image

HOLGER GUMPRECHT

Potsdam

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise
durch die Stadt der Schlösser und Gärten

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

Fotos: © Holger Gumprecht

Druck: FINIDR, s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín

Für Thomyss Ivan Harmon

Inhalt

Vor den Spaziergängen

Erster Spaziergang: Babelsberg — Klein Glienicke

Lakritze, Schwarzkittel und Agenten – die „dunkle“ Seite von Babelsberg

Zwischen Kapelle und Konsum – Klein Glienicke

Hinter deutschen Wänden – das Villenviertel von Neubabelsberg

Zweiter Spaziergang: Teltower Vorstadt — Telegrafenberg

Ein Telegramm an die Toten – Alter und Neuer Friedhof

Janz weit draußen auf der Potsdamer Kartoffel

94 Meter über dem Meer

Die zweifelhafte Schönheit der Welt von gestern

Dritter Spaziergang: Stadtmitte — Jägervorstadt

Wo nichts so ist, wie es scheint – Potsdam als Potemkinsches Dorf

Potsdams finstere Vergangenheit

Kulinarische Weltstadt

Nahrung für „Eingefleischte“

Was keiner wissen durfte

Potsdam-Style

Vierter Spaziergang: Nauener Vorstadt

Von Grenzgewässern und Biergenuss

Allerlei Geister

Potsdam-Tipps

Tipps zum ersten Spaziergang

Tipps zum zweiten Spaziergang

Tipps zum dritten Spaziergang

Tipps zum vierten Spaziergang

Vor den Spaziergängen

Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Potsdam, obgleich diese schon über drei Jahrzehnte zurückliegt. Damals kam mir die Stadt geradezu wie das Paradies vor. Das Warum lässt sich schnell erklären: Ich war zu jener Zeit Wehrdienstleistender in der Nationalen Volksarmee der DDR, stationiert in Brandenburg, in der Stadt an der Havel, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bundesland, denn das wurde ja erst nach der deutschen Wiedervereinigung gegründet. Der Militärdienst war so stumpfsinnig wie verhasst, die raren Aufenthalte außerhalb der Kasernenmauern boten auch keine nennenswerte Abwechslung. Leider war uns das Verlassen des Standortes genauso streng verboten wie etwa das Westradio-Hören, man mag das heute kaum noch glauben. Zum Glück aber lag Potsdam nur einen Katzensprung weit entfernt, mit der Bahn schon in einer halben Stunde zu erreichen. Es brauchte nicht lange, da wusste ich, wie man die gefürchteten Militärstreifen auf dem Brandenburger Bahnhof austrickste, um noch auf den bereits abfahrenden Zug Richtung Potsdam aufspringen zu können. Viel Zeit und Muße waren mir während dieser „vorübergehenden Desertionen“ zwar nicht vergönnt, aber um sich in die Stadt mit ihren herrlichen Schlössern und Parks zu verlieben, dazu hat es gereicht.

image

Französische Kirche

Heute wundert mich das manchmal ein wenig. Denn schaue ich mir Fotos aus den 1970er- und 1980er-Jahren an, dann fällt mir auf, dass Potsdam doch weitgehend ein eher trostloses Pflaster war. Mit seinen vielerorts bröckelnden Fassaden, Baulücken und steril wirkenden Hochhäusern versprühte es eben den Charme einer sozialistischen Bezirkshauptstadt. Dafür gab es mehrere Gründe. Noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1945, zerstörten in einem militärisch völlig nutzlosen Bombardement die Fliegerstaffeln der Royal Air Force nahezu die gesamte Innenstadt. Als ob die Piloten gewissermaßen noch fünf vor zwölf die zynische Forderung, die man gemeinhin George Bernard Shaw zuschreibt, erfüllen wollten: „Es gibt Städte, die verdienen ausgelöscht zu werden. Eine davon ist Potsdam.“

Die darauf folgende zweite deutsche Diktatur zeigte aus ideologischen Gründen keinerlei Interesse am Wiederaufbau der alten preußischen Garnisonstadt, die ja nicht nur in den kommunistischen Betonköpfen als der Inbegriff für Militarismus und Großmachtstreben spukte. So wurden im Arbeiter- und Bauernstaat, um hier nur zwei Beispiele zu nennen, das arg beschädigte Stadtschloss abgerissen und der Turm der Garnisonkirche gesprengt. An vielen Stellen zog man triste Plattenbauten hoch, die das einstige Panorama brutal verschandelten. Und so manche vom Krieg eigentlich verschonte Gebäude ließ man gleichgültig allmählich verfallen. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, so frotzelten wir damals – wenn wir unter uns waren. Damit teilte Potsdam das Schicksal der anderen DDR-Städte. Während die ohnehin knappen Ressourcen und finanziellen Mittel bevorzugt in den Aufbau Ostberlins flossen, wo man westlichen Besuchern einen prosperierenden sozialistischen Staat vorzugaukeln versuchte, blieben die anderen Städte zwischen Ostsee und Zittauer Gebirge unübersehbar auf der Strecke.

image

Hotel Mercure

Für all das war ich während meiner ersten Besuche in Potsdam blind. Das dürfte vielleicht am Reiz des Verbotenen und mehr noch an den fehlenden Vergleichsmöglichkeiten des in seinen Reisemöglichkeiten stark eingeschränkten DDR-Bürgers gelegen haben. Doch inzwischen ist freilich viel Wasser die Havel entlanggeflossen. Der oft und gern zitierte Slogan „Potsdam ist Berlins schöne Schwester“ stimmte uneingeschränkt vor dem Zweiten Weltkrieg, und er trifft auch jetzt, fast drei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution von 1989, wieder zu. Die brandenburgische Landeshauptstadt hat sich zu einem geschätzten Wissenschaftsstandort gemausert, sie kann eine für ostdeutsche Verhältnisse niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Kaufkraft vorweisen, sie wächst und wächst, und zwar weit schneller als je gehofft auf mittlerweile über 170 000 Einwohner. Zigtausend zugezogene Neu-Potsdamer seit dem Fall der Mauer können nicht irren. Die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen und seither eigentlich stets nur spöttisch zitierten „blühenden Landschaften“ lassen sich in Potsdam allenthalben entdecken. Um nochmals nur zwei Beispiele zu bemühen: Auf dem Alten Mark ist endlich das Stadtschloss wieder errichtet worden und der Turm der so geschichtsträchtigen Garnisonkirche wird demnächst folgen.

Diesen und den vielen anderen alten wie neu entstandenen Sehenswürdigkeiten möchte ich in meinem Buch jedoch eher die kalte Schulter zeigen. Sanssouci und Co. überlasse ich gern den traditionellen Reiseführern. Die beliebten Touristenattraktionen lasse ich links liegen, ich werde vielmehr, getreu dem Motto dieser Buchreihe, die üblichen Trampelpfade meiden und mir dafür lieber weniger Bekanntes, aber nicht minder Interessantes näher ansehen.

image

A

Katjes „Gläserne Bonbonfabrik“

B

„Lok-Zirkus“

C

Weberhäuser

D

„Verdeckte Pforte“

E

Flatowturm

F

Gerichtslaube

G

Kleines Schloss

H

Enver-Pascha-Brücke

I

Parkbrücke

J

Wartmanns Café

K

„Konsum“

L

Klein Glienicker Kapelle

M

Friedhof

N

Stalin-Villa

O

Villla Gugenheim

P

Churchill-Villa

Q

Truman-Villa

R

Konrad-Adenauer-Platz

S

„Piazza Toscana“

Erster Spaziergang

Babelsberg – Klein Glienicke

Lakritze, Schwarzkittel und Agenten – die „dunkle“ Seite von Babelsberg

Nicht alle, aber viele Wege führen nach Potsdam. Ich wähle für meinen ersten Spaziergang die Route aus, auf der wohl die meisten Besucher in die Stadt kommen werden: mit dem Auto über die Nuthestraße von Berlin. Dabei bewegt mich zugegebenermaßen ein etwas profaner Hintergedanke. Ich verlasse nämlich die Schnellstraße bereits an der Abfahrt Wetzlarer Straße und fahre Richtung Norden etwa 500 Meter weiter. Jetzt finde ich mich im Babelsberger Gewerbegebiet wieder, entsprechend nüchtern sieht es hier aus. Das Ziel meines Abstechers macht dabei keine Ausnahme: Katjes’ „Gläserne Bonbonfabrik“. Der helle Betonklotz auf der linken Seite ist wie auch die anderen Gebäude hier kein Blickfang. An dem würde man glatt vorbeifahren, wären da nicht diese überdimensionalen roten Bonbons auf der Rasenfläche davor. Hinter den nichtssagenden Mauern steckt allerdings etwas Bemerkenswertes. Hier lässt sich nämlich das Süßwarenunternehmen Katjes während der laufenden Produktion gern in die Karten schauen.

Ich bin mit Werksleiter Andreas Respondek verabredet. Der Diplomingenieur erzählt mir, wie an dieser Stelle im Jahr 2006 alles anfing. Nicht ohne Stolz erwähnt er, dass die „Gläserne Bonbonfabrik“ ein deutschlandweites Unikum ist. Während des Rundgangs fallen mir in der Belegschaft ungewöhnlich viele ältere Mitarbeiter auf. Zufall oder eher Ausdruck einer sozialen Ader der Personalleitung? Respondek schmunzelt. Tatsächlich hatte Katjes aus dem nordrhein-westfälischen Emmerich bei der Entscheidung über den künftigen Standort die schwierige Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt im Auge. Daher wollte man vor allem Angehörige der sogenannten „Generation 50+“ als neue Kollegen gewinnen. Bei einer solchen Offerte, so denke ich für mich, dürften die zuständigen Entscheidungsträger in Potsdam sicher schnell ihre Genehmigungsstempel aus der Schublade geholt haben. Heute sind es 75 Mitarbeiter, die in Babelsberg für Katjes die Lakritze-Hartbonbons herstellen.

image

Katjes-Werksleiter Andreas Respondek

In einem Gang im oberen Geschoss können die Besucher durch große Panoramafenster zusehen, wie nach einem langen, clever ausgeklügelten Fertigungsprozess am Ende jene berühmten dunklen Bonbons vom Band purzeln. Alles sieht hier blitzblank und sauber aus, die Inspekteure der amtlichen Lebensmittelüberwachung können sich den Kontrollbesuch in Babelsberg sparen. Leicht verständliche Schautafeln erklären, was hinter den Scheiben passiert, die Maschinen hat man praktischerweise entsprechend nummeriert.

Eines möchte ich von Herrn Respondek aber noch gerne erfahren. Wie vielleicht viele wissen, stecken hinter den No-Name-Produkten, die beim Discounter für wenig Geld in den Regalen liegen, namhafte Markenhersteller. Man munkelt, dass dabei minderwertigere Zutaten zum Zuge kommen. Ist da denn etwas dran? Andreas Respondek winkt ab. Die No-Name-Produkte sind nicht schlechter, höchsten nach einer geringfügig anderen Rezeptur hergestellt. Und dass sie letztendlich vergleichsweise so preiswert sind, liegt einzig und allein an den hohen Massen, wie sie nur die marktbeherrschenden Discounterketten – auch bei Katjes – in Auftrag geben können.

Lakritze-Hartbonbons sind nun sicherlich nicht jedermanns Geschmack, mich eingeschlossen. Aber Katjes, nach Haribo und Storck die Nummer drei auf dem deutschen Süßwarenmarkt, stellt ja noch viele andere süße Sachen her: von solch bekannten Fruchtgummi-Produkten wie den „Grün-Ohr Hasen“, den lakritzdunklen „Katzen Pfötchen“ über „GraniniFruchtbonbons“ bis hin, was nur wenige mit dem Namen Katjes in Verbindung bringen, zur kultigen „Ahoj-Brause“. Herr Respondek outet sich übrigens, jedenfalls was den Geschmack anbelangt, als ein konservativer Mensch: Seine Lieblingsmarke war, ist und bleibt das Lakritzbonbon „Sallos“. Dieses und noch so vieles andere aus dem großen Katjes-Sortiment gibt es an Ort und Stelle im hauseigenen Fabrikverkauf zu etwas günstigeren Preisen als an der Supermarktkasse zu kaufen.

image

Katjes-Produktionshalle

image

Katjes-Fabrikverkauf

Ich verlasse den Katjes-Shop um einige Euro ärmer, dafür aber um ein paar Erkenntnisse reicher. Ehe ich meine Fahrt fortsetze, werfe ich jedoch noch einen Blick auf das Gelände hinter der „Gläsernen Bonbonfabrik“. Dort befindet sich der sogenannte „Lok-Zirkus“. Wenn Sie das Gebäude mit dem Kuppeldach sehen, werden Sie wissen, warum es im Volksmund zu diesem Namen gekommen ist. Mit einem Zirkus hat die Industrieanlage freilich nichts zu tun, hier wurden vielmehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lokomotiven der Firma Orenstein & Koppel produziert. Das erklärt übrigens auch den etwas ungewöhnlichen Straßennamen Orenstein-&-Koppel-Straße, die Sie eben auf dem Weg hierher passiert haben. Das markante Bauwerk galt lange Zeit als unverkäuflich. Investoren zog es offenbar wenig an, dafür aber Locationscouts. So wurde der „Lok-Zirkus“ 2007 zur geeigneten Kulisse für die Hollywood-Produktion „The International“, die 2009 in die Kinos kam. Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Politthriller von Tom Tykwer mit Clive Owen als Interpol-Agenten und Naomi Watts als cleverer Staatsanwältin? In einer spannenden Schlüsselszene stellte darin der Babelsberger „Lok-Zirkus“, entsprechend aufgemotzt, das New Yorker Guggenheim-Museum dar. Alle Achtung! Von einer vor sich hin rostenden Fabrikhalle zur weltberühmten Kunstsammlung: eine solche Metamorphose kann es nur im Kino geben. Doch halt, auch in der Wirklichkeit soll mit dem Dornröschenschlaf der denkmalgeschützten Ruine ab Frühjahr 2018 Schluss sein. Ich lese nämlich gerade in der Lokalzeitung, dass die Stadt Potsdam nun doch noch einen Investor gewinnen konnte, der mit 45 Millionen Euro in der Tasche nach Babelsberg kommen wird. Die Ambitionen für den Umbau sind folglich gigantisch. Sie werden dann einmal an dieser Stelle vor einer viergeschossigen, hypermodernen Glas-Stahl-Konstruktion stehen mit dem überaus sinnigen Namen „Paradome“. Ein neues Domizil vor allem für Firmen aus der IT- und Medien-Branche, aber auch für ein innovatives Hotel. Der dafür gewählte Slogan „Bed & Bike“ verrät es bereits: Man hat dabei nicht Gäste mit dickem Geldbeutel im Visier, sondern vielmehr Potsdam-Besucher, die hier übernachten und ihre Elektrofahrräder aufladen oder solche ausleihen wollen.

image

Lok-Zirkus

Nun fahre ich zurück auf die Nuthestraße. Mein Ziel ist der Schlosspark Babelsberg. Ich nehme die Ausfahrt Friedrich-List-Straße und fahre rechts auf der Straße Alt Nowawes weiter. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Hinweis zum Thema „Autofahren in Potsdam“ einfügen. Wie in allen Städten ist auch hier das damit verbundene Parkplatzsuchen ein leidiges Thema. Vor allem in der Innenstadt sowie in der Nähe häufig besuchter Sehenswürdigkeiten werden Sie die Folgen der sogenannten Parkplatzbewirtschaftung zu spüren bekommen. Zwar gibt es genügend Bereiche mit Parkscheinautomaten, doch wer will schon während eines längeren Spaziergangs unter Zeitdruck stehen, weil er seinen Parkschein erneuern muss? In diesem Zusammenhang wird schon länger eine Neugestaltung des öffentlichen Nahverkehrs diskutiert bis hin zu einer kostenlosen Nutzung durch Umlagefinanzierung. Nicht nur die Umwelt, auch die Potsdam-Besucher würden davon profitieren. Klingt also nach einer guten Idee. Bei meinem jetzt anvisierten Ziel gibt es jedoch einige Stellen, wo (noch) kostenloses und somit unbeschwertes Parken möglich ist – die Anwohner mögen mir den Tipp verzeihen.

Am Ende von Alt Nowawes erreiche ich das kleine Pförtnerhäuschen am Parkeingang und biege links in die Wollestraße ein. Nicht immer kann ich mich schon gleich hier über einen freien Parkplatz freuen. Das macht aber nichts, ich fahre an der Park Studios GmbH vorbei, gleich nach der Kurve fällt mir auf der linken Seite ein allein stehendes Haus auf, das einen ziemlich baufälligen Eindruck macht. In das Ensemble der neuen, schmucken Wohnhäuser in dieser Gegend will es so gar nicht passen. Ich halte kurz an und steige aus. An den drei Fenstern im Parterre und auch an der Eingangstür sind zahllose Zeitungsartikel und selbst geschriebene Zettel geklebt. Die Überschriften in fetten Buchstaben schreien den Passanten förmlich an. Da ist von „RAUS-Sanierung“ die Rede, von „Wie Westdeutsche im Osten absahnen“, „Vermieter droht mit Räumungsklage“ und „Schäm dich, du Miethai!“. Mir wird klar, dass auch dieses Gebäude der nicht nur in Potsdam zu beobachtenden Gentrifizierung zum Opfer fallen soll. Offensichtlich hat man aber die Rechnung ohne den einzigen hier übrig gebliebenen Mieter gemacht. Mit bitterbösen Bemerkungen pocht der Rentner auf sein Recht, in diesem Haus, in dem er auch geboren wurde, doch bitte schön in Ruhe sterben zu dürfen. Ziemlich makaber wirken allerdings die aufgehängten Skelette und nicht zuletzt auch der gedrehte Strick. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Hoffentlich nicht. Politiker scheint der Mann allesamt zu verabscheuen, doch für Tiere hat er offenbar ein Herz. An dem Vogelhäuschen herrscht gerade reger Betrieb (im Sommer soll man Vögel ja eigentlich nicht füttern) und vor der Tür steht eine mit Wasser gefüllte Schale für durstige Hunde. Der Mann ist mir sympathisch. Ob ich vielleicht mal klingele? Ob er wohl öffnen wird? Mein Gedanke, dass er mit seinem Schicksal nicht alleine dasteht, mag ihn wahrscheinlich nur wenig trösten, aber vielleicht freut er sich darüber, dass mal jemand Anteilnahme zeigt. Ich drücke auf die Klingel. Einmal. Ein zweites Mal. Es rührt sich nichts. Vielleicht hat man ihm auch schon den Strom abgestellt. Auf Klopfen verzichte ich dann aber lieber, der gute Mann denkt sonst vielleicht, ein Räumungskommando steht schon vor der Tür.

image

Pförtnerhäuschen

Ich fahre in gedämpfter Stimmung weiter und biege rechts in die Jute- und dann weiter in die Mühlenstraße ein, wo ich, wie so oft, noch reichlich freie Stellplätze entdecke. Die Parkplatzsuche hat manchmal auch ihr Gutes, denn entlang der Mühlenstraße kann man zahlreiche alte Weberhäuser sehen, die an jene Zeit erinnern, als dieser Ortsteil noch Nowawes hieß. Das klingt slawisch, ist es auch, und heißt aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt „neues Dorf“. Im Jahr 1750 wurde auf Befehl Friedrich des Großen die Gründung der Weber- und Spinnereikolonie östlich von der heutigen Potsdamer Stadtmitte verkündet. Hier sollten hauptsächlich die wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgten Weber und Spinner aus Böhmen ein neues Zuhause finden. Nach der Fertigstellung der Kolonie lebten in 210 Häusern fast tausend neue preußische Mitbürger. Friedrich II. war für seine religiöse Toleranz berühmt. Mit seiner Devise „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ verfolgte der Monarch aber auch ganz handfeste wirtschaftliche Interessen. So siedelten sich hier ebenso noch Zimmerleute, Maurer, Gärtner, Schneider, Bäcker und andere Handwerker an, die Fridericus Rex für die Fertigstellung seiner ambitionierten Bauten und last, but not least zur Versorgung der Armee benötigte. Nicht alle, aber noch etwa 100 der alten fünfachsigen Fachwerkhäuser sind hier auf der „böhmischen Seite“ Potsdams zu finden. Sie waren für jeweils zwei Familien, Wohn- und Werkstatt zugleich. Im großen Zimmer zur Straßenseite wurde an den Webstühlen gearbeitet, die Schlafstuben gingen auf den Hinterhof hinaus, gekocht hat man in der sogenannten „schwarzen Küche“ im Flur. Auf dem Dachboden schliefen neben dem Warenlager die größeren Kinder und die Gesellen. Vielleicht werden Sie sich bei den für Nowawes typischen Alleen über die ungewöhnlich breite Fläche zwischen Straße und Gehweg wunderen: Diesen Platz nutzten die Weber zum Bleichen ihrer Tücher. Etwa in Höhe des Hauses der Mühlenstraße Nr. 20 erzählen mehrere an den Wänden zur Straße aufgemalte Schaubilder vom Alltag der Weber in Nowawes.

image

Makabrer Fensterschmuck

Um von dieser Stelle aus nun endlich in den Park Babelsberg zu kommen, müssen Sie gar nicht mehr den gesamten Weg zurück zum Pförtnerhäuschen gehen, sondern können durch die sogenannte „Verdeckte Pforte“ eine Abkürzung nehmen. Aber Vorsicht, der Eingang trägt nicht ohne Grund diesen Namen, im Sommer, wenn alles so schön grünt und blüht, kann man daran leicht vorbeigehen. Es gibt bekanntlich viele Parks in Potsdam, dieser ist mir der liebste. Ich besuche ihn, wann immer es mir möglich ist, vorzugsweise am Vormittag. Das hat viele Vorteile – und einen dummen Nachteil, doch dazu später. Jetzt genieße ich erst einmal die himmlische Ruhe. Die herrliche Anlage wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach englischem Vorbild von Peter Joseph Lenné und Fürst Hermann Pückler-Muskau angelegt, steht jedoch im Schatten von Sanssouci und dem Neuen Garten, wo es die Besucher- und Touristenströme eher hinzieht. Das soll mir recht sein. Nur ab und zu werde ich von ein paar keuchenden Joggern überholt, begegne gelegentlich einer Mutter mit Kinderwagen oder ein paar Hundebesitzern, die ihre Vierbeiner ausführen. Besucher mit einer ausgeprägten Hundephobie seien allerdings gewarnt: Zwar gilt wie überall in den von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten betreuten Parks Leinenzwang, leider halten sich nicht alle Hunde daran. Schlechtes Benehmen war aber wohl schon immer ein Problem in Potsdam. Bereits die Verfasser der Parkordnung der Königlich-Preußischen Garten-Intendantur aus dem 19. Jahrhundert sahen sich veranlasst zu fordern: „Bei dem Eintritt in diesen königlichen Garten wird ein Jeder gewarnt, nicht auf die Grasstücke oder in den Pflanzungen zu gehen, sondern in den Wegen zu bleiben, keinen Taback zu rauchen, keine Hunde mitzubringen, keine blühenden Sträucher oder sonst etwas abzupflücken, und überhaupt keine Unanständigkeiten zu begehen.“ Tatsächlich wurde der Park Babelsberg jahrzehntelang nicht als einmaliges Gartendenkmal und Weltkulturerbe verstanden, sondern vielmehr als Volkspark. In der DDR fügte man auf der weiträumigen Anlage im Nordosten eine kleine Hochschule hinzu sowie am Seeufer ein Strandbad. Und da wundert es auch nicht, wenn man heute noch auf den Wiesen gelegentlich feuchtfröhliche Picknick-Runden entdeckt – ich hoffe, ohne „Unanständigkeiten“. Solche Gewohnheitsrechte lassen sich eben nur schwer wieder aus den Köpfen der Menschen vertreiben. Mich selbst stört das nicht sonderlich, aber mir entgehen auch nicht die oft etwas pikiert wirkenden Gesichter mancher Besucher.

image

Weberhäuser Alt Nowawes

image

Flatowturm

Allerdings sind es nicht nur zweibeinige Übeltäter, die den Mitarbeitern der Schlösserstiftung unangenehm auffallen. Wie in vielen öffentlichen Grünanlagen und privaten Gärten im Berliner Raum hinterlassen auch in Potsdam immer öfter Wildschweine eine Spur der Verwüstung. Dabei haben es die nimmersatten Schwarzkittel besonders auf den Babelsberger Park abgesehen. In innerstädtischen Gebieten dürfen Jäger selbstverständlich nicht so ohne Weiteres auf sie schießen, daher ist man gerade dabei, hier einen Elektrozaun zu installieren, der sich jedoch behutsam in die Umgebung einpassen und zudem auch nur nachts unter Strom stehen soll.

Mein erster Anlaufpunkt ist in den meisten Fällen das Plateau vor dem Flatowturm. Von dieser Stelle genießt man einen fantastischen Blick auf Potsdam. Links können Sie in der Ferne die Kuppel der Nikolaikirche sehen, auch den nicht nur in meinen Augen wenn nicht hässlichen, so doch völlig unpassend wirkenden Turm der Seniorenresidenz Heilig Geist Park. Er markiert übrigens genau die Stelle, wo früher die im Krieg zerstörte Barockkirche gleichen Namens stand. Weiter schweift der Blick von hier zur Humboldtbrücke, dann weiter rechts über den Tiefen See auf die Berliner Vorstadt. Diese ohnehin schon spektakuläre Aussicht kann eigentlich, im buchstäblichen Sinne, nur noch durch eines getoppt werden: durch den Aufstieg auf den Flatowturm hinter mir. Und da sind wir auch schon bei dem zuvor erwähnten Nachteil. Der Turm ist nämlich dummerweise lediglich am Wochenende und an Feiertagen geöffnet, und das überdies nur in den Monaten Mai bis Oktober. Nun gut, man kann halt nicht alles haben.

Aber vielleicht kommen Sie auch an einem Wochenende oder Feiertag hierher. Da sollten Sie wegen der grandiosen Aussicht um den Turm keinen Bogen machen und Potsdam und Umgebung aus einer einzigartigen Perspektive genießen. Doch zunächst heißt es erst mal Treppensteigen. Ich habe sie nicht gezählt, aber ganz ohne den einen oder anderen Tropfen Schweiß geht es nicht. Immerhin ist der Flatowturm, der zwischen 1853 und 1856 für den späteren Kaiser Wilhelm I. gebaut wurde, 46 Meter hoch. Manchen wird das Bauwerk im neugotischen Stil irgendwie bekannt vorkommen. Tatsächlich hatte der Architekt Johann Heinrich Strack den Turm des Eschenheimer Tors in Frankfurt als Vorbild vor Augen. Bis zur obersten Aussichtsplattform passieren Sie drei Etagen, wo Sie nicht nur kurz verschnaufen, sondern auch Teile des restaurierten Originalmobiliars sowie eine Dauerausstellung über die Geschichte des Turmes besichtigen können.