Richard Wagner
Götterdämmerung
Richard Wagner
Götterdämmerung
Textbuch
Einführung und Kommentar
von Kurt Pahlen
unter Mitarbeit von Rosmarie König
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Bestellnummer SDP 44
ISBN 978-3-7957-9190-2

Originalausgabe Februar 1983
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
7 Zur Aufführung
9 Textbuch mit Erläuterungen
zu Musik und Handlung
220 Inhalt der vier Dramen des Ring des Nibelungen
(Kurzfassung)
230 Inhalt der Götterdämmerung
253 Zur Geschichte der Götterdämmerung
317 Worterklärungen zur Götterdämmerung
319 Feststellungen, Bemerkungen, Gedanken
zur Götterdämmerung
339 Wagner – hundert Jahre nachher
351 Zu Wagners Leitmotiv-Technik
359 Leitmotiv-Tafel
375 Biographische Daten Richard Wagners
394 Die Bühnenwerke Richard Wagners
Richard Wagner.
Nach einer Lithographie von P. Rohrbach.
(Richard-Wagner-Museum in Eisenach)
Zur Aufführung
TITEL
Der Ring des Nibelungen
BEZEICHNUNG
Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend.
Im Vertrauen auf den deutschen Geist entworfen und zum
Ruhme seines erhabenen Wohltäters, des Königs Ludwig II.
von Bayern vollendet von Richard Wagner
Dritter Tag: Götterdämmerung
URAUFFÜHRUNG
17. August 1876, Bayreuth
PERSONENVERZEICHNIS
Siegfried
(Helden-)Tenor
Brünnhilde
(hochdramatischer) Sopran
Gunther
hoher Baß oder Bariton
Gutrune
(lyrisch-dramatischer) Sopran
Hagen
tiefer Baß
Alberich
(Charakter-)Bariton
Waltraute, Walküre
(dramatischer) Alt
oder Mezzosopran
1. Norne
Alt
2. Norne
Mezzosopran
3. Norne
Sopran
Woglinde
(Koloratur-)Sopran
Wellgunde
Rheintöchter          Mezzosopran
Floßhilde
Alt
Frauen- und Männerchor
SCHAUPLÄTZE
Vorspiel: Auf dem Brünnhildenfelsen.
II
I. Aufzug: Palast der Gibichungen am Rhein; auf dem
Brünnhildenfelsen.
TITEL
7
II. Aufzug: Palast der Gibichungen am Rhein.
III. Aufzug: Waldige Landschaft am Rheinufer; Palast der
Gibichungen.
ZEIT
Mythische Vergangenheit
SPIELDAUER
fast 4 Stunden (reine Spielzeit)
ORCHESTERBESETZUNG
3 große, 1 kleine Flöte, 3 Oboen und Englischhorn (das manchmal als 4. Oboe verwendet wird), 3 Klarinetten, Baßklarinette, 3 Fagotte (eventuell 2 und 1 Kontrafagott); 8 Hörner (von denen 4 auch als Tubaspieler eingesetzt werden), 3 Trompeten, Baßtrompete, 3 Posaunen, Kontrabaßposaune, Kontrabaßtuba; 2 Paar Pauken, Triangel, 1 Paar Becken, 1 Trommel, 1 Glockenspiel. 6 Harfen; 16 erste und 16 zweite Violinen, 12 Bratschen, 12 Violoncelli, 8 Kontrabässe.
Dazu auf der Bühne: 4 Hörner, 3 Stierhörner (in C, Des, D).
ZUR AUFFÜHRUNG
8
Textbuch mit Erläuterungen
zu Musik und Handlung
Mit dem großen Erwachensmotiv Brünnhildes (aus »Siegfried«) setzt die »Götterdämmerung« ein. Es besteht aus zwei langgehaltenen aufeinanderfolgenden Akkorden (1 a)1, die ihm Größe, Weite, Feierlichkeit verleihen. Zu seinen Klängen schlug die lange in Schlaf gebannte Walküre nun als irdische Frau die Augen auf, die zuerst ergriffen auf Himmel und Sonne ruhen,
bevor sie den Mann anblicken, der sie wachküßte.
Doch das bei seinem ersten Erscheinen überaus strahlende Motiv ertönt hier dunkel, geheimnisvoll: Wagner hat es um einen halben Ton abwärts transponiert. Aus der Folge e-Moll/C-Dur, e-Moll/d-Moll ist nun es-Moll/Ces-Dur, es-Moll/des-Moll geworden. So geringfügig dem Laien diese »Rückungen« erscheinen mögen, so bedeutungsvolle Wirkungen wissen die romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts – mit Wagner
an der Spitze – aus ihnen zu ziehen:
(1)
ERLÄUTERUNGEN
1
Wenn bei Wagner Motive direkt aufeinander folgen oder sich sogar überschneiden, machen wir in den Notenbeispielen eine Unterteilung mit a, b, c usw., die im Notenbeispiel so bezeichnet werden.
VORSPIEL
VORSPIEL
11
Die langen Akkorde werden durch zwei weitere Motive kontrapunktiert: vom 2. Takt angefangen (und von uns mit b bezeichnet), taucht in den tiefen Streichern das Motiv des ewig dahinflutenden Rheins auf, wie es zu Beginn der Tetralogie, in »Rheingold«, als Symbol unendlicher Zeiträume dem gesamten Drama seinen grundlegenden Sinn gab. Wagner verdichtet es (von uns mit c bezeichnet) zum Erda-Motiv (in tiefen Klarinetten, Baßklarinette und dem dritten Fagott). Also ertönen hier, zu Beginn des letzten Dramas, drei bedeutungsvolle Motive
gleichzeitig.

Wagners »Leitmotive« besitzen weit über ihre vordergründige Bedeutung hinaus einen tieferen Sinn, was vor allem bei ihren Verbindungen klar wird. Hier wird Brünnhildes Erwachen zu neuem Leben nicht nur ins Dunkle, Tragische gewendet (durch die verdüsterten Tonarten), sondern auch mit dem »Ewigkeitsmotiv« verbunden, das gewissermaßen auch ihr künftiges Erdengeschick in den unabänderlichen Ablauf der Zeitenfolge einzubinden scheint, und zudem mit dem Erda-Motiv, das in sich wieder vielerlei Deutungen zuläßt, darunter jene von
»Ewigkeit«, die wissend über allen irdischen Abläufen steht.

Dieses an sich kurze Orchestervorspiel schafft unmittelbar die Grundstimmung der Szene, die den Hörer umfangen wird: Zwar schlafen Siegfried und Brünnhilde in der Felsenhöhle fern der Welt den seligen Schlaf der Liebenden, aber rund um sie, in stürmischem Dunkel der Nacht, weben die Nornen – die Parzen der mittelmeerischen Mythologie, die ebenfalls stets zu dritt auftreten – (was auf uralte Zusammenhänge schließen läßt) das
Schicksalsseil, das düsteres Geschehen anzukündigen scheint.

Brünnhilde, die einstige Halbgöttin und Walküre, ist zur irdischen Frau geworden und nun vollends dem menschlichen Schicksal untertan; und das droht düster. Seit dem Raub des Goldes und dem Fluch, der auf ihm liegt, strebt alles
unentrinnbar dem Untergang zu.
ERLÄUTERUNGEN
12
VORSPIEL
13
Beim Aufgehen des Vorhangs verdeutlicht Wagner dies noch mehr: das Schicksalsmotiv ertönt, das einst (in der »Walküre«) Siegmunds Tod und damit die Tragik der Wälsungen ankündigte:
(2)
Es ist eins von Wagners kürzesten Motiven: nur zwei hart nebeneinanderstehende, harmonisch, aber weit auseinanderliegende Akkorde, durch eine einzige Übergangsnote
verbunden.
Ruhig, aber düster fließt die Musik dahin, so nächtlich wie die Szene, die sie begleitet, und das Unheimlich-Unirdische ausmalend, das die seltsamen, in der Dunkelheit kaum auszunehmenden Gestalten der Nornen begleitet. Das Aufflackern des Feuerscheins in der Tiefe bringt im Orchester
eines der vielen Motive Loges in den Vordergrund.
(3)
Das Motiv ruft uns die Vielgestaltigkeit dieses seltsamen Gottes in Erinnerung, des einzigen, der längst den Verfall Walhalls, die
»Götterdämmerung«, vorausahnt.
ERLÄUTERUNGEN
14
Auf dem Walkürenfelsen
Die Szene ist dieselbe wie am Schlusse des zweiten Tages1 – Nacht. – Aus der Tiefe des Hintergrundes leuchtet
Feuerschein.
(Die drei Nornen, hohe Frauengestalten in langen, dunklen und schleierartigen Faltengewändern. Die erste [älteste] lagert im Vordergrunde rechts unter der breitästigen Tanne; die zweite [jüngere] ist an einer Steinbank hingestreckt vor dem Felsengemache, die dritte [jüngste] sitzt in der Mitte des
Hintergrundes auf einem Felssteine des Höhensaumes.
Düsteres Schweigen und Bewegungslosigkeit.)
Die erste Norn: Welch Licht leuchtet dort?
Die zweite Norn: Dämmert der Tag schon auf?
Die dritte Norn:
Loges Heer
lodert feurig um den Fels.
Noch ist’s Nacht.
Was spinnen und singen wir nicht?
Die zweite Norn (zu der ersten):
Wollen wir spinnen und singen,
woran spannst du das Seil?
VORSPIEL
15
1
der »zweite Tag«: das Drama Siegfried.
Das sparsam instrumentierte Nornengespräch steckt textlich wie musikalisch voll dunkler Andeutungen. Wer sie genau studiert – was beim bloßen Hören unmöglich ist –, entnimmt ihnen Andeutungen auf fernste Vergangenheit, auf jene Zeiten, in denen Wotan seine Weltherrschaft antrat. Aus diesen Versen erhellt sich sozusagen der Beginn des Zeitalters, an dessen Ende die Welt nun angekommen zu sein scheint: die »Weltesche« (nordisches Symbol des Erdenbaues), die in ihrem Schatten fließende Urquelle, Sinnbild der ewigen Weisheit, aus der zu trinken ein junger Gott begehrte und dafür eines seiner Augen zu opfern bereit war. Daß dies Wotan war, erfährt der Hörer gleichzeitig aus dem im Orchester (von den Hörnern leise und wie aus der
Ferne) aufsteigenden Walhall-Motiv:
(4)
ERLÄUTERUNGEN
16
Die erste Norn (während sie ein goldenes Seil von sich löst
und es mit dem einen Ende an einen Ast der Tanne knüpft):
So gut und schlimm es geh’,
schling ich das Seil und singe.
An der Weltesche
wob ich einst,
da groß und stark
dem Stamm entgrünte
weihlicher Äste Wald.
Im kühlen Schatten
rauscht’ ein Quell,
Weisheit raunend
rann sein Gewell’;
da sang ich heil’gen Sinn.
Ein kühner Gott
trat zum Trunk an den Quell;
seiner Augen eines
zahlt’ er als ewigen Zoll.
VORSPIEL
17
Der Hörer erlebt auch musikalisch die weitere »Weltgeschichte«, die die erste Norne textlich – nach Wagners epischer Art – ausführlich ausbreitet: von Wotans Weltherrschaft ist nun die Rede, von den Verträgen, die in das Symbol seiner Macht, den
heiligen Speer, geritzt sind:
(5)
»In langer Zeiten Lauf« nähert sich diese Herrschaft nun ihrem
Ende, das Götterdämmerungs-Motiv erklingt:
(6)
Gleich darauf das Walhall-Motiv, nach Moll gewendet. In einer nicht leicht zu lösenden Ideenverbindung wirft die erste Norne der zweiten das Schicksalsseil unter dem Erklingen der »Todverkündigung« zu, so wie sie (in der »Walküre«) beim Erscheinen Brünnhildes vor dem zum Tode bestimmten Siegmund
erklungen war:
(7)
Bedeutet es, daß nun Wotan, der Götterherrschaft, das Ende
bestimmt sei wie seinerzeit dem Wälsungen?
ERLÄUTERUNGEN
18
Von der Weltesche
brach da Wotan einen Ast;
eines Speeres Schaft
entschnitt der Starke dem Stamm.
In langer Zeiten Lauf
zehrte die Wunde den Wald;
falb fielen die Blätter,
dürr darbte der Baum,
traurig versiegte
des Quelles Trank:
trüben Sinnes
ward mein Gesang.
Doch, web ich heut
an der Weltesche nicht mehr,
muß mir die Tanne
taugen zu fesseln das Seil:
singe, Schwester,
dir werf ich’s zu.
Weißt du, wie das wird?
VORSPIEL
19
In den Gesang der zweiten Norne mischt sich ein neues musikalisches Motiv, das in gewissem Sinne die Umkehrung des Speer- oder Vertrags-Motivs ist: es führt mit einem auffallenden Quartensprung am Anfang dann stufenweise aufwärts (das Speer-Motiv führt ebenso abwärts). Einige Deuter haben ihm, späteren Verwendungen entsprechend, den Namen eines »Weltesche-Motivs« gegeben: Aus der Weltesche schnitt Wotan zu Beginn seiner Herrschaft den Speer, und aus den Scheiten der gefällten Esche erwächst der Brand, der Walhall vernichten
wird:
(8)
(Das Weltesche-Motiv umspannt die Takte 1 und 2, dann 5 und 6, während 3 und 4 als Wotans Speer-Motiv gedeutet werden
können.)
Zur Rede der dritten Norne ertönt, obwohl sie von Walhall berichtet, nicht dessen Motiv, sondern es erklingen die beiden düsteren Motive der Götterdämmerung (6) und der zerschlagenen Weltesche (8). Die Norne sieht »das Ende«
voraus, das Wotan nun immer stärker selbst ersehnt.
ERLÄUTERUNGEN
20
Die zweite Norn (windet das ihr zugeworfene Seil um einen
hervorspringenden Felsstein am Eingange des Gemaches):
Treu beratner
Verträge Runen
schnitt Wotan
in des Speeres Schaft:
den hielt er als Haft der Welt.
Ein kühner Held
zerhieb im Kampfe den Speer;
in Trümmer sprang
der Verträge heiliger Haft.
Da hieß Wotan
Walhalls Helden
der Weltesche
welkes Geäst
mit dem Stamm in Stücke zu fällen.
Die Esche sank,
ewig versiegte der Quell!
Feßle ich heut
an den scharfen Fels das Seil:
singe, Schwester,
dir werf ich’s zu.
Weißt du, wie das wird?
Die dritte Norn (das Seil auffangend und dessen Ende hinter
sich werfend):
Es ragt die Burg,
von Riesen gebaut:
mit der Götter und Helden
heiliger Sippe
VORSPIEL
21
Wagners Musik ist hier nahezu durchgehend von Motiven oder – noch öfter – von deren Andeutung durchzogen, über denen sich das (oft recht dunkle, schwer verständliche) Gespräch der Nornen entwickelt. Zum bevorstehenden, von ihnen vorausgesehenen Ende der Götter, zum Sturz der Weltesche, zum Brande Walhalls gehört natürlich Loge, der Gott des Feuers, der die alles verzehrenden Flammen eines Tages entzünden wird. Und so entwickelt sich Loges stets chromatisch gehaltene Tonfolge (womit sehr plastisch das Züngeln des Feuers, das Flackern, die Gestaltlosigkeit der Flammen oder ihre ständige verschiebungsartige Verwandlung nachgeahmt wird) hier zu
wachsender Bedeutung:
(9)
ERLÄUTERUNGEN
22
sitzt dort Wotan im Saal.
Gehau’ner Scheite
hohe Schicht
ragt zu Hauf
rings um die Halle:
die Weltesche war dies einst!
Brennt das Holz
heilig brünstig und hell,
sengt die Glut
sehrend den glänzenden Saal:
der ewigen Götter Ende
dämmert ewig da auf.
Wisset ihr noch?
So windet von neuem das Seil;
von Norden wieder
werf ich’s dir nach.
(Sie wirft das Seil der zweiten Norn zu.)
(Die zweite Norn schwingt es der ersten hin, welche das Seil vom Zweige löst und es an einen anderen Ast wieder
anknüpft.)
Die dritte Norn: Spinne, Schwester, und singe!
Die erste Norn (nach hinten blickend):
Dämmert der Tag?
Oder leuchtet die Lohe?
Getrübt trügt sich mein Blick;
nicht hell eracht ich
das heilig Alte,
da Loge einst
entbrannte in lichter Glut.
Weißt du, was aus ihm ward?
Die zweite Norn (das zugeworfene Seil wieder um den Stein
windend):
Durch des Speeres Zauber
zähmte ihn Wotan;
Räte raunt’ er dem Gott.
An des Schaftes Runen,
frei sich zu raten,
nagte zehrend sein Zahn:
VORSPIEL
23
Neben ihr das Motiv der Todverkündigung (7), das der Weltesche (8), Brünnhildes Einschlafen, ihr Entrücktwerden ins Unbewußte (aus der »Walküre«). Auf einem Höhepunkt das Walhall-Motiv, die Todesverkündigung löst es ab, dann bemächtigt sich das Ring-Motiv (11 a) des musikalischen Geschehens, kurz unterbrochen vom Motiv des Rheingolds
(11 c).
Wagners intensive »motivische Arbeit« (die Komposition mit Hilfe von Motiven) erreicht ständig neue Höhepunkte –, wie hier, wo im Raum von nur zehn Takten drei wichtige Motive aneinandergereiht werden: a das Walhall-Motiv, b Brünnhildes
Einschlafen, c das Schicksals-Motiv):
(10)
Das Schwirren der Motive wird immer dichter und gemahnt den sachkundigen Hörer an alles, was er im Laufe der vorhergehenden Dramen mitzuerleben Gelegenheit hatte. Nun immer wieder das Kernmotiv des Dramas, das Ring-Motiv (11 a), das in jenes des Rheingoldes und das der Rheintöchter (11 c und d)
ERLÄUTERUNGEN
24
Da, mit des Speeres
zwingender Spitze
bannte ihn Wotan,
Brünnhildes Fels zu umbrennen.
Weißt du, was ihm wird?
Die dritte Norn:
Des zerschlagnen Speeres
stechende Splitter
taucht’ einst Wotan
dem Brünstigen tief in die Brust:
zehrender Brand
zündet da auf;
den wirft der Gott
in der Weltesche
zu Hauf geschichtete Scheite.
(Sie wirft das Seil zurück, die zweite Norn windet es auf und wirft
es der ersten wieder zu.)
Die zweite Norn:
Wollt ihr wissen,
wann das wird?
Schwinget, Schwestern, das Seil!
Die erste Norn (das Seil von neuem anknüpfend):
Die Nacht weicht;
nichts mehr gewahr ich:
des Seiles Fäden
find ich nicht mehr;
verflochten ist das Geflecht.
VORSPIEL
25
sowie jenes grundlegend wichtige des Verzichts, der Liebesentsagung – ursprünglich Alberichs – (11 b) verschlungen
auftritt:
(11)
Der Morgen dämmert, die Stunde der Nornen löst sich auf. Die beiden Siegfried-Motive, deutlich dem anbrechenden Tag zugeordnet, erklingen; unsere Beispiele 12 und 13 mögen
Wagners Vorgehen illustrieren:
(12)
Beispiel 12 setzt mit einem oft auftauchenden Motiv ein, dem Erklärer den Namen eines »Goldherrschafts-Motivs« gegeben haben (a). Ist es diese Herrschaft des Goldes, des Geldes, des Materialismus, der durch Zwerge (Alberich!), Riesen (Fafner!) und schließlich Menschen (Hagen!) verkörpert wird und
ERLÄUTERUNGEN
26
Ein wüstes Gesicht
wirrt mir wütend den Sinn.
Das Rheingold
raubte Alberich einst.
Weißt du, was aus ihm ward?
Die zweite Norn (windet mit mühvoller Hast das Seil um den
zackigen Stein des Gemaches):
Des Steines Schärfe
schnitt in das Seil;
nicht fest spannt mehr
der Fäden Gespinst;
verwirrt ist das Geweb’.
Aus Not und Neid
ragt mir des Niblungen Ring:
ein rächender Fluch
nagt meiner Fäden Geflecht.
Weißt du, was daraus wird?
VORSPIEL
27
dessen Vernichtung durch einen »reinen Helden« (Siegfried) Wagners Grundidee zum »Ring des Nibelungen« im Jahre 1848 war? Hier unterbricht (Siegfrieds) Schwert-Motiv (b) jenes Geld-Motiv sehr deutlich und energisch. Gleich darauf – das Seil der Nornen läßt sich nicht mehr spannen: uralte Weissagungen verlieren in umstürzenden Zeiten ihre Geltung – erklingt Siegfrieds Horn, als künde seine unwissende Unbekümmertheit
diesen Zeitenwandel:
(13)
Das Seil zerreißt: drohend erhebt sich (von der Baßtrompete »sehr gewichtig« geblasen) das Fluch-Motiv (das neben dem
Ring-Motiv wohl das wichtigste des Werks darstellt):
(14)
Mit dem Motiv der Götterdämmerung (6), dem des Einschlafens (10 b) und dem des Schicksals (2) verschwinden in der
heranbrechenden Morgendämmerung die Nornen.
Ein langsames Zwischenspiel setzt ein, während dem der Tag aufgeht, der Walkürenfelsen sichtbar wird. Die Violoncelli singen eine geruhsame, überaus ausdrucksvolle Melodie (als male Wagner hier den innigen Schlaf der Liebenden). Zwei neue Motive kristallisieren sich zart aus dem Orchester. Das
ERLÄUTERUNGEN
28
Die dritte Norn (das zugeworfene Seil hastig fassend):
Zu locker das Seil,
mir langt es nicht.
Soll ich nach Norden
neigen das Ende,
straffer sei es gestreckt!
(Sie zieht gewaltsam das Seil an: dieses reißt)
Es riß!
Die zweite: Es riß!
Die erste: Es riß!
(Sie fassen die Stücke des zerrissenen Seiles und binden damit
ihre Leiber aneinander.)
Die drei Nornen:
Zu End’ ewiges Wissen!
Der Welt melden
Weise nichts mehr.
Die dritte Norn: Hinab!
Die zweite Norn: Zur Mutter!
Die erste Norn: Hinab!
(Sie verschwinden.)
(Tagesgrauen)
VORSPIEL
29
erste, den Hörnern zugeordnet, gehört Siegfried (a), es ist aus seinem Horn-Motiv entwickelt – durch rhythmische Veränderung, die ihm größeres Gewicht gibt – und bedeutet zweifellos den nun gereiften Helden, der den Drachen erschlagen und das Feuer durchschritten hat. (Es soll, auch um Verwirrungen um ein neues Siegfried-Motiv aus dem Wege zu gehen, Helden-Motiv genannt sein.) Das zweite, zartere (zuerst von der Baßklarinette gebracht, dann von den Geigen und Violoncelli entwickelt) stellt
Brünnhilde dar (b):
(15)
Immer heller erstrahlt das Orchester, wird voll und voller, bewegter, freudiger. Die Sonne geht auf, Siegfried und Brünnhilde treten aus dem Steingemach, ihrer beider Motive (15 a und b) beherrschen das musikalische Geschehen; ihre enge Verkettung deutet symbolisch die Liebe an, die das Paar eint. Als drittes Motiv gesellt sich jenes der Walküren hinzu (17); eine Erinnerung an Brünnhildes Vergangenheit, aber ihr Aufgehen in den neuen Motiven des »Helden« Siegfrieds und der liebenden Frau deuten wohl Brünnhildes unsagbares Glücksgefühl über den Wandel ihres Schicksals an. Bei Brünnhildes zärtlicher Erwähnung ihres nunmehr fraulichen Zustands
ERLÄUTERUNGEN
30
(Wachsende Morgenröte; immer schwächeres Leuchten des
Feuerscheines aus der Tiefe.)
(Sonnenaufgang – voller Tag.
Siegfried und Brünnhilde treten aus dem Steingemache auf. Er ist
in vollen Waffen, sie führt ihr Roß am Zaume.)
Brünnhilde:
Zu neuen Taten,
teurer Helde,
wie liebt’ ich dich,
ließ ich dich nicht?
Ein einzig’ Sorgen
läßt mich säumen:
daß dir zu wenig
mein Wert gewann!
VORSPIEL
31
stimmen Oboe und Englischhorn (»ausdrucksvoll« oder »espressivo«) das Motiv des Entzückens oder der Liebesekstase an, das im entsprechenden letzten Bild des »Siegfried« eine Rolle
spielte:
(16)
Wie immer, wenn Wagner aus gedanklichen Zusammenhängen in die reine Gefühlssphäre – vor allem die der Liebe – gelangt, geht seine Musik zu langen, überaus schwungvollen, leidenschaftlichen Melodien über, die motivische Arbeit bildet dann – wo sie vorhanden ist, so vor allem im »Ring des Nibelungen« – nur noch ein Gerüst, ein Skelett, das von Formen
mitreißender Schönheit überzogen wird.
Doch die Motive sind vorhanden und bilden auch hier einen wesentlichen Bestandteil der Komposition. So, wenn das Walküren-Motiv (in der Baßtrompete) zitiert wird, als Brünnhilde
Siegfried an ihre erste Begegnung erinnert:
(Notenbeispiel S. 34)
ERLÄUTERUNGEN
32
Was Götter mich wiesen,
gab ich dir:
heiliger Runen
reichen Hort;
doch meiner Stärke
magdlichen Stamm
nahm mir der Held,
dem ich nun mich neige.
Des Wissens bar,
doch des Wunsches voll:
an Liebe reich,
doch ledig der Kraft:
mögst du die Arme
nicht verachten,
die dir nur gönnen,
nicht geben mehr kann!
Siegfried:
Mehr gabst du, Wunderfrau,
als ich zu wahren weiß.
Nicht zürne, wenn dein Lehren
mich unbelehret ließ!
Ein Wissen doch wahr ich wohl: (feurig)
daß mir Brünnhilde lebt;
eine Lehre lernt’ ich leicht:
Brünnhildes zu gedenken!
Brünnhilde:
Willst du mir Minne schenken,
gedenke deiner nur,
gedenke deiner Taten,
gedenk des wilden Feuers,
das furchtlos du durchschrittest,
da den Fels es rings umbrann.1
Siegfried: Brünnhilde zu gewinnen.
VORSPIEL
33
1
in den Quellen: »entbrann« – Druck- oder anderer Fehler für »entbrannt«.
(17)
Auf dem Höhepunkt der Szene setzen die Harfen ein, und die Geigen spielen – zwar piano, aber mit starkem Ausdruck – das Liebes-Motiv, das die Begegnung des Paares im letzten Bild des
»Siegfried« krönte:
(18)
(Dieses Beispiel müßte, um es in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen, in Partitur zitiert werden, nicht – wie selbstverständlich hier – im Klavierauszug. Denn zu den hier angegebenen Stimmen der Geigen und der Harfen treten ausdrucksvolle Gegenstimmen in den Bläsern, den Violoncelli und den [in der Baßlinie angedeuteten] Kontrabässen: Wagner war nicht nur ein großartiger »Harmoniker«, sondern ein
ebensolcher »Kontrapunktiker«.)
Siegfried überläßt Brünnhilde den Ring (von dessen Fluch er nichts ahnt). Dabei erinnert er sich einen Augenblick des Lindwurms, von dem er ihn eroberte: Gelegenheit für Wagner, das Helden-Motiv und das Drachen-Motiv gleichzeitig zu bringen – das erste in den Hörnern, das zweite in Fagott, Baßklarinette,
Celli und Bässen (a und b):
(Notenbeispiel S. 36)
ERLÄUTERUNGEN
34
Brünnhilde:
Gedenk der beschildeten Frau,
die in tiefem Schlaf du fandest,
der den festen Helm du erbrachst.
Siegfried: Brünnhilde zu erwecken.
Brünnhilde:
Gedenk der Eide,
die uns einen;
gedenk der Treue,
die wir tragen;
gedenk der Liebe,
der wir leben:
Brünnhilde brennt dann ewig
heilig dir in der Brust! –
(Sie umarmt Siegfried.)
Siegfried:
Laß ich, Liebste, dich hier
in der Lohe heiliger Hut;
(Er hat den Ring Alberichs von seinem Finger gezogen und reicht
ihn jetzt Brünnhilde dar)
zum Tausche deiner Runen
reich ich dir diesen Ring.
Was der Taten je ich schuf,
des Tugend schließt er ein.
VORSPIEL
35
(19)
Auch die Stimmen werden – gemeinsam mit dem Orchester – ausdrucksvoller, ja hymnischer, ihre Melodielinien erheben sich immer mehr über den bei Wagner auf weite Strecken gepflegten
Sprechgesang.
Selbst dort, wo starke Motivverwendung auftritt, wie hier, wo Brünnhilde als Gegengeschenk für den Ring Siegfried ihr Roß Grane überläßt, gestaltet die Singstimme sich höchst melodisch, während das motivische Geschehen im Orchester verankert ist
(Walkürenritt-Motiv a und Helden-Motiv b):
(20)
Diese beiden energischen Motive werden von einem der lyrischsten Motive abgelöst, die Wagner für die Tetralogie erfand. Es handelt sich um ein zartes Liebes-Motiv, das bei der
Begegnung Siegfrieds und Sieglindes erstmals auftauchte:
(21)
ERLÄUTERUNGEN
36
Ich erschlug einen wilden Wurm,
der grimmig lang ihn bewacht.
Nun wahre du seine Kraft
als Weihegruß meiner Treu’!
Brünnhilde (voll Entzücken den Ring sich ansteckend):
Ihn geiz ich als einziges Gut!
Für den Ring nimm nun auch mein Roß!
Ging sein Lauf mit mir
einst kühn durch die Lüfte –
mit mir
verlor es die mächt’ge Art;
über Wolken hin
auf blitzenden Wettern
nicht mehr
schwingt es sich mutig des Wegs;
doch wohin du ihn führst
– sei es durchs Feuer –,
grauenlos folgt dir Grane;
denn dir, o Helde,
soll er gehorchen!
Du hüt ihn wohl;
Er hört dein Wort:
o bringe Grane
oft Brünnhildes Gruß!
VORSPIEL
37
Tempo, Ausdruck und Klangstärke werden unaufhörlich gesteigert, Siegfrieds Gesang immer drängender, froher, bis er in Tonfolgen gerät, die an seine jugendlichen Lieder beim
Schmieden seines Schwertes Nothung gemahnen:
(22)
Wie in einer gewaltigen »stretta« – die zwar nur die italienische Oper kennt, in ihren dramatischen Prinzipien aber jeder Theatermusiker als legitimes Spannungselement verwendet – führt Wagner das Liebesduett zu Ende. Er enthält sich zwar, seinen Grundsätzen getreu, der echten Opernduett-Form, des gleichzeitigen Singens der beiden Partner, aber kommt ihm gegen Ende sehr nahe, als Siegfried und Brünnhilde einander die hymnisch-ekstatischen Phrasen geradezu aus dem Mund zu nehmen scheinen. Und bei den letzten vier Jubelrufen (»Heil!«) münden die beiden Stimmen in die Gleichzeitigkeit, ja Brünnhilde ist hier, genau wie am Schluß des »Siegfried«, ein strahlendes, langgehaltenes hohes C zugedacht, das an viel südlichere
Opernwerke denken läßt ...
ERLÄUTERUNGEN
38
Siegfried:
Durch deine Tugend allein
soll so ich Taten noch wirken?
Meine Kämpfe kiesest du,
meine Siege kehren zu dir:
auf deines Rosses Rücken,
in deines Schildes Schirm,
nicht Siegfried acht ich mich mehr,
ich bin nur Brünnhildes Arm.
Brünnhilde: O wäre Brünnhild’ deine Seele!
Siegfried: Durch sie entbrennt mir der Mut.
Brünnhilde: So wärst du Siegfried und Brünnhild’?
Siegfried: Wo ich bin, bergen sich beide.
Brünnhilde (lebhaft): So verödet mein Felsensaal?
Siegfried: Vereint faßt er uns zwei!
Brünnhilde (in großer Ergriffenheit):
O heilige Götter,
hehre Geschlechter!
Weidet eu’r Aug’
an dem weihvollen Paar!
Getrennt – wer will uns1 scheiden?
Geschieden – trennt es sich nie!
Siegfried:
Heil dir, Brünnhilde,
prangender Stern!
Brünnhilde:
Heil dir, Siegfried,
siegendes Licht!
Siegfried: Heil, strahlende Liebe!
Brünnhilde: Heil, strahlendes Leben!
Siegfried: Heil, strahlender Stern!
Brünnhilde: Heil, siegendes Licht!
Siegfried: Heil, Brünnhild’!
Beide: Heil! Heil! Heil! Heil!
VORSPIEL
39
1
TV: Anstelle von »uns« auch »es«.
Wehmütig und doch stolz blickt Brünnhilde Siegfried lange nach. Ihr fortissimo geschmettertes Walkürenritt-Motiv zum Rauschen aller Harfen (Wagner verlangt als Idealfall nicht weniger als 6!) vermählt sich dem ebenfalls lautstark geblasenen Helden-Motiv. Die Streicher in rasenden Akkordbrechungen geben dem riesigen Ensemble einen wild erregten, erregenden Unterton. Dann konzentriert sich alle Kraft auf eines der Schmiede-Motive
Siegfrieds (das Beispiel 22 triumphal ausgestaltet).
Siegfrieds Worte aus dem 1. Akt des gleichnamigen Dramas fallen dem Hörer ein: »Aus dem Wald fort in die Welt ziehn ...« Nun geht Siegfrieds tiefster Wunsch in Erfüllung; er ist gereift: Mimes Verrat und Tod, Fafners Sterben, das zum ersten Mal Fragen in sein Leben einführte, das Durchschreiten des Feuers, wie in Trance-Zustand der Stimme eines Waldvogels folgend, und – als tiefstes Erlebnis – die Erweckung Brünnhildes und ihr beiderseitiges Liebesentbrennen haben einen neuen Menschen
aus ihm gemacht.
Eine Verwandlung ist in ihm vorgegangen, nicht unähnlich jener, die Wagner mit seinem nächsten Werk – dem letzten, »Parsifal« – auf die Bühne bringen wird. Das »Geheimnis der Verwandlung« (Hofmannsthal-Strauss »Ariadne auf Naxos«) hat Siegfried berührt. Aus dem wilden, ungestümen Waldbuben ist in kurzer Frist ein Mann geworden. Nun wäre er wohl einer »Welteroberung« fähig, gemeinsam mit der idealen Gefährtin bliebe ihm nichts Menschliches unerreichbar, jedes Geheimnis zugänglich. Aber in seinem stürmischen Siegeslauf harrt seiner das Verderben: die dunklen Mächte, der Verrat, der Fluch des
tödlichen Ringes.
Was sich nun während einer längeren Zeitspanne im Orchester abspielen wird, könnte beinahe als »sinfonische Dichtung« bezeichnet werden; ihr Titel wäre »Siegfrieds Rheinfahrt«. Lange Zeit hindurch herrschen Siegfrieds »Helden«-Motiv (20 b) und
ERLÄUTERUNGEN
40
(Siegfried geleitet schnell das Roß dem Felsenabhange zu, wohin ihm Brünnhilde folgt. Siegfried ist mit dem Rosse hinter dem Felsenvorsprunge abwärts verschwunden, so daß der Zuschauer ihn nicht mehr sieht: Brünnhilde steht so plötzlich allein am
Abhange und blickt Siegfried in die Tiefe nach.)
VORSPIEL
41
das Motiv Brünnhildes (15 b) vor, die eben erfolgte Trennung der Liebenden erfüllt beider Sinne. Lange hat die einstige Walküre ihrem Erwecker noch nachgeblickt, seinem Weg ins Tal zu folgen versucht, und als die Augen dazu nicht mehr imstande sind, gehen ihre Gedanken mit ihm. Wie ein letzter Gruß dringt sein
Hornruf an ihr Ohr:
(23)
Er verklingt weithin, wiederholt sich noch einmal, dann ist die Trennung endgültig vollzogen, Brünnhilde in der Felseneinsamkeit zurückgeblieben, Siegfried auf dem Wege zu Abenteuern und kühnen Taten. Aus dem stark bewegten Orchester ertönt noch lange das (am Schluß des »Siegfried«
aufgetauchte) Motiv des Liebesbundes:
(24)
ERLÄUTERUNGEN
42
(Brünnhildes Gebärde zeigt, daß jetzt Siegfried ihrem Blicke
entschwindet.)
(Man hört Siegfrieds Horn aus der Tiefe. Brünnhilde lauscht. Sie tritt weiter auf den Abhang hinaus. Jetzt erblickt sie Siegfried nochmals in der Tiefe, sie winkt ihm mit entzückter Gebärde zu. Aus ihrem freudigen Lächeln deutet sich der Anblick des lustig
davonziehenden Helden.)
VORSPIEL
43
Es ist, als wollte es noch einmal die unverbrüchliche Treue dokumentieren, die von den Liebenden aus vollem Herzen
beschworen wurde.
Dann tauchen immer wieder neue Motive im Orchester auf; wogend und volltönend nun das Rhein-Motiv (1 b), mit dessen stillem, geheimnisvollem Dahinziehen die Tetralogie vor langen Zeiten (zu Anfang des »Rheingold«) begonnen hatte. Ebenfalls im fff Anklänge an das Motiv der Götterdämmerung (6), ihres visionären Schreckens beraubt – will Wagner ausdrücken, wie problemlos und von seiner Kraft zu meistern Siegfried die Welt
vorkommt?
Es wäre fast unmöglich, alle Motivzitate anzuführen, die Wagner in diese »Rheinfahrt« einflicht. Sie nur anzugeben, hätte auch wenig Sinn, wollte man nicht gleichzeitig versuchen, die tiefe Bedeutung ihrer Zusammenhänge zu entdecken (was eine philosophische Auseinandersetzung bedeutete). Hell und klar ist alles: froh stürmt ein des Lebens und seiner Schmerzen unkundiger Held in die Welt hinaus. Ob sein Weg unmittelbar zum Gibichungenschloß führt oder ob er, wie Parsifal, durch ungezählte Abenteuer hindurch muß, wird nirgends gesagt. Die prachtvoll instrumentierte Musik läßt, so wie die Motive, die sie
andeutet, viele Interpretationen zu.
Schließlich wird die Fahrt zusehends langsamer, nachdenklichere Motive tauchen auf – jenes der Entsagung (11 b) vor allem – und zuletzt, beim Aufgehen des Vorhangs, jenes
Hagens:
(25)
und unmittelbar darauf jenes der Gibichungen:
(Notenbeispiel S. 46)
ERLÄUTERUNGEN
44
ERSTER AUFZUG
ERSTE SZENE
Die Halle der Gibichungen am Rhein
Diese ist dem Hintergrunde zu ganz offen; den Hintergrund
selbst nimmt ein freier Uferraum bis zum Flusse hin ein;
felsige Anhöhen umgrenzen das Ufer.
(Gunther und Gutrune auf dem Hochsitze zur Seite, vor wel-
chem ein Tisch mit Trinkgerät steht; davor sitzt Hagen.)
1. AUFZUG/1. SZENE
45
(26)
Mit diesen beiden Motiven wird musikalisch der Anfang der Szene zwischen den beiden so ungleichen Halbbrüdern gebaut. Geschickt weiß der finstere, aber gescheite Hagen das Gespräch auf die Unbeweibtheit Gunthers zu lenken: sinngemäß spielt das Orchester – in der expressiven Soloklarinette – das Liebes-Motiv an, das seinerzeit (in »Rheingold«) die junge, schöne Göttin Freia begleitete und sich zu einem allgemeinen Liebes- und
Liebessehnsuchts-Motiv entwickelt hat:
(27)
Nun wird sehr rasch klar, worauf Hagen hinauswill. Ahnt er bereits den ganzen künftigen Verlauf des Dramas? Plant er Siegfrieds Landung, den Vergessensstrank, den Verrat, den Mord, die ihn in unerbittlicher Folge seinem höchsten, einzigen Ziel zuführen sollen, dem Ring? Er rät Gunther zu Brünnhilde, von der er genau wissen muß, daß sie unlösbar zu Siegfried
gehört und nur diesem erreichbar ist:
(Notenbeispiel S. 48)
ERLÄUTERUNGEN
46
Gunther:
Nun hör, Hagen,
sage mir, Held:
sitz ich herrlich1 am Rhein,
Gunther zu Gibichs Ruhm?
Hagen:
Dich echt genannten
acht ich zu neiden:
die beid’ uns Brüder gebar,
Frau Grimhild’ ließ mich’s begreifen.
Gunther:
Dich neide ich:
nicht neide mich du!
Erbt’ ich Erstlingsart,
Weisheit ward dir allein:
Halbbruderzwist
bezwang sich nie besser.
Deinem Rat nur red ich Lob,
frag ich dich nach meinem Ruhm.
Hagen:
So schelt ich den Rat,
da schlecht noch dein Ruhm;
denn hohe Güter weiß ich,
die der Gibichung noch nicht gewann.
Gunther:
Verschwiegst du sie,
so schelt auch ich.
Hagen:
In sommerlich reifer Stärke
seh ich Gibichs Stamm,
dich, Gunther, unbeweibt,
dich, Gutrun’, ohne Mann.
(Gunther und Gutrune sind in schweigendes Sinnen verloren.)
1. AUFZUG/1. SZENE
47
1
TV: Für »herrlich« steht auch »selig«.
(28)
Dabei geht die vorher ruhige, klare Orchesterstimmung in irisierende Streicherklänge (b) über: das den Brünnhildenfelsen umbrennende Feuer. Und Fragmente des Walkürenritts (a) deuten sehr klar an, daß Hagen nur zu gut weiß, zu welcher Frau er seinem Halbbruder und König rät. Es fällt ihm nicht schwer, Gunthers gespanntes Interesse zu erregen. Hagen weiß noch mehr: die Worte, mit denen er Gunthers Neugier erregt, sind – auch in der Musik – die gleichen, mit denen das Waldvöglein
Siegfried zum brennenden Felsen gelockt hatte:
(29)
ERLÄUTERUNGEN
48
Gunther:
Wen rätst du nun zu frein,
daß unsrem Ruhm es fromm’?
Hagen:
Ein Weib weiß ich,
das herrlichste der Welt:
auf Felsen hoch ihr Sitz,
ein Feuer umbrennt ihren Saal;
nur wer durch das Feuer bricht,
darf Brünnhildes Freier sein.
1. AUFZUG/1. SZENE
49
Und damit ist Hagen bei Siegfried: ihn wünscht er Gutrune zum Gatten (und weiß sehr genau, daß dies dessen Tod zur Folge haben muß). Er erzählt in Kürze, was er von Siegfried weiß, von seinem tragischen Elternpaar angefangen (wozu das Wälsungen-
Motiv erklingt):
(30)
Weiter erzählt Hagen von Siegfrieds Kampf mit dem Drachen (wobei die Musik das Wurm- und das Riesen-Motiv in den
dunkelsten Instrumenten – Fagotte, Celli, Bässe – zitiert):
(31)
Hagen berichtet, welche Stücke Siegfried dem Nibelungenschatz des getöteten Fafner entnahm. Hier klingt das Ring-Motiv (11 a)
sehr leise in den Klarinetten, später in den Trompeten.
Das Orchester wird sparsamer: der Hörer soll die entschei-
denden Textstellen verstehen.
ERLÄUTERUNGEN
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Gunther: Vermag das mein Mut zu bestehn?
Hagen: Einem Stärkren noch ist’s nur bestimmt.
Gunther: Wer ist der streitlichste Mann?
Hagen:
Siegfried, der Wälsungen Sproß:
der ist der stärkste Held.
Ein Zwillingspaar,
von Liebe bezwungen,
Siegmund und Sieglinde,
zeugten den echtesten Sohn.
Der im Walde mächtig erwuchs,
den wünsch’ ich Gutrun’ zum Mann.
Gutrune (schüchtern beginnend):
Welche Tat schuf er so tapfer,
daß als herrlichster Held er genannt?
Hagen:
Vor Neidhöhle
den Niblungenhort
bewachte ein riesiger Wurm:
Siegfried schloß ihm
den freislichen Schlund,
erschlug ihn mit siegendem Schwert.
Solch ungeheurer Tat
enttagte des Helden Ruhm.
Gunther (in Nachsinnen):
Vom Niblungenhort vernahm ich:
er birgt den neidlichsten Schatz?
Hagen:
Wer wohl ihn zu nützen wüßt’,
dem neigte sich wahrlich die Welt.
Gunther: Und Siegfried hat ihn erkämpft?
Hagen: Knecht sind die Niblungen ihm.
Gunther: Und Brünnhild’ gewänne nur er?
Hagen: Keinem andren wiche die Brunst.
Gunther (erhebt sich unwillig vom Sitze):
Was weckst du Zweifel und Zwist!
Was ich nicht zwingen soll,
1. AUFZUG/1. SZENE
51
52
Es findet sich erst wieder zu einer Motivbildung, als Hagen seinen geheimen Plan vorsichtig mitzuteilen beginnt: mit Hilfe des Tarnhelms soll Siegfried die eigene Geliebte in Gunthers Gestalt erobern und diesem zuführen; das Tarnhelm-Motiv wird angedeutet (gerade seine stark abgeänderte Zitierung soll wohl
Hagens noch halb verborgenen teuflischen Plan andeuten):
(32)
Nun bezieht Hagen Gutrune in seine Pläne ein. Sehr bewußt hat er ihre weibliche Neugier zum Wunsch nach dem »herrlichsten Helden der Welt« geweckt. Wie könnte sie einen solchen un erreichbaren Mann verlocken? Wagner führt hier ein neues Motiv ein (das zumeist »Verlockungs-Motiv« genannt
wird):
(33)
ERLÄUTERUNGEN
danach zu verlangen
machst du mir Lust?
(Er schreitet bewegt in der Halle auf und ab. Hagen, ohne seinen Sitz zu verlassen, hält Gunther, als dieser wieder in seine Nähe
kommt, durch einen geheimnisvollen Wink fest.)
Hagen:
Brächte Siegfried
die Braut dir heim,
wär’ dann nicht Brünnhilde dein?
Gunther (wendet sich wieder zweifelnd und unmutig ab):
Was1 zwänge den frohen Mann,
für mich die Braut zu frein?
Hagen (wie vorher):
Ihn zwänge bald deine Bitte,
bänd’ ihn Gutrun’ zuvor.
Gutrune:
Du Spötter, böser Hagen,
wie sollt’ ich Siegfried binden?
Ist er der herrlichste
Held der Welt,
der Erde holdeste Frauen
friedeten längst ihn schon.
1. AUFZUG/1. SZENE
53
1
TV: Für »was« steht »wer«.
Hagen entwickelt seinen Plan immer deutlicher, macht Gutrune Mut, läßt Gunther ahnen, daß er durch ihn die legendäre, wunderbare Walküre Brünnhilde zu seinem Weibe machen könnte. Hagen beschließt seine Rede mit »seinem« Motiv (25), das hier vielleicht in seiner ursprünglichsten Form zitiert wird: mit einem auffallenden Tritonus-Sprung in der Melodie (C-Fis), dessen hohler, fahler, irgendwie unfaßbarer Klang seit jeher in der abendländischen Musik einen bösen Beiklang
hatte.
Begeistert begrüßen die Geschwister den Plan Hagens, dessen vernichtend-furchtbarer Sinn sich ihnen hier noch nicht
offenbart.
Und als wolle das Schicksal seine Hand zu dessen Ausführung
bieten, erklingt von fern über den Rhein Siegfrieds Hornruf.
Gespannt blicken alle drei auf den von Siegfrieds starker Hand gegen den Strom getriebenen Kahn. Das Motiv von Siegfrieds Hornruf vermischt sich mit dem der Rheintöchter (als Symbol des Stroms). Des Orchesters bemächtigt sich wachsende Erregung, Motive und Bewegungen wogen durcheinander, tonmalerische Klangfiguren schildern das dem Zuschauer noch verborgene
Rudern Siegfrieds gegen den Strom.
ERLÄUTERUNGEN
54
Hagen (sich vertraulich zu Gutrune hinneigend):
Gedenk des Trankes im Schrein: (heimlicher)
vertraue mir, der ihn gewann:
den Helden, des du verlangst,
bindet er liebend an dich.
(Gunther ist wieder an den Tisch getreten und hört, auf ihn ge-
lehnt, jetzt aufmerksam zu.)
Träte nun Siegfried ein,
genöss’ er des würzigen Tranks,
daß vor dir ein Weib er ersah,
daß je ein Weib ihm genaht,
vergessen müßt’ er dess’ ganz.
Nun redet,
wie dünkt euch Hagens Rat?
Gunther (lebhaft auffahrend):
Gepriesen sei Grimhild’,
die uns den Bruder gab!
Gutrune: Möcht’ ich Siegfried je ersehn!
Gunther: Wie fänden ihn wir auf?1
(Ein Horn klingt aus dem Hintergrunde von links her. Hagen
lauscht.)
Hagen (wendet sich zu Gunther):
Jagt er auf Taten
wonnig umher,
zum engen Tann
wird ihm die Welt:
wohl stürmt er in rastloser Jagd
auch zu Gibichs Strand an den Rhein.
Gunther:
Willkommen hieß’ ich ihn gern.
(Horn näher, aber immer noch fern. Beide lauschen.)
Vom Rhein her tönt das Horn.
Hagen (späht den Fluß hinab und ruft zurück):
In einem Nachen Held und Roß!
Der bläst so munter das Horn!
(Gunther bleibt auf halbem Wege lauschend zurück.)
1. AUFZUG/1. SZENE
55
1
TV: Dieser Vers lautet auch: »Wie suchten wir ihn auf?«
Und da, zu Hagens ersten Begrüßungsworten (inmitten eines fortissimo rasenden Orchesters) führt Wagner drei mit ganzer Kraft schmetternde Posaunen zum sich drohend erhebenden Fluch-Motiv (14). Verstünde Siegfried diesen Klang, er führe
besser an der Gibichungen Schloß vorbei ...
Wieder, wie so oft bei Wagner, weiß der kundige Hörer mehr als die handelnden Personen auf der Bühne (Hagen in diesem Fall ausgenommen, der alles bis zu Siegfrieds Tod weit vorausgeplant hat): Er sieht unschwer voraus, daß hier Alberichs, des Nibelungen Fluch, in seiner ganzen Schärfe an Siegfried wirksam werden wird. Der fatale Klang verebbt schnell, in stummer Betrachtung stehen alle einander zugewandt. Dann erheben sich über nunmehr leisen Akkorden
die Hörner zum Siegfried-Motiv:
(Notenbeispiel S. 58)
ERLÄUTERUNGEN
56
Hagen (wie vorher):
Ein gemächlicher Schlag,
wie von müßiger Hand,
treibt jach den Kahn
wider den Strom;
so rüstiger Kraft
in des Ruders Schwung
rühmt sich nur der,
der den Wurm erschlug.
Siegfried ist es, sicher kein andrer!
Gunther: Jagt er vorbei?
Hagen (ruft durch die hohlen Hände nach dem Flusse zu):
Hoiho! Wohin,
du heitrer Held?
Siegfried (aus der Ferne):
Zu Gibichs starkem Sohne.
Hagen: Zu seiner Halle entbiet ich dich.
(Siegfried erscheint im Kahne am Ufer.)
Hieher! Hier lege an! Heil!
ZWEITE SZENE
(Siegfried legt mit dem Kahne an. Hagen schließt den Kahn
mit der Kette am Ufer fest.
Siegfried springt mit dem Rosse auf den Strand.)
Hagen: Heil! Siegfried, teurer Held!
(Gunther ist zu Hagen an das Ufer getreten. Gutrune blickt vom Hochsitze aus in staunender Bewunderung auf Siegfried. Gunther will freundlichen Gruß bieten. Alle sind in gegenseitiger stummer
Betrachtung gefesselt.)
1. AUFZUG/2. SZENE
57
(34)
Wie zögernd entwickelt sich die Begegnung. Unruhige Motivzitate beleben das Orchester: Gutrunes Verlockungs-Motiv (33), das Walkürenritt-Motiv (17) bei Erwähnung von Brünnhildes Roß Grane. Dann, als Siegfried sich fragend zu Hagen wendet, tönt im Horn nochmals das Fluch-Motiv auf, aber Siegfried kann die Warnung nicht verstehen, sicher und ruhig setzt er sein eigenes Motiv dem noch nicht geahnten dunklen Feinde entgegen. Dann schweifen Siegfrieds Gedanken zur fernen Brünnhilde: der Klarinette, dann den Geigen ist ihr Motiv
(15 b) anvertraut.
ERLÄUTERUNGEN
58
Siegfried (auf sein Roß gelehnt, bleibt ruhig am Kahne stehen):
Wer ist Gibichs Sohn?
Gunther: Gunther, ich, den du suchst.
Siegfried:
Dich hört’ ich rühmen
weit am Rhein:
nun ficht mit mir
oder sei mein Freund!
Gunther:
Laß den Kampf!
Sei willkommen!
Siegfried (sieht sich ruhig um):
Wo berg ich mein Roß?
Hagen: Ich biet ihm Rast.
Siegfried (zu Hagen gewendet):
Du riefst mich Siegfried:
sahst du mich schon?
Hagen:
Ich kannte dich nur
an deiner Kraft.
Siegfried (indem er an Hagen das Roß übergibt):
Wohl hüte mir Grane!
Du hieltest nie
von edlerer Zucht
am Zaume ein Roß.
(Hagen führt das Roß. Während Siegfried ihm gedankenvoll nachblickt, entfernt sich auch Gutrune, durch einen Wink Hagens bedeutet, von Siegfried unbemerkt, nach links durch eine Tür in ihr Gemach. Gunther schreitet mit Siegfried, den er dazu einlädt,
in die Halle vor.)
1. AUFZUG/2. SZENE
59
Arglos, in einfachem Tonsatz, mit einer gewissen Feierlichkeit, entbietet Gunther dem Ankömmling seinen Willkommensgruß,
bietet ihm seine Freundschaft.
Einfach auch entgegnet Siegfried. Aber schon nach wenigen Takten wird seine Rede von Motiven beschwert. Das begleitende Orchester zitiert zuerst (völlig sinngemäß) das Wälsungen-Motiv seiner Eltern (30) und häuft dann nicht weniger als fünf Motive im kurzen Raum von nur sechs Takten: a das Motiv der Rheintöchter, b ein Jubel-Motiv (das in »Siegfried« eine Rolle gespielt hatte), c ein Motiv aus Siegfrieds übermütigen Schmiedeszenen, d das Schwert- und e das Nibelungen-Motiv:
(35)
ERLÄUTERUNGEN
60
Gunther:
Begrüße froh, o Held,
die Halle meines Vaters;
wohin du schreitest,
was du ersiehst,
das achte nun dein eigen:
dein ist mein Erbe,
Land und Leut’ –
hilf, mein Leib, meinem Eide!
Mich selbst geb ich zum Mann.
Siegfried:
Nicht Land noch Leute biete ich,
noch Vaters Haus und Hof:
einzig erbt’ ich
den eignen Leib;
lebend zehr ich den auf.
Nur ein Schwert hab ich,
selbst geschmiedet:
hilf, mein Schwert, meinem Eide!
Das biet ich mit mir zum Bund.
1. AUFZUG/2. SZENE
61
Hagen lenkt das Gespräch auf den Nibelungenschatz, den Siegfried durch den Sieg über Fafner erwarb. Im Orchester tauchen wiederum zwei Motive gleichzeitig auf: a das Schmiede-Motiv, Symbol der Nibelungen, b das Motiv des Horts (und des
träge schleichenden Drachens, der ihn hütete):
(36)
Hier erwähnt Siegfried erstmals den Tarnhelm, ohne seinen Namen oder seine Bedeutung zu kennen: Bringt Wagner deshalb das Tarnhelm-Motiv noch nicht an dieser Stelle? Es erklingt erst (32, doch hier in voller ursprünglicher Ausdehnung wie seinerzeit in »Rheingold«), als Hagen das Geschmeide mit Namen benennt und seine Wirkung schildert. (Er behauptet, den Tarnhelm zu kennen, der »Niblungen künstliches Werk«: woher? Als sein Vater Alberich ihn an die Götter verlor, war Hagen noch lange nicht auf der Welt.) Bei Erwähnung des Ringes erklingt
dessen Motiv (11 a).
ERLÄUTERUNGEN
62
Hagen (der zurückgekommen ist und jetzt hinter Siegfried steht):
Doch des Niblungenhortes
nennt die Märe dich Herrn?
Siegfried (sich zu Hagen wendend):
Des Schatzes vergaß ich fast:
so schätz ich sein müß’ges Gut!
In einer Höhle ließ ich’s liegen,
wo ein Wurm es einst bewacht’.
Hagen: Und nichts entnahmst du ihm?
Siegfried: Dies Gewirk, unkund seiner Kraft.
Hagen:
Den Tarnhelm kenn ich,
der Niblungen künstliches Werk:
er taugt, bedeckt er dein Haupt,
dir zu tauschen jede Gestalt;
verlangt dich’s an fernsten Ort,
er entführt flugs dich dahin.
Sonst nichts entnahmst du dem Hort?
Siegfried: Einen Ring.
Hagen: Den hütest du wohl?
Siegfried: Den hütet ein hehres Weib.
Hagen (für sich): Brünnhild’! ...
Gunther:
Nicht, Siegfried, sollst du mir tauschen:
Tand gäb’ ich für dein Geschmeid’,
nähmst all mein Gut du dafür.
Ohn’ Entgelt dien ich dir gern.
(Hagen ist zu Gutrunes Tür gegangen und öffnet sie jetzt. Gut-
rune tritt heraus, sie trägt ein gefülltes Trinkhorn und nähert
sich damit Siegfried.)
1. AUFZUG/2. SZENE
63
Gutrune, die sich bei Siegfrieds Auftritt zurückgezogen hatte, betritt nun neuerdings den Saal. Bei ihrem Erscheinen erklingt in Holzbläsern und Harfe ein neues, ihr zugeordnetes Motiv voll schlichter Lieblichkeit. Wie vorher von Gunther scheint Wagner nun auch von Gutrune den Verdacht auf Mittäterschaft in Hagens
dunklen Plänen nehmen zu wollen:
(37)
Ihr Motiv geht im Orchester in das Brünnhildes über, deren Siegfried gedenkt, als er den Trank in Händen hält. Wagner schließt noch das Liebes-Motiv (18) an, bevor Siegfried trinkt. Doch in diesem Augenblick geht eine starke Veränderung vor sich. Ist es ein neues Motiv (das des Vergesens, des tragischen Auslöschens der Erinnerung) oder ist es eine Ableitung aus dem Tarnhelm-Motiv (32), das ja ebenfalls eine Persönlich-
keitsverwandlung symbolisiert?
(38)
Gutrunes Motiv (37) kehrt wieder, es leitet in das Verlockungs-Motiv (33) über, dessen abstürzende Septime nun mit einem chromatischen Wiederaufstieg verbunden wird. Das Zeitmaß der Musik beschleunigt sich (»heftig« überschreibt Wagner nun lange Passagen). Als Regisseur der Uraufführung soll Wagner erklärt haben, daß aus Siegfrieds nun gänzlich veränderter
ERLÄUTERUNGEN
64
Gutrune:
Willkommen, Gast,
in Gibichs Haus!
Seine Tochter reicht dir den Trank.
Siegfried (neigt sich ihr freundlich und ergreift das Horn; er
hält es gedankenvoll vor sich hin):
Vergäß’ ich alles,
was du mir gabst,
von einer Lehre
laß ich doch nie!
Den ersten Trunk
zu treuer Minne,
Brünnhilde, bring ich dir!
(Er setzt das Trinkhorn an und trinkt in einem langen Zuge. Er reicht das Trinkhorn an Gutrune zurück, welche verschämt und verwirrt die Augen vor ihm niederschlägt. Siegfried heftet den
Blick mit schnell entbrannter Leidenschaft auf sie.)
Die so mit dem Blitz
den Blick du mir sengst,
was senkst du dein Auge vor mir?
(Gutrune schlägt errötend das Auge zu ihm auf.)