Vorwort des Herausgebers

Virginia Woolf, bekannt durch große Romane wie ›Mrs Dalloway‹, ›To the Lighthouse‹ oder ›The Waves‹, schätzte die kleine Form, den Essay, die Kurzgeschichte sehr. Einmal nannte sie zwar diese Geschichten tiefstapelnd »buntes, aufgelesenes Zeug«. Aber die Könnerschaft der Woolf wird nirgendwo so deutlich wie in diesen verdichteten, prägnanten Stücken. Abgeworfen ist hier jeglicher Ballast, die blanke Essenz literarischer Meisterschaft tritt geradezu schockierend zu Tage.

Bis heute ist Virginia Woolf, im Vergleich zu ihren männlichen Zeitgenossen unterschätzt, doch zweifellos gehört sie zu den wenigen Schriftstellern, die dem Schreiben neue Sphären eröffneten – in ihrer Wirkung vergleichbar mit einem literarischen Revolutionär wie James Joyce.

Exemplarisch kommt diese Innovationskraft in der hier enthaltenen Kurzgeschichte ›Ein ungeschriebener Roman‹ zum Ausdruck: Die Erzählerin, im Zug sitzend, eine fremde Frau beobachtend, erforscht deren Gesicht, und imaginiert ein Schicksal, eine Geschichte, so wie sie sein könnte. Nein, wie sie sein muss, wie sie der Autorin aus dem Blick, dem Gesichtsausdruck der Frau geradezu entgegen springt.

Und sie zieht den Leser, der verwirrt daneben steht, hinein in diese Geschichte, rollt sie vor ihm aus. Der Text entwickelt sich, wie es scheint, selbständig und zwangsläufig. Während des imaginierten Schreibens reflektiert Woolf, wägt die Weggabelungen der Geschichte, die Auslassungen und die Zwangsläufigkeiten ab. Beobachtet dabei immer wieder die geheimnisvolle Frau – und die Ebenen verschmelzen. Ist die Zugfahrt nun zu Ende? Sind sie angekommen? Folgt die Erzählerin der Frau, der sie inzwischen den Namen ›Minnie Marsh‹ gegeben hat? Oder sitzen sie etwa immer noch im Zug?

Wer Woolf zum ersten Mal liest, steht verwirrt daneben, wer sie zum zweiten Mal liest, ist angesichts dieser literarischen Meisterschaft überwältigt.

Andere Werke, wie ›Montag oder Dienstag‹ sind Poesie pur und streifen die Grenze zur Lyrik.

Lesen Sie mehr über die Autorin im Anhang

 

*

An einen Übersetzer stellen die Virginia Woolfs Texte hohe Anforderungen. Und es wundert nicht, dass in früheren Übersetzungen häufig ganze Textabschnitte missdeutet und sinnentstellt wurden. Denn ein Wort ist bei Woolf nicht einfach nur ein Wort. Es trägt eine Welt an Konnotationen, es erzählt manchmal eine ganze Geschichte für sich.

Von zehn Übersetzungsmöglichkeiten stimmt meist nicht die Nächstliegende, auch nicht die zweite oder dritte. Sondern oft die Abwegigste. Oder gar keine. Im Englischen kann man sich das noch erschließen. Doch ein Übersetzer muss, wie in der Lyrik, oft ein völlig neues, passendes Äquivalent finden. Im Bewusstsein dieser Tatsache können auch wir nicht behaupten, die beste aller möglichen Übersetzungen geschaffen zu haben – aber sie ist besser als die bisherigen.

© Redaktion CloudShip, 2016/2018

 

 


Ein verwunschenes Haus

Egal zu welcher Stunde man auch erwachte, es klackte eine Tür. Von Zimmer zu Zimmer gingen sie, Hand in Hand, lüpften hier, öffneten dort, vergewisserten sich – ein geisterhaftes Paar.

»Hier haben wir es zurückgelassen«, sagte sie. Und er ergänzte, »Oh, aber hier auch!« »Es ist oben«, murmelte sie, »Und im Garten«, flüsterte er. »Leise«, sagten sie, »sonst wecken wir sie.«

Aber es wart nicht ihr, die uns geweckt haben. Oh nein. »Sie suchen danach; sie ziehen den Vorhang«, könnte man sagen, eine oder zwei Seiten weiterlesend. »Jetzt haben sie es gefunden«, würde einer sicher sein, den Bleistift am Seitenrand verharren lassend. Und dann, des Lesens müde, würde einer aufstehen und sich umsehen, das Haus völlig leer, die Türen offen, nur die Waldtauben blubbern voller Zufriedenheit und das Summen der Dreschmaschine klingt vom Bauernhof. »Weswegen bin ich hierher gekommen? Was wollte ich finden?« Ich hatte nichts gefunden. »Vielleicht mag es oben sein?« Nur die Äpfel waren auf dem Speicher. Zurück unten lag der Garten still wie immer, nur das Buch war ins Gras geglitten.

Aber sie hatten es im Wohnzimmer gefunden. Nicht das einer sie je gesehen hatte. Die Fensterscheiben spiegelten Äpfel, spiegelten Rosen; alle Blätter erschienen grün im Glas. Wenn sie ins Wohnzimmer gingen, ließ der Apfel nur seine gelbe Seite sehen. Aber, einen Augenblick später, wenn die Tür offen war, lag ausgebreitet auf dem Boden, über die Wände ausgebreitet, von der Decke baumelnd – was? Meine Hände waren leer. Der Schatten einer Drossel huschte über den Teppich; aus den tiefsten Brunnen der Stille zog die Waldtaube ihr Klanggeblubber. »In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit«, schlug der Puls des Hauses leise. »Der Schatz vergraben; das Zimmer ...« der Puls setzte für einen Moment aus. Oh, war das der vergrabene Schatz?

Einen Augenblick später war das Licht verblasst. Also draußen im Garten? Aber die Bäume spannten eine Netz von Dunkelheit gegen einen wandernden Sonnenstrahl. So fein, so selten, kühl versunken unter der Oberfläche, strahlte das Licht, das ich brauchte, nur hinter dem Glas. Der Tod war das Glas; der Tod war zwischen uns; kam zu der Frau zuerst, vor Hunderten von Jahren, verließ das Haus, versiegelte alle Fenster; verdunkelte die Zimmer. Er verließ es, verließ sie, ging nach Norden, ging nach Osten, sah die Sterne oben am südlichen Himmel; suchte das Haus, fand es unterhalb der Hügel hingeworfen. »In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit«, schlug der Puls des Hauses zuversichtlich, »Euer Schatz«.

Der Wind heult die Allee hinauf. Bäume beugen und biegen sich in diese und in jene Richtung. Mondstrahlen plätschern und schwappen wild im Regen. Aber der Strahl der Lampe fällt ganz gerade aus dem Fenster. Die Kerze brennt starr und still. Durch das Haus wandernd, die Fenster öffnend, flüsternd, um uns nicht zu wecken, sucht das geisterhafte Paar seinen Spaß.

»Hier haben wir geschlafen«, sagt sie. Und er fügt hinzu, »Zahllose Küsse« »Am Morgen aufwachen –« »Silberstrahlen zwischen den Bäumen –« »Oben –« »Im Garten –« »Wenn der Sommer kam –« »Im verschneiten Winter –« Die Türen klacken in der Ferne, klopfen sanft wie der Puls eines Herzens.

Sie kommen näher; halten an der Tür inne. Der Wind fällt herein, der Regen gleitet silbern das Glas hinunter. Unsere Augen verdunkeln sich; wir hören keine Schritte neben uns; bemerken nicht, wie die Dame ihren verwunschenen Umhang ausbreitet. Seine Hände verdunkeln die Laterne. »Sieh nur«, haucht er. »Schlafen wohl. Mit Liebe auf den Lippen.«

Sich beugend, ihre silberne Lampe über uns haltend, schauen sie lange und ernst. Lange verweilen sie. Der Wind heult immer noch; die Flamme duckt sich leicht. Ungebändigte Strahlen von Mondlicht ziehen über Boden und Wand, und, sich treffend, besprenkeln sie die geneigten Gesichter; die nachdenklichen Gesichter; die Gesichter, die die Schläfer forschend betrachten und dabei ihre klammheimliche Freude haben.

»In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit«, schlägt das Herz des Hauses stolz. »Es ist lange her –« seufzt er. »Du hast mich tatsächlich wiedergefunden.« »Hier«, murmelt sie, »schlafend; im Garten lesend; lachend, Äpfel auf dem Speicher verstauend. Hier haben wir unseren Schatz zurückgelassen –« Sich niederbeugend, hebt ihr Licht meine Augenlider. »In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit!« schlägt der Puls des Hauses wild. Aufwachend rufe ich aus »Oh, ist das euer vergrabener Schatz? Das Licht des Herzens.«