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Ramona Raabe

Das pathologische Leiden der Bella Jolie

Novelle

Mit Illustrationen von Ailish Trimble

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2018

Lektorat: Markus Lorenz

Satz: Gaja Busch

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Cover-Aquarell: © Ailish Trimble

Foto der Autorin: © Patricia Kaiser

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-01-7
eISBN 978-3-947373-24-6

Für Sarah

und für alle Momente,

die sich nicht festhalten lassen

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin

Der Vermieter

Die beste Freundin

Die Mutter

Die Affäre

Die beste Freundin, Zweiter Teil

Der Lebensgefährte

Die Follower

Der Vater

Der Lebensgefährte, Zweiter Teil

Teil II

Anmerkung der Herausgeberin

Sitzung IV

Sitzung V [Fragment]

Sie

Biografien

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Vorwort der Herausgeberin

Statistiken weisen seit dem Jahr 2010 einen exponentiell ansteigenden Trend der sogenannten »Selfies« auf, also von zumeist mit der Kamera eines Mobiltelefons aufgenommenen Selbstfotografien. Während diese allseits beliebte Tätigkeit für die meisten Menschen problemlos Teil ihres vor allem privaten und sozialen Lebens ist, wissen wir heute, dass sie ebenfalls zu einem zwanghaften Verhalten führen kann, welches die Betroffenen erheblich einschränkt und ihnen schadet.

Die pathologische Impulskontrollstörung (»Selfie-Sucht«), welche erst 2024 als solche von der Medizin anerkannt wurde, ist als Phänomen bis heute nicht ausreichend erforscht. Der Fachbegriff Autokatoptromanie setzt sich zusammen aus griech. αυτός, autos, »selbst«, κάτοπτρον, katoptron, »Spiegel«, und μανία, manía, »Raserei, Wahnsinn«.

Durchbrechend und crossmedial wahrgenommen als ernsthaftes, durch alle Gesellschaftsschichten persistierendes Problem wurde die Störung erst durch den Fall der im Jahr 2019 an den Folgen ihrer Sucht verstorbenen 29-jährigen »Bella Jolie«, kaum bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen Janina Ast.

Ast, deren Sucht exzessive Ausmaße annahm, entfernte sich in den Monaten August bis November 2019 kaum mehr von einer Steckdose in ihrer Wohnung auf der ostfriesischen Insel Juist, um ihr Mobiltelefon ohne Unterlass mit Strom zu versorgen und den Kameramodus funktionsfähig zu halten.

Mehrere Tage verbrachte die damalige Studentin an jener Stelle und beschäftigte sich in den letzten Wochen – so ließ sich den Daten auf dem verbliebenen Gerät sicher entnehmen – mit nichts anderem als der Selbstfotografie und dem Löschen von Fotos zwecks Erschaffung neuen Speicherplatzes. Bis zu 11.000 Fotos innerhalb von 24 Stunden soll die Studentin in ihren letzten Tagen von sich selbst gefertigt haben, und sie hörte auch nicht damit auf, um lebensnotwendigen vegetativen Tätigkeiten nachzukommen. Besonders tragisch werden somit diese letzten Fotografien, die eingehend die schwindenden Kräfte einer Frau porträtieren, die den Obduktionsergebnissen zufolge letztlich dehydriert war. Die nur wenigen und kurzen Pausen zwischen den letzten Fotostrecken weisen außerdem auf akuten Schlafmangel hin.

Es lässt sich wohl mit Gewissheit sagen, dass ein Tod nie eindringlicher dokumentiert worden ist. Der 2020 im Brahmann-Verlag erschienene Band »Die letzten Stunden der Bella Jolie. Ein Leiden in Bildern, Sekunde um Sekunde« wurde nach einer Klage der verbliebenen Familienangehörigen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts posthum wieder vom Markt entfernt. Die Ansammlung von Fotos wurde vom verantwortlichen Richter Peter Kreuzer im nachfolgenden Prozess aufgrund eines medizinischen Gutachtens für ein zwanghaftes Symptom einer Krankheit befunden, und nicht als Zeugnis eines freiwilligen Exhibitionismus.

Ein Teil der Fotos darf im vorliegenden Band mit freundlicher Genehmigung der Familie Ast nun erstmals wieder veröffentlicht werden. So dokumentieren einige Abbildungen die letzten Stunden Janina Asts, während es sich bei den meisten Fotos um weitgehend unbekannte Beispiele ihrer Selbstporträts handelt, welche uns einen Menschen näherbringen, dessen Persönlichkeit uns Aufschluss geben könnte über eine Abhängigkeit, die in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung gefunden hat.

Janina Ast begab sich bereits 2017 in eine Art therapeutische Behandlung. Allerdings handelte es sich bei dem damals einunddreißigjährigen und mittlerweile verunglückten Florian Kramer, der seinen Bildungsweg im zweiten Ausbildungsjahr seines Facharztes der Psychiatrie unterbrach, um einen selbsternannten Forscher, der in Frau Ast vornehmlich eine Interviewpartnerin zur Erschließung seiner Theorien sah, und weniger eine hilfsbedürftige Patientin. Sie hingegen, die bis kurz vor ihrem Tod noch daran festhielt, an keinem ernsthaften Problem zu leiden, ließ sich von Herrn Kramer für die insgesamt zehn Sitzungen, die vordergründig seiner eigenen Recherchearbeit dienten, monetär entlohnen. Begegnet sind die beiden sich nach bisherigem Ermittlungsstand auf dem seinerzeit sehr beliebten sozialen Netzwerk »instagreet«, auf welchem der junge Arzt auf seiner Suche schließlich Fräulein Ast traf, die unter dem Usernamen »memento1990« zu diesem Zeitpunkt noch mehrere Dutzend Selbstporträts am Tag veröffentlichte.

In dem Bemühen, die Ursachen solcher Verhaltensweisen zu begreifen, habe ich viele Weggefährten Janina Asts zu ihrer Person befragt. Ich bin keine Ärztin und keine Psychologin, interessiere mich aber für Menschen und ihre Motivationen – dabei bin ich der Überzeugung, dass ein Versuch, das Leiden der jungen Frau exemplarisch nachzuvollziehen, für ein Verständnis dieses gesamtgesellschaftlichen Problems unabdingbar ist.

Den Mitschriften meiner Gespräche sollte ein kurzer Abriss der Biographie Janina Asts vorausgeschickt werden. Die Vita knapp drei gelebter Jahrzehnte ist überschaubar und trotz oder gerade in ihrer Unentschlossenheit gradlinig: Janina Ast wurde 1990 als einziges Kind eines selbstständigen Datenbankmanagers und einer Biologielaborantin in Salzwedel geboren. Die Eltern trennten sich, als Ast neun Jahre alt war, und behielten das gemeinsame Sorgerecht. Nach ihrem sehr guten Abitur zog die junge Frau nach Frankfurt am Main, um an der dortigen Goethe-Universität zunächst Jura zu studieren. Im vierten Semester erfolgte der Wechsel zum Studium der Humanmedizin, welches sie trotz guter Ergebnisse nach dem ersten Semester abbrach, woran sich ein Neustart in Form eines Bachelorstudiums der Politikwissenschaft anschloss. Letzteres hat Janina Ast innerhalb der Regelstudienzeit erfolgreich abgeschlossen. Danach arbeitete sie für zwei Jahre in einer PR-Agentur als Assistentin der Geschäftsführung, sowie für kurze Zeit als Teamassistentin in einem Internet-Start-up-Unternehmen, das innerhalb eines Jahres aufgrund mangelnder Liquidität aufgelöst wurde.

Daraufhin begann Ast ein Masterstudium in International Management und arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl eines ihrer Professoren. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie noch für diesen Studiengang immatrikuliert, hatte allerdings seit über einem Semester nicht mehr an Lehrveranstaltungen teilgenommen.

Wie viele andere Menschen auch, war ich über den bis dato beispiellosen Todesfall erschrocken.

Wer war diese Frau, die ihren Anblick scheinbar so sehr liebte, dass er sie letztlich das Leben gekostet hat? Was bringt einen Menschen dazu, sich immer wieder selbst fotografieren zu müssen? Welches unverzichtbare Vergnügen lag in dieser Tätigkeit?

Der Textteil dieses aktualisierten Bildbandes ist in zwei Teile gegliedert.

Der erste widmet sich den Schilderungen jener Menschen, die Janina Ast am besten kannten. Auf unserer Webseite finden Sie die Original-Videoaufnahmen der von mir durchgeführten Interviews.

Der zweite Teil besteht aus verbliebenen Mitschriften der Sitzungen mit Florian Kramer. Diesem zweiten Teil werde ich an gegebener Stelle noch ein paar Anmerkungen vorausschicken.

München, im September 2025

Margot Wilhelms

Paul Wachter liest das Vorwort dieses dicken Bandes mit solcher Neugier, als sei der Inhalt ihm gänzlich unbekannt. Dabei weiß er bereits alles, was Margot Wilhelms dort geschrieben hat. Nicht, weil sie jemals mit ihm über diese Arbeit gesprochen hätte, nachdem er nichts dazu beizusteuern wusste. Doch schließlich ist es ein recht allgemein gehaltenes Vorwort. Es holt die Menschen dort ab, wo sie sich bereits sicher fühlen. Er kannte nur noch nicht den genauen Wortlaut, in den es den Inhalt verpackt. Es hat ihn stets mit einer sonderbaren Zufriedenheit erfüllt, unterschiedliche Texte über dieselben Geschichten zu lesen. Meist handelt es sich um grausige, sensationelle Neuigkeiten, einen Mordfall oder einen spektakulären Banküberfall, denn über solche Geschehnisse schreiben gern die unterschiedlichsten Medien in ihren nuancenreichen Stilen journalistischer Berichterstattung und des sensationslüsternen Plauderns. Es bereitet ihm eine gewisse affirmative Freude, denselben ihm bekannten Inhalt in den Worten anderer aufs Neue zu erfahren. Manchmal enthält der eine oder andere Artikel nur eine winzige weitere Information. Paul Wachter betrachtet Geschichten gern aus allen Blickwinkeln. Nun hat er diesen dicken Bildband auf seinen alten Knien liegen, einen Bildband, der genau diesen Versuch unternimmt. Seine Finger ruhen auf Margots Ausführungen. Das Buch ist bereits vor dreiundzwanzig Jahren erschienen, aber aus irgendeinem Grund zögerte er damals, es sogleich zu lesen – als sei noch nicht die Zeit dafür. Und dann – wie es sich mit diesen Dingen häufig verhält – hatte er es für eine Weile in gewisser Weise vergessen. Es war ihm auf jene spezielle Weise entfallen, wie es manchmal bei einer noch zu tilgenden Schuld oder einem besonders anstrengenden, jedoch nicht zwingend notwendigen Vorhaben der Fall ist. Indem Wachter es unterließ, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, wusste er, dass noch etwas auf ihn wartete. Jetzt aber, das spürt er, muss er die Texte lesen, ehe er dazu nicht mehr in der Lage sein wird.

Paul Wachter ist einundneunzig Jahre alt, und die Vorstellung, dass jeder Moment sein letzter sein könnte, erfüllt ihn weder mit Schrecken noch mit Vorfreude auf eine Erlösung, von der er sich ohnehin nicht sicher ist, ob sie für ihn eintreten wird. Besonders religiös ist er nie gewesen, das hat sich auch im Alter nicht geändert, und eine Erlösung vom irdischen Leben hat er sich auch nie ersehnt. Zwar hat er Schmerzen, aber er lebt gern. Und sie halten sich noch im Rahmen und erinnern ihn daran, dass er gern lebt. Als die Ärzte ihm mitteilten, wie stark erhöht seine BNP-Werte mittlerweile seien und dass sein Herz langsam seines Dienstes müde werde, verspürte er vor allem eine Dankbarkeit dafür, dass er von schlimmeren Schrecken des Alters bislang verschont worden war und sich nun allein mit dem Unvermeidlichen konfrontiert sah: nämlich, dass auch das Altern einmal zu Ende geht … Dennoch wartet er auf die Ungläubigkeit, die Panik, die Angst – alles Regungen, von denen er meint, sie natürlicherweise verspüren zu müssen. Doch bislang fühlt er sich ruhig und gewiss. Vielleicht muss er den Tatsachen, dem schwindenden Ich, erst in die Augen sehen, ehe er sie fürchten kann.

Die Krankenschwester kommt herein. Er weiß ihren Namen nicht mehr, aber der erscheint ihm auch unwichtig. Es gibt niemanden, dem er noch von seinem Leben erzählt, niemanden, für den er diesen Namen gebrauchen könnte. Er wird sie nicht ansprechen. Sie sind einander alle ähnlich: jung (für ihn sind sie wahrlich alle jung), voller Energie und Tatendrang, bewegt von der schimmernden Freude, dass jeder Tag eine neue Chance biete. Für seine Beziehung zu einem Menschen benötigt Wachter mittlerweile nur noch die ihr innewohnende charakteristische Vertrautheit, die er mit einer Person verbindet. Das genügt. Er ist dankbar, dass ein Mensch sich noch um ihn kümmert. Er weiß von Wohnheimen, wo sie mittlerweile Roboter einsetzen. Da muss man sich natürlich den Namen merken. Sonst kommen sie auf Zuruf nicht, nur bei der Notfall-Taste oder bei »Alarm!«. Ihm graust es bei der Vorstellung, wie man dort liegt, einen Herzinfarkt erleidet und der Roboter zuerst schnell angesaust kommt, dann stehen bleibt, regungslos, ohne Mitgefühl, und deinen Körper nach seinem akuten Mangel scannt. Im Glücksfall stellt der Computer im Nu die richtige Diagnose und weiß sofort die erforderliche Hilfe. Hat man aber Pech, gibt es keine Hilfe mehr und man verstirbt allein, einzig mit einer androiden Box aus Blech als Zeugen, die das ganze Elend auch noch filmt.

Die namenlose, aber wegen ihres Mensch-Seins sehr geschätzte Krankenschwester bringt ihm also auf einem Tablett sein Abendessen. Oder ist es das Mittagessen? Er betätigt eine Taste an seinem Bett, sodass die Rollladen hochfahren. Dann fällt ihm ein, dass die bloße Tatsache, dass die Rollladen noch unten sind, wohl anzeigt, dass es noch Morgen ist. Der Tag beginnt. Ist er mit dem Bildband in den Händen eingeschlafen? Gestern ist er endlich angekommen. Eine der wenigen Print-Ausgaben.

»Der Bella-Jolie-Band?« Die Schwester stellt sein Frühstückstablett neben ihm ab und schaut interessiert auf das wuchtige Objekt in seinem Schoß. »Meine Tante hat sich lange Zeit mit dem Fall beschäftigt. Meine Cousine hatte vor einigen Jahren einen schlimmen allergischen Schock. Wenn sie nicht Sekunden zuvor ein Foto von sich gepostet hätte, auf dem die ersten Symptome schon sichtbar waren, wäre vielleicht jede Hilfe zu spät gekommen! Davor hat meine Tante immer geschimpft, das gab ständig ein Riesentheater. Dass meine Cousine nicht so weitermachen könne mit den ganzen Fotos, sonst werde sie noch eine Bella Jolie

Die Schwester lacht amüsiert, hört aber schlagartig auf, als sie sieht, dass Wachter dies ganz und gar nicht witzig findet.

»Verzeihung«, murmelt sie rasch. »Gab es in Ihrer Familie … Ich meine, es geht mich nichts an, ich wollte nur nicht –«

»Nein«, entgegnet Wachter trocken. »Bei uns gab es nur die herkömmlichen Abhängigkeiten. Alkohol, Liebe …«

Sie lacht etwas nervös, denn sie ist sich nicht sicher, ob er lustig sein will. »Wissen Sie, ich dachte nur, wegen Ihrer Angewohnheit. Dann wäre es natürlich selbstverständlich, wenn Sie, nun, etwas empfindlich, also … Wie geht es uns denn heute?«, wechselt sie eilig das Thema.

»Mir geht es gut«, erwidert Wachter. »Wie es Ihnen geht, weiß ich nicht.«

Die Krankenschwester sagt nicht mehr viel, nur noch, dass sie nachher die neuen Tabletten bringe, dass sie vor dem Abendessen einen Spielfilm im Gemeinschaftsraum zeigen werden, dass sie gerne seine VR-Brille noch putzen und ihn nachher abholen werde. Er versteht den Sinn dieses Gemeinschaftsraums bei einer immersiven Filmvorführung nicht, doch angeblich soll es sehr wohl einen Unterschied machen, ob ein Film im tatsächlichen Raum gemeinsam erlebt wird oder nicht; das weiß er, sie haben es ihm erklärt, es leuchtet ihm aber nicht ein.

Als die Schwester fort ist, fühlt Wachter sich ein wenig mies. Ihn beschleicht das unangenehme Gefühl, möglicherweise unfreundlich gewesen zu sein. Die Unfreundlichkeit entwischt seinen Lippen manchmal wie ein etwas muffliger Atem, der sich aufgestaut hat und, auf seinen Auftritt lauernd, an seinen Gaumen geklammert hält, um dann, kaum dass Wachter zu einem der wenigen Momente, an denen er mit jemandem spricht, den Mund öffnet, ihm ungezügelt aus der Klappe zu entwischen.

Im nächsten Augenblick hat er diese Sorge vergessen. Er schlägt den Bildband auf. Neben Fotos (vielen Fotos von Bella Jolie, absurd vielen Fotos) und Abschriften von Interviews enthält er Links mit Passwörtern, unter denen er sich Ton- und Bildaufnahmen ebendieser Gespräche in einem Internetportal ansehen kann. Doch bevor er sich anschaut, wie ihre Weggefährten Bella Jolie erlebt haben und was ihre Störung nach Ansicht dieser ihm Fremden ausgemacht hat, möchte er sich seine eigene, erste und einzige Begegnung mit ihr ins Gedächtnis zurückrufen. Einzelne dieser Bilder sind über die Jahre immer wieder in seinem Gedächtnis aufgeflackert, mal sind sie diffus bedrohlich und nahezu formlos, mal einschneidend wie Schnappschüsse, die sich wie von selbst brutal, gleich einer aufgezwungenen Diashow, vor sein inneres Auge rammen. Jetzt will er diese Tür zu seiner Erinnerung ein Stück weit öffnen. Kein anderer Eindruck soll diesen seinen eigenen überschreiben dürfen.

Der Vermieter

Paul.

In sich zusammengesunken, lehnt die junge Frau auf dem Dielenboden an der Wand, wie ein dünnes Stück Stoff, das eine Weile im Wind getanzt und sich nun endgültig hinabgesenkt hat. Wie eine Marionette, der mitten im Spiel die Fäden abgeschnitten worden sind. Kein Leben pulsiert mehr in ihr. Kein Zittern. Kein Hauch von einer Haltung. Das Haar ist vor ihr Gesicht gefallen wie ein Vorhang. Es ist honigblond, goldbraun. Strähnig und fettig hängt es von ihrem Kopf herunter. Schuppen haben sich in ihm eingenistet. Er weiß, dass sie schön ist, bevor er ihr Gesicht zu sehen bekommt. Beinahe ist es so, als könne er es ihrem Kopf ansehen. Oder den blassen Armen, die leblos von den Schultern hängen. Die fragilen Finger, von denen manche noch sanft das Gerät berühren, das sie in der Hand hält. Es ist kein Revolver. Es ist dasselbe Gerät, das auch er vorm Schlafengehen zu Rate zieht. Und auch jeden Morgen, um das Wetter zu erfahren, und die Nachrichten aus der Nacht. Der Körper, der das Handy im Schoß fürsorglich umschließt wie eine Mutter ihr Kind, ist spindeldürr. Nichts hält ihn mehr.

So erinnert er sich an das erste Mal, als er sie sah. Es war das beste und somit für ihn das originäre Bild ihrer Statur und ihres Gesichtes. Mit den vielen publik gemachten Selbstfotografien von ihr konnte er nichts anfangen. Die abertausenden öffentlichen Fotos. Und die wenigen – aber dafür sehr bekannten –, welche die Medien immer wieder zeigen würden. Auf Titelbildern ihrer Blätter. Als Bilder ihrer Blogbeiträge. Als Illustration eines Artikels in einem Schulbuch. Die junge Frau und ihr forschender, fragender Blick in die Kamera, die zu ihrem täglichen Spiegel geworden war. Warum sie genau diese drei, vier bekannten Fotos immer wieder wählten, war ihm unklar. Es waren Fotos, auf denen sie lächelte. Dabei tat sie das auf den meisten Porträts nicht. Jedes Kind hätte sie auf einem dieser Fotos erkannt, aber auf anderen wäre sie im ersten Moment eine völlig Fremde geblieben. Nur ein anderer von viel zu vielen Menschen. Auf den bekannten Bildern ist sie Bella Jolie, die Bella Jolie. Die Menschen mögen wohl Wiederholungen. Sie mögen das Wiedererkennen. Es gibt ihnen das Gefühl, über ein Wissen der Abläufe zu verfügen. Dieses Wissen lässt sie glauben, sie hätten der Nichtplanbarkeit des Lebens etwas Unumstößliches entgegenzusetzen. Als könnten sie nicht so schnell überrascht werden. Natürlich ist so ein Foto in der Illustrierten keine Wissenschaft. Aber zweifelsohne versuchen sie es zu einer zu machen. Es gibt in dieser medial überfluteten Welt irgendwo noch ein Gespür für eine gemeinsame Heimat im Vertrauten, auch wenn sie aus denselben Posen und Possen besteht. Also immer wieder dieselben Bilder der Bella Jolie.