Die Klinik am See – 35 – Steh für deine Fehler ein, Andrea!

Die Klinik am See
– 35–

Steh für deine Fehler ein, Andrea!

Ein junges Mädchen geriet auf Abwege

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-453-8

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Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm in der Münchener Diskothek. Heiße Rhythmen dröhnten durch den Raum, bunte Lichter flackerten auf und verloschen wieder. Ein Disk­jockey stieß zum Takt der Musik schrille Schreie aus und heizte damit die sowieso schon entfesselte Stimmung weiter an.

Junge Paare hopsten herum, kaum einer war hier älter als zwanzig. Man war hier unter sich, genoß die Freiheit von der bürgerlichen Luft des Elternhauses, dessen Enge mehr und mehr als Last empfunden wurde. Die meisten der jungen Leute waren mit Freund oder Freundin erschienen. Wer derzeit gerade keinen Partner hatte, brauchte deswegen nicht traurig zu sein. Hier fanden sich problemlos Paare für einen Abend oder auch zwei. Kaum einmal dauerte solch eine Beziehung länger als einen Monat. Man fand sich und ging wieder auseinander.

Andrea Kollwig war eine der muntersten in dieser bunten Schar. Sie tanzte pausenlos und wechselte fast bei jeder neuen Platte den Tänzer.

»Hei, Puppe!« sagte der letzte von ihnen, ein schlaksiger Bursche mit einer rotgefärbten Hahnenkammfrisur. »Lauf nicht schon wieder weg. Ich finde dich nämlich irre gut.«

»Du gefällst mir auch«, erwiderte Andrea. »Aber nimm die Pfoten von meiner Schulter. Ich mag nicht, wenn man mich festhält.«

»Die große Freiheit, was?«

»Genau. Aber was verstehst du schon davon? Du hast ja nicht wie ich die große Unfreiheit kennengelernt.«

»Warst du im Knast?« fragte der Junge, und Hochachtung klang aus seiner Stimme.

»Nö, so weit habe ich es noch nicht gebracht«, lachte Andrea. »Aber ich war im Internat, wenn du weißt, was das ist. Es dürfte kaum besser als der Knast sein.«

»Ich lehne jede Form der Unfreiheit ab, ob das nun im Knast oder im Internat ist. Wir müssen uns mal darüber unterhalten. Übrigens, ich bin der Ulli.«

»Und ich heiße Andrea.«

»Mich triffst du tagsüber am Bahnhof«, erklärte er ihr. »Den genauen Standort mußt du suchen, ich pendele nämlich.«

»Ich weiß überhaupt nicht, ob ich dich treffen will«, sagte Andrea schnippisch.

»Klar willst du. Wir könnten gemeinsam eine ganz neue Wirklichkeit erfahren, die nichts zu tun hat mit deiner spießigen Herkunft.«

»Wie willst du wissen, woher ich komme?«

»Das sieht man dir doch an der Nasenspitze an. Bourgeoisie übelster Art. Ich wette, dein Alter ist stinkreich…«

Andrea wandte sich ab und hopste mit einem jungen Mann weiter, der gerade vorüberkam und der sich nicht schlecht wunderte. Doch sie hatte die Rechnung ohne Ulli gemacht. Im Nu stand er vor ihr und zog sie von ihrem neuen Partner weg.

»Hiergeblieben, Baby«, sagte er wütend.

»Ich bin nicht deine Puppe, und auch nicht dein Baby. Und mein Elternhaus geht dich nicht das Geringste an.«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Ulli. »Aber jetzt komm raus. Hier drin erstickt man ja. Du bist echt Klasse, ich möchte mich gern mit dir draußen unterhalten.«

Fast gegen ihren Willen folgte Andrea ihm nach draußen. In langen Zügen atmete sie die kalte Nachtluft tief ein.

»Hast recht«, sagte sie. »Die Luft war wirklich zum Schneiden. Und außerdem muß ich jetzt nach Haus, es ist schon spät.«

»Aha!« spottete er. »Ist das deine große Freiheit? Ich wette, daheim weint Mütterchen sich die Augen aus und Väterchen zieht stirnrunzelnd die goldene Sprungdeckeluhr aus der Tasche und stellte eine Verspätung von 1 Minute und 27 Sekunden fest.«

»Blödmann!« sagte Andrea wütend. »Niemand wartet auf mich, höchstens Frau Klar. Meine Eltern sind überhaupt nicht zu Haus.«

Sie hatte es kaum gesagt, als sie ihre Worte auch schon bereute, denn Ulli zeigte sich plötzlich sehr interessiert.

»Also sturmfreie Bude«, stellte er fest. »Das ist gerade das, was ich brauche. Kannst du mich nicht für eine Nacht unterbringen? Keller genügt, auch eine Gartenlaube wäre willkommen.«

»Geht nicht. Frau Klar paßt auf.«

»Wer ist Frau Klar?«

»Sie wohnt bei uns.«

In Wirklichkeit war Berta Klar seit langen Jahren Haushälterin und Köchin im Hause Kollwig. Doch Andrea sah ein, daß sie ihrem neuen Freund so etwas nicht sagen konnte. Er verdächtigte sie ja sowieso einer bürgerlichen Herkunft. Was würde er erst sagen, wenn sie sogar eine Haushälterin, eine Putzfrau und einen Gärtner daheim hatten?

»Wo wohnst du eigentlich?« fragte Ulli weiter.

»In Bogenhausen.«

»Hmm«, machte er nachdenklich. »Ganz hübsch weit.«

»Es geht. Wir sind in Schwabing. Wenn wir durch den Englischen Garten laufen, sind wir in vierzig Minuten da.«

›Wir‹, hatte sie gesagt. Ulli hörte es mit Befriedigung.

»Ich begleite dich natürlich«, sagte er schnell. »Du kannst nicht allein im Dunkeln durch den Englischen Garten gehen.«

»Ich könnte auch mit dem Taxi fahren oder mit einem Bus. Ich bin nicht auf deine Hilfe angewiesen.«

»Nun komm schon«, sagte er energisch. »Das Laufen wird uns guttun.«

Draußen in den Anlagen küßte er sie. Andrea hatte es erwartet, es war ihr nicht unangenehm. Trotz seines wilden Aussehens ging er sanft und zärtlich mit ihr um.

»Du bist eine Süße, Baby«, sagte er anerkennend.

»Ich bin keine Süße«, sagte sie wütend. »Ich heiße Andrea. Merk dir das endlich.«

»Wozu? Ich rede lieber alle Mädchen gleich an, dann gibt es keine Komplikationen bei den vielen Frauen, die mir begegnen.«

Als sie vor Andreas Elternhaus standen, einer großen Villa in einer ruhigen und vornehmen Straße in Bogenhausen, pfiff Ulli anerkennend vor sich hin.

»Ganz hübsch nobel, der Laden«, sagte er. »Wann kommen deine Eltern wieder?«

»In einer Viertelstunde oder höchstens in einer halben«, log Andrea. Sie wollte den neuen Freund schnellstens loswerden, doch dieser ließ sich nicht abschütteln.

»Ich werde im Keller schlafen«, erklärte er zu ihrer Überraschung.

»Nichts wirst du. Mein Vater holt sich immer eine Flasche Wein oder Bier aus dem Keller, wenn er heimkommt. Soll er dich dann finden?«

»Nimm mich mit in dein Zimmer, Baby. Ich werde mich auch ganz brav und still verhalten.«

»Spinnst du? Direkt neben meinem Zimmer schläft mein Bruder Benedikt. Nein, ich kann dich nicht mit ins Haus nehmen.«

»Der Garten ist so groß. Habt ihr keine Gartenlaube?«

»Doch«, sagte Andrea und zögerte. »Hinten an der Gartenmauer ist ein kleiner Geräteschuppen. Ob es sehr bequem ist, dort zu schlafen, weiß ich nicht. Jedenfalls hast du ein Dach über dem Kopf.«

»Bringst du mir morgen früh Frühstück ans Bett?« fragte Ulli. Er grinste dabei, aber das konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen.

»Hat der Herr sonst noch Wünsche? Du wirst ganz schnell verschwinden, sobald es hell wird«, antwortete Andrea wütend. »Im Schuppen liegt eine Leiter. Damit kannst du über die Mauer nach draußen klettern.«

Ulli sah ein, daß er heute nicht mehr erreichen konnte. Er küßte Andrea noch einmal zum Abschied sein Kuß fiel diesmal stürmischer als der erste aus – und verschwand in der Tiefe des Gartens.

Dieser Abend war der Anfang einer verhängnisvollen Beziehung, aber das wußte Andrea noch nicht.

*

Am anderen Morgen ging Andrea schon in aller Frühe in den Garten, sie hatte sich in der Küche ein paar Semmeln und eine Flasche Milch besorgt, doch Ulli war schon fort. Andrea atmete erleichtert auf. Sie wußte ja, wie kleinlich ihre Eltern waren. Kleinlich, das war das Wort, das sie immer wieder verwendete, wenn sie von ihrem Vater oder ihrer Mutter sprach. Sogar in Gedanken verwendete sie es oft. Andrea war aufsässig. Sie glaubte sich unverstanden von den Eltern, manchmal sogar unterdrückt und gegängelt. Sie hatte vor kurzem in einem guten Internat das Abitur gemacht und hatte damit, so meinte sie, das Recht darauf, sich erst einmal zu erholen. Ihr Vater, selbst ein bekannter Internist, wollte, daß sie Medizin studierte, damit sie später seine Klinik und seine Fachpraxis übernehmen könnte.

Andrea lachte nur über die Pläne ihres Vaters. Sie wollte nicht leben wie er. Sie sah ja, daß er kaum eine freie Minute hatte, daß er Tag und Nacht zu seinen Patienten gerufen wurde, und daß sich offenbar alle seine Gedanken und Gespräche um die Ereignisse in der Klinik drehten.

Sie bewarb sich um keinen Studienplatz, sie informierte sich auch nicht über andere Studiengänge. Sie bemühte sich nicht einmal um eine Lehrstelle. Sie tat nichts, ließ die Dinge treiben und lebte in den Tag hinein.

Dr. Kollwig war also im höchsten Maße besorgt über das Verhalten seiner Tochter. Er wußte allerdings noch nicht, daß sie ihre Abende in Discos zu verbringen pflegte. Vor allem ahnte er nichts von der zweifelhaften Bekanntschaft des gestrigen Abends.

Andrea war froh, daß Ulli auf und davongegangen war, denn sie fürchtete, daß er von Frau Klar entdeckt werden könnte. Die Reaktion ihres Vaters, falls er davon erfuhr, konnte sie sich ausmalen. Im Übrigen hatte ihr der neue Freund ausgezeichnet gefallen. Er war ein rechter Bürgerschreck, und das mochte sie an ihm. Irgendwann einmal sollte Vater ihn kennenlernen. Andrea sah jetzt schon das entsetzte Gesicht ihres Vaters vor sich. Nun, soweit war sie mit Ulli noch nicht.

Als erstes beschloß sie, Ulli auf dem Hauptbahnhof zu suchen. Damit er sich mit ihr nicht schämen mußte, zog sie ihre ältesten und zerschlissensten Jeans an und dazu nur ein knappes Brusttuch. Sie malte sich ein verwegenes Make-up ins Gesicht und verwühl­te sich ihre rotblonden Locken. Vorsichtshalber steckte sie einen Geldschein in die Hosentasche. Vielleicht würde sie mit Ulli essen gehen müssen, dann war es besser, etwas Geld bei sich zu haben.

Sie fand ihn am Ausgang zur Bayerstraße. Er hockte auf dem Boden und hatte eine Mütze vor sich liegen, in der ein paar Münzen lagen.

»Du bettelst?« fragte Andrea entsetzt.

»Wie du siehst. Laß mich allein, Puppe. Du beeinträchtigst mein Geschäft. Schließlich muß ich bis zum Mittag ein paar Weißwürste und eine Maß Bier zusammenhaben.«

»Komm schon, Ulli«, sagte sie. »Ich lade dich ein. Ich mag es nicht, wenn du dich hier vor den Leuten so… so… demütigst.«

»Quatsch!« entgegnete er. »Ich befreie diese Spießer von dem Geld, das sie sowieso nicht brauchen. Demütigen! Solch ein Wort gehört nicht zu meinem Wortschatz.«

»Willst du nun mit mir essen oder nicht?«

»Wenn du mich so eindringlich darum bittest, warum nicht?«

Ulli zählte die Münzen und verstaute sie sorgfältig in seiner Jackentasche. Dann führte er Andrea in ein ziemlich verwahrlostes Lokal in einer Seitenstraße.

»Es muß ja nicht gerade das Hilton sein«, erklärte er. Während Ulli mit großem Appetit seine Würste verschlang, kaute Andrea lustlos an einer trockenen Semmel. Sie schob dem Freund auch noch ihren Teller hin.

»Ich habe schon zu viel gefrühstückt«, sagte sie. »Du kannst meine Würste haben.«

Als er mit beiden Portionen fertig war, lehnte sich Ulli zufrieden auf seinem Stuhl zurück.

»Du bist seit Wochen die erste wahre Freundin!« beteuerte er. »Du bist sehr lieb. Ich glaube, unsere Beziehung wäre entwicklungsfähig.«

Andrea antwortete nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie Ulli sich diese Entwicklung vorstellte. Sie sollte es gleich erfahren.

»Dieser Dr. Kollwig, ist das dein Vater?« fragte er.

»Ja. Aber laß meinen Vater aus dem Spiel. Er ist ein Ausbeuter und Unterdrücker.«

»Ist er Arzt?«

»Ja. Bist du krank?«

»Quatsch. Er ist also Arzt und ist reich. Mädchen, ahnst du, welche Goldgrube er für uns sein kann?«

»Nein.«

»Nun, ein Arzt hat einen Rezeptblock oder mehrere. Er hat einen Schrank mit Medikamenten. Beides wird auf der Szene hervorragend gehandelt. Das Glück liegt für uns auf dem Schreibtisch deines Vaters. Du mußt nur zugreifen.«

»Du meinst…«

»Bist ein kluges Kind, Baby. Ja, ich meine. Wenn uns der Coup gelungen ist, dann fängt unser neues Leben an. Schon lange träume ich von einer Reise nach Indien. Willst du mich begleiten?«

Andrea hatte große Bedenken, ließ sich aber doch von Ulli überzeugen. Ihre Abneigung gegen ihr Elternhaus war so groß, daß sie bereit war, alles zu tun, was ihrem Vater schaden konnte. Ihre Sorge war einzig und allein, bei ihrem Tun erwischt zu werden. Sie wußte ja, wie sorgfältig der Vater in allen Dingen war, die seinen Beruf betrafen.

Schon am anderen Tag berichtete sie Ulli. Dieses Mal führte er sie in eine billigere Pizzeria.

»Was hast du erreicht?« fragte er ohne Umschweife.

»Nichts. Mein Vater hat seine Rezeptblöcke und Arzneimuster in seinem Sprechzimmer in der Klinik. Ich komme dort nicht rein, ohne aufzufallen. Außerdem gibt es dort Sicherheitsschlösser. Und aufmerksame Schwestern wuseln überall herum. Man ist nie allein, auch nicht für kurze Zeit.«

»Arzneimuster!« sagte Ulli verächtlich. »Ich dachte nicht an Muster, sondern an Opiate, Betäubungsmittel, Schmerzmittel. Und das nicht tropfenweise. So was wird normalerweise in einem Safe aufbewahrt.«

»Spinnst du? Den Giftschrank in der Klinik bewacht die Oberschwester, die schlimmer ist als eine Rotte bissiger Hunde. Mein Vater mißtraut mir. Ich würde nicht einmal so weit vordringen können. Verlang etwas Leichteres von mir.«

»Wie sieht es mit Bargeld aus?« fragte Ulli. »Vielleicht ist man darin weniger genau. Oder Schmuck? Oder Antiquitäten jeder Art?«

»Da ließe sich schon eher etwas machen«, meinte Andrea. »Unser ganzes Haus ist vollgestopft mit alten Teppichen, guten Bildern und Silbergeräten. Natürlich hat Mutti auch Schmuck jeder Art. Sie würde einen Verlust nicht einmal bemerken, sie trägt ihn kaum. Ich müßte nur herausfinden, wo sie ihn verwahrt hält.«

»Tu das, Baby. Aber beeil dich damit. Mit einer Weißwurst- oder Pizzaeinladung ist es nicht getan. Ich will endlich einmal ganz groß herauskommen.«

»Und was habe ich davon, wenn ich meine Mutter beklaue?«

»Du hast das erhebende Gefühl, daß endlich einmal die Reichen zur Kasse gebeten werden. Und außerdem hilfst du einem guten Freund. Und vor allem werden wir beide unser neues Dasein beginnen können. Wir werden nach Indien gehen und dort nach unseren Erkenntnissen leben. Wir werden alle Enge der Heimat überwinden und eins werden mit dem Universum.«