Fürstenkrone – Jubiläumsbox 8 – E-Book: 43 - 48

Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 8–

E-Book: 43 - 48

Gisela Heimburg
Beate Helm
Jutta von Kampen
Mira von Freienwald
Alice Sieber
Melanie Rhoden

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-258-9

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Die einsame Schlossherrin

Als llke ein aufregendes Geheimnis entdeckte

Roman von Gisela Heimburg

Leer ist das Schloß, gespenstisch leer, dachte Ilke, während sie die steinernen Stufen ins Kellergewölbe hinabstieg. Sie hielt einen fünfarmigen Kerzenleuchter in der Hand, und die Flammen warfen ihr Schattenbild bizarr an die Wand. Dieser Schatten war der einzige Gefährte der jungen Schloßherrin.

Von fern hörte sie das Rauschen des Windes in den alten Park- und Waldbäumen – das einzige Geräusch ringsum.

Ilke von Süderhoff war allein, wie so oft, und manchmal hatte sie das Gefühl, als bestehe ihre Ehe nur noch auf dem Papier. Georg ging seine eigenen Wege. Heute war er ausgeritten, ohne ihr zu sagen, wohin.

Aus Verzweiflung hatte Ilke beschlossen, allein ein Glas Wein zu trinken, oder auch zwei, es sich behaglich zu machen – trotz allem.

Sie erreichte den Weinkeller. Ihr Gesicht schimmerte im Kerzenlicht weich und gelöst.

Während Ilke gedankenversunken an den Regalen entlangging, in denen unzählige Flaschen lagerten, bemerkte sie plötzlich, daß die Kerzenflammen aus unerklärlichem Grund heftig flackerten. Zugluft? Woher kam sie? Die Kellerfenster waren verschlossen.

Jetzt brannten die Lichter wieder völlig ruhig.

Ilke ging ein paar Schritte zurück – da! Die Flammen wurden zur Seite gebogen und erloschen fast, als die Schloßherrin sie näher ans Regal hielt.

Jetzt spürte sie die Zugluft sogar schon auf den Wangen. Hatten die meterdicken Mauern einen Spalt? Das Schloß, obwohl über vierhundert Jahre alt, zeigte noch keine Spuren von Verfall, wirkte wuchtig und uneinnehmbar wie am ersten Tag.

Besorgt tastete Ilke hinter das Regal, das wohl auch schon so alt wie das Schloß sein mochte. Das Holz machte einen eisenharten Eindruck.

Ihre Finger fuhren an einem der senkrechten Balken entlang und stießen gegen etwas Metallisches. Im gleichen Moment bemerkte die Schloßherrin, daß sich ein etwa meterbreiter Teil der Regalwand verschob. Sie stieß unwillkürlich dagegen.

Knarrend und ächzend öffnete sich die Holzkonstruktion, und eine schmale schwarze Öffnung kam zum Vorschein.

Ein Geheimgang!

Ilkes Herz begann aufgeregt zu flattern.

Sie umspannte den Leuchter fester und trat dicht an die Öffnung. Kühle Luft wehte ihr entgegen. Im flackernden Kerzenschein sah die junge Schloßherrin, daß eine schmale, sehr steile Treppe nach unten führte.

Aufgeregt, von einer kaum bezähmbaren Neugier geplagt, stieg Ilke die ersten Stufen hinab. Ein halb unheimliches, halb erregend gruseliges Gefühl überlief sie.

Da hörte sie hinter sich Knirschen und Knarren. Erschrocken blickte sie über die Schulter und sah, daß das Regal langsam zuschwang.

Eine Sekunde lang stand Ilke wie erstarrt. Dann drehte sie sich um und hetzte die Stufen wieder hinauf.

Zu spät! Die Geheimtür fiel mit einem Klacken zu.

Nervös tastete die Schloßherrin nach einer Innenklinke. Nichts! Sie leuchtete die Tür ab, sah aber nur festgefügte Holzbohlen, keinen Schlüssel, keinen Riegel, keinen Drücker.

Verzweifelt stemmte sie sich gegen das harte Holz, das nicht einen Millimeter nachgab. Ilke schrie auf. Ihre rechte Faust trommelte an die Tür, während sich die linke um den Leuchter krampfte.

All ihre Bemühungen waren vergeblich. Sie schrie laut um Hilfe, doch unvermittelt verstummte sie. Es war sinnlos. Die Aufwartefrau kam nur am Vormittag, ihre Haushälterin war verreist. Und Georg? Er war sicher noch nicht zurück, und wer weiß, wann er kommen würde!

Ilke fuhr heftig zusammen, als ein neuer Gedanke in ihr aufflammte. Ein panischer Gedanke! Würde man oben im Schloß ihre Schreie überhaupt hören? Diese dicken Mauern! Erstickten sie nicht jeden noch so gellenden Hilferuf?

Ilke spürte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief.

Sie trug ein Hauskleid aus sonnengelbem Samt mit großzügigem Dekolleté. Ein Kleid, um gemütlich am Kamin zu sitzen und ein Glas Wein zu genießen. Hier unten aber herrschte, obwohl im Park schon die Bäume blühten, eisige Kälte.

Fröstelnd zog Ilke das Kleid enger zusammen. Mit schreckgeweiteten Augen blickte sie in die Tiefe. Die Stufen verloren sich in der Finsternis.

Langsam setzte sich die Schloßherrin in Bewegung. Stufe für Stufe stieg sie abwärts, den Leuchter hoch erhoben.

Wohin mochte dieser Gang führen? Ins Freie? Ilke klammerte sich an diese Hoffnung. Sie ahnte nicht, daß sie einem Geheimnis auf der Spur war – einem seltsamen Geheimnis.

*

Georg von Süderhoff, Ilkes Ehemann, ritt mit hängenden Zügeln den Weg entlang, der sich unterhalb des Schlosses durch die weiten Wälder schlängelte.

Es war eine herrliche laue Mainacht. Die Sterne glänzten wie Diamanten, der Mond strahlte silberhell. Doch der Mann hatte keinen Blick für die erhabene Schönheit der Natur.

Plötzlich entdeckte er zu seiner Linken einen Schein. Er zog die Zügel straff und spähte in die Dunkelheit.

Zwischen den schwarzen Stämmen zuckte es rot.

Feuer!

Ein Waldbrand?

Georg von Süderhoff gab seinem Reittier die Sporen und sprengte quer durch den Wald auf das Feuer zu. Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn, als er feststellte, daß tatsächlich das Unterholz brannte. Im Schein der Flammen sah er eine dunkle Gestalt, die mit einem großen Tannenast auf das Feuer einschlug, um es zu ersticken.

Eine Frau – eine schwarzgekleidete Frau!

Schwarz war auch ihr langes, offen auf die Schultern hängendes Haar, das ihr Gesicht wie ein Schleier verbarg.

Georg sprang aus dem Sattel und schlang die Zügel um einen in gebührender Entfernung vom Brandherd stehenden Baum. Dann brach er einen tief herabhängenden Ast ab und jagte auf das Feuer zu.

Die Frau blickte kurz auf. Sie mochte Mitte oder Ende der Zwanzig sein. Sie hatte ein interessantes, ein apartes Gesicht. Der Blick ihrer dunklen Augen traf den Mann wie ein Dolchstoß.

Ohne ein Wort zu sagen, begann er ebenfalls, mit großer Verbissenheit auf die Flammen einzudreschen. Eine Feuerzunge nach der anderen erlosch.

Den Zweig noch immer wild schwingend, näherte sich Georg allmählich der jungen Frau. Bald kämpften sie Seite an Seite gegen den wütenden Brand.

Die ausstrahlende Hitze trieb dem Mann den Schweiß aus allen Poren. Er warf der Frau einen Seitenblick zu.

Ihr Gesicht glänzte im roten Widerschein der Flammen.

»Wir schaffen es!« keuchte er. »Nur nicht nachlassen!«

»Ein Glück, daß Sie gekommen sind!« stieß sie hervor und schwang ihre Feuerpatsche noch schneller, noch wilder.

Und sie gewannen den Kampf gegen die gierigen, züngelnden Flammen. Schließlich stoben nur noch Funken, und verkohlte Holzreste rauchten.

»So, wir können wohl erst einmal verschnaufen«, meinte Georg aufatmend.

Die Unbekannte schlug lässig auf die letzten zuckenden Feuerspitzen, dann ließ sie den angesengten Ast fallen.

Langsam wandte sie sich dem Mann zu, mit den Bewegungen einer trägen Katze.

Georg registrierte, daß sie einen schwarzen Rollkragenpullover, eng anliegende Hosen und Lackstiefel trug.

Sie hob die Arme, legte sie mit einer geschmeidigen Bewegung um den Nacken des Mannes und küßte ihn. Küßte ihn mit so verzehrender Leidenschaft und Süße, daß Georg augenblicklich alle Anstrengungen und seine Erschöpfung vergaß. Sein Herz erzitterte, und sein Puls flog fiebrig.

Doch als er die Arme um den Rücken der Unbekannten legen wollte, wich sie zurück.

»Danke«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Wenn Sie nicht gekommen wären, ich allein hätte es nie und nimmer geschafft.«

Georg räusperte sich verwirrt. »Wie konnte es denn passieren?«

»Ich hatte ein Lagerfeuer angezündet und bin dann in die Jagdhütte gegangen.« Sie deutete über die Lichtung. Georg erkannte die Umrisse eines kleinen Hauses, über dem sich Tannenwipfel bizarr gegen den mondhellen Himmel abzeichneten.

»Kommen Sie«, lockte die Frau. »Dort ist ein Bach, an dem wir uns waschen können.«

Sie faßte nach seiner Hand und zog ihn über die vom Mondschein gespenstisch erleuchtete Lichtung. Der Druck ihrer Finger wirkte prickelnd und erregend. Georg fühlte sich benommen.

Er hörte das Murmeln eines Baches und erblickte den schmalen Lauf, der über Felsgestein sprudelte. Die Schaumkronen zersplitterten wie pures Silber.

Die Unbekannte beugte sich nieder, schöpfte Wasser mit den hohlen Händen und wusch ihr Gesicht. Georg ging neben ihr in die Knie und tat das gleiche. Das eisige Wasser kühlte angenehm seine brennende Haut.

Die Frau richtete sich wieder auf und fuhr mit allen zehn Fingern ordnend durch ihre Haarmähne, strich sie zurück und schüttelte den Kopf wie ein wildes Pferd. Sie hatte ihr Gesicht dem Mond zugewandt und wirkte in dieser bleichen Beleuchtung noch hexenhafter als vor dem Feuer.

Sie lächelte undurchsichtig. »Wie darf ich mich bei meinem Retter bedanken?«

»Nun, Sie haben es ja schon getan«, erwiderte Georg mit trockenem Mund.

»Der eine Kuß? Sind Sie immer so bescheiden? Kommen Sie in meine Hütte.«

Wieder ergriff sie seine Hand und zog ihn die wenigen Schritte zu dem Holzhäuschen, dessen Fenster anheimelnd schimmerten.

Als sie eintraten, erblickte Georg einen sehr behaglich eingerichteten Raum. Kostbare kleine Wandteppiche hingen an den rohen Holzwänden. Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe.

»Auf die Errungenschaften der Zivilisation muß man hier leider verzichten«, hörte er die Schwarzhaarige sagen, während sie eine Whiskyflasche und zwei Gläser auf den Tisch stellte. »Aber gerade das einfache Leben inspiriert mich.«

»Gestatten Sie, daß ich mich zunächst einmal vorstelle«, entgegnete der Mann steif. »Mein Name ist von Süderhoff. Georg von Süderhoff.«

»Ich bin Lorissa Frey.«

»Angenehm.«

»Ach, wozu all diese steife Förmlichkeit, Herr von Süderhoff. – Setzen wir uns. Sie sind der Schloßherr von Sternhagen?«

»Schloßherr klingt etwas zu gewaltig. Wir wohnen eben auf Schloß Sternhagen.«

»Sie und Ihre Familie, nicht wahr?« forschte Lorissa Frey.

Wieder räusperte sich der Mann. »Meine Frau und ich, ja.«

Lorissa schenkte Whisky ein. Sie stützte den Kopf auf eine Hand, hob ihr Glas und sagte träge: »Also, auf das Wohl meines Retters.«

»Sie übertreiben. Nicht Retter, sondern Helfer.«

»Was hätte ich schwaches Weib wohl getan, wenn sich das Feuer ausgebreitet hätte, wenn ein richtiger Waldbrand entstanden wäre? Vielleicht wäre ich in den Flammen sogar umgekommen!«

»Das möchte ich bezweifeln. Sie haben lange Beine, auf denen Sie sicher recht gut laufen können.«

»Ah, so gefallen Sie mir schon besser, Georg. Gestatten Sie, daß ich Sie Georg nenne? Ich hasse all diese Förmlichkeiten.«

»Nennen Sie mich ruhig Georg, Lorissa.«

Über ihre Schulter hinweg erblickte er ein Gemälde auf einer Staffelei. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau am offenen Kamin – eine Frau, die unverkennbar Ähnlichkeit mit Lorissa Frey hatte. Ein Selbstporträt?

»Sie sind Malerin?«

»Ja, Malerin. Ich versuche wenigstens, eine zu sein. Mit diesem Bild kam ich nicht recht weiter. Vor allem nicht mit dem Feuer. Wir modernen Großstadtmenschen wissen ja gar nicht mehr, wie ein richtiges Feuer aussieht. Darum ging ich hinaus auf die Lichtung, suchte ein paar Zweige zusammen und machte ein Lagerfeuer. Ich studierte das Spiel der Flammen, dann lief ich hinein, um sie auf die Leinwand zu bannen. Als ich nach einiger Zeit wieder hinausging, brannten die Büsche. Das war ein Schreck, wie Sie sich sicher denken können, Georg.«

»Ein bißchen leichtsinnig von Ihnen. Aber Sie als moderner Großstadtmensch ahnten sicher nicht, wie gefährlich ein Feuer im Wald ist, zumal um diese Jahreszeit.«

»Nein, ich weiß nur, wie gefährlich das Feuer der Herzen ist.« Lorissa warf ihm unter halbgesenkten Lidern einen Blick zu, der sein Blut abermals in Wallung brachte.

Flüchtig dachte er an seine Frau, an Ilke, die geborene Gräfin von Sternhagen. Dieses kühle hoheitsvolle Geschöpf. Welch ein Gegensatz zu der dunklen geheimnisvollen ›Hexe‹, die vor ihm saß!

*

Ilke war die steile Treppe hinabgestiegen, zögernd zwar, und doch getrieben von der Hoffnung, einen Ausweg aus der Falle zu finden. Unvermittelt stand sie vor einer schmalen Tür, die durch mächtige Eisenbeschläge gesichert war. Die junge Schloßherrin rüttelte am Riegel, aber es gelang ihr nicht, das verrostete Eisen auch nur um einen Millimeter zu bewegen.

Verzweiflung und Angst griffen wie mit Spinnenfingern nach ihr. Die Kälte wurde immer unerträglicher. Am ganzen Körper zitternd, raffte Ilke den Ausschnitt des Kaminkleides eng um ihren Hals.

Immer wieder versuchte sie, den Riegel aufzustoßen – bis ihr eine Idee kam. Sie nahm die Kerzen aus dem schmiedeeisernen Leuchter, stellte sie vorsichtig auf den Boden und begann, mit dem schweren Stück Kunstschmiedearbeit den Riegel zu behämmern. Tatsächlich, er gab nach! Bei jedem Schlag ruckte er ein winziges Stückchen, und schließlich glitt er aus der Halterung. Die Tür sprang auf.

Ilke blickte in einen kleinen Raum. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz schlug dumpf. Der matte Schein der Kerzen reichte nicht aus, um Einzelheiten wahrzunehmen. Doch schon der erste flüchtige Eindruck sagte der jungen Frau, daß es sich nicht um ein feuchtes, modriges Kellergewölbe handelte, sondern um einen trockenen möblierten Raum.

Hastig steckte Ilka die Kerzen in den Leuchter zurück und betrat das geheime Zimmer. Alle Möbel und die Bilder an den Wänden waren von einer dicken Staubschicht bedeckt.

Die Blicke der jungen Frau irrten hin und her. Gab es einen zweiten Ausgang? Nein, offenbar nicht. Sie entdeckte lediglich einen steil in die Höhe führenden Schacht, wahrscheinlich einen Luftschacht. Doch er war viel zu schmal, um als Fluchtweg aus diesem schrecklichen Verlies zu dienen. Verzweifelt ließ sich Ilke in einen der zierlichen Sessel sinken. Staub wirbelte auf.

Ich muß mich gedulden, bis Georg zurückkommt, sagte sie sich immer wieder.

Doch Zweifel deprimierten sie. Das Schloß war groß, das Gewölbe tief, die Mauern für die Ewigkeit errichtet.

Würde Georg sie überhaupt vermissen? Sie besaßen getrennte Schlafzimmer.

Wenn er mich nicht hört, bin ich verloren! schoß es Ilke durch den Sinn.

Fröstelnd sprang sie auf. Hastig eilte sie an den Wänden entlang. Sie starrte auf die staubbedeckten Bilder, nahm schwache Umrisse wahr. Ein Frauenporträt. Ilke wischte mit der Hand über die Leinwand. Prachtvolle Farben kamen zum Vorschein. Klar leuchteten die feinen Gesichtszüge der jungen Frau, die auf die Leinwand gebannt worden war. Sie mochte Anfang Zwanzig sein, wie Ilke. Ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert. Kleidung und Haartracht wiesen auf das ausgehende achtzehnte Jahrhundert hin.

Am Rahmen war ein kleines Schild befestigt. Ilke wischte mit dem Zeigefinger den Staub ab und entzifferte die eingravierten altmodischen Buchstaben: Clodhilde, Herrin von Sternhagen.

Es durchfuhr Ilke heiß. Eine ihrer Vorfahrinnen! Doch nie zuvor hatte sie etwas von einer Clodhilde gehört oder gelesen, obwohl es eine alte Familienchronik im Hause gab.

Dicht daneben hing ein zweites Gemälde, von dem Ilke nun ebenfalls den Staub wischte. Dasselbe Gesicht kam zum Vorschein. Clodhildes Züge – unverkennbar. Doch sie glich einer wilden, bezaubernd schönen Zigeunerin. Statt der höfischen Kleidung trug sie eine weit dekolletierte Bluse, die ihre Schultern frei ließ, und einen blutroten wadenlangen Rock. Ihr Haar war nicht kunstvoll aufgetürmt, sondern hing offen und wirr herab. In ihren Ohrläppchen baumelten große gelbe Ringe.

Warum hatte Clodhilde Gräfin von Sternhagen sich als Zigneuerin porträtieren lassen? Hatte sie in dieser Aufmachung ein Maskenfest besucht? War dieses Gemälde eine Erinnerung an einen rauchenden Ball?

Auch an diesem Rahmen entdeckte Ilke ein Schildchen. Sie las: Ariane Stern, die Zigeunerin.

Ariane Stern? Nicht Gräfin von Sternhagen? Eine andere, eine Fremde?

Ilkes Blick ging von einem der Bilder zum anderen. Es war das gleiche Gesicht – unverkennbar! Eine Doppelgängerin?

Dieses Rätsel werde ich wohl nie lösen, dachte die junge Schloßherrin und zog frierend die Schultern zusammen. War es Zufall, daß diese beiden Gemälde im geheimen Gewölbe hingen?

Unter den Bildern stand eine Kommode. Ilke öffnete die obere Schublade. Einige bunte Tücher lagen darin, eine vertrocknete Rose unter einer Glasglocke und ein ledergebundenes Buch.

Sie schlug es auf. Das kostbare glatte Papier war vergilbt und von feinstichiger deutscher Schreibschrift bedeckt. Es kostete Ilke einige Mühe, diese ungewohnte Schrift zu entziffern, doch dann las sie sich fest. Ihre Wangen fingen an zu glühen. Sie las die Geschichte der unheimlichen Schloßherrin Clodhilde Gräfin von Sternhagen:

Clodhilde, geboren am 2. Oktober 1769, war nach dem Tod ihres Vaters Herrin auf Schloß Sternhagen.

Eines Tages lagerten Zigeuner im Tal unterhalb des Schlosses. Der Zufall wollte es, daß Gräfin Sternhagen bei einem ihrer Ausritte einem jungen Zigeuner begegnete, einem außergewöhnlich gut und interessant aussehenden Mann, der sie vom ersten Augenblick an verzauberte. In der folgenden Nacht beobachteten einige Schloßbewohner, daß die Herrin von Sternhagen das Schloß verließ, als Zigeunerin verkleidet, eine Tracht, die sie kürzlich bei einem Maskenfest getragen hatte. Noch befremdlicher war, daß sie sich heimlich durch einen Seitenausgang davonschlich. Einer ihrer Schwäger folgte ihr. Es gelang ihm, ihr unbemerkt auf den Fersen zu bleiben. Clodhilde eilte zum Lagerfeuer der Zigeuner. Dort stellte sie sich laut und unbefangen vor, jedoch nicht als Herrin von Sternhagen, sondern als Ariane Stern.

Sie bewegte sich inmitten der Zigeuner, als gehöre sie zur Sippe. Schließlich begann sie mit dem Burschen, den sie kennengelernt hatte, am Feuer zu tanzen, wild und voller Leidenschaft. War das noch die kühle Gräfin? Die Lady, die sich so vollendet zu beherrschen wußte?

Am nächsten Morgen erschien Clodhilde am Frühstückstisch, als sei nichts geschehen. Sie war wieder die kühle, überlegene Schloßherrin. Als ihr Schwager sie später zur Rede stellte, sah sie ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand. Sie leugnete, jemals im Lager der Zigeuner gewesen zu sein.

Ihr Schwager glaubte, daß ihr die ganze Angelegenheit peinlich sei – ein einmaliger Ausrutscher, den sie vertuschen wollte –, darum war er taktvoll genug, nicht weiter in sie zu dringen.

Doch mißtrauisch geworden, beobachtete er, daß sie in der folgenden Nacht das Schloß erneut verließ, wieder als romantische Zigeunerin, mit offen herabhängendem Haar, im roten Rock und einer unglaublich freizügigen Zigeunerbluse.

Ihrem Schwager war klar, daß sie ihren guten Ruf aufs Spiel setzte. Deshalb redete er am nächsten Tag sehr eindringlich mit ihr, versuchte ihr klarzumachen, daß ihr Verhalten unmöglich sei. Clodhilde jedoch erklärte ihn für verrückt. Sie lachte ihn aus, er leide wohl an Halluzinationen!

Endlich begriff der Mann: Die Gräfin erinnerte sich tatsächlich nicht an ihr Nachtleben.

War sie wahnsinnig?

Sie lebte offenbar zwei verschiedene Frauenleben. So wenig wie sie am Tage etwas von der Zigeunerin ›Ariane Stern‹ wußte, so wenig ahnte sie nachts, wenn sie ans Lagerfeuer der Zigeuner eilte, daß sie die Schloßherrin Clodhilde war.

Ratlos beobachteten die Schloßbewohner das Doppelleben der Gräfin. Was tun? Gab es eine Möglichkeit, Clodhilde von ihrem schrecklichen Wahn zu heilen?

Das Schicksal selbst löste die Knoten dieses Problems.

Als die Zigeuner eines Tages weiterzogen, blieb ›Ariane Stern‹ bei ihnen. Sie kehrte nie mehr ins Schloß zurück. Sie hatte ein für allemal vergessen, daß sie in Wirklichkeit Clodhilde Gräfin Sternhagen war. Sie blieb bis ans Ende ihrer Tage bei den Zigeunern, gebar mehrere Kinder, nachdem sie ihren jungen Geliebten auf Zigeunerart geheiratet hatte. Sie starb im hohen Alter – beliebt und verehrt von der ganzen Sippe.

Ihre Verwandten aber unternahmen alles, um das Schicksal der unglückseligen Schloßherrin zu vertuschen. Niemand sollte von der Schande, die das Geschlecht derer von Sternhagen getroffen hatte, erfahren!

Lediglich ein junger Mann – ein entfernter Verwandter der Gräfin, der sie hoffnungslos geliebt hatte – hielt das Andenken der vermeintlich so unglücklichen Schloßherrin in Ehren und malte zwei Bilder von ihr: ›Clodhilde, Herrin von Sternhagen‹, und ›Ariane Stern, die Zigeunerin‹. Er war es auch, der diese Chronik verfaßt hatte.

Ilke ließ das Buch, das ihr jenes rätselhafte Frauenschicksal offenbart hatte, in den Schoß sinken. Wie gebannt starrte sie zu den beiden Gemälden empor.

Ariane, sie war bei den Zigeunern geblieben, hatte auf das Schloß und das Leben im Luxus verzichtet. War mit Pferd und Wagen über die Landstraßen gezogen, um ein freies Leben zu führen und den Mann lieben zu dürfen, den ihr die Moral jener Zeit nie gestattet hätte, wenn sie Herrin auf Sternhagen geblieben wäre.

Nun war es Ilke klar, warum man alles, was an Clodhilde erinnerte, in dieses unterirdische Zimmer verbannt hatte. Clodhilde – der dunkle Punkt der Familiengeschichte, den es auszumerzen galt. Über den man den Mantel des Schweigens gedeckt hatte – viele Generationen lang.

In diesem Moment erlosch die vorletzte Kerze im Leuchter.

Während des eifrigen Lesens hatte Ilke gar nicht bemerkt, daß bereits drei der Lichte niedergebrannt waren. Jetzt erst spürte sie auch wieder die beißende Kälte. Zitternd erhob sie sich und legte die Chronik in die Kommode zurück. Dann hastete sie, die letzte Kerze mit der hohlen Hand schützend, die schmale Stiege empor. Sie schlug ihre Faust an die Bohlen der Geheimtür, verursachte aber kaum ein Geräusch.

»Georg!« schrie sie. Und dann noch einmal, so laut sie konnte: »Georg! Hilfe! Hilf mir!«

Sie lauschte. Klangen draußen nicht Schritte auf?

Nein, es war nur das harte Klopfen ihres eigenen Herzens, das sie wahrnahm.

Da erlosch die letzte Kerze. Die völlige Dunkelheit, die Ilke plötzlich einhüllte, ließ sie unwillkürlich an ein Grab denken.

Sie schrie gellend, schwankte, versuchte sich an der Tür festzuklammern. Der schmiedeeiserne Leuchter polterte die Stufen hinab.

»Georg! Georg!« schrie die junge Schloßherrin ihre Qual hinaus. »Georg, hilf mir doch!«

*

Georg von Süderhoff lag auf dem fellbedeckten Bett, das in der spartanisch eingerichteten Jagdhütte stand. Halb über ihm kauerte Lorissa Frey.

Im Schein der Petroleumlampe war ihr Gesicht geheimnisvoll verschattet. Ihre feurigen Augen glänzten wie in mühsam unterdrücktem Triumph.

»Du bist wundervoll, Georg«, sagte sie mit ihrer Stimme, die an eine samtumhüllte Glocke erinnerte. »Einen Mann wie dich habe ich noch nie gekannt.«

Sie hob die Hand und versuchte seine Stirn zu glätten, die von tiefen Falten geprägt war.

»Liebster, schau nicht so finster. Hast du ein schlechtes Gewissen? Denkst du an deine Frau?«

Er räusperte sich und wollte sich aufrichten. Doch Lorissa drückte ihn mit dem Gewicht ihres Körpers zurück.

Mit einer nervösen Bewegung sah er auf seine Armbanduhr.

»Es ist nach Mitternacht. Meine Frau wird sich Sorgen machen.« Eine Blutwelle färbte sein Gesicht dunkelrot.

Lorissa lachte spöttisch auf. »Nun ist es sowieso zu spät!«

Georg schwieg und starrte an der schwarzhaarigen Frau vorbei in den Lichtkreis, den die Lampe an die Holzdecke zeichnete.

»Ich gehe jetzt«, sagte er schließlich und machte erneut den Versuch, aufzustehen.

»Bleib!« Lorissas Lippen suchten seinen Mund. »Bleib, das Feuer könnte noch einmal aufflackern.«

Er spürte, daß seine Handflächen heiß und feucht wurden. Sein Herz hämmerte dumpf. Er packte die Frau bei den Schultern.

Lorissa lachte gurrend. »Ich meine das Feuer draußen im Wald, das vielleicht noch schwelt!«

»Dann laß uns nachschauen.« Entschlossen schob er die junge Malerin beiseite und schwang sich vom fellbedeckten Lager. Bevor Lorissa ihn halten konnte, war er hinausgeeilt.

Der Mond stand bleich über der Lichtung. Von den verkohlten Baumresten kräuselten noch Rauchfähnchen in die windstille Luft. Aber Flammen waren nirgends mehr zu entdecken.

»Es wird nicht mehr brennen«, sagte Georg von Süderhoff. »Gute Nacht, Lorissa.«

Die Frau blieb an seiner Seite, als er der Stelle zustrebte, an der er sein Pferd festgebunden hatte. »Georg, was hat dieser schroffe und knappe Abschied zu bedeuten? Bitte, du mußt mir reinen Wein einschenken. Das erwarte ich von dir. Liebst du deine Frau? Liebst du sie sehr? War es nur ein Abenteuer mit mir, ein Abenteuer, in das du hineingeschlittert bist? Habe ich dich verführt?«

Georg blieb stehen. Er versuchte in ihren Zügen zu lesen, doch sie befanden sich bereits im Schatten der Bäume, und nur ein matter Mondstrahl, der durch das Gezweig brach, verirrte sich auf Lorissas Gesicht, dieses plötzlich so ernste, angespannte Gesicht, das wie ein Schemen in der Dunkelheit verschwamm.

»Lieben?« wiederholte Georg dumpf. »Nein, ich liebe meine Frau nicht. Wir leben nebeneinander her. Wir haben uns kaum etwas zu sagen.«

»Deine Frau versteht dich also nicht?«

Er seufzte. »Es klingt abgegriffen, aber es ist so. Wir sind einfach zu verschieden. Sie liebt zum Beispiel klassische Musik und kann ihr stundenlang zuhören. Ich mag lieber Jazz. Aber immerhin – sie ist meine Frau.«

Georg setzte sich wieder in Bewegung und erreichte den Rapphengst, der in der Finsternis unter den Bäumen fast unsichtbar war, seinen Herrn aber mit einem freudigen Wiehern begrüßte.

Georg wollte sich in den Sattel schwingen.

»Gibt es zum Abschied nicht wenigstens noch einen Kuß?« hörte er Lorissa fragen. Wehmut schwang in ihrer faszinierenden Stimme mit.

Georg verlor die Beherrschung, die er sich während der letzten Minuten so mühsam aufgezwungen hatte. Er riß die Frau in die Arme und küßte sie wie ein Verdurstender.

Lorissa seufzte tief, als er sich von ihr löste.

Georg stieg aufs Pferd, so überhastet, als fürchte er, erneut der Verzauberung zu erliegen.

»Ich bin in der Hütte«, sagte Lorissa heiser. »Morgen, übermorgen, wann du willst. Ein Bekannter hat mir das Häuschen zur Verfügung gestellt, und ich kann es benutzen, so lange ich will.«

Georg von Süderhoff antwortete nicht. Er gab dem Rappen die Sporen und ritt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Der Hengst fand sicher den Weg.

Bald lag das Schloß vor dem einsamen Reiter, vom Mond und von den Sternen märchenhaft überstrahlt. Die Silhouette des Gebäudes wirkte wie ein romantischer Scherenschnitt.

Die Lampe über dem Hauptportal brannte nicht so wie sonst, wenn Georg spät abends nach Hause zurückkehrte. Wartete Ilke nicht auf ihn? Erleichtert atmete der Mann auf.

Er betrat das Schloß und stellte fest, daß im Kaminzimmer noch Licht brannte. Ilke aber entdeckte er nicht. Wahrscheinlich schlief sie schon.

Als er die Treppe hinaufsteigen wollte, hörte der Mann ein merkwürdiges Geräusch.

Einen Schrei! Einen dumpfen, fernen Schrei!

Er lauschte und schüttelte energisch den Kopf. Hatte er sich getäuscht? War es das eigene Gewissen, das in ihm schrie?

Er spürte, daß ihm das Blut in den Kopf stieg. Lorissa… Ihre Küsse, ihre Umarmungen… ihre heiser geflüsterten Liebesworte…

Ich bin in der Hütte, hatte sie zum Abschied gesagt, morgen, übermorgen…

Schon jetzt spürte Georg das verzehrende Feuer des Verlangens, die unbezähmbare Sehnsucht nach der leidenschaftlichen Schwarzhaarigen, die er vor wenigen Stunden noch nicht gekannt hatte. Und doch fürchtete er sich vor einer erneuten Begegnung. Wenn Ilke davon erführe… sie würde ihm nicht verzeihen. Trennung wäre die unausbleibliche Schlußfolgerung, die seine Frau ziehen würde. Das aber durfte nicht sein! Die Trennung von Ilke mußte er vermeiden – um jeden Preis!

Da, erneut schrie jemand! War es nicht sein Name, der durch die Stille gellte?

Georg hastete zum Schlafzimmer seiner Frau, klopfte kurz, schaute hinein. Das Bett war unberührt. Der Mann hetzte die Treppe hinab. Der Schrei kam von unten. Die Tür zum Kellergewölbe stand halb offen. Auf der Treppe brannte das elektrische Licht.

»Ilke?«

»Georg, hilf mir doch!« schallte es dumpf zurück.

Georg blickte in den Weinkeller, der im Dunklen lag. »Ilke, bist du hier?«

»Ja, Georg, hier bin ich, hinter der Geheimtür!«

»Was sagst du da von einer Geheimtür?«

Mit bebender, halb erstickter Stimme erklärte seine Frau ihm, wie der Mechanismus zu betätigen sei. Nach einigen vergeblichen Versuchen schwang die Regalwand auf.

Ilke taumelte aus dem Dunkel, völlig erschöpft, totenbleich. Georg fing sie auf. Sie klammerte sich an ihm fest und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Gott sei Dank, daß du mich gehört hast, Georg. Ich dachte schon, ich müßte dort unten… ich käme nie mehr heraus!«

Sie schluchzte verzweifelt auf.

»Nun ist ja alles gut, Liebes.« Georg tätschelte ihren Rücken. »Aber wie bist du da hineingeraten?«

Ilke erklärte es ihm.

»Du bist ja eiskalt«, stellte Georg fest. »Am besten, du nimmst sofort ein heißes Bad, um wieder zu dir zu kommen.«

Er stürmte mit seiner leichten Last die Treppen hinauf.

Ilke, die sich noch immer wie ein verängstigtes Kind an ihm festkrallte, fühlte eine grenzenlose Erleichterung. Nach den Stunden der Anspannung überfiel sie jäh eine Erschlaffung, die so intensiv war, daß sie ihren Körper kaum noch spürte. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte kaum noch auf Hilfe gehofft – und nun war sie geborgen.

Georg bereitete ihr ein heißes Bad. Sie sank in die schaumigen Fluten und fühlte sich augenblicklich besser.

»Was hast du denn hinter der Geheimtür entdeckt?« erkundigte Georg sich beiläufig aus dem Nebenzimmer.

»Ach, nichts Besonderes.« Eine seltsame Scheu hielt Ilke davon ab, Georg von ihrer Vorfahrin, die sich in eine Zigeunerin verwandelt hatte, zu erzählen. Über Generationen hinweg war die Geschichte der unheimlichen Schloßherrin verborgen geblieben. Georg würde sicher nur Witze über Clodhilde Gräfin von Sternhagen reißen. Ilke vermied es sowieso tunlichst, darüber zu sprechen, daß sie eine geborene Gräfin von Sternhagen war. Georg, der nur von einfachem und verhältnismäßig spät erworbenem Adel war, hatte offenbar Komplexe ihr gegenüber, wenn sie zu Anfang ihrer Ehe auch mehrere Male versucht hatte, ihm klarzumachen, wie wenig ihr der angeborene Titel bedeute.

»Nichts Besonderes? Nur ein leerer Raum?« fragte Georg.

»Eine Art Rumpelkammer. Vielleicht auch ein Zimmer, in dem sich früher einmal jemand versteckt gehalten hat. Jedenfalls gibt es da unten nur ein paar alte Möbel und Bilder.«

Ilke nahm sich vor, die ledergebundene Chronik gelegentlich zu holen und in ihren Bücherschrank zu stellen. Dort war sie vor Georg sicher.

»Schade, daß du keine Truhe voller Goldmünzen oder Edelsteine entdeckt hast!« lachte ihr Mann im Nebenzimmer.

»Ja, schade«, erwiderte die junge Schloßherrin geistesabwesend. Jetzt, da sie der Gefahr entronnen war, ging ihr die Geschichte ihrer Vorfahrin nicht mehr aus dem Sinn. Wahrscheinlich hatte sich Clodhilde als Schloßherrin im Grunde ihres Herzens todunglücklich gefühlt, eingeengt von allen Zwängen der Etikette und Moral. Vielleicht war es ein Wahn gewesen, der sie getrieben hatte, sich in die Zigeunerin zu verwandeln. Doch wer konnte das nachprüfen? Vielleicht hatte sich Clodhilde auch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte dafür entschieden, ihr Leben als Zigeunerin zu verbringen…

»He, Ilke, schlaf nicht ein!« mahnte Georg durch die halboffene Tür.

»Ich steige jetzt aus der Wanne. Danke für alles, Georg.«

»Du brauchst nichts mehr?«

Nur deine Zärtlichkeit, hätte sie beinahe erwidert, doch sie sagte: »Nein, danke. Gute Nacht, Georg.«

»Gute Nacht.«

Sie beendete ihre Toilette und begab sich zu Bett. Schon bald sank sie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Gegen Morgen aber, als sie sich unruhig hin und her zu werfen begann, geisterte Ariane Stern, die Zigeunerin, durch ihre wirren Träume…

*

Die folgenden vierzehn Tage unterschieden sich kaum von dem Leben, das Ilke in den Jahren ihres Verheiratetseins geführt hatte. Sie beobachtete lediglich, daß Georg noch steifer, noch fremder wurde. Immer häufiger fuhr er zu den ungewöhnlichsten Zeiten in sein Münchener Büro, oder er kehrte gar nicht nach Hause zurück, sondern erschien erst nach Mitternacht, sehr wortkarg, sehr angespannt.

»Hast du Sorgen im Geschäft?« erkundigte sich Ilke schließlich. »Steht es schlecht um die Firma?«

»Aber ganz im Gegenteil!« antwortete er übereifrig. »Es gibt nur eine Menge Arbeit. Es ist doch sehr schön, daß unsere Firma so gut floriert, nicht wahr?«

Und wieder machte er sich auf den Weg. Ilke sah seinem Wagen nach, bis er in den Schatten des Waldes tauchte.

Georg von Süderhoff trat das Gaspedal tiefer. Erregung durchzitterte ihn. Seine Fäuste krampften sich um das Lenkrad. Nur noch wenige Minuten, dann hielt er sie wieder in den Armen! Lorissa!

Schon am Tag nach dem Waldbrand hatte er sie erneut in der Hütte aufgesucht – trotz aller Bedenken, gegen die Stimme seiner Vernunft, getrieben von einem inneren Fieber.

Der Mann schlug das Steuer nach links und bog in einen Waldweg ein. Tief herabhängende Zweige streiften das Autodach. Dies war der Weg, der ihn zu ihr führte, zu der Geliebten seiner Träume.

Jetzt tauchte die Lichtung auf. Die verkohlten Bäume wirkten gespenstisch. Georg stoppte seinen schlingernden Wagen und sprang heraus. Schon stand sie in der Tür des rustikalen Jagdhauses – Lorissa!

Die junge Malerin war schwarz gekleidet, wie immer. Ihre feuchtschimmernden Lippen lockten und hatten sich wie in wilder Sehnsucht ein wenig geöffnet. Sie hob die Arme, lächelte undurchsichtig und zog den Mann an sich. Diesen willenlosen Mann, der ihr und ihren Zärtlichkeiten hilflos ausgeliefert war.

Lorissa zog ihn ins Innere des Holzhäuschens. Auf dem Tisch stand eine tropfnasse Whiskyflasche.

»Ich habe sie im Bach gekühlt, extra für dich, Liebster.«

»Wie aufmerksam du bist, Lorissa.« Georg wühlte seinen Mund in ihre nachtschwarze Haarfülle.

»Ach, Georg, daß wir uns die Stunden unseres Glücks stehlen müssen!« Sie seufzte und küßte ihn.

Dann schenkte sie ein und setzte sich an den Tisch, den Kopf in die rechte Hand gestützt – eine ihr eigene Geste von faszinierender träger Lässigkeit.

»Weißt du, Georg«, fuhr sie fort, »ich glaube, du bist der einzige Mann, der mich je wirklich geliebt hat.«

»Na, hör mal!« Er lachte verlegen.

»Ich meine es, wie ich es sage. Der erste Mann, der mich wirklich liebt und der mich ernst nimmt. Die Kreise, in denen ich verkehre – die sogenannten Künstlerkreise –, da ist alles nur Spiel, verstehst du? Auch die Liebe. Ich habe noch nie einen Mann wie dich gehabt, Georg. Noch nie!«

Sie sah ihm tief in die Augen, und Georg spürte, daß seine Pulse flatterten. Jedes Wort, das diese Frau sprach, war ein süßes Gift, das unter seine Haut drang.

»Und du bist die erste Frau, die ich wirklich liebe«, antwortete er mit rauher Stimme. »Jetzt erst weiß ich, was es heißt, zu lieben.«

»Danke, Georg.« Wieder seufzte sie schwer. »Wie schön könnte es mit uns beiden sein, wenn wir uns nach den gestohlenen Stunden nicht immer wieder trennen müßten! Georg, hast du nicht auch schon daran gedacht…«

»Doch.« Er schluckte erregt. »Ich habe daran gedacht.«

»Aber?«

»Ich bin verheiratet.«

»Es gibt die Scheidung!« Lorissa Frey sagte es sehr beiläufig, obwohl sie innerlich vibrierte.

»Ja, es gibt die Scheidung«, wiederholte er dumpf. »Aber so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst, ist das alles nicht.«

»Warum nicht?« begehrte sie auf. »Du bist doch unabhängig! Du bist auf andere nicht angewiesen. Wenn du meinst, daß eine Scheidung deinem guten Ruf nicht zuträglich ist, darauf kannst du doch pfeifen! Oder? Dein Besitz macht dich frei – so sehe ich es wenigstens!«

Georg senkte den Kopf. Tiefe Falten kerbten sich in seine Stirn und um seine Mundwinkel.

Lorissa beugte sich über den Tisch. Spontan umfaßte sie seine Hand. Er spürte ihre langen, farblos gelackten Fingernägel. »Georg, lege es bitte nicht als Neugierde aus. Du bist plötzlich so seltsam. Wem gehört das Schloß Sternhagen?«

»Meine Frau ist eine geborene Gräfin von Sternhagen«, antwortete er gepreßt.

»Deiner Frau also. Das habe ich nicht gewußt. Aber die Firma, deine Münchener Firma…«

»Gehört auch meiner Frau. Mein inzwischen verstorbener Schwiegervater hat die Firma seinerzeit aufgebaut. Ein Export-Import-Unternehmen.«

»Würde das also bedeuten, daß du im Falle einer Scheidung…« Die junge Malerin stockte.

Georg blickte ruckartig auf. Seine Fäuste spannten sich wie haltsuchend um die Tischkante. »Ja, es würde bedeuten, daß ich ein armer Hund wäre, wenn ich mich scheiden ließe. Würdest du mich dann auch noch lieben, Lorissa?«

Sie sprang auf, umarmte ihn von hinten und ließ die dunkle Haarflut über sein Gesicht gleiten. »Liebster, was redest du nur für einen Unsinn! Und wenn du ein Clochard unter den Brücken von Paris wärst, ich würde dich lieben – immer.«

Er lachte krampfhaft. »Ich sehe uns beide schon unter den Brücken. – Du darfst nicht glauben, daß ich meine Frau nur aus Berechnung geheiratet hätte. Damals glaubte ich, daß ich sie wirklich liebte. Heute sehe ich ein, daß es falsch war, in die Firma meines Schwiegervaters einzusteigen. Ich hätte mir ein eigenes Unternehmen aufbauen müssen. Und jetzt – jetzt fürchte ich, ist es fast schon zu spät, völlig neu anzufangen. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt.«

»Vergiß alles, Georg«, sagte Lorissa mit einem traurigen Lächeln. »Vergiß, daß ich je von Scheidung geredet habe. Nein, ich kann dir nicht zumuten, daß du wieder am Punkt Null stehst.«

»Vielleicht finde ich einen Ausweg«, murmelte der Mann. »Vielleicht sehe ich eine Chance.«

Lorissa küßte ihn, und während der nächsten halben Stunde vergaß Georg von Süderhoff alle Sorgen und Probleme. Hinter der Stirn der jungen Frau aber fieberte es, während sie Georg liebkoste und küßte.

Als sie gemeinsam eine Zigarette rauchten, begann sie nachdenklich: »Wenn deine Frau verunglückte…«

Georg wurde bleich und richtete sich auf. »Lorissa!«

»Ich meine ja nur«, lächelte sie matt. »Wenn deine Frau zufällig verunglückte, das wäre zum Beispiel eine Lösung.«

»Es gibt sicher auch andere!« stieß der Mann hervor. »Vielleicht sehe ich eines Tages eine geschäftliche Chance, mich doch noch selbständig zu machen!«

»Eines Tages«, wiederholte Lorissa mit müder Stimme.

Als sie sich an diesem Abend voneinander verabschiedeten, erklärte die Malerin: »Jetzt habe ich mehr als vierzehn Tage lang auf jeden Komfort verzichtet, mich im Bach gewaschen, nur bei Petroleumlicht gemalt und gelesen – ich möchte wieder in die Zivilisation zurückkehren.«

Georg erschrak. Er umklammerte ihre Schultern. Bedeuteten ihre Worte, daß er sie verloren hatte? Daß sie nicht länger bereit war, seine Geliebte zu sein, nun, da sie wußte, daß er sich nicht scheiden lassen wollte?

»Ich wohne in München«, fuhr sie fort. »Ich habe dort eine kleine Wohnung unter dem Dach. Du kannst mich besuchen kommen, so oft du willst. Niemand wird auf dich achten. Es wird noch einfacher sein als hier.«

»Lorissa, Liebste!« stammelte der Mann und riß sie in die Arme. Ihren geistesabwesenden Gesichtsausdruck, als er sie küßte, nahm Georg nicht wahr.

*

Wieder gingen vierzehn Tage dahin. Ilke von Süderhoff hatte sich schon fast daran gewöhnt, daß Georg jeden Abend erst zu später Stunde aus München zurückkehrte. Wichtige Geschäfte nahmen ihn, wie er erklärte, völlig in Anspruch.

An einem sonnigen Nachmittag schlenderte Ilke allein durch den Schloßpark. Sie war eine Blumennärrin. Alles, was im Park blühte, hatte sie eigenhändig gepflanzt, gehegt und gepflegt. Sie machte sich gerade daran, einige Madonnenlilien vom Unkraut zu befreien, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Die junge Schloßherrin blickte auf und erkannte einen jungen Mann, der einem Porsche entstieg.

»Nanu – Clemens!« rief sie verwundert.

Clemens Heubach, ein ehemaliger Schulfreund. Vor ungefähr fünf Jahren hatten sie gemeinsam das Abitur gemacht. Clemens, ihr erster heftiger Verehrer, dem sie jedoch einen Korb gegeben hatte.

Clemens wirkte völlig unbekümmert. Er schien vergessen zu haben, daß er damals nicht ans Ziel seiner Wünsche gelangt und darüber sehr wütend und verärgert war.

»Ilke, du bist ja noch tausendmal schöner geworden!« Seine grauen Augen blitzten, als er ihre ausgestreckte Hand ergriff.

»Clemens, wie geht es dir? Wo kommst du her? Was machst du?«

»Ich schwinge den Pinsel und den Zeichenstift. Du weißt, daß ich schon immer eine Vorliebe für das Bohemeleben hatte.