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GEORG RENÖCKL

Paris

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise durch die
Hauptstadt des 19. Jahrhunderts

Band II

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2018

Coverfoto & Fotos: Georg Renöckl

Druck: FINIDR, s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín

Irren ist menschlich.
Flanieren ist pariserisch
.

Victor Hugo

Inhalt

Das endlose Pariser Leben

Hart am Mythos

Ein sonniger Samstag im Süden

Fackellauf an der Seine

Bombast, Beton, Balzac

Mit dem Fahrrad in die Zukunft

Von Park zu Park

Zurück in den Bauch

Wozu ein Kopf, wenn man doch Beine hat

Das endlose Pariser Leben

„In Paris findet man Freiheit und Intelligenz, dort ist das Leben! Ein seltsames und fruchtbares Leben, ein kommunikatives, warmes Leben, ein Eidechsen- und Sonnenleben, ein künstlerisches und freudvolles, ein kontrastreiches Leben.“ Fast hat man den Eindruck, selbst Balzac, diese–laut Selbstdefinition– „schreibende Dampfmaschine“ komme etwas ins Stocken, wenn es darum geht, die Faszination von Paris zu beschreiben. Kein Wunder, Paris ist schließlich keine Stadt, sondern eine Welt, wie der französische König Franz I. sagte. Oder war es sein Zeitgenosse, der römisch-deutsche Kaiser Karl V.? So genau weiß man das nicht mehr, letztlich ist es auch egal. Der Satz stimmt schließlich immer noch. Die Dichte und die Vielfalt der Metropole, die innerhalb der Ringautobahn Périphérique doch nur einen Durchmesser von etwa zehn Kilometern aufweist, das pralle Leben, das in ihr pulsiert – wer das einmal gespürt hat, wird nur allzu leicht süchtig danach, auch auf die Gefahr hin, wie Balzac beim Versuch, den Grund für diese Sucht auf eine kurze Formel zu bringen, ins Stottern zu geraten.

„Kontrastreich“, schreibt der Dichter, und wer würde ihm widersprechen? Manchmal habe ich auf meinen langen Fußmärschen durch die Weltstadt das Gefühl, von Dorf zu Dorf zu wandern. Auch wenn die Stadt die vielen alten Ortskerne an ihren ehemaligen Rändern geschluckt, überwuchert, ausgelöscht oder völlig verändert hat, spürt man sie oft noch, die unterschiedlichen Persönlichkeiten von Belleville und Ménilmontant, von Charonne oder der Butte aux Cailles, die ich für den ersten Band meiner Pariser Erkundungen durchquert habe. Im Westen der Stadt, um den es im zweiten Band gehen wird, tragen die Dörfer Namen wie Saint-Germain-des-Près, Grenelle, Auteuil, Passy, Batignolles, Les Epinettes – teils sind es klingende, teils kaum bekannte Namen. Gemeinsam haben sie alle, dass sie (fast) nichts gemeinsam haben. Einander äußerlich angeglichen wurden sie durch Baron Georges-Eugène Haussmann, unter dessen Regierung gerade im Westen der boomenden Stadt zahlreiche Viertel völlig neu entstanden, entlang breiter Avenuen und Boulevards. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten haben sie aber meist gewahrt, ob es sich nun ums aristokratische Auteuil, das intellektuelle Saint-Germain oder das proletarisch-migrantische Epinettes-Viertel handelt.

Osten oder Westen, das ist in Paris ein viel wichtigerer Kontrast als die Unterscheidung Rive Gauche oder Rive Droite, die vielleicht zu Sartres Zeiten ihre Berechtigung hatte, als „rive gauche“ gleichbedeutend war mit „intellektuell“. Heute scheint es eher angezeigt, Stadtteile anhand von Immobilienpreisen oder Quadratmetermieten zu vergleichen, und da zeigt sich: Richtig teuer ist es in Paris vor allem im Westen, auch wenn es im Osten schon längst nicht mehr billig ist. Der Pariser Westen, das sind die schönen, die bürgerlichen, die aristokratischen und die Shopping-Viertel der Hauptstadt sowie diejenigen, in denen Künstler und Intellektuelle wohnen, die es geschafft haben. Es ist nicht immer leicht, zu den Leuten vorzudringen, die diese Viertel bewohnen, was mitunter an den vielen Touristen liegt, die einem bei diesem Vorhaben im Weg stehen. Zumindest war das mein Vorurteil, als ich den zweiten Pariser Band der Reihe „Abseits der Pfade“ in Angriff nahm. Ich war dann erleichtert, auch in diesen vermeintlich übererschlossenen Vierteln problemlos verschwiegene, romantische und überraschende Pfade zu finden, in versteckte oder bloß etwas abgelegene Parks, in kaum besuchte, aber sehenswerte Museen, in Cafés und Bistros, in denen man spürt, dass die Leidenschaft, mit der gekocht, und die Gastfreundschaft, mit der man empfangen wird, echt sind. Auch der Pariser Westen ist voll liebenswerter Straßen voller Leben, und das würden sich die Pariser nicht im Traum wegen der paar Touristen nehmen lassen.

Kein Kontrast zum Pariser Osten lässt sich feststellen, wenn es um die Dynamik und die ständige Veränderung geht, die in dieser Stadt auf Schritt und Tritt spürbar sind. Vor allem im siebzehnten Arrondissement, wo gerade ein völlig neuer Stadtteil entsteht und man einen Blick auf das Grand Paris der Zukunft werfen kann, das derzeit Gestalt annimmt, ist die Veränderung faszinierend zu beobachten. Genauso an der Seine: Wo gerade noch der Verkehr mit Hochgeschwindigkeit durchbrauste, hört man jetzt wieder das Wasser gluckern. Auf Plätzen, die vor Kurzem noch und völlig zu Recht als Verkehrshölle auf Erden galten, pflanzen heute Kindergartenkinder Blumenbeete. Die ehrgeizige ökologisch ausgerichtete Politik von Bürgermeisterin Anne Hidalgo verleitet manche Beobachter zum Vergleich mit Baron Haussmann. Das ständige Streben nach der Spitze und der unbedingte Ehrgeiz, zu den Vorreitern zu zählen, vereint nicht nur den deutschstämmigen Präfekten und die spanischstämmige Bürgermeisterin, sondern ist überhaupt eine Pariser Konstante.

Auf mich wirkt die typische Pariser Unruhe, diese Unfähigkeit, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, im Grunde sehr beruhigend: Ganz gleich, wie gut man die Stadt kennt – man wird doch stets Neues entdecken. Wahrscheinlich meinte Hemingway, als er feststellte, dass Paris kein Ende habe, ja genau das.

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A

Square du Vert-Galant

B

Place Dauphine

C

Pont des Arts

D

Bibliothèque Mazarine

E

Passage Dauphine

F

Bistro Ernest

G

ehem. Éditions du Seuil

H

Place de Furstemberg

I

Pierre Hermé

J

Café de la Mairie

K

Bon Marché / Grande épicerie

L

Lucernaire Forum

M

Crêperie Vieux Journal

N

Musée Zadkine

O

Le bateau ivre

P

Chez Georges

Hart am Mythos

Von der Judeninsel durchs existenzialistische Paris

Nicht nur ihren Bewohnern, auch der Stadt Paris selbst wurde ein gewisses Selbstbewusstsein in die Wiege gelegt. Fluctuat nec mergitur – Von den Wogen gebeutelt, geht sie doch nicht unter, lautet seit Baron Haussmann die offizielle Devise der Stadt, die seit dem 12. Jahrhundert ein Schiff im Wappen trägt. Das Motto scheint selbst in den Stadtplan eingeschrieben zu sein: Mit ein klein wenig Fantasie erkennt man in der Île de la Cité, der Wiege von Paris, die Form eines Schiffs. Kein Wunder, dass den Parisern ihr alter Wahlspruch heute noch wichtig ist und sie ihn immer wieder – egal ob nach den Terroranschlägen von 2015 oder dem Hochwasser von 2016 – mit trotzigem Stolz vor sich hertragen.

Man sollte es sich nicht entgehen lassen, wenigstens einmal während eines Aufenthalts in Paris ganz vorn an der Inselspitze zu stehen, durch die Zweige der großen Trauerweide auf den Pont des Arts zu blicken, den Square du Vert-Galant im Rücken, und sich wie die Galionsfigur des Pariser Schiffes inmitten der Seine zu fühlen. Zur Hochsaison und an Wochenenden ist hier relativ viel los, an Abenden herrscht oft Partystimmung, doch während der Woche hat man diesen traumhaften Platz am frühen Vormittag meist ganz für sich allein. Ursprünglich lag an seiner Stelle eine kleine, der Île de la Cité vorgelagerte Insel, die erst durch die Bauarbeiten des Pont Neuf im frühen 17. Jahrhundert mit der Hauptinsel vereinigt wurde. Ihr alter Name – „Île aux juifs“, Judeninsel – ist eine makabre Erinnerung daran, dass auf der Insel im Mittelalter Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Auch Jacques de Molay, der letzte Großmeister des Templer-Ordens, starb auf der Judeninsel den Flammentod: König Philipp der Schöne, der die Macht der Kreuzritter brechen und ihre Besitztümer für sich haben wollte, ließ die führenden Templer verleumden und in den Kerker werfen, wo sie unter der Folter alles gestanden, was für Schauprozess, Hinrichtung und Beschlagnahmung ihres Vermögens nötig war. Von der düsteren Geschichte des bezaubernden Ortes offenbar recht wenig beeindruckt sind die unzähligen Liebespaare, die den Weg vom Pont Neuf hinunter zum kleinen Park im Pariser Schiffsbug mit Lovelocks zugepflastert haben, sodass die einst schön anzusehenden Eisengitter, die den Blick auf den Square du Vert-Galant freigaben, heute eine blickdichte Mauer aus Messingschlössern bilden. Absurd, dass diese unzähligen Denkmäler spießiger Instant-Romantik ausgerechnet rund um die Statue von König Henri IV. hängen, den notorisch untreuen Schürzenjäger, der mit acht Frauen sechzehn Kinder zeugte und sicher auch den einen oder anderen folgenlosen Seitensprung auf dem Kerbholz hatte.

Sein Denkmal hat eine kuriose Geschichte: Das 1614 aufgestellte Original der Statue wurde während der Revolution gestürzt und eingeschmolzen, doch während der Restauration unter Ludwig XVIII. rekonstruiert. Das Metall für den Neuguss stammte zum Teil von der ihrerseits gestürzten Napoleon-Statue, die auf der Spitze der Colonne Vendôme gestanden war. Dass man den Kaiser der Franzosen als Material für einen König von Frankreich und Navarra benützte, missfiel offenbar einem der an der Errichtung der neuen Statue beteiligten Arbeiter: Bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 2004 entdeckte man eine kleine Napoleon-Statue im rechten Arm des wieder aufgestellten Königs.

Ungerührt starrt dieser in Richtung Place Dauphine, die wie die Brücke aus seiner Regierungszeit stammt. Seit ich gelesen habe, dass André Breton diesen Platz als „Geschlecht von Paris“ bezeichnet hat, geht es mir damit wie mit dem berühmten rosa Elefanten: Es ist mir unmöglich, nicht an Bretons Vergleich zu denken, wenn ich den ruhigen, harmonischen, dreieckigen Platz im Zentrum der Stadt betrete. Bis vor Kurzem gab es hier mit dem Henri IV eines der besten Billighotels der Stadt, mit Gangtoiletten und Blick auf Notre-Dame. Immerhin ist noch das eine oder andere günstige Bistro übrig geblieben, in dem die Antiquitätenhändler des Platzes verkehren, wie zum Beispiel das freundliche und unkomplizierte Ma salle à Manger, in dem man zu – für die Gegend – vernünftigen Preisen hervorragende Gerichte aus dem französischen Südwesten isst, oft mit baskischem Einschlag, stets mit Charme und Humor serviert. Die bekomme ich auch zu meinem Kaffee an der Bar, wo ich für einen kurzen Augenblick die Atmosphäre des Platzes auf mich wirken lasse.

Mich zieht es zum Pont des Arts, auf dem ich den Spaziergang durchs existenzialistische Paris eigentlich beginnen wollte. Der Grund dafür ist ein Foto von Henri Cartier-Bresson, das Sartre auf der berühmten Fußgängerbrücke zeigt. Allerdings war die Versuchung, zuvor noch einen Abstecher auf die Île de la Cité zu machen, doch zu groß. Den Quai de Conti entlang spaziere ich an zahlreichen Bouquinistenständen vorbei, die das Seine-Ufer bevölkern, eine passende Einstimmung auf das bibliophile Saint-Germain-des-Près. Die Bouquinisten verdanken ihren Namen der Tatsache, dass es im Französischen zwei Wörter für Bücher gibt, neben dem neutralen „livre“ eben auch das Wort „bouquin“, das über das Niederländische ins Französische eingewandert ist. In der Umgangssprache wird es oft als Synonym für „livre“ verwendet, doch der Stand eines „Bouquiniste“ ist etwas völlig anderes als eine vom „livre“ abgeleitete „Librairie“. Während Letztere eine ganz normale Buchhandlung ist, handelt ein „Bouquiniste“, ob an der freien Luft am Seine-Ufer oder in einem fixen Verkaufslokal, ausschließlich mit alten Büchern. Ich genieße es jedes Mal aufs Neue, dass dieser Markt in Paris nicht im gleichen Ausmaß zusammengebrochen ist wie in Wien, wo es kaum noch Antiquariate gibt, weil deren Kunden – die auch immer weniger werden – auf den Online-Handel ausgewichen sind.

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Place Dauphine

Exakt 217 Bouquinisten machen rund drei Kilometer des Seine-Ufers zu einer Fundgrube für Bibliophile. Die Holzkisten müssen einheitlich in „Waggon-Grün“ gestrichen werden, im selben Farbton wie Litfaßsäulen, eiserne Brunnen und anderes Pariser Stadtmobiliar. Im Jahr 2011 wurden sie zum Teil des Weltkulturerbes Seine-Ufer. Seit 1859 vergibt die Stadt Paris die Konzessionen für die Kleinunternehmer, die maximal vier Kisten mit einer Gesamtlänge von 8,6 Metern benützen dürfen. Auch wenn viele Bouquinisten Souvenirs und billige Drucke ins Programm genommen haben, zählt ein Bouquinisten-Spaziergang zu den Genüssen, die nun einmal nur Paris bietet. Man muss nicht lang in ein Antiquariat gehen, in dem man womöglich erklären müsste, was man will – dabei weiß man das meistens ja gar nicht! –, sondern kann sich von einem schönen Cover oder einem vielversprechenden Titel verlocken lassen, in alten Stichen blättern und Dinge finden, von denen man noch nicht wusste, dass man sie eigentlich schon seit Langem sucht.

Beim Stand Nummer 33 bleibe ich unwillkürlich stehen. „André Breton“ und „La position politique du surréalisme“ steht in großen Lettern auf dem Titelblatt einer alten Zeitschrift. Daneben liegt nicht etwa ein rosa Elefant, sondern ein Buch von Colette, das den Titel „La Chatte“ trägt. Ich dürfte einen Moment vor dem Anblick verharrt sein, plötzlich steht die Bouquinistin neben mir und drückt mir das Buch in die Hand. „Eine Originalausgabe“, erklärt sie mir und empfiehlt mir das etwas muffig riechende, schön vergilbte und außerdem billige Buch, das ich wohl ohnehin gekauft hätte, dringend wegen seiner eleganten Sprache. Sie beginnt mit mir über den Jugendstil zu plaudern, da sie mich zunächst für einen Belgier hält und ich offenkundig zu wenig über Colette weiß, um mich mit ihr über die schillernde Autorin zu unterhalten. Wien passt da thematisch zwar auch gut, doch meine Gesprächspartnerin hat mit dieser Stadt ihre Schwierigkeiten: „Sehen Sie, ich bin Jüdin, uns wollte man dort eines Tages nicht mehr.“ Wir unterhalten uns noch über Françoise Frenkel, eine polnische Jüdin, die in der Zwischenkriegszeit die einzige französische Buchhandlung Berlins betrieben hat und deren Bericht über ihre Flucht durch Frankreich in die Schweiz im letzten Jahr eines der Ereignisse der literarischen Saison war, doch ich vergesse dabei beinahe, dass die gerade angesagten Bücher eben nicht unbedingt Madame Nordmanns Priorität sind. Das Schöne an den Bouquinisten ist ja schließlich, dass man sich nicht um Trends und Moden kümmern muss, sondern von Büchern umgeben ist, die eine viel längere Halbwertszeit haben als das, was gerade die Feuilletonseiten füllt – Colette und Breton werden auch in ein paar Jahren ihre Leser finden. Sorgen macht sich die Bouquinistin keine. Freilich sind die guten Kunden weniger geworden, doch für sie gibt es keinen Grund zu jammern: Für ihren Beruf braucht es zwar Zeit und Geduld, doch sie liebt ihren Arbeitsplatz – was man gut verstehen kann, zumindest bei schönem Wetter.

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Blick vom Pont des Arts

Mit Colettes „La Chatte“ im Gepäck gelange ich endlich zum Pont des Arts, dem Georges Brassens eine heitere Hymne gewidmet hat, in der es gerade dort der Wind liebt, Männern die Hüte und Frauen die Röcke zu lüpfen. Wie viel leichtfüßiger dieses alte Lied heute noch ist als die plumpen Lovelocks, die hier vor einigen Jahren eines der beiden Brückengeländer zusammenbrechen ließen. Die Stadtverwaltung ersetzte das Gitter durch Glasscheiben, an denen sich keine Schlösser mehr anbringen lassen. So hat auch die Brücke ihre Leichtigkeit zurückgewonnen, endlich ist der Blick auf die Île de la Cité wieder unverstellt. Ich weiß nicht mehr, wer diesen Blick mit Courbets Gemälde „L‘Origine du monde“ verglichen hat, das unweit der Brücke im Musée d’Orsay zu bestaunen ist. Da es sich bei der Île de la Cité ja auch um den Ursprung von Paris handelt, liegt der Gedanke tatsächlich nahe, doch ich schiebe ihn beiseite – heute soll es nicht um den Unterleib, sondern um das Hirn der Stadt gehen, um das intellektuelle Paris, dessen Durchquerung ich an dieser Stelle nun endgültig in Angriff nehme.

Saint Germain, das ist mein erstes Stück Paris. Hier hat der alte Priester gewohnt, in dessen Dienstwohnung mit Blick über die Dächer der Stadt ich die erste, unvergessliche Paris-Woche meines Lebens verbracht habe, mit einigen Mitschülern auf Luftmatratzen im Wohnzimmer campierend. Das Viertel war damals natürlich längst zum Mythos und damit ein wenig auch zum Museum seines früheren Selbst geworden, in dem man damals wie heute Gefahr lief, zwischen Vitrinen herumzuirren, die einem nichts sagten, und Wissen abzuhaken, zu dem man keinen Bezug hatte. Dennoch gilt für mich: Paris ohne Eiffelturm, das funktioniert durchaus und wird sogar von manchen Reisebüros so angeboten, doch Paris ohne Saint Germain, ohne Sartre und Beauvoir, ohne den Jardin du Luxembourg und die Bouquinisten – da fehlt dann einfach doch zu viel. Und zu sagen hat dieses Viertel auch heute noch so manches.

Der Pont des Arts verbindet die monumentale, endlos scheinende und etwas einschüchternde Fassade des Louvre mit dem Institut de France, in dem neben vier anderen Akademien seit dem 19. Jahrhundert auch die Académie française zu Hause ist. Das Gebäude wurde ursprünglich als Universität für Studenten aus den von Ludwig XIV. eroberten Gebieten errichtet und ist ein Paradebeispiel für die Verschmelzung von Barock und Klassizismus durch Louis Le Vau, einen der bedeutendsten Architekten des Sonnenkönigs. Einst stand an der Stelle des Instituts einer der Türme der unter Philippe Auguste erbauten Stadtmauer, die Tour de Nesle. Der Turm gab einer schaurigen Affäre den Namen: Die Schwiegertöchter Philipps des Schönen, der bereits bei der Zerschlagung des Templer-Ordens seine Grausamkeit unter Beweis gestellt hatte, wurden von seiner Tochter des Ehebruchs bezichtigt, den sie im Turm mit zwei jungen Rittern begangen haben sollten. Die Angeklagten wurden gefoltert, bis sie die Vorwürfe gestanden, und danach grausam öffentlich zu Tode gequält – die tatsächliche oder vermeintliche Gefährdung der legitimen königlichen Erbfolge galt als schlimmes Verbrechen, das mit maximal abschreckender Wirkung gerächt wurde.

Um ein royales Reinheitsgebot geht es auch im Nachfolgegebäude des geschleiften Turms: Die 1635 gegründete Académie française hat schließlich als Hauptaufgabe, über die Reinheit der französischen Sprache zu wachen, deren oberste Autorität sie ist. Hauptbeschäftigung der 40 Mitglieder ist die Herausgabe und ständige Aktualisierung des Wörterbuchs, dessen aktuelle Ausgabe etwa 60.000 Wörter enthalten soll. 1992 erschien der erste Band dieser Ausgabe (von A bis Enzyme), derzeit arbeiten die Académiciens am vierten Band und sind zur Zeit meiner Recherchen beim schönen Adjektiv „rimbaldien“ angelangt, das auf den Dichter Arthur Rimbaud verweist und sich nicht ins Deutsche übersetzen lässt.

So leicht es sich über die Akademie und ihre seit Napoleons Zeiten in elegante, grün bestickte schwarze Uniformen gehüllten Mitglieder spotten lässt, so faszinierend ist doch der jahrhundertealte Kampf um die Sprache, der in Frankreich mit einer in anderen Ländern kaum denkbaren Leidenschaft geführt wird. Bereits 1539 ordnete König Franz I. im Edikt von Villers-Cotterêts an, dass alle offiziellen Dokumente in französischer Sprache geschrieben werden müssen, während im Rest Europas noch Latein als die einzige brauchbare Amtssprache galt. Bald schon richtete sich der Kampf um das Französische nicht mehr gegen das Lateinische, sondern gegen die anderen Sprachen im Königreich. Frankreich war, wie die meisten europäischen Länder, ein heterogenes, vielsprachiges Territorium, dessen Grenzen durch Eroberungszüge zustande gekommen waren und ständig erweitert wurden. Die südliche Hälfte des Landes sprach unterschiedliche okzitanische Dialekte, sowie Italienisch, Korsisch und Frankoprovenzalisch. Sprachen wie das Bretonische, das Flämische oder das Baskische dominierten manche Landesteile. Im Norden war das Französische des Königshofes nur ein Dialekt unter vielen. Auch wenn sich Sprache und Akzent des Königs vor allem während der Dritten Republik ab 1871 im ganzen Land durchsetzte, kam so mancher französische Citoyen erst in einem der Schützengräben des Ersten Weltkriegs mit dem Französischen in Kontakt, wie der amerikanische Historiker Eugene Weber in seinem Werk „Peasants into Frenchmen“ schildert. Frankreich hat bis heute die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen nicht ratifiziert, da die Idee, es gebe sprachliche Minderheiten, mit der Idee der französischen Republik nicht vereinbar ist.

Man könnte viele, eng mit der bewegten Geschichte Frankreichs verknüpfte Gründe für die Leidenschaft und das Gefühl der Bedrohung durch äußere Feinde anführen, die in Frankreich oft mit der Sprache verbunden wurden. Vor mir liegt nun das Epizentrum dieser Leidenschaft, und das Schöne daran ist: Man kann es besichtigen. Die Bibliothèque Mazarine, die den Namen des Kardinals trägt, aus dessen Vermögen der Bau des „Collège des Quatre-Nations“ seinem letzten Willen gemäß finanziert wurde, ist die älteste öffentliche Bibliothek Frankreichs und steht seit 1691, dreißig Jahre nach dem Tod ihres Stifters, der Allgemeinheit zur Verfügung. Ihr Bestand geht auf die umfangreiche Privatbibliothek des belesenen Kardinals zurück, und auch die Revolutionswirren erwiesen sich für sie als Segen: Zahlreiche konfiszierte Bibliotheken wurden der Bibliothèque Mazarine einverleibt, die eine große Zahl äußerst wertvoller Bücher aus vergangenen Jahrhunderten besitzt. Nach wie vor ist die Bibliothek öffentlich zugänglich. Zwar muss ich wie derzeit überall in Frankreich meine Tasche am Eingang öffnen, doch dann kann ich völlig unbehelligt in die Bibliothek des Kardinals spazieren, wenn auch zu meinem Bedauern das Fotografieren verboten ist. Ein unglaublicher Arbeitsplatz ist das hier, die historischen Lesesäle, die zwar gut besucht, aber keineswegs überfüllt sind, werden eingerahmt von den alten Bücherwänden, dazwischen schweift der Blick über die Seine in Richtung Louvre. Würde ich noch einmal in Paris studieren, wäre das hier mein Arbeitszimmer, so viel ist sicher.

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Bibliothèque Mazarine

Durch einen Durchgang rechts vom Haupteingang des Instituts erreiche ich nach diesem bibliophilen Abstecher die Rue Mazarine, wo ich in einem kleinen Park eine kurze Pause auf einer Bank in Form eines aufgeschlagenen Buches einlege. Die Außenwand der Akademie entlang spaziere ich die Rue Mazarine hinunter. Giulio Raimondo Mazzarino war der eigentliche Name des Kardinals, der als Nachfolger Richelieus die Regierungsgeschäfte für Ludwig XIII. leitete. Er war nach dessen Tod Erzieher des minderjährigen Thronfolgers Ludwig XIV. und einer der Architekten der französischen Vormachtstellung in Europa, die er durch Friedensverträge wie den Westfälischen oder den Pyrenäenfrieden genauso sicherte wie beträchtliche territoriale Zugewinne des Königreichs. Eine Mehlspeise ist nach ihm benannt, der Mazarin, ein mit Mandelcreme gefüllter Kuchen, der ein wenig an eine italienische torta della nonna erinnert.

Bei Hausnummer 28 bleibe ich kurz bei einer Gedenktafel stehen, die an Jean-François Champollion erinnert, der in diesem Haus im September 1822 die Hieroglyphenschrift entzifferte, woraufhin er in einen fünf Tage andauernden Schockzustand verfiel.

Schön wäre es nun, in der Passage Dauphine, die die Rue Mazarine mit der Rue Dauphine verbindet, einen Mazarin-Kuchen zu verspeisen, doch ich bin zu früh dran: Das nette Café L’Heure Gourmande, inmitten der stillen Passage im geschäftigen Viertel gelegen, öffnet erst zu Mittag. Nun, es hätte ohnehin keinen Mazarin auf der Karte gegeben. Die Passage führt zur Rue Dauphine, die zumindest historisch zu den bedeutendsten Orten der Pariser Pâtisserie zählt, das heißt, eigentlich der Viennoiserie: In der Rue Dauphine – benannt nach dem Kronprinzen Ludwig XIII., Sohn von Henri IV. – wurden der Legende nach die ersten Croissants der Hauptstadt gebacken. Die gebogene Form brachte Marie-Antoinette aus Wien mit, der buttrige Pariser Blätterteig machte das Wiener Kipferl zum Pariser Croissant. Eine andere Quelle besagt, dass die Wiener Kipferl erst im 19. Jahrhundert durch den österreichischen Offizier August Zang in Paris populär wurden, der in der Rue Richelieu eine Boulangerie Viennoise eröffnete, ehe er nach Wien zurückkehrte und die heute noch bestehende Tageszeitung „Die Presse“ gründete. Mir gefallen beide Geschichten, und die Bezeichnung „Viennoiserie“ fürs Gebäck ist so oder so stimmig.

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Passage Dauphine

Ich bleibe in der Rue Mazarine und betrete ganz gegen meine Gewohnheit eine Tiefgarage. Auf Hausnummer 27 kann man noch Stücke der alten Stadtmauer Philippe Augustes besichtigen. Wie seltsam, das 900 Jahre alte Mauerwerk, das einmal zur Tour de Nesle führte, als Teil eines unterirdischen Parkplatzes zu sehen, und doch kommen mir die Mauerreste wie ein Beweis dafür vor, dass all die alten Geschichten tatsächlich einmal hier stattgefunden haben, mit den uralten Steinen, vor denen heute viele achtlos ihren SUV abstellen, als stummen Zeugen.

Durch die Rue Jacques-Callot komme ich in die Rue de Seine, deren strenges Straßenbild mir auffällt. Fast alle hölzernen Auslagen sind in Schwarz oder Weiß gehalten, was womöglich damit zu tun hat, dass in so gut wie jedem Haus der Straße eine Galerie untergebracht ist. Die winzige Auslage auf Nummer 38 soll die kleinste Galerie der Welt sein – gut möglich, dass das stimmt. Mittendrin in dieser kunstbeflissenen Straße liegt das freundliche Bistro Ernest, die Betriebskantine für die vielen Galeristen des Viertels. Freilich sind die Preise etwas höher als in anderen Kantinen. Es gibt als Tagesgericht Kalbskopf mit Sauce gribiche, eines dieser typischen Pariser Bistro-Gerichte. Da es noch ruhig ist und die Tür offen steht, spaziere ich hinein und frage nach dem Rezept. Hier ist es, Chefkoch Guy hat es mir diktiert:

Tête de veau, façon Bistro Ernest

1 kg Fleisch vom Kalbskopf

1 Kräutersträußchen (Petersilie, Thymian, Lorbeer)

1 Zwiebel

2–3 Gewürznelken

1 Stange Lauch

2–3 Karotten,

5 Pfefferkörner

Salz, Pfeffer

3 gekochte Eidotter

1 gekochtes Ei

1 Schalotte

Essiggurken, Kapern nach Belieben

1 EL grober Senf

Öl nach Bedarf

Das Fleisch in ausreichend Wasser mit den Pfefferkörnern, den Kräutern und einer mit Nelken gespickten Zwiebel zwei bis drei Stunden köcheln lassen, es muss butterweich sein. Zur halben Kochzeit salzen. Lauch und Karotten eine Stunde lang mitkochen. Etwas abkühlen lassen, überschüssiges Fett und Sehnen entfernen, das Fleisch in mundgerechte Stücke schneiden, in der Bouillon warm halten.

Für die Sauce gribiche die drei Eidotter zerdrücken und zunächst mit Senf, Salz und Pfeffer verrühren, dann langsam Öl einrühren, bis eine cremige Sauce entsteht. Das hart gekochte, klein gehackte Ei sowie die fein gehackte Schalotte, Kapern und klein gehackte saure Essiggurken nach Belieben dazugeben. Eventuell mit diversen Kräutern verfeinern.

Mit dem Fleisch und kleinen, in der Schale servierten gekochten Erdäpfeln (pommes grenaille) servieren.

Gar nicht kompliziert, aber herzerwärmend und ein typisches Beispiel dafür, dass auch Innereien und weniger noble Fleischstücke ihren festen Platz in der Bistro-Küche haben. „Plats canailles“, Gesindel-Gerichte nennt man die billigen, unkomplizierten, kräftig schmeckenden Gerichte auch, mit durchaus liebevollem Unterton.