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Ayahuasca, eine Kritik der psychedelischen Vernunft

Govert Derix
Ayahuasca,
eine Kritik der
psychedelischen
Vernunft
Philosophisches
Abenteuer
am Amazonas

Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post

Impressum

Nachtschatten Verlag AG

Kronengasse 11

CH-4502 Solothurn

info@nachtschatten.ch

www.nachtschatten.ch

Die Orginalausgabe erschien unter dem Titel »Ayahuasca. Een kritiek van de psychedelische rede« bei De Arbeiderspers, Amsterdam/Antwerpen 2004

© 2004 Govert Derix

Deutsche Ausgabe:

© 2004 Nachtschatten Verlag, Solothurn

ISBN 3-03788-127-5
eISBN 978-3-03788-256-6

Übersetzung aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und

Herbert Post

Lektorat: Conny Schönfeld

Umschlagfoto: Régis Alain Barbier

Foto Autor: Jacqueline Machado de Souza

Umschlaggestaltung und Layout: Henk Lenting

Druck: Druckerei & Verlag Steinmeier, Nördlingen

Printed in Germany

Nachdruck und sonstige Reproduktion nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlages

Für Gert Derix-Spreeuwenberg und Jan Derix

In Erinnerung an Harrie (Henrique) Baltussen (1936-1997)

In meiner Sicht verhilft uns die psychedelische Erfahrung wieder zu unserem Geburtsrecht. Die Tatsache, dass ganze Völkerstämme und Kulturen zur Reife gelangten und untergingen, ohne hiervon auch nur die geringste Ahnung gehabt zu haben, gehört für mich zu den schockierendsten Aspekten der menschlichen Situation. Denn man ist kein vollkommener, gereifter Mensch, der das Potenzial des Lebens ganz ausgeschöpft hat, wenn man nicht eine psychedelische Erfahrung gehabt hat. Man braucht sie nicht zu umarmen – oder zu missbrauchen –, aber man sollte wissen, dass es sie gibt.

Terence McKenna, The Archaic Revival

Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein.

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

Die emotionale und spirituelle Wirkung, die die Ayahuasca-Erfahrung auf Menschen haben kann, ist sehr tiefgreifend. Oft sagen Menschen, sie habe ihr Leben radikal verändert; viele erleben sich danach nicht mehr als dieselbe Person. Aber selbst wenn der Ayahuasca-Rausch keine radikale Auswirkung auf das Leben im Allgemeinen hat, so ist er eine erstaunliche Erfahrung, die von denjenigen, die ihr ausgesetzt waren, fast ausnahmslos als etwas Einzigartiges betrachtet wird.

Benny Shanon, The Antipodes of the Mind

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Das Wort »Gott« kann der Leser so gut wie immer durch ein allesumfassendes Sein oder Seiendes ersetzen.

Inhalt

  Prolog
EINS Zwischen Ansporn und Vorsicht
ZWEI Trinker des kleinen Todes
DREI Religion als Wiedergründung
VIER Die Entstehung einer Kerngruppe
FÜNF Die gesungene Burracheira
SECHS Meister Gabriel und die geheimnisvolle Kraft
SIEBEN Leckes Kanu wird zum seetüchtigen Schiff
Meister João
ACHT Indianerkino
Meister Manu, Taxifahrer
NEUN Porto Velho
ZEHN Keine Angst vorm Leiden
Hugo, Landwirt
ELF Fluchtpunkt Realität
ZWÖLF Zen und Amazonien
Alex, Fernsehjournalist
DREIZEHN Die Schnur des Salomo
Teresa, Journalistin
VIERZEHN Perspektiven der Meisterschaft
FÜNFZEHN Seinem Bedürfnis gemäß trinken
Carlos Antunes, Gynäkologe
SECHZEHN Wunderliche Wissenschaft
Yuri, Atomphysiker
SIEBZEHN Der Preis der Erfahrung
ACHTZEHN Das Entdecken der Frage
Meister Pádua, Psychologe
NEUNZEHN Ayahuasca für Führungskräfte
ZWANZIG Meister wider Willen
Miguel
EINUNDZWANZIG Ankerplatz Gewissen
ZWEIUNDZWANZIG Sisyphus in Holland
DREIUNDZWANZIG Legalisierung in den Niederen Landen
Hans, ehemaliger Kirchenvorsteher
VIERUNDZWANZIG Ayahuasqueiro an der Keizersgracht
Arno, Schriftsteller
FÜNFUNDZWANZIG Das dritte Ufer
SECHSUNDZWANZIG Kulturen
Francisco, Bauarbeiter
SIEBENUNDZWANZIG Gebote eines vergessenen Geburtsrechts
ACHTUNDZWANZIG Der richtige Ton
Arquimedes
  Epilog
  Glossar
  Verzeichnis der Interviewpartner
  Literaturverzeichnis

Prolog

Menschen haben offenbar etwas Angst, sich selbst zu entdecken – Angst vor dem, was dabei zum Vorschein kommen könnte.

Norbert Elias, Ein Essay über die Zeit

Denker des Mittelalters schlugen sich mit dem absonderlichen Problem herum, wie viele Engel auf der Spitze einer Nadel Platz haben könnten. Dieses Buch könnte mit der Überlegung beginnen, wie viel Weisheit in einem Glas Tee steckt.

Dies ist mehr als ein rhetorischer Eröffnungssatz; er ist Ausdruck einer Verwunderung, mit der, der Überlieferung zufolge, die Philosophie einst begann. Als ich 1990 in Brasilien den Tee Ayahuasca kennen lernte, befand ich mich philosophisch gesehen in einer Sackgasse. Ich war siebenundzwanzig und hatte einige Jahre zuvor mein Studium mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno abgeschlossen, einen der seltenen Denker, die im 20. Jahrhundert noch über die Möglichkeit einer gerechten Welt zu schreiben wagten. Während meines Philosophiestudiums hatte ich den akademischen Betrieb als eine Umgebung (manchmal als eine Schlangengrube) kennen gelernt, die im Allgemeinen wenig mit der Leidenschaft zu tun hatte, mit der ich mich als Jugendlicher auf philosophische Bücher gestürzt hatte. Meine Enttäuschung äußerte sich nach meinem Studium in einer jahrelangen Abneigung gegen jegliche philosophische Lektüre. Mein Universitätsabenteuer hatte an der Stelle, wo sich zuvor die Fähigkeit zur Verwunderung geregt hatte, einen Krater hinterlassen.

Im Januar 1990 kam ich in Brasilien über meine brasilianische Frau in Kontakt mit Henrique, einem Computeringenieur aus der Stadt Fortaleza. Henrique sprach von einem Tee, der sein Leben verändert habe. Zwei Mal im Monat trinke er ihn während des Gottesdienstes einer Religion namens União do Vegetal. Von Neugier getrieben, bestürmte ich ihn, mich einmal mitzunehmen. Henrique stellte mich dem lokalen Leiter seiner Religionsgemeinschaft vor, der mir in einem Gespräch auf den Zahn fühlte, ob ich auch geeignet sei, den Tee zu trinken.

An jenem Abend, an dem ich zum ersten Mal Ayahuasca trank, erlangte ich die Fähigkeit wieder, die Welt mit Verwunderung zu betrachten. Es war wie ein Schock. Innerhalb einer Viertelstunde betrat ich eine Wirklichkeit, deren Existenz ich nie geahnt hatte, aber deren große lebensphilosophische Relevanz mir sofort einleuchtete. Die Erfahrung war so intensiv, dass ich nach draußen rannte und mich übergeben musste. Unter dem Tropenhimmel schienen alle meine intellektuellen Konflikte aus mir heraus zu strömen. Als es mir wieder besser ging, meldete sich unmissverständlich die Frage zu Wort, ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch sei. Irgendetwas sagte mir, dass ich über genügend Fähigkeiten verfügte, mich für das Gute zu entscheiden, und dass es darauf ankomme, meine Talente zu kanalisieren und mein eigenes Maß zu finden. Als die Sitzung vier Stunden später zu Ende war, fühlte ich mich wie neugeboren.

Nach dieser ersten Ayahuasca-Erfahrung sollte es bis 1995 dauern, ehe sich wieder eine neue Gelegenheit ergab. Marco, ein Bruder meiner Frau, trank zusammen mit einer Gruppe von Freunden Ayahuasca nach dem Ritual der União do Vegetal. Während eines zweimonatigen Aufenthalts in Brasilien trank ich mit ihnen zehn Mal und begriff immer besser, was Henrique gemeint hatte, als er sagte, der Tee sei für sein Leben von entscheidender Bedeutung.

Wieder in den Niederlanden vertiefte ich mich in die Literatur über Ayahuasca und stellte fest, dass die meisten Veröffentlichungen von einem anthropologischen oder ethnobotanischen Standpunkt aus geschrieben waren. Als Philosoph kam man nur selten auf seine Kosten.[1] Meine Überraschung war groß, als ich las, dass der Tee zu den halluzinogenen Substanzen gerechnet wird. Ich hatte keinerlei Affinität zu und Erfahrung mit Psychedelika, und aus Gleichgültigkeit (plus einem Rest provinzieller Naivität) hatte ich das Vorurteil, solche Mittel wären sowohl körperlich wie geistig gesundheitsschädigend. Wenn ich von meinen abweichenden Erfahrungen zu reden anfing, sah ich mich rasch und ziemlich wehrlos in die Defensive gedrängt.

Ich wurde allerdings auch in einen Kampf mit mir selbst verwickelt. Ich bemerkte, dass ich mich auf eine Substanz und eine Religion eingelassen hatte, die in starkem Maße von Strömungen in Beschlag genommen wurden, für die ich bisher nur ein Achselzucken übrig gehabt hatte. Als akademischer Philosoph hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem »hohlen Diamanten« des New Age, und die psychedelische Bewegung spielte sich am äußersten Rand meines intellektuellen Blickfelds ab. Einmal auf dem Pfad von Ayahuasca wurde mir schnell deutlich, dass ich ihn auf meine eigene Weise zurücklegen musste. Als Philosoph sah ich mich vor die Herausforderung gestellt, einen Standpunkt auf einem Feld zu beziehen, das Vertreter dieses Fachs selten für voll ansehen.

In einigen Kapiteln dieses Buches entwickle ich die These, die Erfahrung mit Ayahuasca könne ein Leitfaden sein, um philosophische Fragen neu zu durchdenken und zu erleben. Nach und nach überzeugte ich mich davon, dass das wachsende Interesse für »den kleinen Tod« (eine andere Bezeichnung für Ayahuasca) Ausdruck einer breiteren unterirdischen Strömung war, Inspirationsquelle für eine immer größere Zahl von Menschen, die sich in der heutigen Zeit gezwungen sehen, ihr Selbstbild vor allem aus sich selbst heraus zu entwickeln. Häufig wird diese unterirdische Strömung als Flucht oder Irrweg abgetan, auf dem die Gefahr von Abhängigkeit und Selbstverlust lauern. Glaubt man Außenstehenden, führt der Gebrauch von Psychedelika zum Gegenteil dessen, was Eingeweihte behaupten. In die Defensive gedrängt, bekam ich zu hören, Ayahuasca sei nebulös, ja gefährlich. Auf den Schock der Entdeckung einer anderen Wirklichkeit folgte somit die Konfrontation mit dem fragwürdigen und eher subversiven Status, den mein Thema in der alltäglichen Wirklichkeit hatte. Ich hatte erfahren, dass es eine Methode gibt, sich selbst und die Welt so zu erleben, dass »nebulöse« Angelegenheiten wie Glück und Gerechtigkeit ein ganzes Stück weniger nebulös werden. Aber gleichzeitig musste ich mich als Vorkämpfer dieser Auffassung oft gegen den Einwurf verteidigen, diese Methode funktioniere doch erst, wenn man ein Mittel eingenommen habe. Meine kürzeste Replik lautet, dass dieses Mittel eine Medizin ist, die den Menschen in Kontakt mit dem bringt, was ihn allein in letzter Instanz glücklich machen kann: mit sich selbst.

Dieses Buch handelt also von einer Medizin. Die Öffnung der Welt durch das Internet sorgte ab Mitte der neunziger Jahre für ihre allmähliche, weltweite Verbreitung und für die Zunahme des so genannten Ayahuasca-Tourismus in den Regenwäldern Südamerikas. Von Berühmtheiten wie Sting und brasilianischen Sängern wie Caetano Veloso, Ney Matogrosso und Milton Nascimento wissen wir, dass sie mit dem Amazonas-Trank wichtige Erfahrungen machten. Von Oktober 2001 bis Ende März 2002 fand im Britischen Museum in London die Ausstellung Unknown Amazon (Culture in nature in ancient Brasil) statt, mit besonderer Beachtung für die Pflanze Banisteriopsis caapi (Ayahuasca). Vor allem ausländische Fernsehsender bringen mehr und mehr seriöse wie sensationelle Reportagen über Ayahuasca.

Dieses Buch besteht nur zu einem Teil aus dem Versuch, die Ayahuasca- Erfahrung philosophisch zu begreifen. Ich lasse auch Ayahuasca-Trinker zu Wort kommen, deren Berichte illustrieren, was dieser Trank in einem Menschenleben bewirken kann. Schließlich gebe ich mir Rechenschaft davon, welche Bedeutung dieses Thema für unsere aufregende Gegenwart haben kann.

Für dieses Buch führte ich Interviews mit einer großen Zahl von ayahuasqueiros, Trinkern von Ayahuasca. Selbstkritik ist ein wichtiges Thema in ihrem Leben. Kritisch war auch meine Grundeinstellung während der Gespräche. Eine Übersicht der Interviewpartner findet sich am Ende des Buches.

Die meisten Übersetzungen aus dem Portugiesischen stammen von mir. Wo ich die Übersetzungen anderer zitiere, finden sich ihre Namen im Literaturverzeichnis. In einem Glossar werden oft verwendete (portugiesische) Begriffe noch einmal aufgelistet.

Die Meditation über Ayahuasca erscheint auf den ersten Blick vielleicht als spezialistische Unternehmung. Aber je schärfer das Bild wird, umso verblüffender wird die Erkenntnis, dass die Weisheit aus einem Glas Tee mindestens so beeindruckend sein kann wie die größte Heerschar von Engeln auf den Nadelspitzen unserer philosophischen Vergangenheit. Sich mit Ayahuasca befassen ist, wie jede wahrhafte philosophische Unternehmung, ein Lebensprojekt. Jedes gelungene Leben ist Ausdruck des Allgemeinen im Besonderen, eine Verbrüderung von Spezialistentum und Generalistentum. Der Verfasser würde es als ein großes Kompliment auffassen, wenn die Leser zu dem Schluss kämen, dieser Text über Tee handle auch vom Leben und von ihnen selbst.

Wie sehr auch der Schein dagegen spricht: Kein einziger Autor arbeitet allein. Dieses Projekt wäre nicht zustande gekommen ohne die bereitwillige Mithilfe vieler Ayahuasqueiros in Südamerika. Ihnen gilt mein Dank. Auch danke ich den vielen anderen, die mich unterstützten. Sérgio Brissac, der mir sein Manuskript über Meister Gabriel zur Verfügung stellte, Aeldir für seine aufbauenden E-Mails, Arquimedes für den wunderlichen Aufenhalt in Jamarí, Meister Altenísio für die Zubereitungssitzung in Porto Velho, Luana und Miguel, die viele Dutzende auf Band aufgenommene Interviewstunden transkribierten, meinem besten Freund und Schwager, dem Psychiater Carlos Mansuêto unter anderem für seine stupende Kenntnis der brasilianischen Literatur, meinem Schwager Marco für das große Vertrauen, das er mir schenkte, indem er mich als vollwertigen Ayahuasqueiro an Sitzungen der União do Vegetal teilnehmen ließ, meinem Schwager Hugo für die Einweihung in das Ritual der Santo Daime-Religion. Henrique, weil ich durch ihn zum ersten Mal mit Ayahuasca in Berühung kam. Jacqueline Machado de Souza, meiner Frau, für ihre haarscharfen Kommentare zu den ersten Entwürfen und ihre vielen Verbesserungsvorschläge. Bart op het Veld, Arno Adelaars, Peter Hamerslag, Dries Langeveld, Simon und Edith Vinkenoog, Benny Shanon, Huub Drenth, Egbert Derix, Maria Roovers, Jolanda Franken, Henk Lenting, Roger Liggenstorfer, Peter Claessens und vielen anderen für die Resonanz während des Schreibens und Feilens. Simon Vinkenoog ganz besonders für die vielen inhaltlichen und redaktionellen Ratschläge. Und Hans Bogers dafür, dass er mir Dokumente zur Verfügung stellte, die bei der Legalisierung des rituellen Gebrauchs von Ayahuasca eine ausschlaggebende Rolle spielten.

Außer meinen Eltern widme ich dieses Buch Pater Harrie (Henrique) Baltussen, durch den es mich als Siebzehnjährigen zum ersten Mal nach Brasilien verschlug. Auf einer gemeinsamen Reise durch das Landesinnere des Bundesstaates Goias verschlief ich eine Nacht, in der er die Gesänge der Novenen miterlebte, eine Erfahrung, die tiefen Eindruck auf ihn machte. Wie lange, so fragte er sich, würde es diese Tradition noch geben? Während der Abende und Nächte, da ich die Gesänge über Ayahuasca an vielen Orten in Brasilien auf mich einwirken ließ, dachte ich oft an ihn zurück, den ich im Lauf der Zeit als einen zweiten (brasilianischen) Vater betrachtete.

1 Zum gleichen Schluss kam Benny Shanon, der in seiner kognitiv-psychologischen Studie »The Antipodes of the Mind« eine Reihe von philosophischen Fragen anschneidet.

EINS

Zwischen Ansporn und Vorsicht

Philosophen haben unseren Verstand eine Insel inmitten eines unbegreiflichen Ozeans genannt. Wer versucht, die Insel zu verlassen, verstrickt sich in Paradoxe, verirrt sich in Gebiete, über die man besser schweigt, oder läuft Gefahr, bei der Konfrontation mit dem Spiegelbild der eigenen Irrationalität den Verstand zu verlieren.

Dieses Buch steht unter dem Zeichen der Vorsicht. Wir werden ein Gebiet außerhalb des Verstandes befahren, nicht nur um Sinnvolles über Paradoxe und Mysterien auszusagen, sondern vor allem, um daraus Nutzen für das tägliche Leben zu ziehen. Zur Vorsicht rät nicht nur die von der Insel fortführende Reise, unser eigentliches Thema macht es notwendig, unsere Worte sorgfältig abzuwägen. Das Thema ist der Tee Ayahuasca und die brasilianische Religion União do Vegetal, in der Ayahuasca eine zentrale Rolle spielt. Im weiteren Verlauf wird sich aber auch die Perspektive zu einem umfassenderen Verständnis der menschlichen Situation eröffnen; einer Situation, die wir, umgekehrt formuliert, nicht vollständig begreifen können, wenn wir die Möglichkeit der Ayahuasca-Erfahrung nicht berücksichtigen.

Ayahuasca ist ein Tee, der seit Menschengedenken von den Indianern des Amazonasgebiets getrunken wird. Aus westlicher Sicht ist Ayahuasca ein halluzinogenes Mittel. Aber wer sich vorurteilslos in die Materie vertieft, wird feststellen, dass die Halluzination nur ein Aspekt einer viel weiter reichenden Erfahrung ist. Ihr eigentlicher Wert besteht darin, dass der am Ayahuasca-Ritual Teilnehmende eine ganze Reihe persönlicher und universeller Fragen klarer sieht und die Fähigkeit und Ausdauer erlangt, die während dieser Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass sich von Alkohol und anderen Drogen Abhängige durch die rituelle Verwendung von Ayahuasca von ihrer Sucht befreien konnten. Dass Ayahuasca zumindest eine interessante »Waffe« in einem wahrhaften war on drugs sein kann, belegen unter anderem Initiativen in Peru und Brasilien, bei denen Ayahuasca Suchtkranken eine Hilfe auf ihrem Weg der Genesung ist. Eine der Fragen, die sich hierbei stellt und auf die wir im weiteren eine Antwort zu geben versuchen, lautet, in welchem Maße die Befreiung von den unterschiedlichsten Suchtformen mit der Befreiung von den Grenzen der Insel des Verstandes zusammenhängt.

Im vorigen Jahrhundert entdeckten auch Nicht-Indianer den Tee, und es entstanden in Brasilien zwei Religionen mit jeweils eigenem Ayahuasca-Ritual: Santo Daime und die União do Vegetal. Besonders die Lehre der União do Vegetal hat große Affinität zu westlichen philosophischen Einsichten und steht den gnostischen und freimaurerischen Traditionen sehr nahe, die den Sinn des Lebens anhand der Metapher des Gebäudes illustrieren. Eine weitere Aufgabe, die sich dieses Buch stellt, ist zu zeigen, wie Ayahuasca, wenn es im rituellen Kontext der Lehre der União do Vegetal getrunken wird, eine sichere Erkundung der Ozeane fern von dem scheinbar fest umrissenen Hafen unseres Alltagsbewusstseins gewährleisten kann.

Ich bin mir dessen bewusst, ein Thema zu behandeln, dass alles andere als unumstritten ist. Außenstehende, die nur flüchtig Notiz von dem Phänomen Ayahuasca nehmen, werden es kurzerhand als das soundsovielste psychedelische Mittel abtun, das höchstens zu Sensationsgeschichten tauge, ansonsten aber umgehend verboten werden müsse. Ayahuasca hat viele sensationelle Aspekte, aber es handelt sich dabei um eine Sensation in der ursprünglicheren Bedeutung des Wortes. Ayahuasca ist eine existenzielle Sensation, die Auffassungen über Philosophie, Religion, Identität und zahlreiche eingefahrene Kategorien des Denkens auf den Kopf stellt. Ayahuasca ist vor allem eine Erfahrung, die in Brasilien (und zunehmend auch in anderen Ländern) eine große Anziehungskraft auf Menschen aller Bevölkerungschichten ausübt. Für Psychiater, Mediziner, Künstler, Anwälte, Journalisten, Wissen-schaftler, aber auch Handwerker, Landwirte, Fabrikarbeiter und Analphabeten ist Ayahuasca eine Lebensweise, die erwiesenermaßen zu Glück, Gesundheit und Selbstverwirklichung beiträgt. Für viele ist Ayahuasca ein Versprechen und zugleich die Realität erfüllten Lebens.

Eine Gefahr, die bei dem Umgang mit unserem Thema auf der Lauer liegt, ist die der Mystifizierung. In Brasilien selbst ist Ayahuasca ein kontroverses Thema; man kann sich leicht vorstellen, wie groß der Abstand zum west- lichen Denken ist. Eine sensationelle Mystifizierung mag in einer solchen Situation der einfachste Weg sein, ein großes Publikum zu erreichen. Ich habe mich für den entgegengesetzten Weg entschieden. Die beste Art, etwas Sinnvolles über das Mystische auszusagen, ist meiner Ansicht nach die Entmystifizierung. Aber es muss aus Respekt vor dem Thema und im Hinblick auf die Wahrhaftigkeit, mit der wir unser Ziel erreichen wollen, eine vorsichtige Entmystifizierung sein. Unser Ziel ist es, wohlbehalten zur Insel des Verstandes zurückzukehren, einer Insel, die durch die Erfahrungen und Berichte von Übersee vielleicht etwas von ihrer Festigkeit verliert und dadurch empfänglicher wird für eine Bewegung hin zu einem besseren Leben. Sapere aude, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! hieß es auf dem Höhepunkt der europäischen Aufklärung. So übertrieben das klingen mag, so wollen wir diesen Aufruf als Auftakt zu unserer Reise durch den metaphorischen Raum des Ozeans wiederholen.

Was ist Ayahuasca? Wir beschränken uns vorläufig auf eine einfache Antwort. Liebhaber eines Periodensystems von Psychedelika würden Ayahuasca zu den natürlichen psychoaktiven Mitteln rechnen, falls sich überhaupt eine sinnvolle Unterscheidung zwischen synthetischen und in der Natur vorhandenen Substanzen treffen lässt. Damit gehört Ayahuasca (u.a. auch Caapi, Daime, Hoasca, la Purga, Yagé, Vegetal genannt) zur gleichen Gruppe wie Psilocybin-haltige Pilze oder einem Kaktus wie Peyote.

Wer Herkunft und Zubereitungsweise von Ayahuasca genauer unter die Lupe nimmt, stößt auf etwas Besonderes. Ayahuasca wird hergestellt, indem man die Fasern einer Liane zusammen mit den Blättern eines Strauches kocht. Die Schlingpflanze mit dem lateinischen Namen Banisteriopsis caapi enthält einige chemische Bestandteile, die eine leichte Bewusstseinserweiterung auslösen können; in den Blättern des Strauches Psychotria viridis befindet sich Dimethyltryptamin, kurz DMT, ein Halluzinogen, dessen außergewöhnlich starke Wirkung höchstens fünfzehn Minuten anhält. Oral eingenommen ist DMT allerdings unwirksam. Der amerikanische Forscher Rick Strassman weist in seinem kürzlich erschienenen Buch DMT: The Spirit Molecule auf die starke Empfänglichkeit unseres Gehirns für DMT hin, das große Ähnlichkeit mit dem wichtigen Neurotransmitter Serotonin aufweist: »DMT is ... the simplest psychedelic. (...) I know of no other psychedelic drug, that the brain treats with such eagerness« (S. 53).

Die Hinzufügung von Banisteriopsis caapi zu den DMT-haltigen Blättern von Psychotria viridis sorgt nicht nur dafür, dass das DMT, auch oral eingenommen, aktiv wird, sondern auch dafür, dass die Wirkung über mehrere Stunden anhält. Zwei Pflanzen, ein Tee: In der Kombination steckt die Kraft von Ayahuasca. Wie die Indianer des Amazonasgebiets dazu kamen, gerade aus diese beiden Pflanzen einen Trank zu brauen, gibt immer noch Anlass zur Mythenbildung. Aber Wissenschaftler halten vorläufig an der Ansicht fest, dass es sich trotz der unendlichen Kombinationsmöglichkeiten im Urwald um eine indianische Zufallsentdeckung handelte, wie so viele andere, die sich in den Tiefen der Zeit eines schönen Tages gewissermaßen von selbst ergaben.

Die Behauptung, Ayahuasca sorge vor allem für ein lange anhaltendes DMTErlebnis, ist zu einfach. Nicht nur, weil in dem Ayahuasca-Mechanismus – der eine orale Aufnahme von DMT ermöglicht – auch noch andere halluzinogene Stoffe eine Rolle spielen, sondern auch weil die Wirkung von Ayahuasca von der exakten Kombination bestimmter Mariri- und Chacrona-Sorten abhängt (die indigene Bezeichnung für Banisteriopsis caapi beziehungsweise Psychotria viridis). So wie ein Weinkenner ein besonderes Zungenspitzengefühl für Herkunft, Abgang und Bukett einer appellation contrôlée entwickelt, so ist mancher Ayahuasqueiro ein Meister in der Zubereitung und Würdigung eines speziellen Tees.

Wer Ayahuasca zum ersten Mal gereicht bekommt, wird entdecken, dass es eine gelbbraune, undurchsichtige Flüssigkeit mit einem bitteren, manchmal essigsauren Geschmack ist. Ayahuasqueiros wissen zu erzählen, dass die Wirkung durch die Kombination Kraft (der Liane Mariri) und Licht (der Blätter des Rosenstrauchs Chacrona) entsteht. In groben Zügen können wir über die beiden Bestandteile von Ayahuasca schon einmal folgendes festhalten:

Indianischer Name Mariri Chacrona
Lateinischer Name Banisteriopsis caapi Psychotria viridis
  Liane Strauch (Blätter)
  Kraft Licht
Chemische Substanzen Harmin, Harmalin
Tetrahydroharmalin
Dimethyltryptamin (DMT)
Einige Varianten Tucunacá, Caupurí,
Pajézinho
Cabocla, Chacroninha

Seit der britische Naturforscher Richard Spruce 1851 Banisteriopsis caapi wissenschaftlich bestimmte, hat Ayahuasca manchen Intellektuellen in ihren Bann geschlagen. Am Ende seines Suchtromans Junkie kündigte der amerikanische Schriftsteller William Burroughs an, er wolle sich auf die Suche nach Yagé (Ayahuasca) machen, um Erlösung von seiner Drogensucht zu finden: »Vielleicht werde ich in Yagé finden, was ich in Junk, Gras und Kokain suchte. Yagé ist vielleicht die Lösung.« Aber der anschließende Briefwechsel zwischen Burroughs und seinem Freund Allen Ginsberg (The Yagé Letters) über diese Suche kommt nicht über obskure Wortgebilde hinaus, die vielleicht einen Wert an sich haben, für uns aber nicht wegweisend sein können. Dem Phänomen näher kommen die Brüder Terence und Dennis McKenna, die in den siebziger Jahren in die Regenwälder Perus und Kolumbiens zogen, um dem Geheimnis von Ayahuasca auf die Spur zu kommen. Ihren Ruf als Gurus psychedelischer Mittel verdanken die McKennas vor allem ihrer bahnbrechenden Arbeit über Pilze und DMT. Sie versprachen sich von Ayahuasca sozusagen Halluzinationen im Quadrat, aber es gelang ihnen nicht wirklich, in das Gebiet vorzudringen. Terence McKenna konstatiert zwar, die Ayahuasqueiros seien »true technicians of the psychedelic sacrality«, aber er wird selbst kein Ayahuasqueiro. Dennis McKenna gab in den neunziger Jahren den Anstoß zur ersten wissenschaftlichen Untersuchung der Verwendung von Ayahuasca, in enger Zusammenarbeit mit der União do Vegetal in Brasilien.

Die Resultate wurden kürzlich in dem Buch Ayahuasca, Human Consciousness and the Spirits of Nature (herausgegeben von Ralph Metzner) vorgestellt, das Ayahuasca unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt.[2] Aber auch diese Studie verpasst zum großen Teil die Chance, der Bedeutung von Ayahuasca auf den Grund zu gehen. Es kommen vor allem Amerikaner zu Wort, deren eigene Erfahrungen mit Ayahuasca sehr beschränkt sind. Die Kernfrage nach dem Zusammenhang zwischen intensivem Konsum von Ayahuasca und der davon angeregten praktischen Lebensphilosophie bleibt außen vor. Eine andere Formulierung dieser Kernfrage könnte lauten: Was beseelt den Ayahuasqueiro? Wobei wir »beseelen« in der ursprünglichen Wortbedeutung »inspirieren« verwenden. Das Wort Ayahuasca oder Hoasca leitet sich aus der Inka-Sprache Quechua ab und bedeutet soviel wie »Liane der Toten« oder »Liane der Seele«. Inwiefern dies die Frage, was Ayahuasqueiros beseelt, beantwortet, steht noch dahin. Und selbst, wenn es nur Ayahuasca ist, das für diese Beseelung verantwortlich ist, werden wir feststellen, dass diese Antwort alles andere als trivial ist.

Dieses Buch wird zeigen, dass es sich bei der União do Vegetal um eine community of practice, eine Wissensgemeinschaft, handelt, in der regelmäßige Erkundungen des Ozeans zu einem glücklicheren Gemeinschaftsleben auf der Insel beitragen. Wir haben es mit einer im Hier und Heute angewandten Praxis von oft hoch qualifizierten Menschen zu tun, die im Lauf ihres Lebens auf Ayahuasca stießen, weil sie eine Antwort auf ein unbestimmtes Gefühl der Leere suchten, das häufig mit der fehlenden Sinngebung der modernen Welt zu tun hatte. In Ayahuasca fanden sie einen Verbündeten auf ihrem Weg zu innerer Reife und größerer Weisheit. Wir stehen heute fast zwangsläufig der Möglichkeit eines solchen Verbündeten skeptisch gegenüber. Aber es ist eine von tiefer Sehnsucht erfüllte Skepsis, einer Sehnsucht, die wir vielleicht zum letzten Mal spürten, als wir in unserer Kindheit Abenteuerbücher lasen, in denen die Welt im tiefsten Sinn noch in Ordnung war.

Der Schriftsteller Aldous Huxley entwarf in seinem letzten Buch Eiland eine derartige utopische Welt, in der ein Rauschmittel, von ihm Moksha genannt, die Menschen zu größerer Einsicht gelangen lässt und auch bei politischen und moralischen Entscheidungsprozessen eine Rolle spielt. Huxley schweigt sich über die konkrete Art dieser Substanz aus, aber Ayahuasca wäre sicher ein ernsthafter Kandidat. Man hat in Ayahuasca auch eine Entsprechung zum legendären Soma gesehen, dem Pflanzensaft, der schon in der wedischen Religion bekannt war und auch bei Huxley in seinem Roman Schöne neue Welt wieder auftaucht, in dem er eine Gegenwelt zu Eiland heraufbeschwört. In dieser Dystopie (Anti-Utopie) ist Soma die psychedelische Achse einer doppelten Bewegung: Mittel zur Flucht aus einer totalitären Wirklichkeit und gleichzeitig ihre Bestätigung.

Die Frage, ob ein und dieselbe Substanz, Ayahuasca, eine zentrale Rolle sowohl für utopische wie dystopische communities of practice spielen kann, wird sich unweigerlich stellen. Auch die Beantwortung der Frage, was genau in der União do Vegetal (und in den Ritualen anderer Gruppierungen) das positive Potenzial in Ayahuasca mobilisiert, gehört zu den spannenden Herausforderungen. Intuitiv scheint es uns jedenfalls so zu sein, als gebe es einen mehr oder weniger zwingenden Zusammenhang zwischen der Substanz, dem Tee, und der Lehre. Den Finger auf die genaue Art dieses Zusammenhangs zu legen, in der Erwartung, dass sich dadurch die Perspektive auf eine Erkenntnis der tieferen Verbindungsstrukturen zwischen dem Eiland unseres Verstandes und den umringenden Ozeanen öffnet, auch dies ist eines der Ziele unserer Expedition.

Die União do Vegetal wurde 1961 von José Gabriel da Costa gegründet, einem Kautschukzapfer, der Ayahuasca im Regenwald des Amazonas kennen gelernt hatte. Das Ritual, das unter seinen Händen entstand, wird jeden ersten und dritten Samstag im Monat zwischen acht Uhr und einer Viertelstunde nach Mitternacht in ganz Brasilien von schätzungsweise zehntausend Männern und Frauen wiederholt. Die Sitzungen werden von einem Meister geleitet, der den Tee austeilt und die kollektive und individuelle Erfahrung lenkt, indem er chamadas singt, besondere Gesänge über den Ursprung von Ayahuasca, die Bedeutung der burracheira (Bezeichnung für die Wirkung des Tees) und die Bedeutung eines Lebens als Ayahuasqueiro. Man hört Musik, und es gibt die Gelegenheit, dem Meister Fragen zu stellen und vor der Gruppe zu sprechen.

Von außen gesehen, könnte eine Sitzung an einen Meditationszirkel oder eine Gruppentherapie erinnern. Aber wer Ayahuasca trinkt und sich den Chamadas anvertraut, bemerkt, dass hier wirkliche Techniker am Werke sind, die die Teilnehmer sicher durch ozeanisches Gebiet lotsen. Auch die Beschaffenheit dieses Gebiets und die Frage, ob wir es entdecken oder reisend erst erschaffen, wird uns im Verlauf dieser Arbeit eingehend beschäftigen. Aber vielleicht werden wir auch entdecken, dass solche Entweder-Oder-Fragen in eine Sackgasse führen und dass auch die geographische Unterscheidung von Land und Meer von einer scheinbar notwendigen, aber deshalb nicht weniger schiefen Perspektive herrührt. Solche Perspektiven durch den Kontakt mit den Existenzbedingungen aller Perspektiven hinter sich zu lassen – dies scheint die technische Kunst des Ayahuasqueiros auszumachen. Damit ist auch angedeutet, dass die Erfahrung des Ayahuasqueiro sich jenseits der traditionellen Unterscheidung von Essenz und Existenz abspielt. Was das bedeutet und welche Versprechen es beinhaltet: In einer Zeit, in der es von Phrasen über den letzten Menschen und das Ende der Geschichte nur so wimmelt, besteht gerade darin die Einladung zu einem Unternehmen, das auch die Fantasie derjenigen beflügeln müsste, denen das Reich von Ayahuasca genauso fremd und unbegreiflich vorkommt wie eine Stimme, die von der anderen Seite des Ozeans zur Einschiffung anspornt.

2 Das gilt auch für das Buch »O uso ritual da ayahuasca« (herausgegeben von Beatriz Labate und Wladimyr Araújo), das im Juli 2002 erschien und hauptsächlich als Reader eines Kongresses gedacht war, der im November 1997 auf dem Unicamp der Universität von Campinas (São Paulo) stattfand und sich mit der rituellen Verwendung von Ayahuasca beschäftigte.

ZWEI

Trinker des kleinen Todes

Marco Machado de Souza war kaum zwanzig Jahre alt, als er in der Mensa der Universidade Federal de Ceará in der brasilianischen Stadt Fortaleza ein Wort aufschnappte, das sein Leben verändern sollte. An einem der Nachbartische berichtete eine Studentin der Anthropologie von der Feldforschung, die sie für ihre Diplomarbeit im abgelegenen Bundesstaat Acre durchführen wollte. Acre war wohl der entlegenste Winkel des brasilianischen Amazonasgebiets. Chiquinha, so hieß das Mädchen, war dort geboren und nach den üblichen Irrfahrten in Fortaleza gelandet, der Hauptstadt des Bundesstaates Ceará, der im Unterschied zum Urwaldstaat Acre wegen seiner atemberaubend schönen Strände bekannt ist und auch über die Grenzen Brasiliens hinaus Terra da Luz, Land des Lichts, genannt wird. Die stämmige, tiefbraune Chiquinha wollte in Acre den Faden wieder aufgreifen, der in ihrer Kindheit abgerissen war, und der für viele andere Menschen im brasilianischen, peruanischen, ecuadorianischen und kolumbianischen Amazonasgebiet der Leitfaden ihres Lebens war. Von diesem roten Faden und der Lebensweise, die damit zusammenhing, sollte ihre Diplomarbeit handeln. Das nicht-portugiesische Wort, das immer wieder in ihrem begeisterten Bericht auftauchte und das ihren Freund Marco am Nachbartisch irgendwann aufhorchen ließ, war ein Wort, das damals noch kaum über die Grenzen des westlichen Amazonasgebietes gedrungen war und über das eigentlich erst ab den neunziger Jahren, also etwa zehn Jahre nach jenem Vorfall in der Univeritätsmensa, immer häufiger auch außerhalb des lateinamerikanischen Kontintents geschrieben und gesprochen wurde.

Zwanzig Jahre später unterhalte ich mich mit Marco in seinem Wohnort Cascavel. Er erzählt mir, das Wort Ayahuasca habe eine Faszination auf ihn ausgeübt, wie er sie nie zuvor erlebt hatte und die einfach mit dem Klang zusammenhing, ohne dass er wusste, was das Wort bedeutete. Der Klang allein habe ausgereicht, in ihm eine Sehnsucht nach Wissen und Erfahrung zu wecken.

Chiquinhas Arbeit sollte sich hauptsächlich mit einer Religionsgemeinschaft beschäftigen, die sich in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts um den Gebrauch einer psychoaktiven Substanz gebildet hatte. Es gibt eine ganze Reihe von Bezeichnungen für diese Substanz, aber der Name, der ihrer Wirkung, ihrem Mysterium und ihrer Tragweite vielleicht am ehesten gerecht wird, ist jenes Wort, das damals in der Mensa wie ein Projektil von Tisch zu Tisch flog und sich für immer in Marcos Kopf festsetzte.

Menschen, für die das Trinken von Ayahuasca eine Lebensweise ist, werden selten versuchen, anderen die Erfahrung mit dieser Substanz aufzudrängen. Oft bieten sie einem das Trinken von Ayahuasca erst an, wenn man sein Interesse aus eigenem Antrieb bekundet. Mehr als zwei Jahre musste Marco auf das erste Mal warten. Schon sehr bald nach Chiquinhas Abreise entdeckte er, dass es außer der Gemeinschaft, die sie in Acre erforschen wollte (bekannt unter dem Namen Santo Daime) noch eine andere Gruppierung gab, die Rituale vollzog, die um den Ayahuasca-Trank kreisten. Diese andere Kirche (denn das war sie) wurde União do Vegetal genannt. Bei seinen Nachforschungen entdeckte Marco, dass es einen Zweig der União do Vegetal in Fortaleza gab; man traf sich im Haus von Miguel Gomes, der neben seinem Beruf als Account-Manager bei einer Bank ein zweites Leben als Meister eine Gruppe Ayahuasquieros führte. Wiederholt versuchte Marco, zu einer Versammlung zugelassen zu werden, aber jedesmal wurde ihm die Teilnahme am Ritual verweigert.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1983 kam Chiquinha aus dem Amazonasgebiet zurück, in ihrem Gepäck neben ihrer Diplomarbeit über die Religion von Santo Daime auch eine Flasche Ayahuasca. Mehr als zwei Jahre hatte sie im Haus von Padrinho Sebastião gewohnt, der nach dem Tod des Gründers und Meisters Irineu praktisch der geistige Führer der Santo Daime-Religion geworden war.

Eines Nachmittags ging sie zu Marcos schlichtem Haus in Cascavel, das, umgeben von ein paar Hektar Land mit dem Namen Sítio Tanque, am Dorfrand lag. Dort wuchsen Cashewnussbäume, Palmen und Bananenstauden, und man erreichte das Haus über einen Erdwall am Rand eines kleines Sees. An diesem Ufer tranken Marco und Chiquinha nicht lange nach Sonnenuntergang Ayahuasca.

Diese seine erste Erfahrung umschreibt Marco als eine Wiederbegegnung mit etwas, das schon immer in ihm da gewesen war. Doch bevor diese Wiederbegegnung stattfand, schien die Initiation erst einmal völlig außer Kontrolle zu geraten. Peia ist das Wort dafür; wir werden ihm noch öfter begegnen. Das portugiesische Wörterbuch übersetzt es mit »Bremse« oder »Behinderung«, auch »Marter« ist eine gute Variante. Vorläufig trifft der Ausdruck bad trip, »schlechter Trip«, die Sache noch am besten. Marco:

Ich trank ziemlich viel, fast ein ganzes Glas. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Alles begann sich um mich zu drehen. Als ich Chiquinha Hilfe suchend ansah, verwandelte sie sich für Momente in ein Monster. Sie half mir zum hundert Meter entfernt liegenden Haus. Ich versuchte etwas zu sagen, aber meine Stimme war weg. Es war, als würde ich sterben, ohne es jemandem sagen zu können. Bei einem großen Strauch musste ich mich übergeben. Das kommt bei Ayahuasca öfter vor: Es bewirkt eine Art physisches Großreinemachen, das mit Erbrechen und Durchfall einhergehen kann. Ich erinnere mich, dass das Erbrochene einen merkwürdigen Glanz hatte. Ich fühlte mich danach sofort besser.

Ich fing laut zu reden an. Während ich davor kein Wort herausbringen konnte, redete ich jetzt extrem laut. Das heißt: es war eine Stimme, die zu mir sprach, und ich bin fast sicher, dass es meine eigene Stimme war. Ich sagte: »Hör mal, Marco, was willst du eigentlich, übertreibst du nicht ein bisschen?« Ich begriff, dass ich sehr viel von Ayahuasca erwartet hatte, so wie ich immer sehr viel vom Leben erwartete. Ich begriff, dass es ein langer Prozess sein würde, mich selbst kennen zu lernen und meine Spiritualität zu vertiefen. Später verstand ich, dass diese Stimme von dem ausging, was man in der União do Vegetal den Mestre de Si, den inneren Meister, nennt. Ich erinnere mich noch, dass ich zum Haus blickte. Trotz der Dunkelheit ging ein Leuchten von ihm aus. Das Wort »Tempel« fuhr mir durch den Kopf. Später spielte Chiquinha eine Kassette mit Liedern der Santo Daime-Religion. Auch das beruhigte mich.

Es ist nicht unwichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Marco, so wie manch anderer in unserer Geschichte, zum Zeitpunkt der ersten Begegnung mit Ayahuasca mehr oder weniger stark drogenabhängig war. In Marcos Fall beschränkte sich das zwar auf Marihuana, das macht seine Lebensgeschichte jedoch nicht weniger beispielhaft dafür, wie Ayahuasca zu einer Befreiung von Suchtsymptomen führen kann. Marco selbst meinte, sein Gebrauch von maconha (das brasilianische Wort für Marihuana) sei Ausdruck seines Hangs zum Transzendenten; er fügte aber sofort hinzu, dass auch er den Nebenwirkungen zum Opfer gefallen sei, über die viel zu leichtfertig gedacht werde: nämlich der Passivität und der Neigung, sozialen Kontakt zu meiden. Menschen seiner direkten Umgebung (sein Vater, seine Mutter) weisen darauf hin, dass der zunehmende Einfluss von Marihuana seit seinem sechzehnten Lebensjahr geradezu eine Verwandlung seiner Persönlichkeit bewirkt habe: Der für gewöhnlich gut gelaunte und extrovertierte Junge isolierte sich immer mehr, hängte sein Studium an den Nagel, ließ sich auf ein allzu utopisches Kommune-Experiment auf dem Land in der Nähe des Hippie-Badeorts Canoa Quebrada ein und wurde, einmal zurück in Cascavel, trotz allerlei idealistischer Pläne in hohem Maße finanziell von seinen Eltern abhängig. Im Rückblick ist es seinem Kontakt mit Ayahuasca zu verdanken, dass er nicht weiter abglitt. Aber bevor es tatsächlich zu einem Umschwung kam, verschlimmerte sich seine Lage nur noch mehr. Eines Tages stürmte die Polizei mit Maschinengewehren Sítio Tanque und führte Marcos Bruder Hugo unter dem Verdacht von Rauschgiftkonsum ab. Marcos Tochter Mira erinnert sich:

Mein Vater und meine Mutter hatten damals ständig Krach. Sie rauchten alle beide Maconha. Einmal, erinnere ich mich, saßen sie mit Freunden an einem runden Tisch im Zimmer und rauchten und tanzten. An diesem Tag lernte ich, Maconha-Zigaretten zu drehen. Später, als meine Eltern es sich angewöhnt hatten, Ayahuasca zu trinken, schworen sie Maconha ganz ab.

Chiquinha blieb nur kurz in Cascavel. Sie sollte später ein zweites Zuhause in Italien finden, wo sie aktiv an der dortigen Santo Daime-Bewegung beteiligt war. Kurz nach ihrer Abreise hörten die Mitglieder der União do Vegetal in Fortaleza, dass Marco mit Ayahuasca in Berührung gekommen war. Die genauen Beweggründe sind schwer zu rekonstruieren, Tatsache ist, dass Marco und seine Frau Mercia diesmal zu einem Ritual eingeladen wurden. Zwei Jahre lang nahm das Paar an den Ayahuasca-Sitzungen teil. Dass sich Marco und Mercia anschließend wieder zurückzogen, hatte vor allem damit zu tun, dass sie wenig Affinität zu den anderen Ayahuasca-Trinkern in Fortaleza fühlten, und dass es eine Reihe von esoterischen Meinungsverschiedenheiten gab, auf die näher einzugehen hier zu weit führen würde.

Irgendwann in den Monaten bevor Marco und Mercia absprangen, fand auf ihrem Landgut am See eine besondere Sitzung statt, an der etwa dreißig Ayahuasca-Trinker aus Fortaleza teilnahmen. Es sollte entschieden werden, ob Marco im Namen der União do Vegetal eine eigene distribuição (den Beginn einer eigenen Gruppe von Ayahuasca-Trinkern) gründen dürfe. Das Ergebnis der Versammlung war negativ. Aus irgendeinem Grund war Meister Miguel, Gründer der União do Vegetal im Nordosten Brasiliens, in diese Angelegenheit nicht einbezogen worden. Wahrscheinlich spielte sich hinter den Kulissen ein Machtkampf ab; bereits bei dieser jungen Religionsgemeinschaft regte sich das allzu Menschliche, das sich früher oder später in jeder Religion manifestiert.

Die Abwesenheit des wichtigsten Meisters an jenem Tag in Cascavel erwies sich als Vorzeichen der endgültigen Spaltung der Gruppe einige Jahre später. In unserem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass derselbe Meister Miguel etwa sechs Jahre später, 1991, Sítio Tanque aufsuchte und am Ufer des kleinen Sees einen preparo organisierte, d.h. die Zubereitung des Tees nach einem festen Ritual. Marco und Mercia tranken damals schon sechs Jahre lang keinen Ayahuasca-Tee mehr, ihr Leben stand immer noch zum großen Teil unter dem Zeichen von Maconha. Marco:

Wir hörten, dass Miguel die União do Vegetal in Fortaleza verlassen hatte und baten ihn, uns zu lehren, wie man Ayahuasca zubereitet. Schon in der Art und Weise, wie er den preparo organisierte, zeigte sich seine Überlegenheit. Aus Belém an der Mündung des Amazonas ließ er sechs Säcke Mariri der Sorte caupurí kommen. Aus Acre – ganz auf der anderen Seite des Amazonasgebiets – wurde ein Sack Chacronablätter der Sorte cabocla per Flugzeug gebracht.

Auch Marcos Bruder Hugo (der damals gerade nach einigen Wochen im Gefängnis freigelassen worden war) nahm an dem preparo teil: