Fürstenkrone – Jubiläumsbox 3 – 6er Jubiläumsbox

Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 3–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 13-18

Mira von Freienwald
Jutta von Kampen
Melanie Rhoden
Isabell Rohde
Iris von Raven

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-996-1

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Die große Liebe für Komtess Regina

Warum sie gegen ihre strenge Erziehung rebellierte

Roman von Mira von Freienwald

Das Universitätsgelände lag still in der Mittagssonne. Auf dem Rasenstück vor dem großen hellen Gebäude plätscherte der große Springbrunnen, dessen Wasserfontäne hoch in den blauen Himmel stieg, um dann wie schwere gläserne Tropfen in die stufenförmigen weißen Steinbecken zu fallen. Das Geräusch versprach Kühlung.

Doch kaum jemand ging derzeit durch die hohe Tür des Gebäudes, denn die Vorlesungen waren noch nicht zu Ende.

Regina spazierte nervös um das große Brunnenbecken, das nur wenige Meter vor dem Eingang zur Universität lag. Sie wartete auf Adam, den Chauffeur ihres Papas. Adam hätte längst wieder da sein müssen. Er wollte nur kurz in die Autowerkstatt fahren, um etwas abzuholen, hatte er gesagt, während Regina sich in der Zwischenzeit die Uni von innen ansehen wollte. Bald würde auch sie hier aus und ein gehen.

Zwei Stunden waren seitdem vergangen. Sie hätten längst daheim sein müssen. Papa würde wütend sein, und Berta, die Köchin, musste das Essen warm stellen. Tante Charlotte wartete auch. »Es verbrutzelt alles, wenn man es warm halten muss!«, würde die kleine rundliche Schwester des Grafen jammern. Sie war ein Jahr älter als der Hausherr, eine ältere Dame mit grauem Haar und wasserhellen blauen Augen.

Der Chef des Hauses Hohensteinbach, das bereits seit dem Mittelalter existierte, war Karl Friedrich von Hohensteinbach. Aber der gute Geist des Hauses war Charlotte, seine Schwes­ter. Papa war sicher wütend. Und das fürchtete Regina am meisten, denn wenn er richtig böse war, zog er die Augenbrauen zusammen, dass sie wie ein schwarzer Strich über den graugrünen Augen lagen. Sein Motto: »Die Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!« Und wehe, die Familie hielt sich nicht daran. Bruder Jonas konnte ein Lied davon singen. Ihn hatte Papa einige Male vom Tisch weg zum Essen in die Küche verbannt. Das war allerdings schon ein paar Jahre her. Jonas war inzwischen erwachsen, jedenfalls dem Alter nach, und studierte Medizin. Er würde der erste Arzt in der Familie derer von Hohensteinbach sein, und Regina war stolz auf ihren Bruder. Aber noch schlimmer hatte früher Großmama auf solche Verstöße reagiert. Das war zwar schon lange her, und Regina konnte sich nur noch vage an sie erinnern, aber vieles, das sie sich gemerkt hatte, war nicht sehr erfreulich.

Besonders anstrengend waren die täglichen Besuche in der düsteren Schlosskapelle gewesen, bei der die kleine Regina zum Abendgebet immer mitgehen musste. Das hieß eine Stunde lang knien und in dieser gruftähnlichen Umgebung den Rosenkranz beten. Im flackernden Licht der Kerzen schienen die Statuen aus weißem Marmor zu leben und flößten der kleinen Regina Angst ein.

Großmama konnte aber auch wundersame Geschichten aus der Zeit erzählen, als sie selbst noch ein junges Mädchen war. Von Prinzen und Prinzessinnen, von Grafen, Fürsten und Herzoginnen, berichtete sie.

Und von einem Reich, in dem die Sonne nicht unterging. Weil damals sogar Mexiko den österreichischen Habsburgern gehörte. Und die kamen für Großmama gleich nach dem lieben Gott. Als Bürgerliche hatte sie den Stolz auf das Land ihrer Väter mit in ihre preußische adelige Ehe genommen.

Großmama besaß noch einige Maria Theresia Taler, die sie von ihrer Familie geerbt hatte. Als Maria Elisabeth Bratfisch war sie sehr stolz auf diesen bürgerlichen Namen gewesen, denn sie war mit dem Leibfiaker Bratfisch des Kronprinzen Rudolph verwandt. Und Rudolph sollte einmal Kaiser von Österreich werden.

Die Familie Bratfisch hatte damals in Wien ein Fuhrunternehmen. Als »Fiaker« in Wien besaß die Familie als einzige Pferde, die im gleichen Takt laufen konnten. Prächtige Rappen, die vor eine Kutsche gespannt, als Taxi der damaligen Zeit fungierten.

Als der verheiratete Prinz Rudolph von Habsburg sich in die 16jährige Mary Vetsera verliebte, brachte der Fiaker Bratfisch die Baroness in seiner Kutsche zu ihrem heimlichen Treffen in das Schloss nach Mayerling. Es war das Liebesnest des Kronprinzen mit der jungen Baroness. Das Glück dauerte nicht lange. Der Kronprinz war verheiratet und streng katholisch erzogen worden. Der Hof reagierte empört über diese Mesalliance.

Und in einer Winternacht geschah das Unfassbare: Bratfisch und der Leibdiener des Kronprinzen waren mit in Mayerling, als das Liebespaar starb. Man sagte durch die Hand des Kronzprinzen. Aber was wirklich geschah, wussten nur Bratfisch und der persönliche Diener des Kronprinzen. Beide mussten schwören zu schweigen. »Und sie hielten sich daran!« Das und viel mehr erzählte Großmama stolz ihrer kleinen Enkelin. Und Großmama hatte es geschafft, in den Adel einzuheiraten. Allerdings nur in den preußischen. »Aber Adel ist Adel!«, sagte Großmama.

Regina lächelte, als sie an Großmama dachte, denn sie konnte sich diese betagte, ziemlich herrische und voluminöse Dame niemals als Sissi vorstellen. Aber so hatte ihr Mann die junge Gräfin damals allen vorgestellt: »Meine Sissi!«

Doch die große alte Dame gab es nicht mehr. Sie lag schon lange in der Gruft unter der kleinen Kapelle, in deren Nischen eine große Anzahl der Grafen von Hohensteinbach lagen. Und Regina wusste nun auch, dass »mea culpa« meine Schuld heißt. Denn Großmama hatte es täglich kniend vor dem Altar der Kapelle gebetet und sich dabei mit ihrer kleinen, zur Faust geballten rechten Hand an die Brust geschlagen. Regina wollte wissen, warum, hatte jedoch nur Kopfschütteln zur Antwort bekommen. Vielleicht wollte Großmama nicht zugeben, dass auch sie sich schuldig fühlte, weil sie den Grafen von Hohensteinbach nicht aus reiner Liebe geheiratet hatte.

Regina spazierte noch immer, völlig in ihre Gedanken über Großmama vertieft, um den leise plätschernden Springbrunnen. Ein Krankenwagen mit Sirene riss sie aus der Vergangenheit zurück. Über eine Stunde wartete sie jetzt schon auf Adam, Papas Chauffeur!

Verärgert setzte sie sich auf den Brunnenrand. Tante Charlotte würde sagen: »Wenn man seinen Angestellten den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand!«

Der gute Adam wollte eigentlich nur rasch zu einer Autowerkstatt, um etwas abzuholen. Und Regina war nur aus einem Grund mitgefahren: Es war die beste Gelegenheit, sich mal kurz die Uni von innen anzusehen. Denn nächstes Jahr würde sie täglich hier aus und ein gehen. Endlich raus aus dem Mief der tausendjährigen alten Mauern. Und zwar allein, ohne Aufpasser!

Die Hitze wurde unerträglich. Regina schubste ihre Schuhe von den Füßen, krempelte ihre Jeans hoch und tauchte vorsichtig die große Zehe in das flache Brunnenbecken. Das Wasser war so angenehm kühl, dass sie die Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte und tief einatmete. So stand sie eine Weile, völlig gelöst – und merkte nicht, dass sie schon eine ganze Weile beobachtet wurde.

Ein junger Mann mit einem Aktenkoffer in der Hand beobachtete das Mädchen mit den langen dunklen Haaren und der kleinen frechen Nase. Jetzt atmete auch er tief ein und fühlte mit ihr die Kühle des Brunnens. Und das, obwohl er in der gleißenden Sonne stand und schwitzte. Er fand sie hinreißend und hätte sie gerne gefragt, wo sie denn vor dieser Begegnung gesteckt hatte. Er sah sie jedenfalls zum ersten Mal, obwohl er ein alter Hase an der Uni war. Und wenn sie Studentin gewesen wäre, hätte sie ihm irgendwann über den Weg laufen müssen.

»Vorsicht! passen S’ auf! Die Steine sind glatt!«, rief er jetzt, denn sie stand plötzlich im Brunnen, und er machte einen Satz vorwärts, denn er wusste, wie tückisch der Steinboden im Wasser war.

Zu spät! Regina rutschte aus, und bevor er sie erreichen konnte, landete seine Traumfrau unsanft auf ihrem Hinterteil. Regina hätte jetzt gerne laut geflucht, aber auch das hatte Großmama ihr abgewöhnt, als die kleine Regina ein paar kräftige Flüche aus dem Kindergarten heimgebracht hatte.

»Eine Komtess flucht nicht! Sie ist jeder Situation gewachsen!« Das hörte sie heute noch so deutlich wie damals.

»Haben Sie sich weh getan?«

Regina antwortete nicht, griff aber nach der helfenden Hand und zog sich hoch. Blöde Frage, dachte sie, nickte und murmelte gequält: »So ein Mist!«

Dann sah sie in das lächelnde Männergesicht und ließ sofort seine Hand los.

»Danke, das kann ich allein!« Kaum hatte sie es ausgesprochen, rutschte sie erneut aus und fiel auf die Knie. Jetzt war nicht nur ihr Hinterteil nass.

»Was ist los? I beiß net!«, sagte der Mann mit der blonden Mähne, lachte, packte sie, hob sie hoch und stellte sie neben dem Brunnenrand auf den Rasen. Das geschah so rasch und kraftvoll, dass Regina sprachlos war.

»Und wo sind denn die Schuh’? Oder sind S’ barfuß unterwegs?« Sie sah ihn an, und er war ihr so nahe, dass sie ihr Spiegelbild in seinen Augen sehen konnte. Hitze kroch ihr über den Nacken, denn sie fühlte sich plötzlich so schrecklich hilflos. Und sein bayrisches Idiom kam immer wieder durch und machte sie nervös. Ihr hatte man nie erlaubt, sich den Kindern in der Schule anzupassen. Ihre Sprache zu sprechen, die so lustig klang. Eine leichte Färbung war erlaubt, aber kein Dialekt.

»Lassen Sie mich doch endlich los!« Sie machte sich frei und suchte nervös ihre Schuhe. Sie konnte diese Unsicherheit in seiner Nähe nicht mehr ertragen.

»Aber ja! Ich wollt’ ja nur helfen!« Er ließ sie los.

»Das sieht man!«, spottete Regina, weil sie endlich wieder Luft bekam, »ohne Sie wäre ich nicht gleich zweimal im Wasser gelandet!« Sie fand ihre Schuhe, hob sie auf und sah ihn wütend an. Aber er konnte das Lachen nicht unterdrücken. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und getröstet, wie man ein kleines Kind beruhigt, das sich das Knie aufgeschunden hat und nun nicht weiß, soll es lachen oder weinen.

Und dann war Reginas Ärger plötzlich weg. Die Situation hatte etwas Komisches, fand sie, und schüttelte den Kopf.

Er lächelte unter dem wilden Haarwuchs hervor und zeigte eine Reihe weißer Zähne. Regina wollte sich bedanken, doch im gleichen Augenblick fuhr Adam mit der schwarzen Limousine an den Straßenrand. Und da sah sie den Mann neben sich noch einmal an, nur einen Lidschlag lang – und ging wortlos davon.

Adam stieg aus, nahm die Mütze ab und öffnete die Tür des Wagens.

Die Schuhe flogen auf den Sitz, und Regina stieg ein. Sie sah sich nicht um.

Zurück blieb ein verdutzter junger Mann, der aus dem Staunen nicht herauskam. Wen hatte er denn da aus dem Wasser gezogen? Er sah dem schwarzen Wagen nach und konnte gerade noch die Autonummer erkennen.

*

Trotz Verspätung gab es daheim keinen Ärger. Als Regina durch den Personaleingang ins Haus kam, verließ Papas rundliche Schwester Charlotte mit hochrotem Gesicht die Küche. »Nur gut, dass du endlich da bist!« Sie war atemlos. » Wie siehst du denn aus? Bist du ins Wasser gefallen?« Aber sie wartete die Antwort nicht ab.

»Dein Vater hat Besuch. Berta ist dabei, das Essen zu verlängern, es muss ja auch für die Gäste reichen! Die kamen ohne Anmeldung!« Charlotte schüttelte mit Leidensmine den Kopf.

»Wer ist gekommen?« flüsterte Regina.

»Die Grafen von Mähringen, Vater und Sohn!«, flüsterte Tante Charlotte und richtete ihren Blick nach oben, als würde sie irgendwo Hilfe suchen.

»Auch das noch!«, hauchte Regina. Maximilian von Mähringen war da, Großmamas Liebling. Regina war gerade mal sechs Jahre alt gewesen, da hatte Großmama nach einem Besuch bei der Familie von Mähringen zu Papa gesagt, dass Max von Mähringen später mal eine gute Partie für Regina wäre. Natürlich nicht gleich, die beiden waren noch Kinder. Aber man konnte mit der Planung nicht früh genug anfangen. In anderen Ländern würden bereits Kinder verlobt. Und Regina hatte das sehr ernst genommen, denn was Großmama sagte, war für die Familie Evangelium. Doch zum Glück hatte Papa den Kopf geschüttelt.

»Die von Mähringen sind gut betucht!«, hatte Großmama zu bedenken gegeben. »Sie besitzen Obstplantagen in Brasilien, Weinberge in Frankreich und Güter in der Lombardei. Und wer weiß, was noch alles! Die beste Voraussetzung für eine Ehe! Das, was man Liebe nennt, kommt später!« Und Papa hatte nicht widersprochen. Das tat er seiner Mutter gegenüber nur ganz selten. Er schwieg lieber, um keinen Ärger zu kriegen.

Die kleine Regina liebte ihren Papa. Er war für sie der schönste Mann auf Erden, und ihr kleines Herz klopfte, wenn er sie mal auf den Arm nahm, was sehr selten vorkam. Er war groß, hatte dunkelbraunes Haar, ein markantes Gesicht und grüne Augen. Seine schwarzen schmalen Augenbrauen zeigten seine Stimmung an. Sie waren sichelförmig gebogen, wenn es ihm gut ging, und wurden zum Strich bei Wut. Regina fürchtete sich davor.

Was würde Großmama sagen, wenn sie sehen könnte, was aus ihrem niedlichen Max von Mähringen geworden ist. Ob sie dann noch immer auf einer Verbindung mit den Mähringern bestehen würde?

»Ich muss mich erst mal trocken legen!«, flüsterte Regina, hauchte einen Kuss auf Tante Charlottes rosige Wangen und lief die Treppen in den Turm hoch. Ihr Zimmer lag über dem Bruder Jonas, der mittags nur selten daheim war. Er aß in der Mensa und erschien meistens erst zum Abendessen.

Regina zog rasch frische Unterwäsche und trockene Jeans an, obwohl ihr Vater diese »amerikanische Plebejer-Kluft« beim Essen nicht mochte. Schon gar nicht an seiner Tochter. »Eine Frau in Hosen ist ein Unding. Ein Sakrileg!«, fand er.

Regina war gerade mit dem Umziehen fertig, da ertönte der Gong. Man traf sich zum Essen im Terassenzimmer.

Regina betrat als letzte den Raum. Die Türen zum Garten waren geschlossen, denn es hatte sich herausgestellt, dass der Hausherr auf Insektenstiche allergisch reagierte.

»Hallo, Regina!« Max von Mähringen stand auf, als Regina eintrat. »Wie schön, dich zu sehen! Du hast dich überhaupt nicht verändert!« Die wasserhellen Augen in dem runden Gesicht mit den weißlichen Augenbrauen strahlten.

»Du auch nicht!«, sagte Regina und begrüßte erst seinen Vater.

Die beiden, Vater und Sohn, sahen sich verblüffend ähnlich. Gesicht, Nase, Bauch, alles gut gepolstert. – Und wieder musste sie an Großmama denken, die immer Wert darauf gelegt hatte, dass sie einen Knicks zu jeder Begrüßung machte, aber diese Zeiten waren vorbei. So schüttelte sie dem Sohn die Hand, küsste ihren Papa auf die Wange und ließ sich an seiner rechten Seite nieder. Papas linke Seite blieb immer frei, niemand wusste, warum der Graf Wert darauf legte, und fragte man danach, legte er den Zeigefinger auf den Mund und schüttelte den Kopf. Er wollte nicht darüber reden.

Jetzt sah er Regina prüfend an und flüsterte. »Du hättest zur Feier des Tages ein Kleid anziehen können!«

»Entschuldige Papa, ich wusste nicht welches!«, murmelte Regina.

»Die Ausreden kannst du dir sparen! Im Lügen warst du noch nie gut!«, flüsterte er, und Regina fühlte wieder diese Kälte in seinen Worten, die immer dann zu hören war, wenn er sie rügte. Mit Jonas hatte sie ihn noch nie so reden hören.

»Das bildest du dir nur ein!«, meinte Tante Charlotte, bei der sich Regina nach so einem Eklat schon immer beschwert hatte. Aber irgendetwas stimmte nicht, und da Charlotte einfach nicht lügen konnte, musste da etwas sein, das man Regina verschwieg. Sie ahnte schon lange, dass es um ihre Person ein Geheimnis gab. Irgendetwas stand zwischen ihr und ihrem Vater Karl Friedrich. Doch vielleicht, so hoffte Regina immer noch, irrte sie sich.

*

Die Sonne schien durch die hohen Fenster des Zimmers, und Tante Charlotte sorgte dafür, dass alle am Tisch zufrieden waren. Franzi, im weißen Schürzchen, goss den Wein nach, und die Väter unterhielten sich schon während der Mahlzeit über Geschäfte im Allgemeinen.

»Ich bin gekommen, um dich zu meiner Geburtstagsfeier einzuladen!«, sagte Max beim Dessert leise zu Regina, die ihm gegenüber saß. »Es sind noch sechs Wochen bis dahin, aber Papa meinte, dass wir dich früh genug einladen müssen, sonst hast du vielleicht schon andere Termine eingeplant. Die Einladungen kommen erst übermorgen aus der Druckerei. Ich werde dir pro forma eine zuschicken. Aber es wäre traurig für mich, wenn du keine Zeit hättest. Kommst du?«

»Klar komme ich! Ich war doch bisher jedes Mal dabei!«

Max war immer nett und freundlich zu ihr gewesen. Aber sie merkte schon seit einiger Zeit, dass er immer öfter ihre Nähe suchte. Doch für eine dauerhafte Verbindung zwischen ihm und ihr war es nicht genug, was sie für ihn empfand. Sie wollte ihn nicht verletzen, aber irgendwie musste sie ihm klarmachen, dass es nie eine engere Verbindung zwischen ihm und ihr geben würde.

»Was wünschst du dir zum Geburtstag? Ich möchte dir gerne eine Kleinigkeit schenken. Gib mir einen Tipp, damit ich nicht völlig daneben liege.« Regina nippte an ihrem Weinglas.

»Lass nur. Wenn du kommst, ist das für mich das schönste Geschenk!«, flüsterte Max, sah sie über den Tisch hinweg lächelnd an, und seine hellen Augen glänzten feucht.

Jetzt wäre der Zeitpunkt günstig gewesen. Jetzt hätte sie ihm sagen müssen, dass es nie eine engere Verbindung zwischen ihnen geben würde. Aber sie schaffte es einfach nicht, ihm das klarzumachen. Er tat ihr leid. Mehr als ein Jugendfreund würde er nie für sie sein.

*

Nach dem Essen zogen sich die Väter in die Bibliothek zurück, um dort bei einer Tasse Mokka eine Havanna zu rauchen. Und Regina musste sich um Max kümmern, das war schon immer so, und das erwartete man auch jetzt.

Die beiden gingen über die Terrasse, schlenderten auf dem hellen Kiesweg entlang, der die große Wiese umrundete, auf der die beiden schon als Kinder gespielt hatten. Die Sonne stand hoch, und nur hin und wieder segelten ein paar kleine Wattewölkchen vorüber.

Charlotte stand am Fenster ihres Zimmers und sah den beiden nach. Sie war eine kleine rundliche Person mit weißen Löckchen und kleinen wasserhellen Augen und war sehr agil. Sie roch zart nach Patschuli wie ihre strenge Mutter. Doch eben dachte Charlotte an Reginas Mutter, von der nur Karl Friedrich wusste, wo sie lebte, seit sie ihren Mann und ihre Kinder alleingelassen hatte. Nicht freiwillig, wie Charlotte ahnte, denn sie kannte ihren Bruder. Er trug seinen Stolz wie eine Standarte vor sich her, und wehe, jemand wagte auch nur daran zu kratzen. Und genau das musste Vicky, die Mutter von Jonas und Regina, getan haben. Charlotte wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Immer wieder dachte sie an die Zeit mit der wunderschönen Vicky von Hohensteinbach. Sie war ihr mehr als nur eine Schwägerin gewesen. Eher wie eine Schwester. Und sie dachte an die Geburt des Stammhalters, der die Linie derer von Hohensteinbach weiterführen sollte. Karl Friedrich war so stolz darauf gewesen, dass das erste Kind gleich ein Sohn war. Doch von dieser Zeit an veränderte sich alles. Die Geschäfte gingen schlecht, es gab Ärger in der Familie, weil das Geld fehlte. Karl Friedrich musste Land veräußern und die Pferdezucht aufgeben. Vicky war wütend, weil er auch ihre Pferde verkauft hatte, das Personal entließ und die ganze Anlage zu Geld machte. Somit war auch ihre Mitgift verloren.

Doch schon ein Jahr später war Vicky wieder schwanger. Und als Regina zur Welt kam, war Vicky eines Tages verschwunden – ohne ihr Kind mitzunehmen. Warum, blieb lange Zeit ein Geheimnis. Bis Charlotte nach und nach die Tragödie aus Bemerkungen des Bruders und durch Anspielungen Adams, des Chauffeurs, Stück für Stück zusammensetzen konnte. Wo mochte Vicky, die Unglückliche, jetzt sein? Keiner wusste etwas von ihr. Warum hatte sie alles im Stich gelassen?

Karl Friedrich sprach nicht mehr über die Frau, die er so sehr geliebt hatte. Aber sie, Charlotte, mochte Vickys Töchterchen vom ersten Augenblick an, als wäre Regina ihr eigenes Baby. Niemand kannte den wahren Grund, weshalb die Ehe von Karl Friedrich und Vicky zerbrochen war. Und niemand wusste, wo Vicky jetzt lebte.

Unverständlich für alle, die diese lebenslustige, wunderschöne Frau gekannt hatten und vermissten. Und Charlotte hatte mit Vicky auch die einzige Freundin verloren, die sie hatte. Sie würde Regina beschützen, so gut es ging. Irgendwann musste das Kind alles erfahren, und Charlotte würde einen kleinen Teil dazu beitragen. Bisher hatte sie auf einen richtigen Augenblick gewartet und gehofft, dass Regina Fragen stellen würde. Und jeden Abend schloss sie Vicky in ihr Gebet ein und hoffte, dass sie irgendwann kommen und ihre Kinder in ihre Arme schließen würde.

*

Inzwischen waren Regina und Max am Ende der riesigen Wiese angekommen. Die Rosenbüsche blühten prächtig und verbreiteten ihren üppigen Duft. Großmama hatte sie aus England mitgebracht, als sie von ihrem Besuch am königlichen Hof zurückkam, denn irgendwann hatte der Hof herausgefunden, dass Adele Gräfin von Hohensteinbach auch mit den Grafen von Teck verwandt war. Und da alle Mitglieder des britischen Königshauses auch den Namen von Teck tragen, lag es nahe, die Nachkommen kennenzulernen.

Alle Rosen-Sorten hatten sich wundervoll entwickelt. »Rosa canina« blühte neben »Perl d’Or« und neben den einheimischen Sorten. Und das kleine Gartenhaus dahinter war mit Efeu dicht bewachsen, dass man es kaum sehen konnte.

In diesem Häuschen standen nur noch ein paar verstaubte Gartenmöbel, die keiner mehr brauchte.

Regina und Max schlenderten darauf zu. Sie ahnten nicht, dass Tante Charlotte sie in Gedanken den ganzen Weg über begleitet hatte. Die Schwes­ter des Grafen stand auch jetzt noch immer am Fenster, obwohl die beiden jungen Leute längst hinter den Rosenhecken verschwunden waren.

»Niedlich!«, sagte Max, »ist ja das reinste Dornröschenschloss geworden. Daraus könnte man ein gemütliches Nest machen.« Er sah Regina an, die ihr Gesicht verzog.

»Nein, danke. Wenn ich an die vielen Spinnen denke, die sich da drinnen ihre Nester gebaut haben, kriege ich eine Gänsehaut!« Max lachte, aber seine Heiterkeit wirkte aufgesetzt.

»Ich kann mich noch erinnern, dass wir hier in diesem Gartenhaus mal deinen Geburtstag gefeiert haben«, sagte er und legte seinen Arm um Reginas Schulter. »Erinnerst du dich? Mein Onkel Ferry und deine Mutter waren auch dabei. Die beiden verstanden sich immer prächtig und haben so manches Tennismatch ausgetragen. Im Doppel bekamen sie sogar mal einen Pokal. Das war kurz bevor deine Mutter plötzlich verschwand. Warum sie verschwunden ist, weiß ich bis heute nicht. Aber ich schenkte dir damals einen echten goldenen Ring mit einem kleinen roten, herzförmigen Rubin. Ich hatte ihn beim Juwelier selbst ausgesucht, und Papa hat ihn bezahlt. Hast du den Ring noch?«

Regina nickte. »Sicher liegt er noch irgendwo bei meinem Schmuck, aber ich glaube nicht, dass er jetzt noch passt!« Sie setzte sich auf die Bank vor dem Gartenhaus, Max blieb vor ihr stehen. »Macht ja nichts! Wie wäre es, wenn ich dir zu meinem Geburtstag einen Ring schenken würde?«

Regina schüttelte den Kopf. »Zu deinem Geburtstag wirst nicht du mir, sondern ich dir etwas schenken. Ist das klar?«, sagte sie sehr akzentuiert. »Such dir was aus. Es darf aber nicht zu teuer sein, denn mein Taschengeld ist ziemlich mager!« Sie sah Max in die hellen Augen. Der schüttelte den Kopf. »Nein, nein! Du verstehst mich nicht! Ich meine, dass wir uns doch verloben könnten. Das wäre für mich das schönste Geschenk!« Er wollte vor ihr niederknien, aber Regina zog ihn sofort neben sich auf die Bank.

»Weißt du eigentlich, wie alt ich bin?«

»Klar! Alt genug, um zu heiraten!«

»Und weißt du auch, dass ich nächs­tes Jahr mit dem Studium anfange, wenn ich das Abi schaffe?«

Max lächelte. »Ja und? Man kann auch als verheiratete Frau studieren!«

»Ich nicht!«, sagte sie laut. Sie schwiegen beide lange Zeit, bis Regina es nicht mehr aushielt. »Ich bitte dich, Max, ich bin gerade mal zwanzig, und du bist nicht viel älter. Aber ich möchte einen Beruf haben, bevor ich mich binde. Das musst du doch verstehen! Und wir wissen nicht, ob wir dann noch heiraten möchten.« Sie sah Max an, der finster vor sich hinstarrte. »He, du bist dann vielleicht längst in eine andere Frau verliebt. So etwas kann doch geschehen!« Regina strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Er stand auf. »Unsinn! Für mich wird es nie eine andere Frau geben als dich!«, sagte er und ging ein paar Schritte von ihr weg. Dann drehte er sich um. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er war blass geworden und sein Blick eisig. »Du weißt, dass unsere Väter längst über unsere gemeinsame Zukunft verhandeln! Ein ›Nein‹ könnt ihr euch jetzt nicht mehr leisten, denn dein Vater ist so gut wie pleite!«

Regina stand jetzt ebenfalls auf. »Das habe ich mir gedacht. Und du machst den Deal mit?«

Max schwieg, denn er kannte die prekäre Lage der Hohensteinbachs besser als Regina.

»Hör mal, Max! Über unsere Köpfe hinweg können sie verhandeln wie und was sie wollen: Ich werde mich jedenfalls nicht davon beeinflussen lassen!«

Regina sah sein blasses Gesicht. Er tat ihr leid. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn niemals heiraten würde.

»Lässt du dich vielleicht einfach so verkuppeln?« Zum ersten Mal kam so etwas wie Charakter in seine verschwommenen Züge. »Nein, natürlich nicht. Aber ich dachte, du hättest wenigstens ein bisschen Zuneigung für mich!« Das klang so traurig, dass Regina ihn am liebsten umarmt hätte.

»Max«, sagte sie, »was hast du von einer Frau, die dich nicht liebt? Ich mag dich, du bist ein netter Kerl, ein richtiger Kumpel, aber für eine glückliche Ehe reicht das nicht!«

»Aber man sagt doch, dass die Liebe erst in der Ehe kommt!«

»Das kann ja sein, aber du bist für mich wie ein Bruder. Versteh doch, ich kann dir nicht große Liebe vorspielen. Dazu schätze ich dich viel zu sehr. So eine Komödie hast du nicht verdient. Ich müsste lügen, und wir wären beide unglücklich. Alles nur des Geldes wegen. Und wir wollen doch ehrlich zueinander sein! Richtige Liebe muss einschlagen wie ein Blitz! Und sag bitte nicht, dass du das gefühlt hast! Wir waren immer die besten Freunde, aber mehr nicht!« Regina atmete tief ein und sah in sein trauriges Gesicht. Plötzlich trübten Tränen ihren Blick. Sie legte ihre Arme um seinen Hals. »Jetzt bringst du mich auch noch zum Heulen!«, schniefte sie.

»Du liebst mich also doch?« In seiner Stimme klang so etwas wie Hoffnung mit.

»Unsinn! Ich bin traurig und möchte dich irgendwie trösten. Aber was hättest du davon, wenn ich dich belügen würde?«

»Du hast ja recht!« Max schob ihre Hände von seiner Schulter. »Und jetzt lass uns wieder zurückgehen, denn die Rosen und das Häuschen sind etwas zu viel Verwirrung für mich. Ich hasse Sentimentalitäten, wenn ich damit allein bin! Kommst du zu meiner Geburtstagsfeier, oder nicht?«

»Das habe ich dir doch versprochen!«

*

Nachdem der Besuch sich verabschiedet hatte, traf Regina auf der Treppe des Turmes Jonas, ihren Bruder.

Er wollte runter, sie rauf.

»Hallo, Schwesterlein! Sag mal, sind die beiden Dicken wieder weg?«

»Ja, Vater und Sohn sind gegangen.«

»Hast du mit Max mal über eure Verlobung gesprochen? Papa sagte mir, dass alles klar ist. Aber ich kann mir das nicht vorstellen.«

»Wie kann Papa so etwas sagen? Ich habe mich mit ihm noch nie über eine Verlobung mit Max unterhalten!« Reginas Gesicht war hochrot geworden. »Er kann mich doch nicht über meinen Kopf hinweg verkaufen wie eines seiner Pferde. Ja, Max und ich sind uns einig: Wir werden in keinem Fall heiraten!«

»Was?« Jonas legte seine Hände wie zum Gebet zusammen. »Weiß Papa das schon?«

»Nein, woher sollte er das wissen, schließlich geht es ja um mein Leben. Und ich habe nicht vor, Maximilian zu heiraten, nur weil die beiden Väter das vielleicht so geplant haben.«

»Wenn du dich nur nicht täuschst. Ich habe da schon andere Versionen gehört!«

»Unsinn! Niemand kann mich zwingen. Wir sind doch nicht im Orient! Max und ich haben darüber gesprochen, und er hat eingesehen, dass man mich nicht zwingen kann!«

»Das darf nicht wahr sein! Papa sagte, alles sei in Ordnung. Und jetzt hängen wir wieder in der Luft!« In seinem Ärger wurde Jonas seinem Vater immer ähnlicher. »Du hast ja keine Ahnung, was das bedeutet!« Er atmete schwer. »Und wie soll ich ohne Geld mein Studium schaffen? Für mich geht’s im Studium nicht nur ums Lernen. Ich trage einen alten Namen und habe meine Verpflichtungen. Und nun steckt unsere Familie bis zum Hals in Schulden. Papa hat schon ein paar von den kostbaren Bildern verkauft. Mamas Reiterhof ist auch an die von Mähringen gegangen. Aber was da jetzt verschachert wird, ist mein Erbe! Es hieß, wenn du verlobt bist, wird Max’ Vater uns sanieren! Aber natürlich erst nach eurer Verlobung!«

Regina setzte sich vor Aufregung auf die Steinstufen. »Davon hatte ich keine Ahnung. Steht es wirklich so schlecht um uns? Charlotte hat mir bisher kein Wort darüber gesagt. Und Papa auch nicht. Man kann doch nicht über meinen Kopf hinweg …« Sie atmete hektisch. »Was soll ich jetzt tun?«

Ihr Bruder zuckte mit der Schulter. »Heirate Maximilian von Mähringen, und wir sind gerettet!«

*

Es war eine sehr nachdenkliche Regina, die neben Tante Charlotte auf dem Rücksitz des Wagens saß. Die beiden Damen waren auf dem Weg nach München, um das passende Outfit für die Geburtstagsfeier bei den Mähringers zu kaufen. Beide sollten an diesem Geburtstag besonders gut aussehen, hatte Papa gesagt, ohne auch nur zu erwähnen, dass es eine Verlobung geben sollte. Doch Charlotte und Regina wussten, dass Karl Friedrich damit rechnete, Regina würde in der Öffentlichkeit keinen Widerspruch wagen.

Charlotte klopfte dem Chauffeur auf die Schulter. »Du kannst losfahren, Adam!«, sagte sie, und der schwere Wagen setzte sich in Bewegung.

Trotz ihrer Angst vor dieser Geburtstagsfeier und davor, dass es zu einem Eklat kommen könnte, wunderte sich Regina, dass Tante Charlotte Adam duzte. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen. Denn Papa duldete keine Vertraulichkeiten zwischen Personal und Herrschaft. Obwohl sich die beiden schon so viele Jahre kannten.

Doch auch Charlotte hatte Sorgen. Sie wusste, dass Regina Max von Mähringen einen Korb geben würde, sollte der ihr einen Antrag machen. Eine Katastrophe für die Familie. Und selbst Regina wusste, dass sie während der Feier, an der alle Freunde und Bekannten beider Familien anwesend sein würden, nicht »Nein« sagen durfte. Die Folge wäre ein kompletter Bruch zwischen beiden Familien. Und die von Hohensteinbach wären endgültig pleite. Dass sie das nicht zulassen konnte, war ihr klar.

Viel Zeit blieb Regina nicht mehr, diese Verlobung zu verhindern. Und wie sollte sie es überhaupt anfangen? Schon am nächsten Sonntag stieg das große Geburtstagsfest. Doch vielleicht hatte Max inzwischen alles geklärt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb.

Nachdem sie eine kurze Strecke gefahren waren, seufzte Regina abgrundtief.

»Was ist los, Kind?« Charlotte legte ihren Arm um Regina, und die flüs­terte: »Ich soll Max heiraten, weil wir pleite sind. Aber es geht vor allem um Papa und um mich! Ich werde Max nicht heiraten, das weiß er, ich habe schon vor Wochen mit ihm darüber gesprochen. Und ganz sicher weiß Papa das inzwischen auch. Aber er hat trotzdem über meinen Kopf hinweg alles arrangiert. Man will mich zu einer Verlobung zwingen. Da mach’ ich nicht mit. An Verlobung denke ich erst, wenn ich meine Ausbildung habe, und dann ganz gewiss nicht mit Max. Aber sollte ich jetzt beim Abi durchfallen, werde ich die Klasse wiederholen! Sonst stehe ich neben Jonas wie ein kleines Dummchen da. Als Ehefrau könnte ich das alles nicht durchziehen. Also kommt eine Verlobung für mich schon aus diesem Grund nicht in Frage!« Regina atmete schwer. »Jonas war immer der Primus. Darum war er auch immer Papas Liebling. Und ich muss das Abi auch schaffen!«

»Ich weiß, Regina. Aber es wird Zeit, dass du auch ein paar wichtige Details über die Familiengeschichte und vor allem auch über deine Mutter erfährst!«

Charlotte strich Regina eine Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete tief ein. »Du weißt, ich liebe meinen Bruder, aber es ist nicht in Ordnung, dass er dich büßen lässt, was zwischen ihm und deiner Mutter gewesen ist. Du kannst nichts dafür!«

Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Hundertmal habe ich mir überlegt, wie ich dir das schonend beibringen soll, aber es bleibt eine Tragödie, für die du nichts kannst, und es tut mir leid, dass mein Bruder dich so schlecht behandelt.« Sie seufzte. »Hör mir jetzt gut zu, Regina: Du bist keine Komtess von Hohensteinbach!«

Charlotte schwieg ein paar Sekunden, dann flüsterte sie: »Karl Friedrich ist nicht dein Vater! Leider!«

Sie sah Regina an, die so weiß wurde wie eine frisch gekalkte Wand.

»Sag, dass das nicht stimmt, Tante Charlotte«, flüsterte sie.

Charlotte nickte. »Doch, Kind, es stimmt! Es ist wie ein böser Traum, aber mein Bruder ist nicht dein Vater! Und frage bitte nicht, wie und warum das alles geschehen ist.« Sie suchte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Tränen aus den Augen. »Ich glaube nicht, dass Vicky freiwillig … Aber lassen wir das. Großmama sagte, du bist als Kind ›zur Linken‹ geboren. Und sie war es auch, die meinen Bruder dazu brachte, seine Frau Vicky hinauszuwerfen. Er liebte sie, und ich glaube, er liebt sie noch immer und kann sie nicht vergessen. Und er hätte sich vielleicht mit Vicky arrangiert, aber Mama hatte immer bei allem das letzte Wort. Und da schickte dein Vater seine große Liebe fort, weil Mama das so wollte. Niemand weiß, was wirklich geschehen ist. Aber dass mein Bruder dich das fühlen lässt, ist nicht in Ordnung. Du kannst nichts dafür. Und dass du Maximilian von Mähringen heiraten sollst, damit unsere finanzielle Misere endlich ein Ende hat, ist ungerecht!« Charlotte war wütend, man sah es ihr an. »Aber was soll ich tun, Regina? Mir sind die Hände gebunden. Ich bin ja hier auch nur geduldet! Mama hat mir zwar den ganzen Schmuck und die alten Goldmünzen hinterlassen. Aber dass uns das helfen würde, bezweifle ich! Verheiratet bin ich auch nicht. Und glaub mir, ich hätte Möglichkeiten gehabt, aber es war kein Graf und kein Baron darunter. Und für Mama war keiner dieser bürgerlichen Männer gut genug, mein Mann zu werden.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Um meinem Bruder zu helfen, habe ich vor einigen Jahren in meiner Not eine sehr nette Dame adoptiert, die unbedingt einen Titel brauchte, weil sie in Amerika als Immobilienmaklerin mit einem Adelstitel mehr Chancen hat. Das Geld hat Jonas bekommen. Wie hätte er sonst studieren können?« – Charlottes Stimme wurde immer leiser, und sie sah Regina traurig an. »Der Reitstall deiner Mutter mit ihren Lieblingspferden ist auch schon lange nicht mehr unser Eigentum. Vicky war wütend, als Karl Friedrich so nach und nach Grundstücke und Wald verkaufte. Und ihren Reiterhof hat der Baron Mähringen schon immer haben wollen. Doch den hat mein Bruder erst verkauft, als Vicky nicht mehr da war. Gleich nach deiner Geburt verschwand sie. Keiner wusste, warum, bis deine Großmama von einem Kuckucksei sprach!«

Charlotte schüttelte den Kopf und schluchzte. »Es war schrecklich! Vicky durfte dich nicht mitnehmen, Karl erlaubte es nicht, denn für die Öffentlichkeit warst du seine Tochter. Der Reiterhof gehört inzwischen auch Maximilian von Mähringen. Er hat den Stall erweitert, du kennst ihn. Max und du, ihr habt als Kinder oft dort gespielt!« Charlotte seufzte unter Tränen.

»Weißt du, Regina, du hattest zum Glück nie ein besonderes Verhältnis zu Pferden, das hat mich getröstet. Sonst hättest du vielleicht geweint, als alles verkauft wurde.« Sie strich ihrer Nichte mit einer zärtlichen Geste über die Wange. »Aber jetzt hättest du die Möglichkeit, alles zurückzubekommen. Natürlich nur, wenn du Max heiratest.«

Regina schwieg noch immer. Sie hörte kaum, was Charlotte erzählte, sondern dachte nur immer wieder: Ich bin ein Kuckuckskind – ein Kuckuckskind!

*

Das Anwesen derer von Mähringen war ein ehemaliges Zisterzienser-Klos­ter. Ein riesiger Bau mit Innenhof und Säulengängen rundherum. Schon der Großvater des jetzigen Seniors Wilhelm von Mähringen hatte die Ruine dem Orden abgekauft und für seine Familie restaurieren lassen. In der Mitte des Gevierts war eine Grünanlage mit Rosenbüschen und einem kleinen Teich mit Seerosen. Doch der riesige Außenpark, in dessen Mitte das ehemalige Kloster stand, war eine wundervolle Parkanlage mit altem Baumbestand, Rosenhecken, kleinen und größeren Gartenhäuschen und einem Springbrunnen in weißem Marmor.

Es war früher Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel, der blau schimmerte und auf dem weiße Wölk­chen wie Wattehäufchen dahinschwebten.

Eine Limousine nach der anderen brachte die Gäste vor das große mehrstöckige Gebäude, in dessen Eingangshalle sie von der Familie von Mähringen empfangen und begrüßt wurden.

Adam hatte seinen Herrn schon vormittags zu einer Lagebesprechung in das »Kloster‹ gebracht, wie die Menschen den Bau noch immer nannten, und Jonas wollte später nachkommen. Jetzt öffnete Adam für Regina und Charlotte die Autotür, um die Damen aussteigen zu lassen. Er winkte Charlotte verstohlen zu, die, in einem changierenden dunkelroten Taftkleid, klein und rundlich nach Regina ausstieg. Das kurze, eng anliegende Kleid in hellblau passte zu der Farbe von Reginas großen Augen.

Graf Karl, Charlottes Bruder, kam seinen Damen entgegen, begrüßte sie und führte sie durch das hohe Tor, wo Graf Maximilian von Mähringen mit seinem Vater auf die Gäste wartete.

Regina war nervös. Sie wusste nicht wie sie Vater und Sohn entgegentreten sollte. Doch dann ging alles leichter als sie dachte. Max hatte wahrscheinlich seinem Vater nichts von der Niederlage erzählt, denn der Baron führte seine Gäste persönlich in das weiße Zelt im Innenhof. Er und Graf Karl Friedrich, Reginas Vater, unterhielten sich mit Charlotte und ihrer Tischnachbarin, während Max mit Regina das weiße Zelt wieder verließ.

»Hast du dir noch mal alles gut überlegt?« Max legte den Arm um ihre Schulter und führte sie in den Säulengang.

»Was meinst du?«, fragte Regina, obwohl sie genau wusste, worauf Max anspielte. Sie blieb stehen. Max schüttelte den Kopf. »Frag doch nicht! Du weißt genau, was ich meine, Regina.«

»Nein!«, sagte sie da mit Nachdruck, »ich habe dir schon mal gesagt, dass es nichts zu überlegen gibt!«

»Und was sagt dein Vater dazu?«

Regina fühlte, wie sie langsam rot wurde. »Was hat Papa damit zu tun? Ich dachte, die Sache wäre zwischen uns geklärt?«

»Ja, zwischen uns schon, aber nicht zwischen deinem und meinem Vater! Ihr seid am Ende, Regina! Entweder du stimmst heute einer Heirat zu, oder …«

Regina fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Ich dachte, du würdest mir helfen, und hättest deinem Vater klargemacht, dass wir nicht heiraten werden, weil wir gute Freunde sind, aber kein Paar! Max, Menschen kann man nicht kaufen!«

Max lachte einmal kurz auf. Das sollte heiter klingen, aber er war

blass geworden, atmete schwer, und seine Augen waren gerötet. »Sag mal, stehst du vielleicht unter Naturschutz?« Er grinste. »Mit Geld kann man alles kaufen! Und du könntest froh sein, dass du in meine Familie einheiraten darfst! Hat Papa gesagt. Und ich denke ebenso! Nur Onkel Ferdinand ist nicht damit einverstanden. Keiner weiß, warum. Vielleicht, weil er sich mit deiner Mutter so gut verstand!« Max lächelte süffisant. »Man munkelte so allerlei über Onkel Ferry und Vicky von Hohensteinbach.«

Sein mokantes Lächeln trieb Regina das Blut ins Gesicht. »Du solltest dich schämen, so über meine Mutter zu reden!«

»Ich habe nur gesagt, was ich gehört habe! Und ich bin sicher, du wirst es dir überlegen, denn dir bleibt nichts anderes übrig. Wir schlucken euch irgendwann, so oder so! Euer Image ist sowieso schon ganz schön angekratzt!«

Regina horchte auf. Solche Worte hatte sie nicht erwartet. Das war nicht mehr Max, ihr Freund aus der Zeit, da sie Kinder waren. Sie fühlte sich verletzt, provoziert und hintergangen.

»Mein lieber Max!«, sagte sie betont freundlich, obwohl ihr Herz vor Angst und Ärger zitterte. »Ich hielt dich für einen Freund, aber ich scheine mich getäuscht zu haben!« Sie atmet tief durch. »Du solltest dir eines merken, ich lasse mich von niemandem zwingen! Hörst du? Von niemandem!« Regina stand so dicht vor dem Mann, dass sie seinen Atem im Gesicht fühlte.

Dann holte sie aus ihrer Handtasche ein kleines Päckchen und hielt es ihm hin. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag!« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.