute propagierten Forschungsbild dem Musizieren im Gottesdienst noch am Ende seines Lebens ablehnend gegenüber stand.24

Glareans Theorie – so der entwickelte Standpunkt – ist seine Anschlussweise an die Ausführungen seines Lehrers Erasmus. Die Kategorie des Modus’, die nach den neusten wissenschaftlichen Methoden, d.h. den philologischen Grundsätzen seiner Zeit, einer Prüfung unterzogen wird, ist das Werkzeug, mit dem das Melodiecorpus des gregorianischen Chorals, dessen Ursprünge er in der Spätantike und im frühen Mittelalter verortet, äquivalent zum Bibeltext der ursprünglichen Reinheit zugeführt werden kann. Es sind also die Wissenschaftsstandards seiner Zeit, mit deren Hilfe Glarean seine Theorie entwickelt. Zugleich führt er aus, wie eine Kirchenreform im Sinne Erasmus’ auf dem Gebiet der Musik seiner Ansicht nach auszusehen hat.

Doch nicht allein in Bezug zu den Vorbildern und Praktiken der Vergangenheit ist das Dodekachordon zu positionieren. Die unter Latini a C. et infra annis sowie die als Symphonetae betitelten Komponisten machen deutlich, dass Glarean auch die Werke seiner Zeitgenossen im Blick hat. Die heutige vornehmliche Wahrnehmung des Dodekachordon liegt in der Bewertung als Musikanthologie, eine Einschätzung, die – das mag nach den bisherigen Ausführungen erstaunen – nachdrücklich zu unterstreichen ist: Die paratextuelle Gestaltung allein verweist auf die polyvalenten Lesemöglichkeiten, die im Druck angelegt sind. Teil dieser Inszenierungsstrategien des Musikdruckes ist das Aufrufen bestimmter Komponisten, prominent ist hierbei Glareans Fürsprache für Josquin Desprez. Jedoch ist in der vorliegenden Studie, abseits der bereits ausgiebig in der Forschungsliteratur diskutierten Statements Glareans, der Blick auf bislang weniger beachtete Komponisten gerichtet. Ludwig Senfl und Jacob Obrecht sind größere Einzelstudien gewidmet, die einmal mehr die Stärke des in dieser Arbeit gewählten Zugangs erweisen. Denn aus der Perspektive des Dodekachordon können neue Sichtweisen auf die Komponisten gewonnen werden. So ist Ludwig Senfls Beschreibung als lutherischer Komponist zurückzuweisen und seine religiöse Gesinnung im humanistischen Sinn zu deuten, eine Überzeugung also, die eine kirchliche Erneuerung für notwendig hält, ohne jedoch die Glaubensgemeinschaft zu spalten. Spekulationen über die Möglichkeit des von Glarean beschriebenen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zwischen Jacob Obrecht und Erasmus von Rotterdam bestimmen seit langem die Forschung.25 Nach einer grundlegenden kritischen Revision des neusten Forschungsstandes geht es darum, Aufschluss darüber zu erlangen, welches Bild Glarean mit der Inszenierung dieses Lehrer-Schüler-Verhältnisses von Erasmus von Rotterdam der Öffentlichkeit vermittelt. Glarean – so die hier entwickelte These – tritt damit der verbreiteten Meinung entgegen, Erasmus sei grundsätzlich gegen polyphones Singen im Gottesdienst gewesen, eine Position, die ihn als Gegner der katholischen Kirche charakterisieren würde.

Das quadriviale Fach Musik ist vor allem an den Namen Boethius gebunden. Dessen Autorität steht das gesamte Mittelalter außer Frage, doch gerät sein Status im 15. und 16. Jahrhundert unter den Humanisten ins Wanken. Denn sie brandmarkten Boethius als Gründungsfigur der von ihnen verhassten scholastischen Kerndisziplin, der Dialektik. Parallel dazu ist in der Forschung für diesen Zeitraum das Ablösen der vermeintlich mittelalterlichen quadrivialen Ausrichtung des Faches Musik hin zur musica poetica ausgemacht worden, die sich vom Kerntext – der De Institutione musica von Boethius – entfernt. Unter diesen Auspizien ist es umso bemerkenswerter, dass Glarean Boethius wie keinen zweiten Autor hochhält. Daher ist der letzte Teil der Arbeit der Untersuchung gewidmet, wie das boethianische Gedankengut zu Beginn des 16. Jahrunderts von Glarean und den von ihm rezipierten Musiktraktaten behandelt wurde. In dieser Rezeptionsstudie sind auch zeitgenössische Textannotationen berücksichtigt (insbesondere von Glareans Handexemplare), sofern sie auf das Studium von Boethius Schrift hinweisen. Als Quintessenz ist festzuhalten, dass sich der Philologe und für die Lehre der rhetorischen Fächer zuständige Glarean mehr als seine Zeitgenossen nachdrücklich für die Originallektüre der spätantiken Schrift einsetzt, um sie über eine philologisch-humanistische Adaption in sein Bildungsprogramm zu integrieren. Wenngleich also Glarean mit der grundlegenden Forderung an die Komponisten, den Textinhalt eines Gesanges in der Musik zu berücksichtigen, Tendenzen in Richtung einer musica poetica aufweist, so bekräftigt er gleichzeitig vehement die Verankerung der Disziplin Musik im quadrivialen Verbund der Fächer.

Die handwerkliche Finesse der vorliegenden Arbeit besteht also darin, Glareans zahlreiche Glossen, Handschriften und gedruckte Texte aus den verschiedensten Disziplinen fruchtbar zu machen; aus dieser Perspektive werden gegebenenfalls bisherige Forschungsmeinungen neu beleuchtet. Wenn nichts anderes angegeben, stammen die Übersetzungen aus dem Lateinischen sowie die teilweise notwendigen Transkriptionen von Eintragungen in Drucken und Handschriften von mir.26 Sie wurden von Frau Dr. Victoria Zimmerl-Panagl (ÖAW) Korrektur gelesen. Ich danke Ihr von Herzen für Ihre hilfreichen Anregungen und Verbesserungen meiner Übersetzungen und Transkriptionen. Ebenso danke ich Dr. Alexander Rausch (ÖAW) für hilfreiche Anmerkungen zu den lateinischen Passagen.

Auch wenn die Studie Interessen verfolgt, die jenseits der musikanalytischen Durchdringung des Tonartenkonzeptes liegen, sind die Ergebnisse durchaus miteinander kompatibel und ergänzen sich gegenseitig. Die vielfältigen Perspektiven, aus denen heraus Glarean das Phänomen Tonart beleuchtet – von der Ethoslehre bis hin zum philologischen Korrektiv gregorianischer Melodien sowie die nachträgliche Klassifizierung der ein- und mehrstimmigen Stücke nach den Tonarten –, weisen die Kategorie Modus als musikanalytisch brüchig und beweglich aus und belegen die Instabilität des Tonartenkonzeptes zu seiner Zeit – ein Befund, zu dem bereits musiktheoretische Studien zum tonalen Modus gelangten. So spricht sich Carl Dahlhaus entschieden gegen die Vorstellung aus, modale Konzepte seien analog zur tonalen Harmonik zu fassen;27 ebenso insistiert Harold Powers nachdrücklich auf die Andersartigkeit einer tonalen Vorstellung in Mittelalter und Renaissance.28 Jessie Ann Owens Untersuchungen zum Schaffensprozess in der Renaissance weisen darüber hinaus den Kirchentonarten marginale bis keine Bedeutung beim Komponieren zu.29 Die konstatierte polymorphe Gestalt der modalen Tonalität führte in musikanalytischer Hinsicht beispielsweise dazu, dass Powers im Anschluss an Siegfried Hermelink die mehrstimmigen Stücke des 16. Jahrhunderts gemäß ihren „tonal types“ bestimmte – ein modernes Analyseinstrument, das er anhand historischer Quellen entwickelte und das zudem Cristle Collins Judd für das Repertoire um 1500 u.a. in Anlehnung an Glareans Beschreibung der zeitgenössischen Praxis durchdachte.30 Die diachrone Erforschung der Musiktheoretika beispielsweise von Walter Werbeck31 oder in jüngster Zeit von Frans Wiering32 kommt zu dem Fazit, dass sich die einschlägigen Theoretiker widersprechen, selbst die Applikation der Tonartenkategorie auf das polyphone Repertoire ist umstritten.33 Sind also diese Erkenntnisse bereits durch andere Forschungen bekannt, so geht die vorliegende Arbeit einen Schritt weiter. Die hier vorgenommene mehrdimensionale Untersuchung ermöglicht die Exploration von Hintergründen eines Moduskonzeptes und verortet dessen Eigenarten im kulturellen Kontext der Zeit.34

Die vorliegende Studie verweist also einmal mehr darauf, dass der tonale Modus offenbar weniger eine analytische Kategorie, als vielmehr eine historische ist. Dementsprechend wäre im Anschluss an die neu gewonnenen Ergebnisse zu fragen, auf welche Weise Komponisten mit den verschiedenen Moduskonzepten umgehen. Als Thema ist die Idee von Tonartenzyklen im 16. Jahrhundert insbesondere von Harold Powers und im Anschluss daran von Frans Wiering bestimmt worden.35 Die Frage nach den kulturellen Implikationen, die mit der Wahl der Komponisten für bestimmte Anordnungen einhergeht, sollte nach den vorliegenden Kenntnissen neu überdacht werden. Der Sonderfall Glarean macht deutlich, dass die Komponisten mit dem Entschluss für ein bestimmtes Tonartenkonzept in einem komplexen Diskurs Stellung beziehen, der eine simplifizierende Zuordnung zum protestantischen oder katholischen Bekenntnis übersteigt. Weiters bleibt offen, in welchem Wissenschaftsfeld sich andere Musiktheoretika bewegen. Auch wenn Glareans Abhandlung als Ausnahmefall zu bewerten ist, zeigt es sich, wie wichtig die Exploration des kulturellen Zusammenhangs einer musiktheoretischen Abhandlung ist, um die jeweilige Tragweite des Geschriebenen zu erfassen. Dies ist umso notwendiger bei dem Sujet Modus, das gerade in seiner Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit auf Diskursebenen außerhalb der engen Fachdisziplin verweist. Denn wie Anne-Emmanuelle Ceulemans bereits festgehalten hat, kann man nicht mit Sicherheit den Modus eines jeden Werkes im 16. Jahrhundert bestimmen.36 Umso mehr ist daher eine plurale Betrachtungsweise anzustreben, die den Blick über die musikalische Analyse hinaus wirft.

Abschließend bleibt schließlich die liebe Pflicht den verschiedensten Personen und Institutionen Dank zu sagen, die es überhaupt ermöglichten, dass die Arbeit in vorliegender Form entstehen konnte. An erster Stelle danke ich von Herzen meiner Doktormutter Prof. Dr. Birgit Lodes, die mein Augenmerk mit einem gemeinsamen Besuch in der Münchner Universitätsbibliothek auf das Dodekachordon und die Eintragungen Glareans in seinen Büchern lenkte. Von Anfang an unterstützte sie die Konzeption der Arbeit und setzte mit ihrer umsichtigen und stets ermunterten Betreuung notwendige Impulse. Ihrem Vorbild, den persönlichen Gesprächen und ihrer kritischen Lektüre verdankt die Arbeit sehr Vieles – nicht zuletzt die vorliegende Drucklegung durch die Aufnahme der Dissertation als Band 8 der Reihe Wiener Forum für ältere Musikgeschichte. Prof. Dr. Gernot Gruber danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, das mir vielfältige Anregung für die nun vorliegende Überarbeitung der Dissertation gab.

Weitreichende Weichenstellungen für diese Arbeit in ideeller und finanzieller Hinsicht erhielt ich vor dem Antritt meiner Stelle als praedoc-Assistentin am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien durch ein dreijähriges Promotionsstipendium des Mittelalterzentrums der Universität Freiburg als Stipendiatin des Graduiertenkolleg „Lern- und Lebensräume im Mittelalter: Hof-Kloster-Universität – Komparatistische Mediävistik von 500–1600“. Dadurch war es mir nicht nur möglich, an einer Stätte von Glareans Wirken zu forschen, in einem anregenden Umfeld verschiedene Ideen zu entwickeln, meine ersten Forschungsergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren, sondern auch die zu Beginn des Projektes noch nicht digitalisierten Drucke ausgiebig zu studieren. Meinen dortigen Betreuern Prof. Dr. Christian Berger, der mir darüber hinaus einen Arbeitsplatz an der Universität zur Verfügung stellte, Prof. Dr. Felix Heinzer, Prof. Dr. Maarten Hoenen sowie Prof. Dr. Andrea Robiglio, meinen Kollegen und MitkollegiatInnen danke ich für Anregungen und Diskussionsbereitschaft.

Meinen Wiener KollegInnen danke ich für die herzliche Aufnahme am Institut. Insbesondere danke ich Prof. Dr. Michele Calella für sein mich sehr motivierendes Interesse, das er meiner Arbeit entgegenbrachte und die Bereitschaft, Teile der Arbeit zu lesen: Seine feinsinnigen Anmerkungen öffneten insbesondere meinen Blick für die Implikationen, die in der ein oder anderen Passage stecken. Deren aller Anteilnahme und stetiges Nachfragen nach dem Fortgang der Arbeit halfen maßgeblich, das Buch fertigzustellen.

Zudem ist Prof. Dr. Klaus-Jürgen Sachs und seiner Frau Eva Sachs zu danken. Kontinuierliche Diskussionen und die Bereitschaft, verschiedene Stadien des Manuskriptes zu kommentieren halfen über schwierige Zeiten hinweg.

Die Korrekturarbeiten übernahmen dankenswerter Weise Elli Baranowski M.A. und Dr. Juliane Fuchs. Für die Hilfe bei der Erstellung des Registers danke ich Anna-Maria Pudziow, B.A. Die Drucklegung ermöglichte die großzügige finanzielle Unterstützung der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

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Abb. 1: Glarean, Dodekachordon, Basel 1547
[Exemplar D-Mbs, Z L.impr.c.n.mss. 73], Titelblatt

II. GLAREANI ΔΩΔΕΚΑΧΟΡΔΟΝ MEMORIA, FREUNDSCHAFT UND GLAUBENSFRAGEN

Titelseite und Zubehör

„Die Seite fünf ist die Titelseite, die nach dem Kolophon der mittelalterlichen Handschriften und der ersten Inkunabeln der Vorfahr des gesamten modernen Verlagsperitextes ist. Im allgemeinen enthält sie neben dem Titel und dessen Zubehör den Namen des Autors und Verlagsname und -ort. Sie kann auch noch so manches andere enthalten, insbesondere die Gattungsangabe, das Motto und die Widmung…“37

1. Scholastische Bildung und humanistische Lebenshaltung

Das Dodekachordon nimmt nicht allein dem Format nach eine herausragende Stellung für sich in Anspruch, auch die diversen Paratexte, also die Schicht, die den Text umgeben und verlängern […], um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ‚Rezeption‘ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen38 geben dem Rezipienten den hohen Stellenwert an, der dem Buch offenbar zukommen sollte. Mit dem größten Schriftzug auf der Titelseite rückt der Urheber der Abhandlung selbst im besonderen Maße in den Blickpunkt, der dann im Text nicht allein sachliche Informationen präsentiert und exklusiv musikalische Argumentationen verfolgt, sondern in den Musiktraktat quasi als (auto)biografisches Dokument nutzend ebenso persönliche und anekdotische Elemente mit einbringt. Im alphabetisch geordneten Index führt Glarean, die biografische Verwobenheit spiegelnd, nicht allein Sachlemmata auf, sondern auch Namen, die seinem persönlichen Umfeld entstammen, wie „Erasmus Roterodamus“, „IOANNES Coclęus Noricus Theologus“, „Hermannus Busthius Poëta nobilis“, „GLAREANI praeceptor MICHAEL Rubellus“ respektive „MICHAEL Rubellus Glareani pręceptor“ etc. Umso mehr ist danach zu fragen, welcher soziokulturelle Referenzrahmen damit in das Buch eingesenkt ist.39

Retrospektive konstruiert ihre eigene Geschichte, sie unterliegt spezifischen Mustern, ist getragen von Narrativen.40 Der Blick auf die Namensliste eröffnet ein Assoziationsfeld und lässt die Identifikationen Glareans in verschiedener Hinsicht erkennen: Es sind insbesondere seine maßgeblichen Lehrer, vor allem für die Musik, die unter den zeitgenössischen Namen ins Auge fallen. Sie können – gleichsam als Chiffre – für bestimmte Positionen innerhalb der verschiedensten Auseinandersetzungen der Zeit gelesen werden, Glarean leistet damit zugleich Dienst an der memoria – ein Anliegen, das er qua humanistischen Status, also seiner der Geschichtsschreibung verhafteten Position umso bewusster ausgeführt haben dürfte.41

Allein das Beispiel Michael Rubellus (Rötlin) gibt Einblick, welche Sorgfalt Glarean auf die Darstellung seines Bildungswerdegangs verwendet, denn Rubellus kann nahezu als Topos, als feststehendes Bild für die frühe musikalisch-humanistische Prägung gelten, den er innerhalb seiner Schriften bereits zu Beginn seiner Karriere ausbildete und beibehielt. Mit dem Verweis „pręceptor“ ist Rubellus im Dodekachordon in besonderer Weise hervorgehoben. Glarean beschreibt ihn als Entdecker seines musikalischen Talentes, der sein Interesse für die Verbesserung des gregorianischen Chorals schon im frühen Alter förderte42 – neben der Hommage an seinen Lehrer ist es zugleich ein Element, mit dem er sein Vorgehen im Dodekachordon legitimiert. In seinen ersten Schriften ist Rubellus (über die Zwingli gewidmete Gedichtsammlung Duo elegarium libri hinaus, in der Glarean in einer Elegie sein gesamtes Können auf ihn zurückführt)43 in der Dedikationsepistel seiner Helvetiae descriptio (1514) greifbar. Neben Ulrich Zwingli, Joachim Vadian, Heinrich Lupulus und den Amerbachbrüdern zählt Glarean zu den herausragenden Männern der Schweiz, im Kommentar zu Glareans Helvetiae descriptio (1519) apostrophierte sein Freund Oswald Mykonius44 Rubellus als Glareans Lehrer, der die bonae litterae sehr lobenswert in Bern unterrichtete,45 und noch 1554, Rubellus war inzwischen verstorben, war Glarean die Erinnerung an seinen Lehrer wichtig: In der Neuauflage aktualisierte er den Kommentar Mykonius’ zur Helvetiae Descriptio um den Verweis auf sein oben dargelegtes Lob im Dodekachordon (1547).46

Glareans Kölner Studienzeit war geprägt von Schulstreitigkeiten, scholastische Ausbildungsrichtung stand dem humanistischen Bildungsideal gegenüber, die von Glarean im Dodekachordon aufgerufenen Namen Hermann von Busche und Johannes Cochläus signieren hierbei einen Standpunkt. Mehr noch dürften die eingefügten Splitter seiner Biographie aktualisierend in der Hinsicht wirken, als dass damit dem Dodekachordon eine bestimmte Position eingeschrieben ist. Umso naheliegender und wichtiger ist also die folgende zweigestaltige Aneignung der solchermaßen markierten Vergangenheit – also zum einen hinsichtlich der damaligen Auseinandersetzungen, zum anderen hinsichtlich des ajourierenden Gehalts zur Zeit der Drucklegung des Dodekachordon.

Köln war zu Beginn des 16. Jahrhunderts Hochburg der scholastischen via antiqua und Glarean47 als Mitglied der bursa montana empfing die Lehre in ihrer thomistischen Ausprägung,48 d.h., der Dozent vermittelte die aristotelische Lehre, indem er den Text vorlas, ihn kommentierte, am Ende einige Fragen eigener Wahl stellte und schließlich beantwortete. Noch im 15. und frühen 16. Jahrhundert sich sicherlich durchaus auch polemisch gegenüber den moderni abgrenzend betrachteten die antiqui den Pluspunkt ihrer Methode in der größeren Textnähe. Denn während bei den moderni im modus quaestiones eine Zahl von Fragen zum Text erhoben und durch die Meinungen anderer Autoritäten erklärt, bevor das Problem durch logische Analyse gelöst wurde,49 steht bei den antiqui die Lektüre des eigentlichen Textes im Mittelpunkt. Damit sahen sie sich als Teil der genuin peripatetischen, also der auf dem Originaltext beruhenden Tradition, als die Verteidiger der mehr mit dem Glauben und der Heiligen Schrift übereinstimmenden aristotelischen Lehre50, von dem sich die via moderna, der neue Weg, aus ihrer Sicht entfernte und sich daher nicht auf die Autorität Aristoteles’ berufen könne.51 Glareans eigene Bestrebungen zur Lektüre der originalen Schriften zurückzukehren, insbesondere im Fall der auch für das Dodekachordon bedeutsamen musikalischen Schrift des Boethius, die er nachweislich bereits um 1511,52 wenn nicht schon eher pflegte, fand gewissermaßen Rückhalt im (ideologischen) Selbstverständnis seiner scholastischen Ausbildungsrichtung.

Die einzelnen Schulrichtungen nahmen für sich jeweils markante Autoritäten in Anspruch: Innerhalb der realistischen Lehre, die sich auf Denker des 13. Jahrhunderts stützte wie Alexander von Hales, Bonaventura, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Giles von Rome und John Duns Scotus53 (während die Nominalisten mit William Ockam, John Buridan und Marsilius von Inghen etc. vor allem Protagonisten des 14. Jahrhunderts anführten), differenzierte William von Euvry 1403 drei verschiedene Traditionen: Der Scotismus ging auf Platon und Augustinus zurück, die Nominalisten auf Epikur und die Peripatetiker auf Aristoteles, Alexander von Aphrodisias und Boethius, eine Unterscheidung, wie sie noch der für die Universität Köln bedeutsame Heymericus de Campo in seinem Tractatus problematicus traf.54

Scheint mit der Präsenz Boethius’ und Aristoteles’ im Dodekachordon Glareans scholastischer Hintergrund durchzuschimmern, so akzentuierte er mit der ausdrücklichen Nennung von Johannes Cochläus und Hermann von dem Busche seine humanistische Präferenz. Scholastik und Humanismus existierten zu dieser Zeit an den Universitäten nebeneinander und bildeten Mischformen, doch waren in Köln die humanistischen Bestrebungen nicht unumstritten. 1509 wandten sich beispielsweise die Kölner Theologieprofessoren gegen die Lektüre heidnischer Dichter und paganisierender Autoren der Neuzeit und setzten sich (mit Vergil als dem einzigen antiken Autor) nachdrücklich für die frühchristlichen Dichter ein.55 Aber selbst unter den Humanisten gab es Streitfragen, was insbesondere das Verhältnis zur scholastischen Lehre betraf: Die Richtungskämpfe um die Ausrichtung des Kölner Humanismus manifestierten sich dabei in besonderer Weise an dem von Glarean im Dodekachordon zitierten Hermann von dem Busche.

Hermann von dem Busche war für Glarean weit mehr als einer seiner vielen Lehrer; die Wertschätzung, mit der Glarean ihn behandelt, legt nahe, dass er ihm ein Leitbild war. Glarean referiert noch Dodekachordon auf dessen gesanglichen Vortrag der Gedichte: Busch brachte sein, auch von Erasmus geschätztes Loblied auf die Stadt Köln im jonischen Modus dar,56 während er selbst sein Panegyrikus auf Maximilian I. im dorischen Modus sang.57 Damit firmiert Glarean noch im Nachhinein Parallelen, die er in Köln setzte: Korrespondenzen bestehen nicht allein zwischen Buschs Kölner Lobgedicht und Glareans Helvetiae Descriptio,58 sondern auch in der Abkürzung des Namens: Bezeichnete Busch sich als HBP, also Hermann Buschius Poeta,59 so schrieb Glarean seinerseits HGP (Henricus Glareanus Poeta) in den Glossen zur cochläischen Musikschrift60. Noch 1554 ehrte Glarean diesen Humanisten durch eine Neuausgabe von dessen Kölner Lobgedicht, den Flora von 1508, nicht ohne ihn im Vorwort als seinen Lehrer der freien Künste und der Theologie anzugeben.61 Daher dürfte er als Vorbild bei den Kölner Streitfragen der humanistischen Ausrichtung im Verhältnis zur Scholastik in Glarean einen Anhänger gehabt haben.

Der scholastischen Seite seiner Ausbildung stand Glarean zunächst nicht gänzlich ablehnend gegenüber, denn in einem Empfehlungsschreiben von 1516 hob Erasmus hervor – wenngleich mit dem Hinweis, dass Glarean sich nun davon entfernt habe –, wie sehr er sich in seiner Kölner Zeit in den logischen Studien bis hin zur scholastischen Theologie bewandert zeigte.62 Doch akzentuiert Glarean im Rückblick mit dem Hinweis auf Johannes Cochläus im Dodekachordon vor allem seine humanistischen Studien: Nicht nur das erhaltene Exemplar Glareans von Cochläus’ Musica 1507 und von Boethius dokumentiert63 durch die jeweiligen zahlreichen Eintragungen die intensive Beschäftigung Glareans mit der Musik (und der Arithmetik), sondern auch das zweite Fach seines Lehrers, die Geographie pflegte er, wie u.a. der Brief an Zwingli vom 13. Juli 1510 belegt, in besonderer Weise.64 Diese Fächer machten zugleich auch seine Unterrichtstätigkeit in Köln aus, die Komposition seines Schülers Adam Luyr legt davon noch im Dodekachordon Zeugnis ab. Glarean war demgemäß empfänglich für beide Ausbildungsrichtungen, präferierte jedoch die humanistische Richtung.

Auch in den bereits angesprochenen Streitigkeiten um die Ausrichtung der humanistischen Studien kann nicht zuletzt mit den späten Hinweisen im Dodekachordon Glareans Haltung positioniert werden. Die Auseinandersetzungen betrafen dabei weniger die humanistische Gesinnung an sich und die Kritik an der humanistischen Lehrmethode, sondern die unterschiedliche Anschauung hinsichtlich der Reorganisation der wissenschaftlichen Studien und die Art und Weise ihrer Anbahnung.65 Der Humanist und spätere Adressat der Dunkelmännerbriefe Ortwin Gratius (und dabei auch Zielscheibe von Glareans Spott)66 zeigte sich bemüht, im humanistischen Sinn die scholastische Methode in Köln zu erneuern. Seine zwar in die scholastische Form gegossenen, aber die bonae litterae preisenden Orationes Quodlibeticae67 von 1507 wurden von anderen Humanisten, wie dem humanistischen Rechtsgelehrten Peter von Ravenna, zustimmend aufgenommen.68 Die uns noch zu dieser Zeit entgegentretende Eintracht der Humanisten, änderte sich jedoch. Ein erster Gesinnungswandel von Gratius ist schon zu den Streitigkeiten an der Kölner Universität über Peter von Ravenna zu verzeichnen, denn Gratius wandte sich kurz vor und nach dessen Weggang 1508 gegen ihn; 1511, nach Ravennas Tod, unterstützte Gratius sogar eine gegen ihn gerichtete Schmähschrift.69 Auch Hermann von dem Busche70 und Ortwin Gratius waren 1508 noch Gesinnungsgenossen, wie die Briefbeigaben von beiden in einem Druck nahe legen.71 Jedoch untermauern die darauf folgenden Streitigkeiten die differierenden Auffassungen. 1509 geriet Ortwin Gratius mit Busch in eine Auseinandersetzung, als dieser, ungeachtet der universitären Studienordnung in Köln, nach seinem humanistischen Reformprogramm eine Vorlesung über die ars minor Donati hielt.72 Gratius seinerseits, der noch in den Orationes quodlibeticae seine Präferenz für die antiken römischen und modernen italienischen Grammatiken ausdrückte73 – hieran ist sein Gesinnungswechsel abzulesen – plädierte für die Verwendung des von vielen Humanisten verschmähten Villa Dei in humanistischer Adaption.74 Nach dem Vorwurf von Busch, er missgönne der Jugend den Fortschritt, wenn er sie der Donatlektüre fernhalte, veranlasste Gratius die Drucklegung von Buschs kommentierter Donatausgabe und verweist im Vorwort explizit darauf, dass er dieses Lehrbuch sehr geeignet halte, in die Elemente der lateinischen Sprache einzuführen, für den Hochschulunterricht sei sie jedoch zu elementar.75 Bezeichnend ist, dass die Auseinandersetzungen um die richtige Vermittlung der Grammatik kreisen, denn dieses Fach stand für den neuen humanistischen Zugang zu den Disziplinen, als Gegenprogramm zu den scholastischen, logischen Studien. Die mittelalterliche Aneignung der Grammatik durch die Lehre des Alexander Villa Dei fungierte als Sinnbild des scholastischen Lateins.76

7778798081828384858687Orationes QuodlibeticaeDoctrinale88