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Mami Bestseller
– 21–

Warum lügt ihr alle?

Chris weiß nicht mehr ein noch aus

Jutta von Kampen

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-711-9

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Die Silhouette der mittelalterlichen Stadt Rothenburg ob der Tauber tauchte auf. In dem vollbesetzten Bus ertönte ein vielstimmiges »Ah!« und »Oh!« aus Kinderkehlen. Das Kinderheim »Alpenblick« befand sich auf einem Jahresausflug.

Munter und aufgeregt schnatterten die Kinder durcheinander. Nur ganz hinten saß ein kleines Mädchen, das sich an der allgemeinen Aufregung nicht beteiligte.

Blaß und zart, zu klein für ihr Alter, ewig verträumt und deshalb von den anderen Kindern immer unterdrückt und nie für voll genommen, fristete Veronika ein kümmerliches Dasein am Rande der fröhlichen Gesellschaft.

Die Vergißmeinnichtaugen sahen sehnsuchtsvoll in die Ferne. Mit einer verlorenen Geste strich Veronika die krausen, immer ungekämmt wirkenden Zottelhaare aus dem Gesicht.

»Wir steigen gleich aus!« ertönte die Stimme der Kindergärtnerin. »He, Veronika, wach auf!«

Das kleine Mädchen zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Es reckte den Hals.

»Wir steigen aus, habe ich gesagt! Hast du das gehört?«

Das Kind nickte verstört, und die Kindergärtnerin seufzte vernehmlich. Bei diesem Kind wußte man nie, ob es begriffen hatte. Deshalb wandte sie sich an zwei größere Mädchen: »Rosi und Petra, ich lege euch noch einmal ans Herz: Paßt mir bloß auf das Schäfchen auf!«

»Ja, Tante Anni!« ertönte es wie aus einem Mund.

Der Bus hielt und das Aussteigen begann. Die großen Mädchen versetzten der kleinen Veronika ein paar Püffe.

»Los, mach schon!«

»Wegen dir alten Trödelliese sind wir immer die letzten!«

Veronika war diese Behandlung gewöhnt. Sie verhielt sich wie ein Esel, der durch Schläge angetrieben wird: Sie beeilte sich erst recht nicht.

Endlich standen alle auf dem Marktplatz. Die berühmte Uhr begann gerade zwölf zu schlagen. Zwei Fenster öffneten sich. Der Feldherr Tilly erschien an dem einen und der Bürgermeister Nusch am anderen. Der Bürgermeister hob einen gewaltigen Humpen an den Mund und leerte ihn in einem Zug. Durch diese beachtliche Trinkleistung hatte er die Stadt vor der Plünderung bewahrt. Jeden Tag um diese Stunde erinnerte die Rathausuhr an das historische Ereignis.

Die Kinder jauchzten, lachten und klatschten begeistert Beifall. Nur Veronika stand mitten in der Menge und sah nur die Röcke der Großen. Niemand dachte daran, sie hochzuheben oder nach vorn zu lassen.

Der Zug der Kinder setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden großen Mädchen, Rosi und Petra, nahmen die Kleine in ihre Mitte. Immer wieder versuchte Veronika, einen Blick in die herrlichen bunten Schaufensterauslagen zu werfen. Sie mußte dazu natürlich einen halben Schritt zurückbleiben und erntete jedesmal einen Knuff.

Die Gruppe erreichte die alte Stadtmauer. Eine enge Treppe mußte erstiegen werden, und die strenge Ordnung löste sich zwangsläufig auf. Mit Hurra und Gepolter rannten die Kinder den hölzernen Wehrgang entlang.

Die beiden Mädchen, die auf Veronika achten sollten, vergaßen die lästige Pflicht.

Durch die schmalen Schießscharten in der Mauer konnte man weit über das Tal sehen. Auf der anderen Seite blickte man auf die leuchtendroten verwinkelten Dächer, auf kleine Höfe und Gärten, in denen Gartenzwerge, Förster und Rehe ein gipsernes Dasein fristeten.

Die Kinder waren hinreichend beschäftigt, dies alles zu bewundern. Und als Veronika Rosi am Kleid zupfte, reagierte das größere Mädchen reichlich unwirsch. »Was willst du denn schon wieder?«

Veronika trat von einem Bein auf das andere. »Ich muß mal!«

»Hier geht das nicht!«

Unbekümmert lief Rosi weiter, und Veronika geriet in größte Nöte. Ratlos sah sie sich um. Was tun?

Sie erreichten einen Turm, durch den der Wehrgang führte. Veronika sah sich um. Die anderen waren voraus…

Die Angelegenheit war schnell erledigt. Aber nicht schnell genug. Denn die anderen Kinder waren nicht mehr zu sehen.

An der nächsten Treppe stieg sie von der Stadtmauer. Sie lief über das Kopfsteinpflaster. Die Mittagssonne brannte heiß. Plötzlich entdeckte Veronika einen sprudelnden Brunnen. Das kristallklare Wasser lief durch ein Rohr in einen Holztrog. Bei diesem Anblick verspürte das kleine Mädchen Durst. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und erreichte den Strahl mit dem Mund. Es schmeckte herrlich!

Dann steckte Veronika ihre Hände in den Trog und spielte mit den Strohhalmen, die auf der Wasseroberfläche schwammen, Schiffchen. Wenn sie nicht gestört wurde, hielt sie es bei einem Spiel lange aus.

Endlich hatte sie es doch satt. Sie schlenderte weiter. Aus einem Laden roch es herrlich nach frischem Brot. Veronika spürte ihren leeren Magen. Ihre hellblauen Augen verdunkelten sich.

Wenn man sie nicht fand – ob sie dann verhungern mußte?

Kurz entschlossen betrat Veronika das Geschäft, in dem viele Leute waren. Veronika bemerkte, daß sie alle möglichen Dinge in den Korb packten, ohne zu bezahlen. Doch die meisten Sachen interessierten das kleine Mädchen nicht. Nur vor dem Korb mit knusprigen Brötchen blieb sie stehen. In Gedanken biß sie in eins der goldgelben Brötchen; ihr lief das Wasser im Munde zusammen.

»Na, Kleine, du hast wohl großen Hunger?« fragte plötzlich eine Verkäuferin.

Veronika zuckte zusammen – wie immer, wenn sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Dann nickte sie heftig.

»Wo ist denn deine Mutter?« wollte die freundliche Verkäuferin wissen.

Veronika machte ein völlig ratloses Gesicht. Was sollte sie darauf antworten? Sie kannte nur Tanten.

»Sie ist wohl schon ’rausgegangen«, meinte die Verkäuferin. »Dann aber schnell hinterher!«

»Darf ich…?« fragte Veronika und erschrak über ihren eigenen Mut.

»Na, wenn der Hunger so groß ist, daß du sogar trockene Brötchen magst! Greif nur zu!«

Veronika wußte nicht, wie ihr geschah. Sie griff nach einem Brötchen und biß gierig hinein. Herrlich! Kein Kuchen hatte jemals so gut geschmeckt.

»Nun lauf aber!« Die Verkäuferin schob das kleine Mädchen aus der Tür.

Veronika fühlte sich nun, da der ärgste Hunger gestillt war, bedeutend wohler. Sie bummelte von Geschäft zu Geschäft. Wundervolle Sachen gab es da! Veronika war in einem Zauberreich. Und niemand störte sie. Niemand wollte etwas von ihr.

Doch plötzlich bemerkte sie, daß es kühler wurde. Der Hunger meldete sich wieder. Hatte sie denn im Bus keiner vermißt? Eigentlich war sie froh darüber. Aber bald kam die Nacht. Wo sollte sie schlafen? Sie merkte, daß sie sehr müde war.

Am Ende der Straße entdeckte sie ein Tor. Durch so ein Tor war der Bus vorhin auch gefahren. Ob der Bus dort unten wartete?

Veronika begann zu laufen. Immer schneller gerieten ihre Füßchen in Trab. Als sie das große Tor hinter sich gelassen hatte, stand sie auf einer Landstraße. Sie stürmte weiter. Von einem Bus war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht an der nächsten Biegung? Veronika lief über eine große Brücke. Nichts!

Ein Hund kam bellend auf sie zu. Veronika erschrak ein bißchen. Doch als sie ihn ansprach, wedelte er mit dem Schwanz.

»Tu mir nichts! Ich mag dich leiden, du bist ein hübscher Hund!«

Der Wolfsspitz beschnupperte das Kind, und als es ihm das Fell kraulte, war die Freundschaft geschlossen.

»Hast du nicht einen großen Bus gesehen?« fragte Veronika.

Der Spitz sah sie verständnislos an.

»Wo soll ich bloß hin heute abend?« Veronikas Augen wurden dunkel. Krampfhaft verschluckte sie die aufsteigenden Tränen.

Der Spitz lief ein Stück voraus die Straße entlang. Veronika ging mechanisch hinterher. Der Hund wollte spielen, aber das kleine Mädchen war schon viel zu müde.

Plötzlich sah es vor sich ein seltsames Haus. Es war hoch und schmal mit spitzem Dach, beinah wie ein Turm.

»Ist das aber ulkig!« staunte Veronika. Durch eine Pforte in der Mauer betrat sie den Garten. Unter einem Dach aus Weinlaub entdeckte sie einen Tisch aus Stein und davor eine Bank.

Veronika setzte sich erschöpft auf die Bank und ließ das Köpfchen auf den Tisch sinken. Müde blinzelte sie in das grüne Dämmerlicht. Es war hier so herrlich still und warm. Die steinerne Tischplatte strahlte die Sonnenwärme des Tages wieder.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war Veronika im Garten des Toppler-Schlößchens eingeschlafen.

*

In Würzburg hatten die Kinder ein Museum besichtigt. Dies war die letzte Station ihres Ausflugs. Alle waren schon ein bißchen müde und fingen an, herumzualbern.

An der Tür des Busses stand die Kindergärtnerin und zählte ihre Schäfchen. Nachdem alle eingestiegen waren, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß eins fehlte.

Sie hoffte, daß sie sich nur verzählt hatte, ging durch den Mittelgang und wiederholte die Prozedur mit ausgestrecktem Zeigefinger. Doch es blieb dabei: Einer ihrer Schützlinge fehlte.

»Wer ist es denn, der sich wieder einmal verbummelt hat?« fragte sie streng und blickte in die Runde. Und als niemand antwortete, forderte sie die Kinder energisch auf: »Schaut euch eure Sitznachbarn an! Nun, wer fehlt?«

»Veronika«, kam endlich eine leise Stimme.

»Veronika, natürlich! Unser Traumsuschen!« Die Kindergärtnerin wandte sich mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln an den Busfahrer, stieg wieder aus und eilte ins Museum zurück. Sie fragte die Aufsichtsbeamten nach dem kleinen blonden Mädchen, erhielt aber nur Kopfschütteln als Antwort.

Die junge Frau eilte wieder zum Bus und fragte heftig: »Rosi, Petra, warum habt ihr auf Veronika nicht aufgepaßt?«

»Aber wir haben doch…«

Die beiden Mädchen sahen sich schuldbewußt an. Beide dachten in diesem Moment das gleiche: Wir werden bestraft, wenn es herauskommt, daß wir die Kleine schon lange aus den Augen verloren haben!

Sie antworteten fast wie aus einem Mund: »In Rothenburg war Veronika aber noch da!«

»Und unterwegs?« forschte die Kindergärtnerin. Ihr Gesicht rötete sich vor Ärger. »Unterwegs haben wir doch auch noch einmal gehalten.«

»Da war Veronika auch noch da!« behaupteten die Mädchen.

Niemand widersprach. Veronika verhielt sich immer so still und unauffällig, daß man ihre Anwesenheit völlig vergessen konnte. Niemand wußte genau, ob er das kleine Mädchen noch gesehen hatte oder nicht.

»Dann kann sie ja nur hier verlorengegangen sein, während wir das Museum besichtigt haben! Einen Moment, bitte, noch!« Die Kindergärtnerin warf dem Chauffeur einen raschen Blick zu und verließ den Bus erneut.

Nachdem noch einmal alle Räume und Gänge des Museums durchsucht worden waren, rief die inzwischen schon völlig verzweifelte Kindergärtnerin die Polizei zu Hilfe. Sie sagte den Beamten gegenüber aus, daß Veronika nur hier in Würzburg verschwunden sein könnte.

So geschah es, daß niemand auf die Idee kam, das verlorene Schäfchen in Rothenburg zu suchen.

*

Professor Buss, ein weißhaariger Gelehrter, betrat tief in Gedanken versunken die Gaststube des »Oberen Felsenkellers«.

»Grüß Gott, Herr Professor!« begrüßte ihn die Wirtin.

Der Gelehrte schreckte aus seinen Gedanken. »Ah ja, guten Abend, Frau Eckstein.« Sie lächelten sich beide an. »Bitte, das Übliche.«

»Den Schlummertrunk, schon recht!« Die Wirtin beeilte sich, aus dem Felsenkeller den genau temperierten Frankenwein zu holen, den ihr Gast fast jeden Abend nach seinem ausgedehnten Spaziergang bei ihr trank.

Die Wirtin verließ den Raum, ohne daß es dem Gelehrten auffiel. Der Wolfsspitz nutzte die Gelegenheit und huschte auf leisen Pfoten hinein. Er stieß seine Nase gegen das Bein des alten Herrn, der daraufhin mechanisch das dichte graue Fell des Hundes streichelte. »Na, Teddy, du alter Stromer!« Der Hund streckte sich zu Füßen des Mannes aus. Nur das langsame Tick-Tack der Uhr und Teddys zufriedenes Schnaufen unterbrachen die Stille.

Genießerisch schlürfte der Alte den edlen Tropfen, der seine Gedanken zum Höhenflug trieb.

Schließlich erhob er sich und meinte: »Gehen wir, Teddy.«

Dem grauen Spitz war es zur Gewohnheit geworden, seinen Freund jeden Abend bis zum Toppler-Schlößchen zu begleiten.

Der Professor hatte das ehemalige Sommerschlößchen für einige Monate gemietet. Er fühlte sich in der altertümlichen, etwas versponnenen Atmosphäre sehr wohl, obwohl das Haus nichts von den Errungenschaften der modernen Technik enthielt. Es gab weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Nicht einmal einen Herd gab es, sondern nur einen offenen Kamin mit stählernem Dreifuß.

In dieser Umgebung gelang dem Gelehrten am ehesten die geistige Versenkung in die Geheimnisse der Natur.

Teddy stürmte durch die Gartenpforte und stutzte. Er stemmte die Vorderpfoten gegen den Steintisch.

Ohne den Hund zu beachten, ging der Professor gedankenversunken zur Haustür des Schlößchens. Teddy aber lief ihm nach und stieß ihn mit der Nase an. Dann machte er kehrt und blieb erwartungsvoll stehen. Als der alte Mann noch immer nicht begriff, gab der Spitz Laut.

Jetzt endlich entdeckte der Gelehrte das schlafende Kind.

»Das ist ja wie im Märchen vom Goldtöchterchen!« murmelte er verblüfft, griff sich in den dünnen weißen Bart. Er hatte keine Ahnung vom Umgang mit Kindern. Sein eigener Sohn war längst erwachsen, und früher hatte er mit dem kleinen Jungen nicht viel anzufangen gewußt. Ihm fiel ein, daß die Mutter das Kind sicher vermissen würde.

Vorsichtig rüttelte er an der Schulter des schlafenden Mädchens.

Veronika grunzte nur unwillig.

Der Professor rüttelte stärker. »He, du!«

Das Kind schlug für ein paar Sekunden die Augen auf und ein schlaftrunkenes Lächeln huschte über das Gesichtchen.

»Opa!« sagte es, kuschelte ihren Kopf auf dem Arm zurecht und setzte seinen Schlaf fort.