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Mein Weg zur Feuerwehr glich einem Sprung ins kalte Wasser. Noch während meines Elektrotechnikstudiums an der Uni Duisburg erfuhr ich von meiner Frau, dass „wir“ schwanger sind. Eine Neuigkeit, die mir damals ein bombastisches Gefühlschaos aus Angst und Vorfreude bescherte. Vater werden – ein Status quo ante, der sich natürlich toll anhört, aber angesichts des eigenen Studentendaseins mit fast null Einkommen und einer plötzlichen Versorgerrolle ziemlich rasch jegliche Vorfreude verliert. Mir blieben also nur noch neun Monate Zeit, um mein Studium erfolgreich zu beenden und einen möglichst gut dotierten Arbeitsplatz zu finden. Anfang der 1990er-Jahre ein durchaus sportliches Ziel, wenn man bedenkt, dass mich zu diesem Zeitpunkt weder ein Gedanke an eine mögliche „Wir bekommen ein Kind“-Botschaft noch einer ans Studienende beschäftigte. Zu studieren bedeutete damals in erster Linie: Lernen bis zum Umfallen, und zwar verbunden mit dem schönen Aspekt freier Zeiteinteilung. Manchmal schlug dabei die Waagschale eher zum Letzterem aus – je nach Wetter und Stimmung zwischen den Studierenden.

Nicht neun, sondern 18 Monate später hatte ich tatsächlich das Diplom in der Tasche und einen Ausbildungsplatz bei der Feuerwehr Duisburg. Für den gehobenen Dienst, wie es früher hieß. Allerdings hatte ich praktisch keine Ahnung, auf was genau ich mich da eingelassen hatte. Mit dem Begriff Feuerwehr verband ich damals nur die Telefonnummer 112 und rote Autos. Das war auch schon alles. Insofern versuchte ich meine Unkenntnis bei dem Vorstellungsgespräch weitgehend zu verbergen. Vergebens. Mein mutiger Versuch, gegen Ende des Gesprächs durch eine Frage Interesse zu zeigen, endete mit der Quittung: „Das bringen wir Ihnen schon alles bei!“ Natürlich. Klar. Das dachte ich mir schon. Ich war sehr unsicher, ob ausgerechnet ich derjenige unter den vielen Bewerbern sein sollte, der diesen Platz bekommt. Eine Woche später erhielt ich die vorläufige Absage. Ich stand auf der Warteliste. Es gab mindestens einen Mitbewerber, dem man diesen Beruf eher zutraute als mir. Ich hatte Verständnis dafür.

Wieder eine Woche später erhielt ich dann einen Anruf vom Personalamt – die Zusage. Jedenfalls sofern die Ärzte bei den üblichen gesundheitlichen Einstellungsuntersuchungen keinen Stress machen würden. Machten sie aber. Meine Augen waren nicht in Ordnung. Das waren sie noch nie. Bereits für den Führerschein benötigte ich ein Gutachten. Und nun war erneut eines vonnöten. Alles hing nun davon ab. Und es begann eine Zeit des Wartens mit Gebet, Hoffen, Bangen und noch mal Gebet. Nach ein paar Tagen war es dann amtlich: Jörg Helmrich ist Auszubildender im gehobenen Dienst als Brandoberinspektoranwärter. Was für ein Wort! Kann man ja kaum aussprechen, dachte ich damals, geschweige denn fehlerfrei aufsagen. Trotzdem: Ich war sehr dankbar!

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Die Ausbildung dauerte knapp zwei Jahre und war aufgeteilt in zahlreiche Ausbildungsabschnitte irgendwo in Deutschland, inklusive etlicher Unterbringungen in Mehrbettzimmern sowie einer Unmenge an Lernstoff und Prüfungen. Für mich war es eine extrem spannende und lehrreiche Zeit. Glücklicherweise überstand ich sie weitgehend verletzungsfrei. Und dank unzähliger günstiger öffentlicher Nahverkehrsverbindungen sowie mittels beeindruckend hoher Telefonrechnungen (Handys gab es ja damals noch nicht), schafften wir es auch als junge dreiköpfige Familie, meinen Einstieg in die Feuerwehr zu stemmen.

Schon in der Ausbildung ist es üblich, Einsätze zu begleiten, denn nichts, absolut nichts ist wertvoller als Berufs- und Einsatzerfahrung. Logisch! Kein Lehrbuch dieser Welt kann praktisches Wissen vermitteln. Erst recht nicht, wenn jede Einsatzsituation anders ist und man nie hundertprozentig weiß, was genau einen erwartet.

Eine Zeit lang verbarg ich mein Christsein vor meinen Kollegen. Rückblickend war das ein Fehler. Denn es gibt nichts Wichtigeres, als authentisch zu leben und sich zu den Werten zu bekennen, für die das eigene Herz brennt. Diese Lektion lernte ich erst viel später.

Als mir dann aber in der Ausbildung der Leitspruch der Feuerwehren Gott zur Ehr’, dem Nächsten zur Wehr sehr wichtig wurde, wagte ich mich mit meinem Glauben an Gott mehr und mehr aus der Deckung. Insbesondere weil ich hier und da davon zu berichten wusste, wie ich Ereignisse, die sprichwörtlich unter die Haut gehen, durch das Gebet mit Gott besser verarbeiten konnte, während andere sich mit der emotionalen Aufarbeitung eines zurückliegenden Einsatzes oft schwertaten. Spätestens wenn das Thema Tod aufkam, kam ich ins Gespräch über meinen Umgang damit. Dann erzählte ich ganz offen davon, wie Jesus mir dabei persönlich und ganz praktisch half, ohne mein Gegenüber zu sehr mit überfrommen Redewendungen zu traktieren.

Nach ungefähr der Hälfte der Ausbildungszeit war ich endlich mal wieder für einen Ausbildungsabschnitt zu Hause, also bei „meiner“ Feuerwehr in Duisburg auf der damals alten Feuerwache 1. Ich mochte den Altbau mit seinen engen Gängen und Treppen – vor allem wegen der Rutschstangen. Jeder, der das draufhat, schmeißt sich, wenn der Alarm losgeht, an die Stange und rutscht ratzfatz nach unten in die Fahrzeughalle … und kommt dort hoffentlich heile an.

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Bei der Feuerwehr ist es keine Frage, ob, sondern nur wann der erste Alarm des Tages ertönt. Dachstuhlbrand lautete das Einsatzstichwort. Irgendwo in einem anderen Stadtteil. Unten in der Fahrzeughalle angekommen wurde ich als Auszubildender irgendeinem Fahrzeug zugewiesen. Dort, wo nicht nur ein Sitz frei ist, sondern wo ich auch niemand anderem einen wichtigen Platz wegnehme. Schließlich hatte ich ja noch nicht viel Wissen angehäuft und stand deswegen oft beobachtend, aber weitgehend ahnungslos an der Einsatzstelle herum. Daher galt für mich überall: Wenn schon herumstehen, dann möglichst nicht im Weg!

Auf der Fahrt zur besagten Einsatzstelle hörte ich den Funk mit und versuchte mir als Neuling ein Bild des Ganzen vor Augen zu malen, um daraus die ersten Schlüsse zu ziehen. Schließlich würde es eines Tages zu meinen Aufgaben gehören, einen solchen Dachstuhlbrandeinsatz zu koordinieren.

Ein Dachstuhlbrand ist nicht gut. Das versteht sich praktisch von selbst und doch muss man einen solchen Brand erst mal gesehen haben, um zu verstehen, welche verheerenden Folgen ein solches Feuer haben kann. Nicht nur das Dach eines Gebäudes wird unbrauchbar, weil es ganz oder teilweise verbrennt, sondern auch die darunterliegenden Etagen werden durch das Unglück arg in Mitleidenschaft gezogen. Das Löschwasser sucht sich seinen Weg, egal welchen. Darauf haben wir wirklich keinen Einfluss. Fest steht nur: immer von oben nach unten. Zudem besteht bei geschlossener Bauweise, also wenn die Häuser dicht an dicht gebaut sind, stets die Gefahr, dass sich ein solches Feuer rasch auf die Nachbarhäuser ausbreitet. Es liegt auf der Hand, dass so etwas zu verhindern ist. Folglich sind die ersten Maßnahmen: die Kontrolle des Hauses (vorne und hinten), eine sehr schnelle Wasserversorgung und ein möglichst rasches und sicheres Aufstellen der Drehleitern. Kurzum: Jede Hand wird gebraucht, um die Sicherheit der Bewohner und die der eigenen Kollegen zu jeder Zeit zu gewährleisten. So etwas geht nie ohne rege, fast hektische Betriebsamkeit, gemischt mit professionellem Handling.

Nach dem Abschluss der Löschmaßnahmen machte sich der damalige Einsatzleiter bereit, die Reste des Dachgeschosses persönlich in Augenschein zu nehmen. Als er mich dann am Ärmel zupfte, gab er mir zu verstehen, dass ich ihn begleiten sollte. Da es trotz des Ablöschens noch immer an sehr vielen Stellen qualmte, legten wir uns unsere Lebensversicherung in Form des Atemschutzgerätes an. Mit Atemschutzmaske und ausreichend viel Atemluftvorrat für die nächsten 30 Minuten auf dem Rücken machten wir uns auf den Weg durch das Treppenhaus bis ganz nach oben.

Dort angekommen blickte ich über die völlig verkohlten Überreste des Dachstuhls. Das Dach glich einem Cabrio. Ich sah die unzähligen Dachziegel, die ganz oder zerbrochen auf dem Fußboden und auf dem Fußweg vor dem Haus lagen. Aber ich muss zugeben, das war nicht das, wonach ich wirklich Ausschau hielt oder was mich besonders beeindruckte. Denn wie so ein völlig verbrannter Dachstuhl aussieht, hätte ich mir trotz meiner kurzen Zeit bei der Feuerwehr auch genauso vorgestellt. Mein Interesse galt vielmehr der Leiche.

Wir hatten die Information, dass ein Mann sich in dem Dachstuhl aufgehalten haben sollte. Dass dieser dann bei dem Feuer ums Leben kam, hatten die Kollegen bereits bestätigt. Der Tod eines Menschen ist rasch gemeldet beziehungsweise hier jetzt schnell niedergeschrieben. Doch was das genau bedeutet, ist vielen nicht klar. Jegliche Meldung über einen toten Menschen bedeutet, dass ein Leben sein Ende gefunden hat. Ob nun verunfallt, willentlich oder weil es an der Zeit war. Fakt ist, einen Menschen mit all seinen Erfahrungen und Beziehungen, seiner Prägung, seinen Werten, seinem ganzen Sein gibt es nicht mehr. Dieses Wissen über den Tod einer fremden oder nahestehenden Person ist das eine. Der Anblick einer Brandleiche, eines Menschen, der bei lebendigem Leibe qualvoll oder des Nachts im Schlaf durch einen Brand oder eine Rauchvergiftung ums Leben gekommen ist, ist das andere.

Mehrere Kollegen waren immer noch dabei, vereinzelte Glutnester zu löschen. Einer von ihnen winkte uns heran, um mit uns zu reden. Sich mit Atemschutzmasken vor dem Gesicht zu unterhalten, ist nicht ganz einfach. Man muss schon ordentlich laut und deutlich in die Maske sprechen, damit ein Gegenüber – in diesem Fall waren es gleich zwei, mein Kollege und ich – den Hinweis, den der Kollege uns geben wollte, versteht. Um seine Worte zu verdeutlichen, wies er mit seiner Hand auf eine Stelle, nur ein paar Meter von uns entfernt. Dort lag sie. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen. Die Leiche.

Auf einer der Dachgauben lag ein Mann in blauer Latzhose und Arbeiterhemd mit dem Rücken zu uns gewandt. Von seiner Hose war nicht mehr allzu viel übrig, sodass sie den Blick auf eins seiner Beine freigab.

Dieser Anblick erinnerte mich spontan an ein aufgeplatztes Brühwürstchen. Ich weiß, das klingt jetzt nicht sehr appetitlich, aber ich bin ehrlich: Es war genau dieser Gedanke, der mir sofort und ungebremst durch den Kopf schoss.

Vielen Kollegen gelingt der Anblick schrecklich verunfallter Menschen nur mit einem guten Schuss von stillem Sarkasmus – und den muss man nicht trainieren. Ein solches Verhalten ist weitgehend normal, menschlich eben, und sorgt im richtigen Moment für die notwendige Kompensation des Erlebten. Leider schaffe ich es selbst heutzutage, nach etlichen Dienstjahren, nicht immer, diesen Reflex zu unterdrücken und kompensiere selbst manches Mal ein bisschen zu viel. Das ist kein Ding, worauf ich stolz bin, aber es ist vermutlich auch nichts, was ich jemals vollständig in den Griff bekommen werde.

Wie elektrisiert starrte ich auf dieses Bein. Natürlich tat mir der Mann leid, aber mehr noch interessierte mich, wie es zu dem Brand kommen konnte. Das herauszufinden war jedoch nicht unsere Aufgabe. Polizeisache! Unsere Aufgabe bestand vielmehr nun in einem ganz praktischen Problem, nämlich die verkohlte Leiche zu bergen und vom Dach zu holen. Das Vorgehen war schnell klar: eine Drehleiter und zwei Kollegen. Die Durchführung allerdings schwierig. Das Bergen der Leiche benötigte viel Zeit, vor allem weil wir unser Vorhaben vor den neugierigen Blicken der Anwohner und den inzwischen eingetroffenen Pressevertretern verbergen wollten. Aus Rücksicht vor den Angehörigen und letztlich aus Würde vor dem Toten möchte man beim Bergen einer Leiche am liebsten alles Verhüllen. Das geht aber nicht immer. So auch nicht in diesem Fall.

Während meine Kollegen die Leiche von der Gaube herunterholten, baute die Polizei einen kleinen Pavillion auf, in den die Leiche sofort nach Ankunft am Boden hineingebracht wurde. Einen Blick ins Zelt konnte ich mir gut verkneifen; der eine oder andere Kameramann und Journalist konnte hingegen seine Neugier berufsbedingt nicht zurückhalten und machte Versuche, ins Zelt zu gelangen. Zum Glück vergeblich. Die Hürde durch die anwesende Polizei war für sie doch zu hoch.

Wie ich später erfuhr, verunglückte der Mann bei dem Versuch, die Dachabdeckung der Gaube mit einem Brenner, den auch Dachdecker benutzen, selber zu reparieren. Gas, das dabei unsachgemäß aus der danebenstehenden Gasflasche austrat, strömte vermutlich in seine Kleidung, entzündete sich und damit urplötzlich den Mann mit verheerenden Folgen.

Dieser verunglückte Heimwerker war „meine“ erste Leiche, die ich in meinem noch jungen Dienst als Feuerwehrmann zu Gesicht bekam. Und ich behaupte, jeder Kollege kann sich zeit seines Lebens an „seinen“ ersten Toten erinnern. Das vergisst man nicht. Ich jedenfalls nicht. Doch was ich damals nicht wusste: Nur kurze Zeit später sollte ich im Rahmen der Ausbildung ein weiteres Mal mit dem Tod konfrontiert sein.

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Ich war als „dritter Mann“ auf einem Rettungswagen eingeteilt. Der Dritte ist der, der entweder keine Ahnung hat, Praktikant ist oder zu Ausbildungszwecken mitfährt. Auf mich traf praktisch alles zu, am meisten jedoch die Ahnungslosigkeit. Dennoch war es mir wichtig, wenigstens ein bisschen praktische Erfahrung auch im Bereich des Rettungsdienstes zu sammeln.

Es war am späten Vormittag, als unser Rettungswagen zu einem Friseursalon gerufen wurde. Die Situation, die wir dann dort vorfanden, konnte skurriler nicht sein. Wir trafen eine völlig schockierte Friseurin an und sahen eine ältere Dame mit halb fertig frisiertem Haarschopf und bekleidet mit einem Umhang regungslos in einem der Frisierstühle des Salons sitzen. Die Friseurin erzählte uns, sie habe der Kundin gerade die Haare geschnitten, als diese den Kopf zur Seite neigte und sich plötzlich nicht mehr rührte. Einfach so.

Sofort holten wir die Dame vom Frisiersitz, legten sie in einen durch einen Vorhang abgetrennten Bereich des Salons auf den Boden und begannen mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung. Das war das erste Mal für mich. In diesem Moment traf auch der Notarzt ein, der sofort die Reanimation übernahm und der Dame ein Elektrokardiogramm anlegte. Er gab uns dann aber sehr schnell das Signal, dass hier nichts mehr zu machen sei. Die Dame war leider verstorben.

Ich kniete noch neben der Dame und konnte die Situation kaum fassen. Da geht eine Frau zum Friseur, um sich zurechtmachen zu lassen und stirbt. Einfach so. Als uns dann später noch die Friseurin erzählte, die Dame sei gekommen, um sich anlässlich der Beerdigung einer kürzlich verstorbenen Nachbarin die Haare machen zu lassen, wurde die Situation äußerst skurril. Sie ging zum Friseur, um sich für die Beerdigung ihrer vermutlich besten Nachbarsfreundin die Haare machen zu lassen, verstarb dort aber dann selbst.

Im Rückblick auf diesen Einsatz kam mir ein Wort aus den Psalmen in den Sinn, in dem der Psalmist Gott bittet: „Lass uns begreifen, welche Zeit wir zum Leben haben – damit wir klug werden und es vernünftig gestalten“ (Psalm 90,12; BB).

Das Leben schreibt seltsame Geschichten. Und manchmal dürfen wir Teil dieser Geschichten sein, um sie anderen zu erzählen. Und genau das ist wichtig. Wir müssen von dem erzählen, was wir erleben. Wir müssen unserer Umwelt einen Einblick in unser Leben und Erleben geben. Denn jeder liest oder hört gerne Geschichten, auch wenn manche davon mit den Jahren etwas dicker erzählt werden, als sie anfangs wirklich waren. Doch Geschichten, die unser Leben schreibt, beschönigen nichts.

So auch diese Geschichte. Unser Leben ist kurz. Niemand weiß, wann es endet. Aber wir sind aufgefordert, die Zeit, die wir haben, vernünftig zu gestalten, um ein möglichst erfülltes Leben zu führen. Und angesichts des plötzlichen Todes dieser Frau habe auch ich mir die Frage gestellt: Was mache ich eigentlich mit meiner Zeit?

Auch wenn ich nun hier in diesem Buch einige Geschichten erzähle, meine Feuerwehrkollegen könnten, wenn sie wollten, vermutlich unendlich viele weitere spektakuläre Geschichten erzählen. Von Freud und Leid, dass einem der Mund offen stehen bleibt. Von schönen Erlebnissen, von Toten, schwer verletzten Menschen, von Geretteten in höchster Not und anderen Begebenheiten aus dem eigenen Leben. Ich möchte uns allen Mut machen, diese Geschichten zu erzählen, um aus ihnen zu lernen und daraus fürs Leben klug zu werden.

3.
Freier Fall

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Herbst. Das ist nicht nur die Jahreszeit des stark bewölkten Himmels, sondern auch die unangenehme Zeit für Menschen mit düsteren Gedanken. Mir sind aus meinem persönlichen Umfeld Personen bekannt, die in dieser Jahreszeit noch stärker als sonst unter Schwermut und tendenziell depressiven Momenten leiden. Und ganz ehrlich ist es letztlich ja für alle nicht schön: Morgens geht’s im Dunkeln zur Arbeit und nachmittags im Dunkeln wieder nach Hause. Nine-to-five gilt jedoch nicht für die Feuerwehr, Herbststimmung dagegen schon. Die 24-Stunden-Schicht einer Dienstzeit beginnt und endet morgens um acht, da ist es meist hell. Das Herbstwetter nimmt vielmehr Einfluss auf Einsätze durch Sturmschäden oder tägliche To-dos auf der Wache: Bei starkem Wind werden eben die Kettensägen noch einmal überprüft und bei angekündigtem Starkregen sind auch mal ein paar mehr Feuerwehrangehörige in Alarmbereitschaft versetzt, um bei Bedarf – wie man bei der Feuerwehr sagt – „vor die Lage zu kommen“. Das Ganze hat manchmal etwas von einem Schachspiel, denn man möchte dem „Gegner“ – in diesem Fall dem Wetter – einen Zug, einen Schritt, einen Gedanken strategisch voraus sein, um Schäden für Leib und Leben der Bürger abzuwenden, bevor sie überhaupt entstehen.

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Es war damals ein später, bereits dunkler Novembernachmittag, als die Leitstelle einen Notruf über die 112 erhielt – von einer offenbar alkoholisierten Frau. Sie war in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, auf den Spitzboden eines Mehrfamilienhauses gestiegen, hatte eines der kleinen Dachfenster geöffnet und war buchstäblich lebensmüde hinausgeklettert. In dieser Position verharrte sie nun schon eine ganze Weile. Keine Ahnung, wie lange sie gebraucht hatte, um zu realisieren, dass die Situation, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte, nicht die allerbeste war, um es mal sehr vorsichtig zu beschreiben. Irgendwann aber hatte sie sich dann doch dafür entschieden, den Notruf zu wählen. Eine sehr gute, wenn auch sehr späte Idee.

Solche Situationen, in denen ein Mensch in einer für ihn ausweglosen Lage steckt, erinnern mich meist daran, wie ich es als Christ – als ein Mensch, als jemand, der an Gott glaubt – trotz meines christlichen Hintergrundes und besseren Wissens schaffe, mein Leben manchmal in eine beinahe ausweglose Situation zu manövrieren. Vielleicht aus Frust, aus Verzweiflung oder aus einer Art Rebellion heraus. Manchmal ist das Ganze vielleicht auch nur bloß ein Hilferuf, ein Engpass im Leben, um Gott durch einen Schuss Selbstmitleid zu drohen, ihn in die Knie zu zwingen, damit endlich mal jemand ein Ohr für mein Problem, meine Ausweglosigkeit und meinen unbändigen Frust hat.

Diese Frau war nicht die erste Patientin, die in suizidaler Absicht ihrem Leben aus großer Höhe ein Finale bereiten wollte. Die wenigsten tun es am Ende wirklich. Denn Gott sei Dank steckt meist noch so viel „Restlebensliebe“ im Menschen, dass viele in ihrer unbequemen Situation ausharren, bis wir als Feuerwehr alarmiert werden und die Einsatzstelle erreichen. Doch wissen und garantieren tut uns das keiner. Ich weiß bloß: Der Alarm und der Pieper am Gürtel gehen los und Sekunden später mache ich mich gemeinsam mit den Kollegen mit Rettungsgedanken auf den Weg.

Doch dafür muss man den Weg erst einmal kennen …

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In dem hier geschilderten Fall war die Frau leider nicht mehr in Lage, sei es wegen ein paar Gläsern Wein zu viel oder aufgrund von Ortsunkenntnis, dem Kollegen in der Leitstelle ihre Adresse zu nennen. Für uns bedeutete das zunächst: ohne Adresse keine Rettung. Doch ein Disponent in der Leitstelle gibt nicht so schnell auf. Er weiß ja, dass man in solch einer Situation nicht auflegen kann. Schließlich war die Anruferin echt, ihr Problem ebenfalls und ihre Not war deutlich herauszuhören. Was genau sie meinem Kollegen ins Ohr rief, weiß ich nicht. Er jedenfalls versuchte über gezieltes Nachfragen „Was sehen sie?“, „Was hören Sie?“ und dergleichen zu erreichen, die Örtlichkeit so konkret wie möglich einzugrenzen. Vermutlich würde man heute den Anrufer bitten, seinen Standort via Smartphone zu senden, doch der hier beschriebene Einsatz fand zu einer Zeit statt, als es noch keine technisch so versierten Smartphones gab. Eine Zeit, die Teenagern von heute wohl als mittelalterlich und ganz und gar unwirklich erscheint.

Wenige Augenblicke nach dem Telefonat alarmierte der Disponent in der Leitstelle den Löschzug einer Feuerwache im Stadtteil seiner Ermittlung. Es war die Wache, auf der auch ich meinen Dienst verbrachte. Folglich ertönte auch bei mir der unüberhörbare Alarmton auf dem an meinem Gürtel befindlichen Pieper. Mein Puls schnellte hoch und noch während ich versuchte das Display des Piepers zu lesen, kam auch schon aus dem Lautsprecher der Hinweis: Person droht zu springen, Adresse ...

Ratzfatz stiegen alle alarmierten Kollegen in die Fahrzeuge. Mit dabei: ein großes Löschgruppenfahrzeug. Auch wenn es hier nicht ums Löschen ging, auf diesem Fahrzeug sind zahlreiche Gerätschaften verpackt, die bei einem Einsatz wie diesem sehr hilfreich sind. Dazu noch die Drehleiter und ich als Einsatzleiter in einem sogenannten Einsatzleitwagen, damals ein SUV. Also Blaulicht an, Horn an und los.

Während der Anfahrt erhielt ich letzte Informationen – dass eben nicht klar war, wo die Frau am Fenster hockte. Allerdings war man nach den Rückfragen ziemlich sicher, die richtige Straße herausgefunden zu haben.

Nur noch wenige Hundert Meter von der vermuteten Einsatzstelle entfernt ordnete ich per Funk an, dass Blaulicht und Martinshorn auszuschalten seien, um weitgehend „heimlich“ zu der Frau in ihrer Notsituation vorzudringen. Ich wollte vermeiden, dass sie ihre Suizidabsicht in letzter Sekunde in die Tat umsetzte, sobald sie uns kommen sah und hörte. Man weiß in einem solchen Moment ja nie, wie sich die Person verhält.

Mit starken Taschenlampen suchten wir die Dächer ab und entdeckten tatsächlich sehr schnell die Frau, wie sie in einer Dachluke halb saß, halb lag, sich selbst irgendwie dem Tod geweiht. Drei Etagen plus Dachgeschoss, das macht etwa 12 bis 15 Meter. Aus dieser Höhe auf den Asphalt aufzuschlagen ist vermutlich buchstäblich „todsicher“, zumindest aber bei Überleben mit starken Schmerzen, schwersten Verletzungen und einer dauerhaften Einschränkung verbunden. Unser Ziel war es, genau das zu verhindern.

Es begann ein Wettlauf gegen die Zeit. Niemand wusste, ob und wann die Frau ihr Vorhaben doch noch in die Tat umsetzen würde und ob ihre Kraft, derart auszuharren, ausreichen würde. Gesehen hatte sie uns in der Zwischenzeit, unsere Fahrzeuge waren nicht zu verstecken. Entlang der geschlossenen Häuserfassade standen zahlreiche geparkte Pkw. Interessanterweise war aber direkt unter der Frau kein Auto abgestellt. Ein mehr als glücklicher Umstand, denn nur so konnten wir ungehindert unseren „Sprungretter“ aufstellen. Hierbei handelt es sich um ein aufblasbares Polster, etwa drei Meter im Quadrat und zwei Meter hoch. „Aufgeblasen“ wird es sehr flott durch eine Atemluftflasche. Binnen weniger Sekunden ist der Sprungretter einsatzbereit.

Während also ein Teil meiner Kollegen damit beschäftigt war, die notwendige Luft ins Polster zu bekommen, stellte ich einen Feuerwehrkollegen auf die andere Straßenseite mit dem Auftrag, sofort und sehr laut zu rufen, falls die Frau uns doch zuvorkommt und noch hinunterspringt oder vielleicht unabsichtlich fällt. Ein Fall aus dieser Höhe dauert nicht mal ganze zwei Sekunden, und ich wollte tunlichst verhindern, dass sie meinen Kollegen auf den Kopf fällt.

Der Einsatz verlief bislang gut. Zwischenzeitlich war auch medizinisches Personal eingetroffen und die Polizei hatte die Straße gesperrt, während wir weiterhin im Kampf gegen die Uhr, genauer gesagt gegen den Suizidwillen der Frau, mit den Gerätschaften hantierten.

An Einsatzstellen verliert man schnell das Zeitgefühl. Man weiß manchmal nicht, wie lange man schon vor Ort oder in betriebsamer Eile unterwegs ist. Daher weiß ich auch nicht mehr, wie lange es letztlich dauerte …

Sie fiel.

… ich weiß nur, dass die Frau gegen jede Vermutung, gegen jegliche Vernunft und vollkommen unerwartet für eine Reaktion des dafür abgestellten Kollegen den Halt verlor oder verlieren wollte und lautlos nach unten stürzte.

Aus 12 bis 15 Metern Höhe den Sprungretter zu treffen, ist nicht einfach. Schon eine seitliche Böe kann die Fallrichtung nachteilig verändern. Doch die Frau fiel lautlos drei Etagen an der Fassade herunter und versank treffsicher im eigens für sie aufgestellten Polster.

Der Kollege, der eigentlich ihr Fallen laut ankündigen sollte, war selbst derart überrascht, dass ihm die Worte im Hals stecken geblieben waren. Plötzlich lag die Frau direkt neben uns.

Ich spürte einen Mix aus Erleichterung und Anspannung. War sie okay? Statistisch gesehen liegt die Überlebenschance, wenn man in der Mitte des Polsters landet, bei einhundert Prozent. Die Frau landete allerdings am Rand und blieb für einen kurzen Augenblick regungslos auf dem Bordstein liegen. Der heraneilende Arzt packte sie am Arm, doch da stand die Frau schon ohne Vorwarnung auf. Sie holte tief Luft und fing sofort an, uns aus dem Brustton der Überzeugung heraus zu beschimpfen. Was uns denn einfiele, ihr das Leben zu retten? Sie fand deutliche Worte, auch solche, die unter die Gürtellinie gehen, um ihrem Unmut, doch noch zu leben, den ihr wichtigen Ausdruck zu verleihen.

Meine Fresse, ist die doof. Verzeihung, aber ich konnte in dem Moment nichts anderes denken. Als Einsatzkraft ist man trotz aller Professionalität und Berufserfahrung sowie eigener Aufregung dennoch in erster Linie Mensch. Und als solcher konnte ich die Reaktion der Frau nicht verstehen. Wie kann „die“ uns noch anschnauzen, obwohl wir unter nahezu unmöglichen Umständen zu ihr gefahren sind und alles in Bewegung gesetzt haben, um sie zu retten? Nur um uns als „Belohnung“ aufs Übelste anschnauzen zu lassen? Na ja, dachte ich, sie hatte ordentlich einen über den Durst getrunken, vielleicht denkt sie in ein paar Stunden anders über ihre Äußerungen und die ganze Situation, und sie ist heilfroh, dass sie noch am Leben ist.

Abmarsch!

Feuerwehrleute sind Pragmatiker. Sie kommen, sehen, retten und gehen wieder. Danach wartet man auf den nächsten Einsatz. So auch hier. Wir übergaben die Frau dem Rettungsdienst, der sie ins nächstgelegene Krankenhaus brachte. Mit diesem Schritt verlieren wir die Patienten meist vollständig vom Radar. Wir erhalten beinahe nie eine Rückmeldung, wie es den Menschen weiter erging; es sei denn, sie wenden sich im Nachhinein an uns. Dann drücken sie uns meist Dank aus, dass sie froh sind, dass wir zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren. Worte, die wir gerne lesen.

Von dieser Frau habe ich allerdings nie wieder etwas gehört. Keine Ahnung, wie es mit ihr weiterging.

Als Christ wünsche ich mir manchmal, mehr über die geretteten Menschen zu erfahren und die Erlaubnis zu erhalten, an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen, um etwas hinter ihre Kulisse zu blicken. Aber andererseits ist die Distanz zwischen mir und den geretteten Personen auch wichtig, um nicht alles im Kopf zu behalten und mein Herz nicht übermäßig zu beschweren. Es ist letzten Endes tröstlich und gut, dass ich sie für mich persönlich mit einem kurzen Gedanken, einem Gebet, der Obhut eines Größeren anbefehlen kann. Jemandem, der „Acht auf aller Menschen Gänge“ (Sprüche 5,3) hat.

4.
Dicke Säue

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