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ANARCHISTISCHE

WELTEN

HERAUSGEGEBEN VON

ILIJA TROJANOW

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Ein Großteil der hier versammelten Texte erschien

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Inhalt

Ilija Trojanow

Unter den Fahnen von Skepsis, Freiheit und Totenkopf. Eine Reise durch die glorreiche Vielfalt des anarchistischen Denkens

Thomas Wagner

Die Trennung überwinden. Von Demokratie, Hierarchie und Ökonomie

Douglas Park

Timbuktu und die selbstorganisierenden Zivilisationen der Vorzeit

Frans de Waal

Tierische Moralitäten

Rebecca Solnit

Aus der Hölle ein Paradies gebaut

Vandana Shiva

Grüne Ökonomie. Jenseits der Krise: Nachhaltige Formen von Wachstum und Entwicklung

Gespräch mit Osvaldo Bayer

Georgi Konstantinow

Die Soziologie des Sozialismus

Lutz Schulenburg

Erfahrung. Das historische Feld

Isabelle Fremeaux & John Jordan

Pfade durch Utopia

Gerhard Senft

Ökonomie, Herrschaft und Anarchie

David Graeber

Gegen den Kamikaze-Kapitalismus

Niels Boeing

Rip, Mix & Fabricate

Uri Gordon

Düstere Neuigkeiten?
Anarchistische Politik in Zeiten des Zusammenbruchs

Biobibliografische Angaben

Ilija Trojanow

Freiheit, Skepsis, Totenkopf. Eine kurze Reise durch die glorreiche Vielfalt anarchistischen Denkens und Wirkens

»Ägypten drohen neue Tage der Anarchie.«
Deutsche Schlagzeile, Januar 2012

Das Schreckgespenst

Hat es in der Geschichte der Menschheit je ein anderes hehres Ideal gegeben, das so unablässig diffamiert worden ist wie der Anarchismus? Anarchie ist bestialisches Chaos, auf diesen einfachen, doch umso beängstigenderen Nenner lassen sich Jahrhunderte der Verleumdung bringen. Ein Nachschlagewerk aus dem 19. Jahrhundert definiert Anarchisten als »Idioten oder angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln, behindert sind und asymmetrische Gesichtszüge tragen«. Gewieftere Denunzianten sprechen von einer weltfremden Errettungsideologie, von einem fanatischen chiliastischen Kult, quasi religiös in seiner Erwartung des Ewigen Friedens, der am Ausgang der finalen Revolution eintreten soll. Historiker, die sich mit einer Epoche beschäftigen, in der Anarchisten eine wichtige Rolle gespielt haben (etwa dem Spanischen Bürgerkrieg), bezeichnen anarchistische Aktivisten und Kämpfer hämisch mal als »wilde Männer« und »Meuchelmörder«, mal als »primitive Rebellen« oder »elitäre Versponnene«, rücken sie gelegentlich in die Nähe von Erpressern und Gangstern. Der historische Beitrag von Anarchistinnen und Anarchisten wird systematisch unterschlagen. Die meisten Gegner, ob der herrschenden Meinung untertan oder aus vermeintlicher Konkurrenz um eine progressive Alleinvertretung, begnügen sich damit, den Anarchismus verächtlich zu machen. Selten hat es über die letzten zwei Jahrhunderte hinweg eine ernstzunehmende Auseinandersetzung, eine sachliche Kritik gegeben, die Anarchistinnen und Anarchisten willkommen sein dürfte, denn gerade eine auf Freiheit, Vielfalt und Skepsis gegründete Haltung ist bestrebt, die eigenen Annahmen und Schlussfolgerungen regelmäßig in Frage zu stellen.

Was also ist dieses Schreckgespenst, dieses Teufelsding, diese Freakshow namens Anarchismus? Immanuel Kant definierte Anarchie als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«, der französische Geograf Elisée Reclus als »die höchste Form der Ordnung«. Als einer der ersten im deutschsprachigen Raum brach der Literaturkritiker Ludwig Börne eine Lanze für die Anarchie: »Nicht darauf kommt es an, dass die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muss vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. (…) Freiheit geht nur aus Anarchie hervor – das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden.« Als würde er an den jungen Börne anschließen wollen, postuliert der Berliner Publizist Thomas Wagner in seinem Essay, der diesen Band eröffnet, Herrschaftsfreiheit als unabdingbares demokratisches Prinzip. Eine weit gefasste, integrative Definition könnte lauten: Anarchismus ist ein Projekt, anhand radikaldemokratischer Prinzipien einen geeigneten gesellschaftlichen Rahmen für eine größtmögliche individuelle Freiheit zu schaffen, bei größtmöglicher Gleichheit und Gerechtigkeit. Zugleich ist der Anarchismus »nicht zu trennen von den vielfältigen Erscheinungsformen der sozialen Bewegungen, vom subversiven Untergrund der Geschichte«, wie Lutz Schulenburg seinen historischen Rückblick beginnt.

An diesen Definitionen ist erkennbar, dass Anarchie nicht der Endzustand einer historisch folgerichtigen Entwicklung ist, keine anzustrebende statische Form von Gesellschaft, sondern sich allein als permanentes Werden verwirklichen kann. Die häufig geäußerte Kritik an seiner ideologischen Unschärfe und amorphen theoretischen Gestalt übersieht, dass sich der Anarchismus niemals zu einem festen System fügen kann, weil es innerhalb eines starren Systems keine wirkliche Befreiung des Denkens geben kann. Gerade diese multidimensionale, flexible, undogmatische Eigenschaft des Anarchismus macht seine fortwährende Aktualität aus, weil er all jene Kategorisierungen und Essentialismen hinter sich lässt, die in den letzten Jahrzehnten als alte Zöpfe abgeschnitten worden sind. Die Befreiungsschläge von Michel Foucault oder Homi Bhabha zum Beispiel, um nur zwei Gedankenstürmer unserer Zeit zu nennen, erweisen sich als hervorragend vereinbar mit anarchistischen Klassikern wie Michail Bakunin, der vor bald 150 Jahren schrieb: »Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für die Wissenschaft gleichfalls unfassbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie (i. e. die Wissenschaft) verwahren und schützen, um nicht von ihr wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert zu werden …« (Gott und der Staat). Oder wenn etwa der deutsche Räterepublikaner Gustav Landauer von der Staatsgewalt spricht – »nicht ein Feuer, das man löschen muss, weil sie nicht ein Übel draußen ist, sondern ein Mangel im Inneren« –, sind die Parallelen unübersehbar zu Pierre Bourdieu (»Die Leichtigkeit, mit der die Herrschenden ihre Herrschaft durchsetzen, ist nicht allein als Zwang und Repression von außen denkbar«) und wiederum zu Foucault (»Der Staat ist keine an sich autonome Quelle der Macht, sondern ein beweglicher Effekt von Gouvernementmentalitäten«).

Der oft geäußerte Vorwurf, es handele sich um eine teleologische Heilslehre – in postmodernen Zeiten kann man Leidenschaft wohl nur als quasi religiösen Affekt begreifen –, greift ebenfalls zu kurz, denn viele Anarchisten unterscheiden sich von anderen Revolutionären gerade in ihrer Überzeugung, dass die Revolution nicht als endgültiger apokalyptischer Moment über uns hereinbrechen wird, sondern dass der Widerstand gegen Formen von Herrschaft weitergehen wird, wohl solange Menschen auf der Erde leben. Wollte man den Begriff der »permanenten Revolution« in diesem Zusammenhang verwenden, könnte man von einem unaufhörlichen Infragestellen der Machtstrukturen und Denkgebote sprechen, von einem Drang zum selbstbestimmten Leben anstelle einer fremdbestimmten Existenz. Nicht zuletzt im Bereich des Ökonomischen, spätestens seitdem die industrielle Revolution die Arbeit vom Leben abgetrennt und zu einer existenziellen Entfremdung des Menschen geführt hat. Gerhard Senft untersucht die Verbindungen zwischen Ökonomie, Herrschaft und Anarchie seit diesem Epochenwandel und denkt sie in die Zukunft weiter.

Zum anarchistischen Rüstzeug gehörte das Beharren auf natürlicher Autorität und die Ablehnung einer betitelten, beworbenen und allein von der Macht ihrer Position getragenen Autorität. »Wenn das Immunsystem der natürlichen Autorität den Viren der Macht erliegt, verwandelt sie sich in die lächerliche Variante«, bringt es ein anonymer Blogger auf den Punkt. Auffällig, wie rasch und nachdrücklich den neuen sozialen Bewegungen, ob in New York, Griechenland, Chile oder Spanien, die sich durch einen hohen Grad an horizontalen Organisationsstrukturen auszeichnen, medial nahegelegt wurde, sie mögen sich doch auf eine Führung einigen, ohne Anführer seien sie schwach und disparat. Der Untertanengeist kann sich ein Handeln ohne Führerschaft halt nicht vorstellen.

Ebenso wichtig ist die Verteidigung einer Moral, die sich auf die Seite der Schwachen schlägt sowie Lüge und Betrug verachtet. Einen solchen lebenslangen Kampf hat Osvaldo Bayer geführt, Filmemacher, Autor, Aktivist, der in diesem Band stellvertretend stehen soll für all jene Anarchisten, die sich mit Ungerechtigkeit nicht abfinden wollen, die keinen Missstand als notwendiges Übel hinnehmen können. In seinem hohen Alter kann sich Osvaldo Bayer immer noch in Rage reden über die Kinder, die in einem so reichen Land wie Argentinien hungern müssen, über jedes Opfer staatlicher Gewalt, das noch nicht gesühnt worden ist. Es ist ein lebenslanges Projekt, der zynischen Einsicht in die Notwendigkeit der Not nicht anheimzufallen.

Anarchistinnen und Anarchisten besitzen kein Parteibuch, folgen nicht vorgeschriebenen Linien, glauben an keine Dogmen. Der Anarchismus besitzt kein abgeschlossenes Programm, er ist ein Work-in-progress. Das kann anders nicht sein, denn von Menschen, die in einem hierarchisch strukturierten System aufwachsen, kann man kaum erwarten, dass sie Ideen hervorbringen, die das existierende System samt all seiner Konditionierungen überwinden. Wir vergessen oft, wie sehr wir drangsaliert und zugerichtet worden sind, von früh auf, mit Noten, mit Verboten, mit falschen Verhaltensregeln (Ellenbogen statt Solidarität), unsere Flügel zurechtgestützt, unsere Eigenarten zurechtgerückt. Bis wir zum ersten Mal zur Wahl gehen dürfen, sind wir unserer individuellen Menschlichkeit in hohem Maße enteignet worden. Erst wenn wir die Handschellen ablegen, merken wir, an wie vielen Fäden unser Kopf, unsere Glieder hängen.

Gekaperte Mythen

Sinnbild für Macht und Widerstand auf kleinstem Raum, konzentriert zu einer abenteuerlichen Parabel, sind Schiffe, Meutereien und Piraten. Die Beliebtheit dieses Topos beweist, wie sehr die Menschen im Inneren sich an der Übertretung von herrschenden Regeln, an Verstößen gegen die gängige Moral erfreuen, wie gerne sie sich zumindest in fiktiven Räumen in einer auf den Kopf gestellten Welt aufhalten. Der Kapitän ist Symbol der Allmacht, gleich einem Diktator, und sein Schiff ein totalitärer Raum, historisch betrachtet einer der ersten. Der Aufstand, der die Befehlsempfänger aus dieser Erstarrung herauskatapultiert, muss eher mentale als praktische Hürden überwinden, denn die Zahl der Geknechteten an Bord ist groß, die Vertreter von Zwang und Ordnung in der Minderheit – wie im richtigen Leben. Kaum ist die Meuterei erfolgt, erscheint fast alles möglich, eine neue erregende Freiheit, die in den populären Filmen und Schmökern kaum ausgekostet wird – stattdessen werden bald neue Anführer in ihrem Amt bestätigt, neue Machtstrukturen etabliert. Die mediale Piraterie erschöpft sich in einem vorübergehenden Ausstieg aus den herkömmlichen Regeln, so wie beim Karneval oder in der Fasnacht.

Der wirkliche Pirat »befindet sich in ewigem Krieg mit allen Individuen und allen Staaten, christlich oder ungläubig. Richtige Piraten haben keine Heimat und sind, als Konsequenz ihrer Schuld, von allen gesetzestreuen Gesellschaften abgeschnitten.« (Gabriel Kuhn) Damit ist der entscheidende Unterschied genannt zu all den Kaperfahrern, die ihre Dienste auf dem freien Markt der Meeresbeuterei anboten und den Briten, Franzosen oder Spaniern räuberisch zu Diensten waren, für ein und dieselbe Handlung mal geadelt, mal gehenkt. Zu Piraten wurden sie meist, weil man ihnen die versprochene Zahlung schuldig blieb, worauf den Kaperfahrern nur der Törn in die Selbstständigkeit blieb. Bezeichnend ist der Fall des Henry Avery, der mit dem Überfall auf das Prachtschiff der Mogulen Ganj-i-sawai einen einmaligen Coup landete, Jahre später jedoch völlig verarmt in der englischen Provinz verstarb, nachdem er von Geschäftemachern in Bristol um seinen Reichtum betrogen wurde. Die Piraten auf dem Land, soll er vor seinem Tod geseufzt haben, sind viel schlimmer als jene auf hoher See.

Die menschliche Natur

Was ist mit der menschlichen Natur nicht schon alles gerechtfertigt und begründet worden, wie viele Verbrechen, wie viele Schweinereien. Anstatt begreifen zu wollen, was wir von Natur aus sind und wie weit wir uns von diesem ursprünglichen Zustand entfernt haben, werden in den Schulen weiterhin die Thesen von Thomas Hobbes gelehrt, die ohne Not das Autoritäre in der Gesellschaft verankern. Wie auch das gegenwärtige Beispiel der Thesen von Samuel Huntington zeigt, gelingt es der herrschenden Meinung immer wieder, den krudesten Unsinn durch beharrliche Wiederholung zur unumstößlichen Wahrheit hochzujubeln. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Biologie und der Verhaltensforschung haben die Simplifizierungen von Hobbes und seinen vielen Adepten längst auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, denn wie wir inzwischen zur Genüge wissen, sind die Prinzipien der Empathie, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit in der Natur weit verbreitet – wie auch in menschlichen Gesellschaften, sichtbarer natürlich in jenen, in denen der Einfluss von Macht, Hierarchie und Kapital das menschliche Verhalten nicht bis zur Unkenntlichkeit verdorben hat. Dies hat Peter Kropotkin in seinem Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt vor hundert Jahren ausgeführt, das bestätigen die Forschungsergebnisse von Frans de Waal, einem der führenden Primatenforscher unserer Zeit, der anhand einiger der bemerkenswertesten Resultate seiner Arbeit nebenher auch noch die Notwendigkeit einer göttlichen Ordnung als Konstrukt niederschmettert.

Man muss aber gar nicht in die Tierwelt blicken, um eine Vision von solidarischem Handeln zu begründen. Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als das profitable Funktionieren all jener quantifizierbaren Prozesse, die allein die Macht und den Reichtum einer kleinen Schicht, ob Elite, Oligarchie oder Nomenklatura genannt, sichern. Leicht wird man sich darauf einigen können, dass – abhängig von den jeweiligen sozialen Rahmenbedingungen – dem Menschen sowohl Aufopferung als auch egoistische Gier eigen ist. Die anarchistische Sichtweise berücksichtigt diese Widersprüchlichkeit, denn die Schwächen des Menschen werden in dem Maße potenziert, in dem man ihm Macht in die Hände gibt. Sie werden verschlimmert durch Privilegien und institutionalisierte Autorität – die Geschichte bietet hierfür Beweise im Überfluss. Die herkömmliche Binsenwahrheit muss auf den Kopf gestellt werden: Der Mensch ist zu schlecht, um gütig und uneigennützig über seine Mitmenschen zu herrschen, er kann nicht weise und abgeklärt mit den eigenen Privilegien umgehen. Wer an das Schlechte im Menschen glaubt, der müsste erst recht ein System der Gewaltenteilung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens propagieren, der müsste sich rigoros die Überwindung von Macht und Hierarchie auf die Fahnen schreiben.

Die Gretchenfrage

Überwindung – ja ja, durchaus, aber wie hältst du es mit der Gewalt?, werden Anarchisten mit frappierender Beharrlichkeit gefragt, als seien sie für alle Gewalt auf Erden verantwortlich. Die Frage der Gewalt ist für den Anarchismus weder typisch noch prägend, sondern genauso relevant oder nebensächlich wie für jede andere politische, soziale und moralische Position. Auch demokratisch gewählte Regierungen zetteln Kriege an, die an jedem Tag mehr Menschenleben kosten als alle anarchistischen Attentate durch die Jahrhunderte zusammengenommen. Zumal anarchistische Attentäter – soweit wir mit ihren Motiven vertraut sind – erheblich schwerer um eine moralische Rechtfertigung für ihre Tat gerungen haben als etwa die NATO in Afghanistan und Irak. Oft brachen sie Anschläge auf Vertreter der Tyrannei ab, weil die Gefahr bestand, dass ein Unbeteiligter oder Familienangehörige verletzt oder getötet werden könnten – Kollateralschäden achselzuckend hinzunehmen, ist der moralischen Dürftigkeit der internationalen Kriegsführung überlassen (Albert Camus’ Stück Die Gerechten thematisiert dies eindrücklich, wie auch die innere Zerrissenheit der Attentäter). Viele Anarchisten waren der Ansicht, dass sie nur dann das Recht haben, ein anderes Menschenleben zu nehmen, wenn sie ihr eigenes dabei opferten, und die allermeisten richteten ihren Angriff gegen Könige, Minister, Großkapitalisten und Banken, nicht aber gegen Hochzeitsgesellschaften, Schulen oder Passanten. Die Forderung, der Gewalt abzuschwören, ist absurd, denn kaum einer wird die Gewaltfrage grundsätzlich beantworten können, fast jeder würde das Recht auf Selbstverteidigung oder auf Unterbindung von brutalem Unrecht für sich in Anspruch nehmen. Es gibt keine klare Dichotomie zwischen Pazifismus und Gewalt, die Gewaltfrage lässt sich stets nur im Einzelfall beantworten. Moralisch widersinnig ist es aber, wenn die Gewalt des Staates unter einem geringeren Rechtfertigungsdruck steht als die Gewalt des sich widersetzenden Individuums.

Was bislang geschah

Wie kann man gesellschaftliche Vorstellungen propagieren, die noch nie verwirklicht worden sind? Bestimmt gibt es auch auf diese Frage eine Antwort, aber sie stellt sich nicht, denn Menschen haben die längste Zeit in herrschaftslosen Gesellschaften gelebt, in denen Autorität nicht institutionalisiert war, sondern allein durch Kraft, Charisma oder Intelligenz individuell gewonnen werden konnte. Gesellschaften, die oft Matriarchate genannt werden, obwohl es keine Frauenherrschaft gab, sondern eine egalitäre Ausgewogenheit zwischen den Geschlechtern, wohl aber matrilineare Abstammungslinien.

Solche segmentären oder akephalen Gesellschaften, wie sie in der Anthropologie genannt werden und die vielfach erforscht worden sind (etwa in dem sehr lesenswerten Werk von Pierre Clastres, Die Gesellschaft gegen den Staat), könne es nur in einem »primitiven« Entwicklungszustand, innerhalb kleiner Gruppen, geben, lautet der gängige Einwand. Die neuere Archäologie widerlegt diese Behauptung. Wie Douglas Park in seinem Essay darlegt, haben Ausgrabungen von Kollegen in China, Pakistan, Peru, Niger und seine eigenen in Timbuktu die Spuren von frühen Zivilisationen offengelegt, die ohne Hierarchie organisiert waren. Urbane Zentren, in denen keinerlei Spuren von zentralisierter Macht, von Zitadellen, Burgen, Mauern, kein einziger Ansatz einer Architektur der Inthronisierung und Unterwerfung zu finden ist, obwohl Arbeitsteilung und Spezialisierung schon existierten.

Der in diesem Band vertretene David Graeber hat in seiner Untersuchung des Phänomens »Schulden« die monetäre Genesis von Macht und Zwang zurückverfolgt und auf etwa 5000 Jahre datiert. Aber selbst in diesen 5000 Jahren war der Triumph der hierarchischen Organisationsform keineswegs total. Graeber selbst hat als Ethnologe in Madagaskar erlebt, wie nach dem Zusammenbrechen staatlicher Strukturen die Menschen selbstorganisiert ihr soziales und wirtschaftliches Leben gemäß ihren Bedürfnissen neu strukturierten, während sie den Fortbestand überkommener Regularien theatralisch inszenierten.

Die amerikanische Autorin Rebecca Solnit beschreibt in A Paradise Built in Hell anhand einiger historisch gut dokumentierter Fälle, wie Menschen nach vernichtenden Katastrophen, seien es Erdbeben oder Überflutungen, das gemeinschaftliche Überleben sichern, ihr Verhalten keineswegs geprägt von blinder Selbstbezogenheit, sondern von Solidarität und Mitgefühl. Die größte Gefahr geht in solchen Situationen von den Sicherheitsorganen und Behörden aus, die angesichts des vermeintlich drohenden »Chaos« überreagieren und mit Gewalt möglichst rasch »Recht und Ordnung« wiederherstellen wollen, unterstützt von den geifernd-gaffenden Reaktionen der Massenmedien, die es vorziehen, Fälle von entfesselter Grausamkeit zu übertreiben oder gar zu erfinden.

Versuche, das soziale Miteinander freier und gerechter zu gestalten, gab es in der Geschichte immer wieder. Die amerikanische Revolution, von einfachen Handwerkern, Farmern und Kaufleuten getragen, die sich in erster Linie gegen fremde staatliche Einmischung wehrten, mündete in eine florierende Föderation selbstverwalteter Gemeinden, in eine kurzfristige »Quasi-Anarchie«. Frucht dieser Epoche ist eine so weitgehende Verbriefung von individuellen Rechten, dass keine US-amerikanische Regierung seitdem in der Lage war, sie einzuhalten.

Die meisten anarchistischen Experimente – die Pariser Kommune, die Bewegung von Machno in der Ukraine nach der Russischen Revolution, die sozialen Umwälzungen im Spanien der dreißiger Jahre – sind ziemlich schnell gescheitert, nicht zuvorderst, wie gemeinhin behauptet wird, an den eigenen Widersprüchen, sondern weil sie militärisch brutal niedergeschlagen wurden. Der spanische Bürgerkrieg ist eines der bewegendsten und eindrücklichsten Kapitel anarchistischer Geschichte, weil eine Massenbewegung, die Millionen von Spaniern mitgerissen hatte, erst nach Jahren eines Dreifrontenkrieges gegen Faschisten, Bolschewiken und liberale Demokraten zerrieben wurde.

Eine Sternstunde erlebte das anarchistische Denken im Widerstand gegen den staatskapitalistischen Terror der Bolschewiken und später der Kommunistischen Parteien Osteuropas. Früher als alle anderen »Linken«, früher selbst als bürgerliche oder konservative Beobachter, haben Paul Avrich, Voline, Peter Arshinov, Emma Goldman, Victor Serge und Alexander Berkman (um nur die prominentesten Autoren zu nennen) das sowjetische System durchschaut und seine Propaganda diskreditiert. Der hier zum ersten Mal überhaupt veröffentlichte Text von Georgi Konstantinow zeigt nicht nur, wie klar und illusionslos der »real existierende Sozialismus« analysiert wurde, sondern erweist sich auch als hellsichtige Vorwegnahme der Ereignisse von 1989.

Anarchismus und die Künste

»Um zu erschaffen, muss man zerstören; und der Agent der Zerstörung ist der Dichter. Ich glaube, der Dichter muss Anarchist sein, er muss alle Formen des organisierten Staates bekämpfen, nicht nur jene, die wir von der Vergangenheit geerbt haben, sondern ebenso jene, die den Menschen auferzwungen werden im Namen der Zukunft.« Nicht jeder wird Herbert Edward Read zustimmen, dass der Dichter Anarchist sein muss, aber viele der bedeutendsten Schriftsteller der letzten zwei Jahrhunderte waren es, ob sie sich explizit dazu bekannt haben oder nicht (das Etikett ist unerheblich). Unermesslich – und bislang wenig ermessen – ist der Einfluss anarchistischen Denkens auf die Literatur und der Einfluss literarischer Aufbrüche auf die Entwicklung des Anarchismus.

James Joyce hat sich wohl nie als Anarchist bezeichnet, doch eine subversive politische Haltung durchdringt sein gesamtes Werk. Joyce, der keinen anderen Schriftsteller mehr bewunderte als Lew Nikolajewitsch Tolstoi (Wie viel Erde braucht der Mensch? war für ihn die schönste aller Erzählungen), zählt zu den Autoren, die nicht bereit sind, die Gesellschaft so hinzunehmen, wie sie diese vorfinden. Am 15. März 1905 schreibt er seinem Bruder: »Ich glaube, dass sich Ibsen und Hauptmann von der Herde der restlichen Autoren abheben wegen ihrer politischen Neigung, nicht?« Das politische Bewusstsein von Joyce basierte auf weitreichender Lektüre. Seine Bibliothek in Triest enthielt eine Vielzahl Bücher von Sozialisten und Anarchisten. Vor allem das subversive Denken von Proudhon, Kropotkin und Bakunin faszinierte ihn. Laut seinem Biographen Richard Ellmann war Joyce insbesondere von Bakunin beeinflusst, der – ganz im Sinne von Joyce – sowohl einen brutalen Materialismus (vertreten durch den Staat) als auch einen realitätsfremden Idealismus (vertreten durch die Kirche) ablehnte, weil sie beide die Menschheit versklavten. Bloom paraphrasiert Bakunin, wenn er ausruft: »Gott braucht Blutopfer. Geburt, Hymen, Märtyrer, Krieg, Fundament eines Gebäudes, Opfer, Niere, Brandopfer, Altare von Druiden.« In Ulysses verurteilt Bloom (wie auch Stephen Dedalus) wiederholt den Blutdurst von Kirche und Staat, ihre Grausamkeit und ihren Drang, individuelle Freiheiten zu beschneiden.

Seit William Godwin den Roman als Vehikel für aufklärerische und aufrührerische Ziele entdeckte, hat es eine enge Verbindung zwischen Schriftstellern und libertärem Denken gegeben, in den Vereinigten Staaten bei Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, deren Transzendentalismus – in seiner Essenz eine Form des Anarchismus – nicht zuletzt eine eigenständige US-amerikanische Literatur begründete und Giganten wie Walt Whitman (»We all know what a splendid heroic Anarchist he was.« John Cowper Powys), Emily Dickinson, Nathaniel Hawthorne und Herman Melville stark beeinflusste. Emerson versuchte sich an dem Aufbau einer Landkommune, Thoreau zog sich in seine Blockhütte zurück und versuchte, aus dem Staat auszutreten, indem er sich weigerte, Steuern zu zahlen, was ihm eine Nacht im Gefängnis einbrachte, der Menschheit aber eines der grandiosesten Werke über individuelle Freiheit und Selbstbestimmung: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (auf Deutsch von Helmut Qualtinger kongenial eingelesen). Thoreau stellt gleich zu Beginn klar: »Die beste Regierung ist jene, die überhaupt nicht regiert.« Dieses Pamphlet wird enorme Wirkung auf Tolstoi, Gandhi und Martin Luther King zeitigen.

Einige Generationen später, Anfang des 20. Jahrhunderts, nahmen modernistische Erneuerer wie John Dos Passos die Fackel wieder auf, zu einer Zeit, da anarchosyndikalistische Aktivitäten auf ihrem Höhepunkt waren, ebenso wie die mörderische Niederschlagung der organisierten Arbeiterbewegung. Dos Passos stand der berühmt-berüchtigten Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) – Spitzname: the Wobblies – nahe. Wie viele andere radikalisierte ihn das Gemetzel des Ersten Weltkriegs, er suchte anarchistische Treffen in New York auf und hörte einen Vortrag der großen Emma Goldman (die übrigens mit Theodore Dreiser, einem anderen radikalen Klassiker, befreundet war). In seiner Zeit als anarchistischer Sympathisant schrieb Dos Passos seine Meisterwerke Manhattan Transfer und die Trilogie U.S.A. Nach dem spanischen Bürgerkrieg (die perfide und brutale Politik der Kommunisten widerte ihn an, der Mord an seinem engen Freund und Übersetzer Robles durch Schergen des NKWD traumatisierte ihn) wurde er zunehmend konservativ, seine Romane schwächer. Sein Zeitgenosse Upton Sinclair begründete 1906 mit den Einnahmen aus seinem sozialkritischen Weltbestseller Der Dschungel, wie vor ihm schon Emerson, eine sozialistische Kommune. Einer der frühen Kommunarden war der Schriftsteller Sinclair Lewis, der dort als Hausmeister arbeitete. Wie viele andere kämpfte Upton Sinclair Jahre später gegen den Justizmord an den beiden italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti. Die Quintessenz seiner Publizistik könnte in seiner Aussage stecken: »Es ist schwer, einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Lohn davon abhängt, dass er es nicht versteht.«

In Frankreich war der anarchistische Einfluss noch bedeutender. Viele Dichter und Künstler nahmen an der kurzlebigen Pariser Kommune von 1870/71 teil, Gustave Courbet war im Rat zuständig für Kultur, Arthur Rimbaud und Camille Pissarro unter anderen waren aktive Propagandisten. Als die französische Polizei 1894 die Abonnentenliste der anarchistischen Zeitschrift La Révolte beschlagnahmte, deren Redakteur einst Kropotkin war, entdeckten sie zu ihrer nicht geringen Verblüffung die Namen führender Intellektueller der Republik, darunter Alphonse Daudet, Anatole France, Stephane Mallarmé und Leconte de Lisle. Es gab zu jener Zeit in Frankreich eine Vielzahl von anarchistischen Zeitschriften; die Bandbreite reichte von Le Père Peinard, herausgegeben von Émile Pouget (einem wichtigen Theoretiker des Anarchosyndikalismus), streng populistisch im Arbeiterslang geschrieben, bis zu L’Endehors, das nach einem erheblich eleganteren Ausdruck von Rebellion strebte und zur Leibund Magenpublikation der avantgardistischen Boheme wurde. An vielen dieser Blätter war der Meister der literarischen Kurzmeldung (ein Twitterist avant la lettre) Félix Fénéon beteiligt, der als Redakteur Proust, Apollinaire, Jarry, Paul Claudel, Jules Renard, Maeterlinck, Verhaeren, Julien Benda und Léon Blum zu Beginn ihrer Karriere veröffentlichte.

Die Aufzählung könnte man innerhalb der französischen Literatur fast beliebig erweitern, um Francis Picabia und die Dadaisten, um André Breton und die Surrealisten, um Guy Debord und die Situationisten. Kein Wunder, dass Henry Miller, Anarchist durch und durch, nach Frankreich zog, ein bettelarmer Visionär auf der Flucht vor Zensur und Kritik. Inmitten aller kreativen Turbulenzen steht die singuläre Gestalt von Albert Camus, der im Gegensatz zu Sartre früh die menschenverachtende Ungerechtigkeit des sowjetischen Regimes erkannte. Camus’ Vorstellung eines ewigen Konflikts zwischen dem Individuum und dem Gang der Geschichte wie auch seine Überzeugung, dass alle notwendigen Werte dem einzelnen Menschen innewohnen, deckt sich mit individualanarchistischen Grundgedanken. Für Camus, der die Integrität, das persönliche Glücksempfinden des Einzelnen geschützt sehen will, ist der nichtstaatlich organisierte Sozialismus folgerichtig die geeignetste Gesellschaftsform. Er sympathisierte mit dem »individualistischen Sozialismus« des russischen Literaturkritikers Wissarion Grigorjewitsch Belinski, in Ablehnung aller Theorien mit totalem, universellem Anspruch, wie etwa jener von Hegel.

In Deutschland wären der junge Wagner und Teile von Nietzsches Werk sowie das wilde Trio von dichtenden Münchner Räterepublikanern B. Traven, Ernst Toller und Erich Mühsam zu nennen, in den benachbarten Ländern der Holländer Multatuli (dessen Roman Max Havelaar von der Gesellschaft für niederländische Literaturwissenschaft zum wichtigsten in niederländischer Sprache geschriebenen Werk erwählt wurde), die Romane und Kurzprosa von Jaroslav Hašek (dessen Soldat Schwejk zu den großen antiautoritären Figuren der Weltliteratur gehört) und der Nobelpreisträger Dario Fo. Der bedeutende chinesische Romancier Ba Jin benannte sich sogar nach der ersten Silbe des Namens Bakunins und der letzten Kropotkins.

Aktualität

Wer schon so weit gelesen hat, wird wohl kaum einen Beleg für die Aktualität des anarchistischen Denkens fordern. Die realexistierenden markt- und staatskapitalistischen Systeme, die zunehmende Quantifizierung allen Lebens und das Einengen ideeller oder spiritueller Horizonte hat zu einer weit verbreiteten existenziellen Unzufriedenheit und einer Sehnsucht nach Alternativen geführt. Menschen, die mit dem Anarchismus nicht vertraut sind, formulieren Lösungen wie horizontale Strukturen, Mitbestimmung, Selbstorganisation, Verteidigung der Gemeingüter oder Grundversorgung. In der erstaunlichen Vielfalt anarchistischen Denkens würden sie eine Vielzahl von Anregungen finden. Der Marxismus kann (auch abgesehen von seinen inhärent autoritären Zügen, auf die zuerst von anarchistischer Seite hingewiesen wurde, wie auch der Widerstand gegen die Diktatur der Sowjetmacht von Anarchisten ausging) keine Lösung an sich sein, denn er entstammt jenem angeblich rationalen Glauben an Chimären menschlicher Entwicklung wie etwa dem stetigen materiellen Fortschritt, die es offensichtlich zu überwinden gilt.

Laut einer im Februar 2012 durchgeführten Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie pflichten 48% der Deutschen der Aussage bei, der Kapitalismus passe nicht mehr zu unserer Welt. Eine wachsende Zahl von Menschen erkennt, dass die Katastrophe nicht das ist, was kommen könnte, sondern das, was schon da ist. Vandana Shiva, die indische Agraraktivistin, beschreibt das trostlose Los der Bauern in ihrem Land, Angehörige einer wachsenden Armee der Überflüssigen, für die es in diesem System keine Lösung gibt (zumal nicht, wenn die letzten Handelsschranken fallen und Indien sich völlig den preiswerteren, da subventionierten Importen aus der EU öffnet). Wie viele Texte in diesem Band verbindet Vandana Shiva eine kritische Bestandsaufnahme mit visionären Lösungsansätzen, die leicht zu verwirklichen wären, würde es nicht am politischen Willen fehlen.

»Der Kapitalismus hat zu seinem Profit alles aufgelöst, was an sozialen Bindungen übrig blieb«, schreibt das Unsichtbare Komitee in Der kommende Aufstand. »Auf die gleiche Weise hat er die natürlichen Welten verwüstet und macht sich nunmehr an die verrückte Idee, sie wie ebenso viele kontrollierte, mit passenden Sensoren ausgestattete Umwelten wieder herzustellen.« Wir leben in einer mit dem Kapitalismus entstandenen Technosphäre, die wie die Bio- und die Geosphäre als Schicht um die gesamte Erde liegt. Niels Boeing zeigt in seinem Aufsatz überzeugend, dass für einen selbstbestimmten Umgang mit Technik ein differenzierteres Verständnis von ihr nötig ist – Anarchoprimitivismus, der eine Rückkehr zur Welt der Jäger und Sammler verkündet, ist keine adäquate Position.

Die Atomisierung der Gesellschaft, das Bedürfnis, die kybernetischen Einsamkeiten zu überwinden, neue Netze zu schaffen, prägt die Arbeit wie auch das Schreiben zweier brillanter Aktivisten: Uri Gordon und David Graeber, die sich mit Methode und Notwendigkeit der Direkten Aktion auseinandersetzen, mit der Dringlichkeit von Protest und Widerstand in einem System, das explosionsartig ineffizienter und verschwenderischer wird, ein System, das perverserweise den Eigennutz als wirtschaftlichen Motor einsetzt, zum Nutzen einiger weniger, zum Schaden der Mehrheit der Lebenden, auf Kosten zukünftiger Generationen.

Gordon und Graeber sowie der inspirierende Text von Isabelle Fremeaux und John Jordan über die quicklebendige Anarchie im Klima-Camp von Heathrow belegen, dass die Behauptung, es gebe keine Alternative, eine Schutzbehauptung ist, um nichts zu tun, um alles hinzunehmen. Innerhalb der libertären Traditionen existieren genügend Anregungen, die Welt anders zu organisieren, den Kapitalismus kritisch zu analysieren, um ihn zu überwinden. Utopisch-revolutionär und konkret-pragmatisch, naturnah und technikversiert, Kopfarbeit und Handarbeit – das zeigen hoffentlich die Texte in diesem Band – schließen einander nicht aus.

Thomas Wagner

Die Trennung überwinden.
Von Demokratie, Hierarchie und Ökonomie

Hat die Demokratie noch eine Zukunft? Während die Volksaufstände in der arabischen Welt diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten scheinen, werden in Europa zunehmend Stimmen laut, die angesichts der manifesten Ohnmacht demokratisch legitimierter Repräsentanten gegenüber dem Diktat der Banken und Konzerne die Demokratie an ihre Grenzen gekommen sehen. »Der Wähler ist zusehends weniger in der Lage, im Sinne seiner eigenen Interessen zu handeln, im Sinne des eigenen Wohls und des der Gesellschaft. Und in diesem Moment hat sich dieses demokratische Prinzip erschöpft«, heißt es etwa am 5. November 2011 im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Die Rede von der Postdemokratie hat seit einigen Jahren Konjunktur, und selbst Konservative bedrückt die Sorge, das politische System des Westens verwandle sich womöglich in eine Plutokratie, ohne dass daran irgendjemand noch etwas ändern könne. Diesem Abgesang auf die Volksherrschaft steht Ellen Meiksins Woods Diagnose gegenüber, nach der es das Streben nach Demokratie sei, dass die verschiedenen, fragmentierten Oppositionsbewegungen heute verbinde.1 Während die etablierten Formen parlamentarischer Volksvertretung also unter Beschuss stehen, erfreuen sich Vorschläge, die Demokratie von unten noch einmal ganz neu zu denken und alternative, horizontale Formen der Entscheidungsfindung auszuprobieren, einer wachsenden Beliebtheit. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten sich Attac und die Weltsozialforen von den konsensualen Entscheidungsverfahren der Zapatisten aus dem mexikanischen Chiapas inspirieren lassen, heute fordern Netzpiraten mehr Transparenz für politisches Handeln ein und Erkenntnisse des anarchistischen Anthropologen David Graeber beflügeln die organisatorische Phantasie der globalen Occupy-Bewegung. Aber liegen denn all jene komplett falsch, die viele Demonstranten, die in London, Athen oder Madrid auf die Straße gehen, für beängstigend unpolitisch halten? Wird der Ruf nach mehr direkter Demokratie nicht zudem auch zunehmend von reaktionären Kräften gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung instrumentalisiert?2 Und welche Konsequenzen müssen aus solchen Entwicklungen gezogen werden? Fragen dieser Art lassen es geboten erscheinen, eine Reihe von grundsätzlichen Überlegungen zum Thema der Demokratie anzustellen. Zunächst gilt es zu klären, wie der Begriff sinnvollerweise zu verstehen ist.

Der blinde Fleck

Eine überzeugende Definition hat der Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn vorgelegt. Er begreift Demokratie als gesellschaftliche Organisationsform, die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaft. »Dieses Verständnis geht hinaus über den in der Staatsrechtslehre herrschenden Begriff von Demokratie, der nur als Legitimation von – dann nicht in Frage gestellter – Herrschaft verstanden wird.«3 Die Perspektive der Überwindung von Herrschaftsbeziehungen impliziert einen sozialen Inhalt der Demokratie. Denn Macht, die aus der ungleichen Verteilung des Zugangs zu ökonomischen Ressourcen herrührt, ist eine ebenso große Gefahr für die Beteiligungschancen der großen Mehrheit wie die unverblümte Ausübung autoritärer Regierungsgewalt. Deshalb erinnert der Schriftsteller Raul Zelik an den Widerspruch zwischen bürgerlichen Eigentumsverhältnissen und Demokratie. Das Privateigentum an Produktionsmitteln sei nicht in erster Linie deshalb ein Problem, weil sich Kapitalbesitzer den Mehrwert aneigneten und dadurch Einkommen ungleich verteilt würden. »Kapital ist in erster Linie ein soziales Machtverhältnis. Das Management der Finanzkrise 2008 und 2009 spricht in dieser Hinsicht Bände: Dass die Allgemeinheit Beträge in Höhe von mehreren Hundert Milliarden US-Dollar aufbringen musste, um private Vermögen vor Spekulationsverlusten zu schützen, hatte ausschließlich mit der Macht der Vermögensbesitzer zu tun. Eine Demokratisierung, die nicht nur formale Rechte beansprucht, ist deshalb nur möglich, wenn sich etwas an den hochkonzentrierten Eigentumsverhältnissen ändert. Demokratisierung ist insofern notwendig mit einer Ausdehnung des Gemeineigentums verschränkt.«4 Es geht also um gleiche Teilhabe nicht nur an den im engeren Sinne politischen Institutionen, sondern darüber hinaus am gesellschaftlichen Reichtum, am Eigentum und an den wirtschaftlichen Entscheidungen. Nur so kann verhindert werden, »dass besondere Gruppen oder Individuen sich an die Stelle der Gesamtheit setzen und die Herrschaft über alle zu ihrem Privileg machen.«5 Nicht nur puristische Anhänger des repräsentativen Parlamentarismus schließen die ökonomische Sphäre aus ihrem Demokratiediskurs aus; auch unter jenen Stimmen, die lauthals mehr Bürgerpartizipation einfordern, zieht kaum jemand eine Demokratisierung der Wirtschaft auch nur in Betracht. Ein erster Schritt, um diesen fatalen blinden Fleck des heutigen Demokratieverständnisses zu überwinden, besteht in dem Nachweis, dass die Entpolitisierung der Ökonomie nicht zu den Naturbedingungen des Zusammenlebens gehört, sondern eine menschengemachte historische Tatsache ist, die durch menschliches Handeln überwunden werden kann. Erst wenn auch die Wirtschaft als Tätigkeitsfeld betrachtet wird, das in den Geltungsbereich des Demokratieprinzips gehört, gewinnt die Forderung nach einer umfassenden Partizipation der Bürger an materieller Substanz.