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MACHINE
PLATFORM
CROWD

Wie wir das Beste aus
unserer digitalen Zukunft machen

ANDREW MCAFEE
ERIK BRYNJOLFSSON

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

© Copyright der Originalausgabe:

© Copyright der deutschen Ausgabe 2018:

Übersetzung: Philipp Seedorf

ISBN 978-3-86470-563-2
eISBN 978-3-86470-564-9

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Gewidmet den McAfees in Bethesda, Maryland: David, Shannon, Amelia, Aurora und Avery Mae. Danke, dass ihr mir beim Pokern wenigstens manchmal ein bisschen Geld übrig lasst.

Andy

Gewidmet meiner Mutter Marguerite, deren Lächeln, Liebe und unerschütterlicher Glaube mir Kraft geben.

Erik

INHALT

Kapitel 1:

DIE DREIFACHE REVOLUTION

Teil 1

GEIST UND MASCHINE

Kapitel 2:

WAS WIR AM SCHWERSTEN ÜBER UNS AKZEPTIEREN KÖNNEN

Kapitel 3:

MASCHINEN, DIE FAST WIE EIN GEHIRN FUNKTIONIEREN

Kapitel 4:

HI, ROBOT

Kapitel 5:

WO TECHNOLOGIE UND INDUSTRIE IMMER NOCH MENSCHEN BRAUCHEN

Teil 2

PRODUKT UND PLATTFORM

Kapitel 6:

DER PREIS DER TECHNOLOGISCHEN REVOLUTION

Kapitel 7:

KOMPLEMENTÄRGÜTER UND ANDERE SMARTE STRATEGIEN

Kapitel 8:

ANGEBOT UND NACHFRAGE: DER VORTEIL DER PLATTFORMEN

Kapitel 9:

DAS PREISDIKTAT DER PLATTFORMEN

Teil 3

CORE UND CROWD

Kapitel 10:

DAS IST ABER SCHNELL ESKALIERT: DAS ENTSTEHEN DER CROWD

Kapitel 11:

WIESO DER EXPERTE, DEN SIE KENNEN, NICHT DER IST, DEN SIE BRAUCHEN

Kapitel 12:

DER TRAUM VON DER DEZENTRALISIERUNG ALLER DINGE

Kapitel 13:

SIND UNTERNEHMEN PASSÉ? (NATÜRLICH NICHT)

Fazit:

ÖKONOMIE UND GESELLSCHAFT JENSEITS DER COMPUTER

DANKSAGUNGEN

QUELLEN

KAPITEL 1

DIE DREIFACHE REVOLUTION

„Diese Parallelen sind eng und deutlich genug, sodass es fast sicher ist: Wie bei der industriellen Revolution liegen die Haupteffekte der Informationsrevolution auf die nächste Gesellschaft noch vor uns.“

– Peter Drucker, 2001

Computer beim Go

Go zu lernen war für Menschen schon immer schwierig, aber Computer so zu programmieren, dass sie es gut spielen können, schien beinahe unmöglich.

Go ist ein reines Strategiespiel – Glück spielt dabei keine Rolle1 –, das vor über 2.500 Jahren in China entwickelt wurde.1 Ein Spieler verwendet weiße Steine, der andere schwarze. Sie setzen abwechselnd Steine auf die Kreuzungspunkte eines Gitternetzes aus 19 x 19 Linien auf dem Spielbrett. Wenn ein Stein oder eine Gruppe von Steinen keine Freiheiten mehr hat – also im Grunde komplett von gegnerischen Steinen eingekreist ist –, dann ist er beziehungsweise sind sie „gefangen“ und werden vom Brett genommen. Am Ende des Spiels2 hat der Spieler gewonnen, der mehr Territorium für sich beanspruchen kann.

Menschen mit einer Vorliebe für Strategie lieben Go. Konfuzius gab einst den Rat: „Edelmänner sollten ihre Zeit nicht mit trivialen Spielen verschwenden – sie sollten Go studieren.“2 Viele halten es sogar für bedeutender als Schach, ein anderes schwieriges Strategiespiel für zwei Personen, bei dem Glück keine Rolle spielt. Der Schachgroßmeister Edward Lasker drückte es folgendermaßen aus: „Während die barock anmutenden Schachregeln3 nur von Menschen geschaffen worden sein können, wirken die Regeln von Go so elegant, organisch und bestechend logisch, dass intelligente Lebensformen irgendwo anders im All, sollten sie existieren, mit ziemlicher Sicherheit Go spielen.“

Die anscheinend einfachen Regeln verbergen eine Komplexität, die sich kaum in Worte fassen lässt. Wegen des riesigen Spielbretts und der großen Freiheiten, mit der die Spieler ihre Steine platzieren können, schätzt man, dass es etwa 2 x 10170 (das ist eine 2 mit 170 Nullen)4 mögliche Stellungen auf einem Standard-Go-Brett gibt. Wie groß ist diese Zahl? Sie ist größer als die Zahl an Atomen im sichtbaren Universum. Das ist im Grunde sogar ein völlig unpassender Vergleichsmaßstab. Das sichtbare Universum enthält etwa 1082 Atome.5 Wenn jedes Atom im Universum selbst ein weiteres Universum voller Atome wäre, gäbe es immer noch mehr mögliche Go-Partien als Atome.

Das Spiel, das niemand erklären kann

Wie manövrieren nun die Top-Go-Spieler durch diese irrsinnige Komplexität und machen dabei geschickte Züge? Das weiß niemand – nicht einmal die Spieler selbst.

Go-Spieler lernen eine bestimmte Anzahl an heuristischen Regeln und halten sich dann weitgehend daran.3 Abgesehen von diesen Faustregeln jedoch tun sich selbst die Top-Spieler häufig schwer, ihre eigenen Strategien zu erklären. Michael Redmond, einer der wenigen Westler, die den höchsten Rang bei diesem Spiel erreicht haben, erklärt das so: „Ich sehe einen Zug und bin sicher, dass es der richtige ist, aber ich könnte Ihnen nicht erklären, woher ich das weiß. Ich sehe ihn einfach.“6

Es ist nicht so, dass Go-Spieler ein besonders verschwiegener Haufen wären. Tatsache ist, dass wir ebenso wenig unser gesamtes Wissen abrufen können. Wenn wir ein Gesicht erkennen oder Fahrrad fahren, können wir, auch wenn wir darüber nachdenken, nicht vollständig erklären, wie oder warum wir das tun, was wir tun. Es ist schwer, derlei unausgesprochenes Wissen in Worte zu fassen – dieser Umstand wurde im 20. Jahrhundert wunderbar von dem ungarisch-britischen Universalgelehrten Michael Polanyi zusammengefasst: „Wir wissen mehr, als wir sagen können.“

„Polanyis Paradox“, wie es später genannt wurde, stellte jeden, der versuchte, einen Go-spielenden Computer zu bauen, vor große Herausforderungen. Wie schreibt man ein Programm, das die besten Strategien für das Spiel beinhaltet, wenn kein Mensch diese Strategien in Worte fassen kann? Es ist möglich, zumindest einige der Heuristiken zu programmieren, aber das wird nicht zu einem Sieg gegen gute Spieler führen, die über diese Faustregeln hinausgehen, wenn man selbst nicht recht erklären kann, wie man das macht.

Programmierer verlassen sich oft auf Simulationen, um komplexe Umgebungen zugänglich zu machen, etwa auf die Vielzahl aller möglichen Go-Partien. Sie schreiben Programme, die einen Zug ausführen, der gut aussieht, und erkunden dann alle plausiblen Reaktionen eines Gegners auf diesen Zug, dann alle plausiblen Reaktionen auf diese Reaktionen und so weiter. Der Zug, der letztlich gewählt wird, ist derjenige, der am meisten positive Folgen in der Zukunft hat und am wenigsten negative. Weil es jedoch so viele potenzielle Go-Partien gibt – Universen voller möglicher Partien –, ist es nicht möglich, mehr als eine wenig hilfreiche kleine Teilmenge davon zu simulieren, selbst mit einem Flugzeughangar voller Supercomputer.

Da entscheidendes Wissen fehlte und Simulationen wenig effektiv waren, machten die Go-Programmierer kaum Fortschritte. Angesichts der damaligen Situation und der wahrscheinlichen Entwicklung beim Computer-Go kam der Philosophie-Professor Alan Levinovitz 2014 in einem Wired-Artikel zu dem Schluss, „es ist wohl zu optimistisch, in den nächsten zehn Jahren mit einem Computer zu rechnen, der Go-Champion wird“.7 Ein Artikel im Wall Street Journal von Chris Cabris, Psychologie-Professor und Schreiber einer Spiele-Kolumne, vom Dezember 2015 trug den Titel: „Wieso Go die Computer immer noch überfordert“.

Die Überwindung von Polanyis Paradox

Nur einen Monat später – im Januar 2016 – berichtete ein wissenschaftlicher Aufsatz von einem Computer, der Go spielte und nicht mehr überfordert war. Ein Team bei Google DeepMind, einem Unternehmen mit Sitz in London, das auf Computerlernen spezialisiert ist (ein Forschungszweig der künstlichen Intelligenz, mit dem wir uns in Kapitel 3 näher beschäftigen werden), veröffentlichte den Artikel „Das Go-Spiel mit tiefen neuronalen Netzwerken und Baumsuche meistern“8 und das renommierte Journal Nature machte ihn zur Titelstory. Der Artikel beschrieb AlphaGo, ein Programm, das Go spielte und einen Weg gefunden hatte, Polanyis Paradox zu umgehen.

Die Menschen, die AlphaGo programmiert haben, versuchten nicht, ein Programm mit überlegenen Go-Strategien und Heuristiken zu füttern. Stattdessen schufen sie ein System, das diese alleine lernen konnte. Das tat es, indem es unzählige Stellungen in sehr vielen Spielen analysierte. AlphaGo war darauf ausgelegt, die subtilen Muster zu erkennen, die in einer großen Datenmenge stecken, und Aktionen (wie einen bestimmten Stein auf eine bestimmte Stelle aufs Brett zu setzen) mit Ergebnissen (wie ein Go-Spiel zu gewinnen) zu verknüpfen.4

Die Software konnte auf 30 Millionen Stellungen aus einem Online-Verzeichnis zugreifen und man gab ihr im Grunde nur die Anweisung: „Benutze diese, um herauszukriegen, wie man gewinnt.“ AlphaGo spielte auch viele Spiele gegen sich selbst und schuf damit weitere 30 Millionen Stellungen, die es analysierte. Das System führte während des Spiels Simulationen durch, allerdings nur streng begrenzte. Es nutzte das Gelernte aus Millionen von Positionen, um nur die Züge zu simulieren, von denen es annahm, dass sie mit der größten Wahrscheinlichkeit zum Sieg führten.

Die Arbeit an AlphaGo begann 2014.9 Im Oktober 2015 war es bereit für einen Test. Im Geheimen spielte AlphaGo ein Match aus fünf Spielen gegen Fan Hui, den damaligen europäischen Go-Champion. Die Maschine gewann 5:0.

Der Gewinn eines Computers beim Go auf diesem Wettkampfniveau war völlig unerwartet gewesen und hat die Forschungsgemeinde, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, zutiefst erschüttert. So gut wie alle Analysten und Kommentatoren nannten AlphaGos Leistung einen Durchbruch. Es gab jedoch Debatten über das Ausmaß dieses Durchbruchs. Wie der Neurowissenschaftler Gary Marcus anmerkte: „Go ist in Europa kein weitverbreiteter Sport und der Champion, um den es geht, ist nur auf Weltranglistenplatz 633 der Welt. Ein Roboter, der im Tennis die Nummer 633 auf der Weltrangliste schlägt, mag vielleicht beeindruckend sein, aber man kann nicht wirklich sagen, dass er das Spiel ‚gemeistert‘ hat.“10

Das DeepMind-Team hielt das offenbar auch für einen fairen Einwand, denn es forderte Lee Sedol zu einem Match über fünf Spiele heraus, das in Seoul in Südkorea im März 2016 stattfinden sollte. Sedol wurde von vielen als der beste menschliche Go-Spieler der Welt angesehen5 und als einer der besten aller Zeiten. Sein Stil wurde beschrieben als „intuitiv, unvorhersehbar, kreativ, intensiv, wild, kompliziert, hintergründig, schnell und chaotisch“11 – Eigenschaften, von denen er glaubte, dass sie ihm einen deutlichen Vorteil gegenüber jedem Computer verschaffen würden. Er drückte es so aus: „Das Go-Spiel hat eine gewisse Schönheit und ich glaube nicht, dass Maschinen diese Schönheit verstehen … Ich glaube, menschliche Intuition ist noch viel zu fortgeschritten, als dass die KI schon dazu aufgeschlossen hätte.“12 Er sagte vorher, dass er mindestens vier von fünf Spielen gewinnen werde: „Wenn ich mir das Match im Oktober ansehe, dann glaube ich, dass (AlphaGos) Level nicht an meinen herankommt.“13

Die Spiele zwischen Sedol und AlphaGo zogen in Korea und anderen ostasiatischen Staaten enormes Interesse auf sich. AlphaGo gewann die ersten drei Spiele und sicherte sich damit den Gesamtsieg in dem Match. Sedol erholte sich wieder und gewann das vierte Spiel. Dieser Sieg weckte in einigen Beobachtern die Hoffnung, dass die menschliche Schläue einen Fehler im digitalen Gegner ausgemacht hatte, einen, den Sedol weiterhin ausnutzen konnte. Selbst wenn es so war, war dieser Fehler nicht groß genug, um das Ergebnis des nächsten Spiels zu beeinflussen. Auch dieses gewann AlphaGo und errang damit einen 4:1-Sieg in dem Match.

Sedol fand das Match zermürbend und sagte nach seiner Niederlage:

„Ich fühlte mich irgendwie machtlos … Ich habe viel Erfahrung beim Go-Spielen, aber ich habe noch nie so viel Druck verspürt.“14

Go hatte eine Revolution erlebt.

Was ist mit den Assets passiert?

Im März 2015 wies der Stratege Tom Goodwin auf ein Muster hin. „Uber, das größte Taxiunternehmen der Welt, besitzt keine Taxis“,15 schrieb er. „Facebook, das beliebteste Medienunternehmen der Welt, schafft keinen Content. Alibaba, der wertvollste Einzelhändler, hat kein Inventar, und Airbnb, der größte Anbieter von Unterkünften, besitzt keine Immobilien.“

Ein skeptischer Leser könnte darauf hinweisen, dass keine dieser Entwicklungen so revolutionär ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Viele Unternehmen in der Taxibranche besitzen zum Beispiel selbst keine Autos. Stattdessen haben sie Lizenzen (sogenannte Medaillons), die ihnen das Recht geben, in einer Stadt ein Taxi zu betreiben, und vermieten diese an Wagenbesitzer und Fahrer. Genauso besitzen viele der größten Hotelbetreiber tatsächlich nicht all die Immobilien, die ihren Namen tragen, und unterzeichnen lieber Lizenz- oder Managementverträge mit denjenigen, denen diese Immobilien gehören.

Aber in all diesen Fällen haben die Unternehmen, um die es geht, langlebige Assets wie Lizenzen und Verträge, die für die Industrie wichtig und daher auch wertvoll sind. Uber und Airbnb haben nichts von alledem. Uber hat kein Anrecht auf irgendein Fahrzeug oder irgendeine Taxilizenz, egal in welcher Stadt, und Airbnb hat keine langjährigen Verträge mit Besitzern von Unterkünften. Trotzdem haben beide Unternehmen Millionen Kunden erreicht und Milliarden an Marktwert, was den Erfolg, den Goodwin beobachtet hat, umso bemerkenswerter macht. Als er seine Kolumne veröffentlichte, hat bereits mehr als eine Million Menschen jeden Tag „ein Uber genommen“,16 um in irgendeiner von 300 Städten in 60 Ländern17 irgendwo hinzukommen, und Airbnb hat 640.000 verschiedene Übernachtungsmöglichkeiten18 in 191 Ländern19 angeboten, von einer Jurte in der Mongolei20 bis zum Haus, das James Joyce als Kind bewohnt hat.21

Alibaba in China hat ebenfalls im Einzelhandel einen Ansatz verfolgt, der ohne viel Assets auskommt, und das ist eine Industrie, die für gewöhnlich eine große Reichweite mit dem Besitz vieler Dinge kombiniert. Walmart hatte zum Beispiel Ende 2016 mehr als 150 Verteilungszentren und eine private Flotte von 6.000 Lastwagen, die jährlich über 1,1 Milliarden Kilometer zurücklegten, um Waren auf die Regale von 4.500 Geschäften im ganzen Land22 zu bekommen. Am 31. Oktober desselben Jahres standen auf der Haben-Seite der Unternehmensbilanz unter anderem 180 Milliarden Dollar an Immobilien und Ausrüstung.23 Am selben Tag war jedoch Walmarts Marktwert geringer als der von Alibaba, über das 2016 Verkäufe von über einer halben Billion Dollar abgewickelt wurden.

Alibaba, das 1999 von dem ehemaligen Lehrer Jack Ma und 17 Kollegen gegründet worden war, verbindet als Online-Mittelsmann Käufer und Verkäufer. Seine beliebtesten Seiten waren der Taobao Marketplace, auf dem Einzelpersonen und kleine Geschäfte Güter an Konsumenten verkaufen, und Tmall, wo größere Unternehmen dasselbe taten. Ende 2016 war die Zahl der Chinesen, die jeden Monat die Alibaba-App nutzen,24 größer als die gesamte Bevölkerung der USA.

2009 begann Tmall, den „Singles Day“ in China zu propagieren. Das war ursprünglich ein Feiertag, der seinen Ursprung Mitte der 1990er-Jahre an der Nanjin University hatte, wo er von denen begangen wurde, die nicht in einer Beziehung lebten. Er wurde am elften Tag des elften Monats begangen, weil es das Datum mit der größtmöglichen Zahl an Einsen ist, welche als „einzelne Striche“ das Alleinsein symbolisieren. Der „Singles Day“ auf Tmall nahm seinen Anfang mit nur 27 teilnehmenden Händlern, wurde jedoch schnell zum wichtigsten Shopping-Event im Land. Diejenigen, die sich daran beteiligten, kauften nicht nur für sich als Alleinstehende Geschenke, sondern auch für Menschen, an denen ihnen etwas lag. Am 11. November 2016 liefen Verkäufe im Wert von 17,8 Milliarden Dollar über Alibabas Marketplace, drei Mal so viel wie der ‚Black Friday‘ und der ‚Cyber Monday‘ in den USA25 umsetzten.6

Unter den vier Unternehmen, die Goodwin erwähnt, ist Facebook vermutlich dasjenige mit der ungewöhnlichsten Geschichte. Seitdem es in Mark Zuckerbergs Studentenwohnheimzimmer elf Jahre vorher seinen Anfang nahm, war es von einer kleinen Website eines sozialen Netzwerks an einigen wenigen amerikanischen Elite-Universitäten zu einem globalen Versorgungsunternehmen für Kommunikation, Connection und Content geworden, das täglich von 936 Millionen Menschen frequentiert wird.26 Wie Goodwin herausgestellt hat, zog Facebook all diese Menschen an und hält sie durchschnittlich 50 Minuten pro Tag beschäftigt,27 ohne dass es irgendeine der Informationen auf seiner Website generiert hätte. Es sind die Status-Updates der Mitglieder, deren Meinungen, Fotos, Videos, Smileys und andere Beiträge den Besuchern der Seite in einer stetig steigenden Flut präsentiert wurden, die die Leute bei der Stange hielt.

Während es seinen Usern all diesen Content präsentierte, zeigte Facebook ihnen gleichzeitig auch Werbung, und zwar eine Menge davon. Facebooks Umsätze 2016, die buchstäblich alle durch Werbung generiert wurden, lagen bei 6,4 Milliarden Dollar, der Profit betrug zwei Milliarden.28

Nachrichtenunternehmen und andere Unternehmen mit einer Online-Präsenz, die ihren Content auf die altmodische Weise schufen – indem sie Geld für Gehälter, Reisen und so weiter ausgeben – waren alarmiert, nicht nur, weil Facebook geringere Kosten, sondern auch in den Augen der Werbetreibenden auf entscheidende Weise eine höhere Qualität hatte. Der Gigant der sozialen Netzwerke wusste so viel über seine Mitglieder (mit den Informationen, die sie zur Verfügung stellten und den Beiträgen, die sie verfassten, verrieten sie der Seite auf jeden Fall eine Menge über sich selbst), dass es ihnen Werbeanzeigen viel gezielter präsentieren konnte.

Jeder Werbetreibende hat stets irgendeine Version eines Spruches im Hinterkopf, der oft dem Pionier des amerikanischen Einzelhandels, John Wanamaker, zugeschrieben wird: „Die Hälfte des Geldes, das ich für Werbung ausgebe, ist verschwendet. Das Problem ist, ich weiß nicht, welche Hälfte.“29 Werbung war schon immer eine sehr unpräzise Wissenschaft, laut allgemeiner Ansicht größtenteils deswegen, weil sie sich nicht gezielt an die Menschen richtet, die am wahrscheinlichsten darauf reagieren. Facebook bot vielen Werbetreibenden einen solch hohen Level an Präzision beim zielgerichteten Schalten von Anzeigen, dass keine Website der Mainstream-Medien mithalten konnte, und das Ganze auch noch dauerhaft, weltweit und in großem Maßstab.

Eine dünne Schicht, die sich schnell ausbreitet

Goodwin beschrieb diese neuen Unternehmen als eine „unbeschreiblich dünne Schicht“30 und verkündete, „es gibt kein besseres Geschäftsmodell“. Weil sie so schlank sind – weil sie hauptsächlich nur Programme und Code besitzen und keine physischen Assets und Infrastruktur –, können sie so schnell wachsen. Airbnb hat zum Beispiel in den zwölf Monaten seit dem Erscheinen von Goodwins Artikel die Zahl der Übernachtungen verdoppelt, die über die Seite gebucht werden, und wurde so beliebt, dass die Regierungen von Städten wie Paris, Barcelona, Lissabon, Berlin und San Francisco anfingen, sich Sorgen zu machen, es könnte das Erscheinungsbild historisch gewachsener Viertel negativ beeinflussen. Das Wachstum des Unternehmens war so groß, dass der Technologiejournalist Tom Slee im Juli 2016 auf dem Blog der Harvard Business Review schrieb: „Airbnb steht vor einem existenziellen Problem bei seiner Expansion“,31 weil mehr und mehr Städte und Regionen gegen diese Expansion kämpften.

Uber erlebte ebenso schnelles Wachstum, war ebenso umstritten und testete gleichfalls neue Angebote. Der Car-Pool-Service Uber-Pool, der 2014 eingeführt wurde,32 erwies sich in vielen Städten, unter anderem in New York, als sehr beliebt. Im Mai 2016 verkündete das Unternehmen, dass alle UberPool-Fahrten während der Rushhour unter der Woche pauschal fünf Dollar kosten sollten33, und im Juli desselben Jahres, dass es ein Sonderangebot geben werde, das es New Yorkern ermögliche, für 79 Dollar vier Wochen lang diesen Service in Anspruch zu nehmen. Bei diesem Preis war das Angebot für viele Pendler sogar billiger als die U-Bahn.34

Und Facebook – als Goodwin 2015 darüber schrieb, bereits ein riesiges und profitables Unternehmen – fuhr fort zu wachsen, seinen Einfluss zu mehren, die Mainstream-Produzenten von Content zu beeinflussen und in beträchtlichem Ausmaß in Innovationen zu investieren. Im August 2015 veröffentlichte das Analyseunternehmen Parse.ly, das Web-Traffic untersuchte, einen Bericht, demzufolge auf den großen Nachrichten- und Medienseiten, die es überwachte, mehr Besucher über Facebook kamen als von Google und anderen Suchmaschinen.35 Im März 2016 enthüllte Mark Zuckerberg die Road Map des Unternehmens für die nächsten zehn Jahre,36 zu der große Projekte im Bereich künstliche Intelligenz, Virtual Reality und Augmented Reality gehörten und sogar solarbetriebene Flugzeuge, um Millionen Menschen Internetzugang zu verschaffen, die weit entfernt von jeglicher Telekommunikationsinfrastruktur lebten.

Wie konnten Unternehmen, die nur aus einer „unbeschreiblich dünnen Schicht“ bestanden, so großen Einfluss gewinnen und derart erfolgreich werden?

Wie Goodwin feststellte: „Da passiert etwas sehr Interessantes.“37

Ein Gigant versucht, die Massen zu erreichen

Egal welchen Maßstab man anlegt, General Electric ist eines der erfolgreichsten Unternehmen der USA. Die Wurzeln von GE gehen bis auf Thomas Edison und seine Edison Electric Light Company zurück. 1896 als eine von zwölf Firmen ausgewählt, die im originalen Dow Jones Industrial Average gelistet waren38, ist dies das einzige Unternehmen der Gruppe, das heute noch auf diesem Index steht. Es hat sich schon in vielen Geschäftszweigen der Industrie engagiert (und diese manchmal auch wieder verlassen), unter anderem in den Sparten Stromerzeugung, Luftfahrt und Verteidigung, Kunststoffe, Gesundheitsvorsorge und Finanzen. Während seiner langen Geschichte hat GE auch immer Produkte für Konsumenten entwickelt, von Edisons elektrischen Lampen über Radios und Fernseher bis zu Haushaltsgeräten.

GE war überdies ein herausragender Pionier, wenn es darum geht, ein großes, diversifiziertes, weltweit agierendes Unternehmen zu leiten. Man hat viel in Forschung und Entwicklung investiert, oft in Zusammenarbeit mit Universitäten, und war eine der ersten großen Firmen, die beträchtliche Zeit und Aufwand nicht nur in die Weiterentwicklung ihrer Technologien, sondern auch der Fähigkeiten ihrer Manager investiert hat. Die erste Unternehmensuniversität wurde von GE 1956 in Crotonville in New York gegründet, ein Ort, der zum Synonym für die Professionalisierung der Managementpraxis wurde.

Das 21. Jahrhundert war Zeuge einer gewaltigen Anstrengung in Crotonville und der ganzen Firma, die Möglichkeiten des Marketings auszuweiten und die Bedürfnisse des Kunden in sämtlichen Geschäftsbereichen zu verstehen und zu befriedigen. Eine Überprüfung der Anstrengungen von GE in diesem Bereich hielt 2013 fest, dass die am meisten nachgefragte Fähigkeit der Firma darin bestand, „intern Innovationen im Bereich des Marketings zu schaffen“.39

Wieso hat dann General Electric, eine Firma mit einem jährlichen Budget von 5,2 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung,40 die außerdem allein in den USA 393 Millionen Dollar für Marketing ausgibt,41 sich 2015 entschieden, mit einer Gruppe Externer über das Internet zusammenzuarbeiten, um ein neues Produkt zu entwerfen und zu entwickeln? Und wieso hat eine Firma mit einem Marktwert von 280 Milliarden Dollar und 90 Milliarden Dollar verfügbarem Barvermögen potenzielle Kunden gebeten, eine Vorbestellung über mehrere Hundert Dollar zu tätigen, lange bevor das Produkt erhältlich war?

Perlen der weisheit und Eiswürfel

2014 starteten GE und die University von Louisville eine gemeinsame Initiative namens FirstBuild, eine „Co-Creation Community, die die Art verändert, wie wir Produkte auf den Markt bringen“.42 Sie bestand aus einer Online-Präsenz und einer „Microfactory“, die mit den Werkzeugen und Materialien ausgestattet war, um Prototypen herzustellen.

Alan Mitchell, Advanced Development Engineer bei GE Appliances in Louisville, beschloss, FirstBuild als Testgelände zu nutzen. Er fragte sich, ob es möglich wäre, das Verlangen vieler Menschen nach … einer bestimmten Sorte Eis zu befriedigen.

Die meisten Eiswürfel sind nur gefrorene Eisblöcke in verschiedenen Größen und Formen. Nuggeteis ist etwas anderes. Seine kleinen, röhrenförmigen Stücke sind porös und nur halb gefroren. Dadurch kann das Eis leicht Geschmack annehmen und ist einfacher zu kauen, was offensichtlich einige Menschen gerne mögen – sehr gerne. Laut eines Wall-Street-Journal-Artikels von Ilan Brat würden „essbare Eiswürfel sich wie warme Semmeln“43 verkaufen. Die Fastfoodkette Sonic, die Nuggeteis für ihre Getränke verwendete, hatte festgestellt, dass viele ihrer Kunden nur diese Sorte Eis wollten. Also begann das Unternehmen, die eiskalten Nuggets in Bechern bis hin zu 10-Pfund-Säcken zu verkaufen.

Weil es komplizierter ist, Eisnuggets herzustellen, als nur einfach Wasser einzufrieren,7 kosten die Maschinen, die diese produzieren, mehrere Tausend Dollar – zu teuer für die meisten Haushalte.8 Mitchell wollte herausfinden, ob die FirstBuild-Community eine funktionierende Nugget-Eismaschine für Haushalte entwerfen und einen Prototyp herstellen konnte. Im Jahr 2015 wurde dafür ein Online-Wettbewerb ausgerufen.

Der Gewinner war Ismael Ramos, ein Ingenieur aus Guadalajara in Mexiko, dessen „Stone Cold“-Design eine eckige Maschine war, die sehr gut auf eine Küchenarbeitsplatte passte und einen abnehmbaren Eisbehälter aus durchsichtigem Plastik hatte. Ramos bekam 2.000 Dollar Preisgeld und eine der ersten funktionierenden Versionen seines Entwurfs. (Die zwei nächstplatzierten Rivalen bei dem Wettbewerb bekamen ebenfalls einen Bargeldpreis und Eismaschinen.)

Die Leute in der FirstBuild Microfactory begannen, Prototypen der Nuggetmaschine herzustellen und zu verfeinern. Währenddessen interagierten sie regelmäßig mit der Online-Community, die sich um das Projekt herum gebildet hatte, fragten, wie der entfernbare Eisbehälter aussehen sollte, woran man sehen sollte, ob die Maschine voll war, ob man einen Eislöffel als Zubehör anbieten sollte und so weiter.

Wenn es Ihnen gefällt, kaufen Sie es – auch wenn es noch nicht existiert

Während die Arbeit voranschritt, widmete sich GE auch einer neuen und unkonventionellen Kombination aus Marketing und Marktforschung. Im Juli 2015 starteten sie eine Indiegogo-Kampagne für die Eismaschine, die sie Opal genannt hatten. Indiegogo ist eine Online-Community für „Crowdfunding“, die sich selbst als „Startrampe für kreative und unternehmerische Ideen jeder Form und Größe“44 bezeichnet. Leute, die solche Ideen finanziell unterstützen, sind keine Investoren; sie bekommen keine Anteile, Dividenden oder Profite für ihr Geld. Wenn sie zum Beispiel einen Film unterstützen, werden sie vielleicht zu einer Vorpremiere eingeladen, und wenn sie ein Produkt unterstützen, bekommen sie es eventuell als erste. Im Grunde bestellen sie ein Produkt, das noch nicht existiert und vielleicht niemals existieren würde, wenn sie ihm nicht ihr Vertrauen ausgesprochen hätten.

Indiegogo war ursprünglich als eine Website für Einzelpersonen und kleine Unternehmen gedacht, die keinen Zugang zu der Finanzierung haben, die sie brauchen, um ihre Visionen umzusetzen. Mitte 2016 nutzten auch große Unternehmen die Seite, um die Nachfrage nach möglichen Produkten zu testen. Bei der Kampagne für den Opal baten GE und FirstBuild die Leute darum, 399 Dollar beizusteuern (später wurde der Betrag auf 499 Dollar angehoben) und sie hatten das Ziel, 150.000 Dollar aufzubringen. Innerhalb weniger Stunden hatte die Kampagne den doppelten Betrag eingenommen45 und innerhalb einer Woche über 1,3 Millionen Dollar.46 Als die Opal-Kampagne Ende August 2015 auslief, hatte sie auf Indiegogo mehr als 2,7 Millionen Dollar eingebracht 47 und war damit eine der zehn beliebtesten Kampagnen auf der Website. Das fertige Produkt wurde im letzten Quartal 2016 an mehr als 5.000 Kunden geliefert, die eine Vorbestellung getätigt hatten,48 bevor es für die Allgemeinheit erhältlich war. GE brauchte das Geld von den Vorbestellungen gar nicht, aber sie wollten unbedingt die Erkenntnisse über den Markt nutzen.

GE hatte eine neue Methode gefunden, die vielen Hirne anzuzapfen, die nicht auf ihrer Gehaltsliste standen, und außerdem einen Markt für seine Eismaschine gefunden.

Maschine/Plattform/Crowd

Die drei Beispiele, die wir gerade beschrieben haben – den Triumph von AlphaGo über die besten menschlichen Go-Spieler der Welt, den Erfolg neuer Unternehmen wie Facebook und Airbnb, die über keine der traditionellen Assets ihrer jeweiligen Industrien verfügen, und die Nutzung einer Online-Crowd durch GE, um ein Produkt zu designen und auf den Markt zu bringen, was sie mit ihrer Expertise auch alleine geschafft hätten – das illustriert drei große Trends, die im Moment die Wirtschaft umformen.

Der erste Trend besteht aus den schnell zunehmenden und sich ausweitenden Fähigkeiten von Maschinen, wie am Beispiel von AlphaGos unerwartetem Aufstieg zum besten Go-Spieler der Welt beispielhaft deutlich wurde.

Der zweite wird von Goodwins Beobachtung ausgedrückt, dass in jüngster Zeit große und einflussreiche junge Unternehmen auf den Plan getreten sind, die nicht viel mit den etablierten Platzhirschen in ihren jeweiligen Industrien zu tun haben und zu einer enormen Disruption führen. Diese Newcomer sind Plattformen und sie sind furchteinflößende Konkurrenten.

Der dritte Trend, der von GEs ungewöhnlichem Entwicklungsprozess für ihre Opal-Eismaschine veranschaulicht wird, ist das Entstehen der Crowd, unser Begriff für die verblüffend große Menge an menschlichem Wissen, Expertise und Enthusiasmus, die in aller Welt verteilt und jetzt verfügbar sind und online gebündelt werden können.

Vom Aufstieg der milliardenschweren Unicorns aus dem Silicon Valley bis zum Niedergang oder der Transformation etablierter Fortune-500-Unternehmen – die Turbulenzen in der Wirtschaft erscheinen oft chaotisch und zufällig. Aber die drei Brennpunkte Maschine, Plattform und Crowd basieren auf fundierten Grundsätzen der Wirtschaftswissenschaften und anderer Disziplinen. Die Anwendung dieser Prinzipien ist nicht immer leicht, aber durch die richtige Brille betrachtet macht das Chaos der Ordnung Platz und die Komplexität wird reduziert. Unser Ziel in diesem Buch ist es, Ihnen diese Brille zu geben.

Die Aufgabe, die vor uns liegt: Drei Neuausrichtungen

In sämtlichen Unternehmen und Industriezweigen haben Maschine, Plattform und Crowd Gegengewichte. Das Gegengewicht zur Intelligenz der Maschinen ist der menschliche Geist. Buchhalter mit Bilanzen, Ingenieure mit computergestützter Design-Software und Fließbandarbeiter, die neben Robotern arbeiten, sind Beispiele für die Kombination von Geist und Maschine.

Das Gegengewicht zu den Plattformen sind Produkte – mit anderen Worten, Güter und Dienstleistungen. Eine Fahrt durch die Stadt ist ein Produkt, während Uber die Plattform ist, mit der die Menschen darauf Zugriff haben. Das Gleiche gilt für Übernachtungen und Airbnb oder Nachrichten und Facebook.

Für die Crowd ist das Gegengewicht der Core – das Wissen, die Prozesse, die Expertise, die Fähigkeiten, welche Unternehmen intern und über ihre Lieferketten verteilt aufgebaut haben. Der Core von GE Appliances ist es, Kühlschränke und Backöfen zu entwerfen, zu bauen und auf den Markt zu bringen. Der Core von NASA ist es, Raumfahrzeuge zu bauen und unser Universum besser zu verstehen; zum Core von Microsoft gehört die Entwicklung von Betriebssystemen für PCs und Programmen.

Wir werden Ihnen nicht erzählen, dass Geist, Produkte und der Core überflüssig sind oder kurz davor auszusterben. Eine solche Behauptung wäre absurd. Wie wir immer wieder aufzeigen werden, sind menschliche Fertigkeiten, hervorragende Güter und Dienstleistungen und starke organisatorische Fähigkeiten weiterhin essenziell für den Erfolg eines Unternehmens.

Wir wollen Sie jedoch davon überzeugen, dass angesichts der jüngsten technologischen Veränderungen Unternehmen neu über das Gleichgewicht zwischen Geist und Maschine, zwischen Produkten und Plattformen und zwischen dem Core und der Crowd nachdenken müssen. Das zweite Element in jeder dieser Paarungen ist alleine innerhalb der letzten paar Jahre so viel leistungsfähiger und mächtiger geworden, dass man einen ganz neuen Blick darauf werfen muss. Zu verstehen, wann, wo, wie und warum diese Maschinen, Plattformen und die Crowds effektiv eingesetzt werden können, ist der Schlüssel zum Erfolg in unserer heutigen Wirtschaft. In diesem Buch ist es unser Ziel, Ihnen bei dieser wichtigen Aufgabe unter die Arme zu greifen. Wir werden versuchen, Sie zu überzeugen, dass das nicht nur wichtig ist, sondern unerlässlich.

Wieso jetzt?

Wir haben in unserem vorherigen Buch The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird den schnellen technologischen Wandel und einige der wirtschaftlichen Auswirkungen dargestellt. Seit seiner Veröffentlichung ist eine der häufigsten Fragen, die uns gestellt wurde: Wann hat dieses Zeitalter angefangen? Das ist eine gute Frage und eine, die erstaunlicherweise gar nicht so leicht zu beantworten ist. Digitale Computer gibt es schließlich schon seit über 50 Jahren, aber all die Fortschritte, die wir in unserem vorherigen Buch beschrieben haben, fanden erst in jüngster Zeit statt. Wann also hat dieses wichtige neue zweite Maschinenzeitalter angefangen?

Die Antwort auf diese Frage ist, dass es zwei Phasen gibt. Phase eins des zweiten Maschinenzeitalters war die Zeit, in der digitale Technologien nachweislich einen Einfluss auf die Wirtschaft hatten, indem sie in großem Umfang Routineaufgaben übernahmen – Aufgaben wie Gehaltslisten verarbeiten, Autoteile zusammenschweißen und den Kunden Rechnungen zu schicken. Im Juli 1987 schrieb Robert Solow, Wirtschaftswissenschaftler am MIT, der später einen Nobelpreis für seine Arbeit über die Ursachen ökonomischen Wachstums bekommen sollte: „Das Computerzeitalter ist überall angekommen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken.“49 Mitte der 1990er-Jahre war das nicht mehr der Fall; die Produktivität wuchs sehr viel schneller und ein Großteil der Forschungsarbeiten (einige davon von Erik9 und seinen Kollegen) ergab, dass Computer und andere digitale Technologien der Hauptgrund dafür waren. Also können wir den Beginn der ersten Phase des zweiten Maschinenzeitalters auf die Mitte der 1990er-Jahre datieren.

Der Anfang von Phase zwei, in der wir uns (wie wir glauben) jetzt befinden, ist schwerer zu bestimmen. Es ist der Zeitpunkt, als Technologie, die man nur aus der Science-Fiction kannte – aus Filmen, Büchern und dem kontrollierten Umfeld der Elite-Forschungslabore –, in der wirklichen Welt auftauchte. 2010 verkündete Google völlig unerwartet, dass eine Flotte komplett autonom fahrender Autos unfallfrei auf US-Straßen unterwegs gewesen sei. 2011 schlug Watson, der Supercomputer von IBM, zwei menschliche Gewinner des Fernsehquiz „Jeopardy!“. Im dritten Quartal 2012 nutzten mehr als eine Milliarde Menschen Smartphones,50 Geräte, die die Kommunikations- und Sensorfähigkeiten zahlloser Sci-Fi-Filme kombinieren. Und natürlich fanden die drei großen Fortschritte, von denen wir am Anfang dieses Kapitels gesprochen haben, in den letzten paar Jahren statt. Dasselbe gilt, wie wir noch sehen werden, für eine Reihe weiterer Durchbrüche. Das sind keine Zufälle oder lediglich willkürliche Ausreißer des technologischen Fortschritts. Vielmehr sind das die Vorläufer weitaus grundlegenderer wirtschaftlicher Umwälzungen – einer Transformation, die sowohl in signifikanten technologischen Fortschritten als auch in fundierten wirtschaftlichen Prinzipien wurzelt.

Phase zwei des zweiten Maschinenzeitalters unterscheidet sich bedeutend von Phase eins. Zum einen demonstriert die Technologie, dass sie auch Arbeit erledigen kann, die wir nie als „programmierbar“ oder „Routine“ angesehen haben. Sie gewinnt im Go, diagnostiziert Krankheiten korrekt, interagiert auf natürliche Weise mit Menschen und beschäftigt sich mit kreativer Arbeit wie dem Komponieren von Musik oder dem Design nützlicher Objekte. Innerhalb der letzten paar Jahre haben sie eindeutig Polanyis Paradox und andere Grenzen auf ihrem Weg zur Eroberung neuen Territoriums überwunden. Maschinen folgen nicht mehr bloß sorgfältig kodifizierten Anleitungen, die ihnen von menschlichen Programmierern10 eingegeben werden, sie lernen von selbst, wie sie Probleme lösen können. Diese Entwicklung vergrößert den Umfang der Anwendungen und Aufgaben, die Maschinen nun angehen können, enorm.

Zweitens haben Hunderte Millionen Menschen heutzutage rund um die Uhr leistungsstarke, flexible und vernetzte Computer dabei. Smartphones und ähnliche Geräte haben sich auf der Welt mit erstaunlicher Geschwindigkeit ausgebreitet. 2015, nur acht Jahre, nachdem das iPhone auf dem Markt erschienen war, haben mehr als 40 Prozent der Erwachsenen in 21 Schwellenländern und Entwicklungsländern ein Smartphone, wie eine Umfrage des Pew Research Center ergab.51 2016 wurden etwa 1,5 Milliarden Stück verkauft.52

Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte ist annähernd die Mehrheit der erwachsenen Menschen auf der Welt digital mit allen anderen und mit einem Großteil des gesammelten Wissens der Menschheit verbunden. Darüber hinaus können sie selbst zu diesem Wissen beitragen und werden damit zum Teil eines Kreislaufs. Sie können sich auch auf alle möglichen Weisen miteinander austauschen und Transaktionen durchführen, wodurch die Weltwirtschaft Milliarden an Teilnehmern hinzugewinnt.

Man kann kaum überbetonen, wie wichtig das ist. Vor Kurzem war der Zugang zu großen Wissensbeständen (wie guten Büchereien) und fortgeschrittenen Kommunikations- und Datenverarbeitungsmöglichkeiten noch den Wohlhabenden dieser Welt vorbehalten – denjenigen, die das Glück hatten, in wohlhabenden Familien reicher Länder hineingeboren zu werden. Das ist nicht länger der Fall. Und in den kommenden Jahren werden sich immer mächtigere Technologien weiter auf der Welt ausbreiten.

Computer, die mehr als nur Routinearbeiten exzellent erledigen, und die digitale Vernetzung der Menschheit sind Phänomene, die erst in den letzten Jahren aufgetreten sind. Daher glauben wir, dass das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ein guter Startpunkt für die zweite Phase des zweiten Maschinenzeitalters ist. Zu diesem Zeitpunkt haben sich Geist und Maschine, Produkt und Plattform und der Core und die Crowd angenähert und eine Initialzündung ausgelöst. Die Folge davon war, dass viele lang gehegte Annahmen über den Haufen geworfen werden mussten und etablierte Vorgehensweisen überflüssig wurden.

Was ist beim letzten Mal passiert?

Vor einem Jahrhundert war die Elektrizität gerade dabei, die Dampfkraft in den Fabriken abzulösen. Wir bringen diese Periode ins Spiel, denn aus ihr lässt sich eine wesentliche Warnung ablesen: Viele erfolgreiche alteingesessene Unternehmen – im Grunde die meisten – haben den Übergang von einer Energiequelle zur nächsten nicht überlebt. Unternehmen, die im kommenden Zeitalter der digitalen Umwälzung erfolgreich sein wollen, müssen wissen, wieso das passiert ist, und sollten einige entscheidende Lektionen aus der Vergangenheit beherzigen.

In den 1910er-Jahren hatte die USA das Vereinigte Königreich als größte Wirtschaftsmacht der Welt abgelöst. Der Grund war vor allem die Stärke des produzierenden Gewerbes in den USA, das zur damaligen Zeit etwa 50 Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes ausmachte.

Amerikanische Fabriken wurden zuerst durch Wasserkraft betrieben, die Räder antrieb, dann durch Dampfkraft. Etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien die Elektrizität als weitere ernstzunehmende Option auf der Bühne. Zuerst etablierte sie sich nur als effizientere Alternative zu einer einzelnen großen Dampfmaschine im Keller der Fabriken, die alle Maschinen antrieb. Aber als die Unternehmen Erfahrung mit der neuen Technologie sammelten, stellten sie fest, dass sie noch weitere Vorteile bot. F. B. Crocker, ein Professor der Columbia-University, schrieb 1901:

„Es gab viele Fabriken, die Elektrizität einführten, weil sie dadurch 20 bis 60 Prozent ihrer Kohleausgaben einsparen konnten; aber diese Einsparungen waren nicht der Grund, wieso es heute diese enorme Verbreitung elektrischen Equipments im ganzen Land gibt. […] Diejenigen, die als erste auf dieser Grundlage zur Elektrizität übergingen, stellten fest, dass sie über die versprochenen Einsparungen hinaus noch weitere machen konnten. Diese kann man als indirekte Einsparungen bezeichnen.“ 53

Wer die neue Technologie übernahm, stellte irgendwann fest, dass lange geltende Einschränkungen nicht länger wirksam waren. Sobald die Energiequellen elektrisch wurden, konnte man sie im gesamten Gebäude verteilen (sie mussten ja nicht mehr direkt neben den Kaminen und den großen Kohlehaufen sein). Man konnte mehrere Energiequellen haben, statt nur einer großen, die jede Maschine in der Fabrik über ein kompliziertes (und anfälliges) System an Kurbelwellen, Zahnrädern, Rollen und Gurten antrieb.

Die meisten Hersteller übernahmen irgendwann diese Form des „Gruppenantriebs“ – wobei es in einer Fabrik mehrere große Elektromotoren gab, die eine Gruppe von Maschinen antrieben.11 Manche wollten diese Dezentralisierung der Energieversorgung noch viel weiter treiben und begannen, über „Einzelantriebe“ zu reden, also jeder einzelnen Maschine im Gebäude einen eigenen Elektromotor zu geben. Anders als Dampfmaschinen konnten die Elektromotoren schließlich sehr klein gebaut werden, ohne dabei wesentlich an Effizienz einzubüßen.

Heute ist es natürlich völlig lächerlich, sich auch nur vorzustellen, dass man das irgendwie anders machen könnte; stattdessen haben Maschinen heutzutage nicht nur einen, sondern gleich mehrere Elektromotoren. Das Konzept des „Einzelantriebs“ stieß jedoch bei seinem Aufkommen und auch noch erstaunlich lange Zeit danach auf tiefe Skepsis. Der Wirtschaftshistoriker Warren Devine Jr. hielt fest:

„Die Vorteile, Maschinen in Gruppen oder einzeln anzutreiben, wurden in der technischen Literatur des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts umfassend diskutiert. Zwischen 1895 und 1904 debattierte man darüber energisch bei den Treffen der technischen Gesellschaften; keine der Technologien konnte beanspruchen, in allen Bereichen die beste zu sein. […] Und mehr als 20 Jahre später wurde der Gruppenantrieb immer noch für viele Anwendungen nachdrücklich empfohlen. […] Zwei Lehrbücher aus dem Jahr 1928 […] stellen klar, dass es viele Situationen gibt, in denen ein Gruppenantrieb gerechtfertigt ist.“ 54

Im Nachhinein ist es so offensichtlich – wieso konnte man es damals nicht sehen?

Wieso ist der technologische Fortschritt, der in der Rückschau so offensichtlich erscheint, so schwer genau zu erkennen, während er geschieht? Und wieso können so viele der gescheitesten und erfahrensten Menschen und Unternehmen – und genau diejenigen, die der Wandel am meisten betrifft – ihn am wenigsten erkennen?

Forschungen in vielen verschiedenen Bereichen führen zu derselben Schlussfolgerung: Eben weil viele etablierte Unternehmen so kompetent, erfahren und auf den Status quo ausgerichtet sind, erkennen sie nicht, was da am Horizont heraufzieht, wie sie auch nicht das unverwirklichte Potenzial und die wahrscheinliche Entwicklung der neuen Technologie vorhersehen. Dieses Phänomen wurde als „Fluch des Wissens“ 55 und „Status-quo-Verzerrung“ bezeichnet und kann selbst erfolgreiche und gut geführte Unternehmen treffen. Laufende Prozesse, Kunden und Lieferanten, Expertenpools oder die allgemeine Einstellung können dazu führen, dass etablierte Unternehmen Dinge nicht sehen, die offensichtlich sein sollten, wie etwa die Möglichkeiten einer neuen Technologie, die zu sehr vom Status quo abweicht.

Das scheint auf jeden Fall bei der Elektrifizierung der Fabriken der Fall gewesen zu sein. Über diese Periode wurde eine Menge geforscht und größtenteils kam man dabei zu den gleichen Schlussfolgerungen. Wie die Ökonomen Andrew Atkeson und Patrick J. Kehoe zusammengefasst haben: „Zu Beginn des Übergangs [zur Elektrizität] [waren] die Hersteller zögerlich, [ihren] großen Wissensbestand aufzugeben, um etwas zu übernehmen, was auf den ersten Blick nur wie eine marginal überlegene12 Technologie aussah.“56 Ein weiteres Historiker-Duo, Paul David und Gavin Wright, fand heraus, dass ein weiterer wichtiger Grund, wieso es so lange dauerte, das Umwandlungspotenzial der Elektrizität voll auszuschöpfen, darin bestand, dass „organisatorische und vor allem konzeptionelle Veränderungen stattfinden mussten in der Art und Weise, wie Aufgaben und Produkte definiert und strukturiert waren“.57 Fließbänder, Förderbänder und Deckenlaufkräne waren zum Beispiel solche konzeptionellen Veränderungen. Sie waren essenziell, um das volle Potenzial der Elektrizität auszuschöpfen, aber unvorstellbar für die etablierten Unternehmen, die in der Ära der Dampfkraft groß und erfolgreich geworden waren.

Der Elektrizitäts-Schock

Clay Christensen hat seine Karriere als Rockstar der Wirtschaftstheoretiker aufgebaut, indem er darauf hinwies, wie oft disruptive Technologien hochfliegende Unternehmen zu Fall brachten. Die Elektrifizierung war eine der disruptivsten Technologien überhaupt; im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verursachte sie eine Art Massensterben im produzierenden Gewerbe der USA.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das produzierende Gewerbe in den USA von Firmen dominiert, die „Industrial Trusts“ genannt wurden. Dabei handelte es sich um große Unternehmen, die aus Firmenzusammenführungen entstanden waren. Ihre Besitzer wollten Vorteile aus dem größeren wirtschaftlichen Maßstab ziehen, was die Produktion, den Ankauf, die Distribution, das Marketing und diverse andere Bereiche anging. Diejenigen, die diese Trusts schufen, hofften oft auch darauf, Unternehmen zu schaffen, die so groß waren, dass sie ein Monopol innehatten, und dadurch die Macht zu erhalten, Preise diktieren zu können. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1904 stellte fest, dass es mehr als 300 derartige Trusts gab.58

Zur damaligen Zeit sah es danach aus, als würden die „Industrial Trusts“ in den USA für lange Zeit die Vorherrschaft innehaben. Sie hatten eine Menge Kapital, verfügten über die erste Generation professioneller Manager und waren neuen Technologien gegenüber durchaus aufgeschlossen. Sie hatten sich umstandslos die Kommunikation per Telegraf angeeignet, transportierten Güter mit der Eisenbahn und waren bereit, ihre Fabriken von Dampfbetrieb auf Elektrizität umstellen. Aber all diese Ressourcen und Fähigkeiten waren nicht ausreichend, damit sie ihre Führungsrolle – oder überhaupt ihr Geschäft – behalten konnten, als die Elektrifizierung voranschritt.

Eine Befragung, die von dem Ökonomen Shaw Livemore durchgeführt und 1935 veröffentlicht wurde, kam zum Ergebnis, dass 40 Prozent aller Industrial Trusts, die zwischen 1888 und 1905 gebildet worden waren, bis Anfang der 1930er-Jahre gescheitert waren. Weitere elf Prozent „‚strauchelten‘ und ihre Bilanzen waren […] eine durchwachsene Mischung aus gut und schlecht. […] Im Allgemeinen wurden die schlechteren Ergebnisse in den Jahren direkt vor dem Beobachtungszeitraum erzielt“.59 Von den Trusts, die überlebten, schrumpften die meisten beträchtlich. Eine Studie 60