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Fußnoten

1

Karl Robert Mandelkow (Hrsg.), Goethes Briefe, Bd. 1, Hamburg 1962, S. 161.

2

Zitiert nach: Fritz Adolf Hünich, »Aus der Wertherzeit«, in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 4 (1924), S. 268.

3

Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Stuttgart 2000, S. 287.

4

Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden, hrsg. von Karl Ludwig Schneider, Stuttgart 2012, S. 60.

5

Johann Gottfried Herder, Fragmente zur Deutschen Literatur. Erste Sammlung, Stuttgart/Tübingen 1827, S. 137.

6

Mandelkow (s. Anm. 1), S. 132 f.

7

Nicholas Boyle, Goethe – Der Dichter seiner Zeit, Bd. 1: 17491790, München 32000, S. 159.

8

August Kestner (Hrsg.), Goethe und Werther, Briefe Goethe’s, meistens aus seiner Jugendzeit, mit erläuternden Documenten, Stuttgart/Tübingen 1854, S. 36 f.

9

Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit III, Frankfurt a. M. 1975, S. 624.

10

Ebenda, S. 622.

11

Goethe (s. Anm. 9), S. 650.

12

Goethe (s. Anm. 9), S. 653.

13

Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frank- furt a. M. 2002, S. 204.

14

Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 2014, S. 112 f.

15

Zitiert nach: Kestner (s. Anm. 8), S. 256 f.

16

Christian Fürchtegott Gellert, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, Leipzig 1751, S. 49.

17

Martin Andree, Wenn Texte töten – Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München 2006, S. 107.

18

Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Walter Hettche, 2 Bde., Bd. 1, Stuttgart 2012, S. 633.

19

Waltraud Wiethölter, Die Leiden des jungen Werther, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen, in: Johann Wolfgang Goethe, I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1994, S. 947.

20

Friedrich Gottlieb Klopstock, Die Frühlingsfeyer (1759/71), in: Schneider (s. Anm. 4), S. 66.

21

Hans R. Vaget, Die Leiden des jungen Werthers, in: Interpretationen: Goethes Erzählwerk, hrsg. von Paul M. Lützeler und James E. McLeod, Stuttgart 1985, S. 52.

22

Vaget (s. Anm. 21), S. 43.

23

Jochen Schmidt, Pathologie des genialischen Subjektivismus: Die Leiden des jungen Werther, in: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 17501945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 21988, S. 332.

24

Schmidt (s. Anm. 23), S. 333.

25

Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hrsg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 1969, S. 20.

26

Andree (s. Anm. 17), S. 113.

27

Richard Friedenthal, Goethe – Sein Leben und seine Zeit, München 1991, S. 137.

28

Kurt Rothmann (Hrsg.), Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werther«, Stuttgart 1998, S. 130 f.

29

Ebenda, S. 131.

30

Johann Melchior Goeze, zitiert nach: Rothmann (s. Anm. 28), S. 138.

31

Johann August Ernesti, zitiert nach: Andree (s. Anm. 17), S. 193.

32

Rothmann (s. Anm. 28), S. 151.

33

Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 17561799, Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 158.

34

Kestner (s. Anm. 8), S. 93.

35

Ebenda, S. 99.

1. Schnelleinstieg

Am 1. Juni 1774 kündigt Johann Wolfgang Goethe in einem Brief an den Schriftsteller Gottlob Friedrich Ernst Schönborn (17371817) seinen ersten Roman an: »Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: die Leiden des jungen Werthers, darin ich einen jungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt.«1

Abb. 1: Werther erschießt sich

Aquarell von Johann David Schubert, 1822

© Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum

Grandioser ErfolgGoethe konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass sein Werther einer der erfolgreichsten Romane der Literaturgeschichte werden sollte. 1774 erschien das Werk zur Herbstmesse in Leipzig; schon bald war die erste Auflage vergriffen, sofort folgten Nachdrucke.

Selten hat ein Buch unmittelbar nach seiner Veröffentlichung so viel Ablehnung und gleichzeitig euphorische Zustimmung erfahren wie der Werther. Man kleidete sich bald wie Werther mit einem blauen Frack, gelber Weste, Kniehosen, braunen Stulpenstiefeln und rundem Filzhut.

Die Werther-SelbstmordeIdentifikation mit Werther ging sogar so weit, dass sich wohl ein paar Leser nach der Lektüre des Romans umbrachten. So tötete sich im März 1777 in Kiel ein junger Mann; Lucie Auguste Friederica Jensen berichtet darüber wenige Tage später ihrem Verlobten: »Werthers Geschichte nebst einigen andern Büchern von der Art lag aufgeschlagen bei ihm […], er hat einige Briefe zurückgelassen worin er zeigt wie viel ähnliches seine Geschichte mit der Geschichte des jungen Werthers hat, er soll auch eine Geliebte gehabt haben, die sich verheiratet hat, und um ihn ganz ähnlich zu werden hat er ihm auch im Tode, und in jedem kleinen Umstande gleichen wollen, er hat zum Exempel verlangt in seiner völligen Kleidung und unter zwei grüne Bäume begraben zu werden.«2

Der Werther: Lockspeise des Teufelsliterarische Suizid Werthers und der wirklich vollzogene einiger Lebensmüder riefen die Kritiker auf den Plan, und so wurde das Buch zum Beispiel 1775 in Leipzig verboten: galt es doch als Lockspeise des Teufels.

Weshalb war der Roman so erfolgreich? Sicherlich fesselte die Leser die dramaturgische Konsequenz, mit der sich die Katastrophe des leidenschaftlich liebenden Werthers vollzog. Goethes Roman ist aber mehr als eine Liebesgeschichte: Er dokumentiert Werthers neurotische Selbstzerstörung, die das genialische Programm der Stürmer und Dränger ad absurdum führt. Aber auch Werthers Kritik an der Gesellschaft spielte eine Rolle. Der junge bürgerliche Intellektuelle ist nicht mehr gewillt, sich in die strenge Hierarchie des Staates einzuordnen, er rebelliert und wird zum egomanischen Außenseiter, der, irre geworden, in sein Unglück stürzt.

Mit Goethes Werther gewann die literarische Gattung des Romans in Deutschland erheblich an Ansehen. Goethes VorbilderDas lag auch daran, dass Goethe an englische und französische Vorbilder anknüpfte, die das deutsche Publikum schätzte, und schließlich über sie hinausging. Die bürgerlich-sentimentalen Briefromane Pamela oder die belohnte Tugend (1740) und Clarissa oder die Geschichte einer jungen Dame (1747/48) von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Héloïse (1761) waren vorausgegangen und wirkten nachhaltig auf Goethe ein. Auch Christian Fürchtegott Gellerts Roman Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (1747/48), der erotische Kollisionen verhindert, weil die aufgeklärte Vernunft ausgleichend wirkt, und Sophie von La Roches gern gelesene Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) hatten den Boden für den Werther bereitet.

Dennoch unterscheidet sich der Werther grundlegend von diesen Romanen. Werther verzichtet auf belehrende MoralZwar wird der Reichtum an seelischen Empfindungen, die nicht selten die Leser zu Tränenströmen rührten, auch in Goethes Text ausgelotet, doch er verzichtet, und das ist für die damalige Zeit bemerkenswert, auf die moralisierende Tendenz seiner Vorgänger: Richardsons Romanfigur Clarissa etwa entstammt einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Sie wird von dem Aristokraten Robert Lovelace heftig begehrt, doch sie bleibt tugendhaft und gibt sich ihm nicht freiwillig hin. Das Bürgertum schätzte diesen Briefroman, weil seine Tugend stärker war als die sittlich verdorbene Aristokratie. In Goethes Roman dagegen gibt es keine moralische Instanz, die Werthers Verhalten beurteilt. Die Leser müssen sich bis heute selbst ein Urteil über den Roman bilden. Es gibt deshalb viele individuelle Lesarten des Textes; der vorliegende Lektüreschlüssel bietet eine Orientierung an.

2. Inhaltsangabe

Die Leiden des jungen Werther erstrecken sich über den Zeitraum vom 4. Mai 1771 bis zum 23. Dezember 1772. Ein fiktiver Herausgeber hat, wie er in der Vorbemerkung mitteilt, Werthers Briefe gesammelt und veröffentlicht. Der Briefroman besteht aus zwei Büchern.

Erstes Buch

Werthers ExpositionUntergang beginnt bereits mit der Exposition, der Einführung des dramatischen Konflikts. Der junge und empfindsame Werther zieht sich, nachdem er den Erwartungen von Leonore (S. 5) nicht gerecht wurde, von der Stadt auf das Land zurück: unter dem Vorwand, einen Erbschaftsstreit seiner Familie beizulegen.

Darum Genuss in Natur und Kunstkümmert er sich jedoch kaum, stattdessen genießt er seine Freiheit und »Einsamkeit […] in dieser paradiesischen Gegend« (S. 6). Er liest Homer und Die Gesänge des Ossian, zeichnet und ergeht sich in schwärmerischen Naturbeschreibungen, erfreut sich an der familiären Idylle am Brunnen und beobachtet dort »die Mädchen aus der Stadt« (S. 8), die Wasser holen.

Er versteht sich dort, wie er glaubt, gut mit dem einfachen Volk, und die Kinder scheinen ihn zu lieben. Werther betont trotzdem die trennenden Standesgrenzen: »Ich weiß wohl, dass wir nicht gleich sind, noch sein können« (S. 9). Allerdings bedauert er, dass ein vertraulicher Umgang mit dem Volk nicht möglich ist. Damit er nicht als arrogant verschrien wird, hilft er einer jungen Dienstmagd beim Tragen ihres Gefäßes.

Werther lobt das vermeintlich Scheinwelt: Patriarchalische Gesellschaftpatriarchalische Leben in diesem Umfeld, weil er eine sentimentale Vorstellung von den biblischen Patriarchen hat, die sich fürsorglich um ihre Familien und Diener kümmerten. Aber er kritisiert in den beiden folgenden Briefen vom 17. und 22. Mai die Eintönigkeit des gewöhnlichen menschlichen Lebens, die keinen Raum für Freiheit und Spontaneität bietet: »Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.« (S. 10)

Lotte kommt ins SpielWerther lernt – so der Brief vom 17. Mai – Lottes Vater, den verwitweten Amtmann, einen Verwaltungsbeamten, kennen. Dieser lädt den jungen Mann zu einem Besuch ein.

Besonders Wahlheimgerne hält Werther sich in »Wahlheim« (S. 14) auf, einem idyllischen Ort in der Nähe der Stadt: »So vertraulich, so heimlich hab ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden« (S. 14). Dort faszinieren ihn zwei Kinder, die scheinbar mit der Natur – im Unterschied zu den regelkonformen Bürgern – eine Einheit bilden; er zeichnet sie und redet sich ein, lediglich die Natur könne ein wahres Vorbild für den Künstler sein: »Sie allein ist unendlich reich und sie allein bildet den großen Künstler.« (S. 15) Nur die Natur verhilft ihm zur vollen Entfaltung und nicht die Regeln, an die sich Künstler bisher gehalten haben; damit lehnt sich Werther an das Programm der Stürmer und Dränger an, die sich von festgesetzten Normen und einer geregelten Kunstform abwandten. Dazu gehörte auch ein intensives Verhältnis zur Natur, die als Fundament alles Schöpferischen galt.

Abb. 2: Goethes »Wahlheim« – Garbenheim bei Wetzlar

Am 30. Mai 1771 berichtet Der Bauernbursche und Werthers Schicksal Werther seinem Freund Wilhelm über einen Bauernburschen, der als Knecht bei einer Witwe arbeitet, sie innig liebt und von ihr schwärmt, obwohl die Frau ihm keine Chance gewährt. Dieser Bericht feuert Werther regelrecht an: »[…] und dass mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und dass ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.« (S. 20) Er wird wie dieser Bursche wenig später eine Frau chancenlos lieben.

Werther lernt zwar viele Menschen kennen, aber er ist nicht in der Lage, Freunde zu finden. Ballvergnügen mit LotteErst als er anlässlich eines Balles (16. Juni 1771) Lotte trifft, scheint er eine mögliche Partnerin gefunden zu haben. Werther verliebt sich prompt in sie, obwohl er schon beim Tanz erfährt, dass sie mit Albert, einem braven Bürger, verlobt ist. Lotte, wie zuvor schon die Natur, versetzt ihn in einen besinnungslosen Gefühlszustand: »Ich war kein Mensch mehr.« (S. 27)

Seine Gewitter, Klopstocks Ode, HandkussLeidenschaft erlebt einen neuen Höhepunkt, als ein Gewitter über die Ballgesellschaft hereinbricht; nachdem es sich verzogen hat, treten Lotte und Werther an das Fenster der Gaststätte. Lotte ergreift seine Hand und sagt: »Klopstock!« (S. 30) Beide sind zutiefst gerührt, denn sie erinnern sich an Friedrich Gottlieb Klopstocks (17241803) gefühlsselige Ode Die Frühlingsfeyer. Schließlich gibt er ihr »unter den wonnevollsten Tränen« (S. 30) einen Handkuss. Seit dieser Nacht ist Werther unwiderruflich und durchaus neurotisch auf Lotte fixiert.

Der Verliebte wird zu ihrem ständigen Begleiter, so Besuch beim Pfarrer von »St..« und Streitgesprächbesuchen sie zum Beispiel den Pfarrer von »St..«, dort lernen sie dessen Tochter Friederike und ihren Bräutigam, Herrn Schmidt, kennen, der ein schlecht gelaunter und eifersüchtiger Mensch ist. Es kommt zwischen beiden Männern zum Streit, weil Werther die Pfarrerstochter umschmeichelt (S. 36). Der weinende Werther verlässt schließlich mit Lotte die Gesellschaft. Sie ahnt schon hier, dass Werthers übersteigerte Empfindsamkeit ihn »zugrunde« (S. 40) richten könnte. Doch ihr sorgenvoller Einwand steigert seine Sehnsucht: »O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben!« (S. 40) An Tagen, an denen er seinen »Engel« nicht sehen kann, schickt er seinen Diener zu ihr, weil ihn der Gedanke tröstet, dass er nach dessen Rückkehr einen Menschen um sich hat, der seine geliebte Lotte kurz zuvor noch erblickt hat.

Doch schnell plagt Werther Liebeskummer vs. innige LiebeLiebeskummer (8. Juli); während eines Ausflugs nach Wahlheim schenkt Lotte aus einer Kutsche heraus ihre Blicke drei anderen Männern und nicht Werther, der daraufhin untröstlich ist: »Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr vorbei und eine Träne stand mir im Auge.« (S. 42) Fünf Tage später jedoch fühlt er mit seinem »Herzen« (S. 44), dass Lotte ihn liebe. Doch sobald sie »von ihrem Bräutigam« (S. 44) spricht, ist Werther am Boden zerstört.

Als Albert taucht aufAlbert, der verreist war, zurückkehrt (30. Juli), verstehen sich die beiden Männer zunächst relativ gut. Werther reißt sich zusammen: »Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein braver lieber Mann, dem man gut sein muss.« (S. 48