Der Autor:
Seine Tätigkeit als Werbetexter hat Frank Jöricke (*1967) aus Trier nicht geschadet. Im Gegenteil, zeichnet sich doch seine Sprache durch ihre Treffsicherheit und lebendige Fabulierkunst aus. Erweitert um den Blick des Texters, der schon von Berufs wegen immer ein genaues Sensorium für die kleinen und großen Widersprüche des Lebens haben muss, verfällt er dennoch nicht dem Zynismus oder der Verklärung. Sein Erfolgsroman „Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage“ wurde im WDR-Fernsehen von Jürgen von der Lippe und Ingo Naujoks euphorisch gefeiert. Außerdem gilt Jöricke als der Entdecker von Guildo Horn, arbeitet nebenbei als Bad-Taste- und Ü-30-DJ, ist Ex-Fußballschiedsrichter und manischer Blutspender (90 Mal in 26 Jahren) − dabei sind seine Bücher alles andere als anämisch!
55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen
1.Guido Eckert: Zickensklaven. Wenn Männer zu sehr lieben Solibro 2009; ISBN 978-3-932927-43-0; eBook: 978-3-932927-59-1
2.Peter Wiesmeier: Ich war Günther Jauchs Punching-Ball! Ein Quizshow-Tourist packt aus. Solibro 2010 (vgl. Nr. 7)
3.Guido Eckert: Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft. Wie Sie garantiert weise werden. Solibro 2010; ISBN 978-3-932927-47-8; eBook 978-3-932927-60-7
4.Maternus Millett: Das Schlechte am Guten. Weshalb die politische Korrektheit scheitern muss. Solibro 2011; ISBN 978-3-932927-46-1; eBook: 978-3-932927-61-4
5.Frank Jöricke: Jäger des verlorenen Zeitgeists. Frank Jöricke erklärt die Welt. Solibro 2013; ISBN 978-3-932927-55-3; eBook: 978-3-932927-62-1
6.Burkhard Voß: Deutschland auf dem Weg in die Anstalt. Wie wir uns kaputtpsychologisieren. Solibro 2015. ISBN 978-3-932927-90-4; eBook: 978-3-932927-91-1
7.Peter Wiesmeier: Steh bei Jauch nicht auf dem Schlauch! Survival-Tipps eines Quizshow-Touristen. Solibro 2016 (überarb. Aufl. des Reihentitels Nr. 2) ISBN 978-3-932927-09-6; eBook: 978-3-932927-99-7
8.Ralf Lisch: Inkompetenzkompensationskompetenz. Wie Manager wirklich ticken. Solibro 2016; ISBN 978-3-96079-013-6; eBook: 978-3-96079-014-3
9.Yvonne de Bark: Mamas wissen mehr. Das geheime Wissen cooler Mütter. Solibro 2017; ISBN 978-3-932927-00-3; eBook: 978-3-96079-000-6
10.Rob Kenius: Neustart mit Direkter Digitaler Demokratie. Wie wir die Demokratie doch noch retten können. Solibro 2017. ISBN 978-3-96079-011-2; eBook: 978-3-96079-012-9
11.Burkhard Voß: Albtraum Grenzenlosigkeit. Vom Urknall bis zur Flüchtlingskrise. Solibro 2017; ISBN 978-3-96079-031-0; eBook: 978-3-96079-032-7
12.Florian Willet: Mir nach, ich folge Euch! Wie uns die Parteien über den Tisch ziehen. Solibro 2018; ISBN 978-3-96079-045-7; eBook: 978-3-96079-046-4
13.Reiner Laux: Seele auf Eis. Ein Bankräuber rechnet ab Solibro 2018; ISBN 978-3-96079-053-2; eBook: 978-3-96079-054-9
14.Ralf Lisch: Incompetence Compensation Competence Solibro 2017; ISBN 978-3-96079-043-3; eBook: 978-3-96079-044-0
15.Frank Jöricke: War´s das schon? 55 Versuche, das Leben und die Liebe zu verstehen. Solibro 2019; ISBN 978-3-96079-063-1; eBook: 978-3-96079-064-8
16.Burkhard Voß: Wenn der Kapitän als Erster von Bord geht. Wie Postheroismus unsere Gesellschaft schwächt. Solibro 2019; ISBN 978-3-96079-069-3; eBook: 978-3-96079-070-9
eISBN 978-3-96079-064-8 / 1. Aufl. 2019 / enthält z. T. überarbeitete
Texte aus Frank Jörickes Buch „Jäger des verlorenen Zeitgeists“
© SOLIBRO® Verlag, Münster 2019
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Coverbild: © JGI/Jamie Grill/Getty Images
Autorenfotos: Habib Hakimi (oben), privat (unten),
Foto zum Vietnamtest: privat
verlegt. gefunden. gelesen.www.solibro.de
Die Jugend wäre eine noch viel schönere Zeit,
wenn sie erst später im Leben käme.
Charlie Chaplin
Was für ein Lesetyp sind Sie? Der Querdenker, der überrascht werden will und gespannt ist, wo der nächste Gedanke hinführt? Oder der Traditionalist, der unbeirrt seinen Weg von der ersten bis zur letzten Seite geht und dann Bilanz zieht? Das spielt bei diesem Buch keine Rolle. Denn „War‘s das schon?“ können Sie auf drei Arten lesen:
1.) Interaktiv – am Ende jedes Kapitels finden Sie zwei Vorschläge, wie Ihre Leseroute weitergehen könnte.
2.) Blockweise – erst alle Texte über das „Leben“, dann alle Texte über die „Liebe“.
3.) Klassisch geradeaus – schnurstracks von Kapitel zu Kapitel.
Entree: Das Leben an sich
War’s das schon? Warum dieses Buch bei der vorläufigen Lebensbilanz hilft
Leben auf der Sonnenseite
Glückliche Egomanen.
Warum die Babyboomer nicht erwachsen werden
Liebe zum Körper
Burt Reynolds, nackt.
Warum auch Männer in der Schönheitsfalle stecken
Leben, leicht
Schuld war nur die Bossa Nova.
Warum Brasilien das lässigste Land der Welt war
Leben als Student
Ihr werdet betrogen!
Warum das Studentenleben nicht mehr lustig ist
Liebe – es ist kompliziert
Der Begemann im Mann.
Warum Selbstzweifel kluge Lieder hervorbringen
Liebe zur Hauptstadt
Zu sexy für den Rest.
Warum deutsche Städte unter Berlin leiden
Leben als Kampf
Die „Good Girls“ der Bösen.
Warum schlechte Zeiten gute Zeiten sind
Leben als moderner Mann
James Bond lebt nicht zweimal.
Warum 007 mehr als ein Quantum Trost braucht
Ein anderes Leben
Die Beste aller Welten.
Warum es Zeit ist für ein Comeback der Disco
Leben in den 00ern
Das ewige Jahrzehnt. Warum uns die 00er Jahre verfolgen
Leben, zerrissen
Schuld und Rausch.
Warum großes Leid große Kunst hervorbringt
Liebe zum Nachwuchs
Mann oder Mama? Warum Helikopterväter scheitern
Enttäuschte Liebe
Herzschmelze in Duisburg.
Warum Fatih Akin das deutsche Kino rettet
Leben im Feierabend
Instantfeste. Warum Eventdinner boomen
Leben im gestern
Zurück in die Zukunft.
Warum Lissabon ein Ort für Zeitreisende ist
Keine Liebe
Frauen zum Abgewöhnen.
Warum Männer „Sex and the City“ meiden sollten
Leben wie früher
Spielen nach Bauplan.
Warum Erwachsene sich ihre Kindheit rekonstruieren
Leben als moderne Frau
Madonna altert nicht. Warum auch Wandel Grenzen kennt
Leben als traditionelle Frau
Die Welt vor Alice Schwarzer. Warum die Mad Men zur Aufklärung beitragen (Staffel 1: 1960)
Liebe zur Kindheit
Ausgesaugt von Vampiren.
Warum wir den falschen Geschichten lauschen
Leben vor der Glotze
Nach Stefan Raab. Warum das TV total egal geworden ist
Leben, vorherbestimmt
Ist Scheitern Kopfsache?
Warum Selbstbestimmung eine Illusion ist
Liebe zum Skurrilen
Wir Trendtrottel.
Warum unser Geschmack immer seltsamer wird
Leben im Turbokommunismus
Ludwig Erhard 4.0. Warum Vietnam triumphiert
Leben im Scheinwerferlicht
Der Star – ein armes Würstchen. Warum BUNTE, GALA und Co. den Promikult ruinieren
Leben, orientierungslos
Robbie unser!
Warum ein Boygroup-Sänger unser Leitstern war
Mörderisches Leben
Ende der Gemütlichkeit.
Warum die Krimiserie Tatort einem Angst bereiten kann
Leben als Scheitern
Als die Gegenwart neu war. Warum die Mad Men zur Aufklärung beitragen (Staffel 5: 1966/1967)
Leben in den 80ern
Das verlorene Jahrzehnt.
Warum die 80er zu Unrecht abgefeiert werden
Liebe in Zeiten von Facebook
Die Grenzen der Lockerheit. Warum die Geschichte des Christian von Boetticher ziemlich traurig ist
Verlogenes Leben
Hindenburg und die Wahrheit.
Warum wir Hitlers Helfer als Namensgeber brauchen
Vergebene Liebesmüh
Der Tod steht ihm gut.
Warum „Tschick“ (zu spät) Erfolg hatte
Leben in Diskriminierung
Ziemlich beste Opfer. Warum der Retro-Film „Green Book“ eigentlich von der Gegenwart handelt
Freie Liebe?
Gestern Werther, heute Elitepartner. Warum die romantische Liebe fast immer schlechte Karten hatte
Liebe, masochistisch
Sehnsucht nach Jancker.
Warum der schlechte deutsche Fußball schön war
Leben als Außenseiter
Gitarrespielende Pfadfinder. Warum mit dem Tod von Kurt Cobain ein ganzes Zeitalter starb
Leben in der Blase
Wenn Träume dahinschmelzen. Warum die Generation Schneeflocke so verschreckt und mutlos ist
Leben im New Hollywood
Als Kommerz cool war.
Warum die Traumfabrik Realismus produzierte
Leben, passiv
Schon wieder nix passiert!
Warum Lethargie fesselnd sein kann
Fest der Liebe
Sehnsucht nach der stillen Nacht. Warum wir Christmas-Shows für unsern Seelenhaushalt brauchen
Liebe zum Lied
Tod einer Liebe. Warum die Digitalisierung die Beziehung zur Musik zerstört hat
Liebe in Zeiten des Kapitalismus
Geplatzter Deal. Warum Bettina und Christian Wulff schlechte Geschäftspartner waren
Liebe und Musik
Hauptdarsteller in e-Moll. Warum der Film „Can a Song Save Your Life?“ ein Fall für die Psychologie ist
Leben als werdender Vater
Andere Umstände.
Warum der schwangere Mann eine verstörte Spezies ist
Leben im Kalten Krieg
Damals mit Heiner. Warum Politik polarisieren muss
Liebe in der Ferne
Als wir die Griechen noch mochten.
Warum die Deutschen so hochmütig wurden
Das falsche Leben
Was Facebook mit uns macht.
Warum soziale Medien unser Sozialverhalten verändern
Leben in den 90ern
Das verworrene Jahrzehnt.
Warum die 90er eine Befreiung waren
Leben in Parallelwelten
Kampf den Fachidioten! Warum Betriebswirte aus der Kultur verschwinden müssen
Liebe oder Karriere
Der Preis, den wir zahlen.
Warum „La La Land“ ein Anti-Liebesfilm ist
Leben als Kreativer
Kein Echtleben im falschen. Warum Katja Kullmann die Lebenslüge der Kreativen offenlegt
Liebe zu Drogen
Braucht Deutschland mehr Koks? Warum „Endlich Kokain“ das subversivste deutsche Buch ist
Liebe zur Gemeinschaft
Zurück zum Rudel.
Warum wir die WM und die EM brauchen
Hoffen auf Liebe
Und täglich grüßt das Weihnachtslied.
Warum für uns immer „Last Christmas“ ist
Nachschlag: Liebe zum Essen
Iss noch was?
Warum Essen zum Persönlichkeitsmerkmal wurde
Wichtig im Leben
Danke sagen
Für Katharina
Entree: Das Leben an sich
Vielleicht sind Netflix und Hollywood an allem schuld – die Sehnsuchtsfabriken mit ihren funkelnden Geschichten und schillernden Helden. Solch ein Leben voller Leidenschaft und Turbulenzen würden wir auch gern führen. Also träumen wir von Liebe im Breitwandformat, von XXL-Gefühlen und spektakulären Erlebnissen nonstop. Langeweile kommt in diesen Träumen nicht vor. Alltag auch nicht. Hat man den großen Gatsby je auf dem Klo sitzen sehen?
Vielleicht sind Facebook und Instagram an allem schuld. Davor galt „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“. „Dienst“ war die Arbeit, „Schnaps“ das Privatleben. Und das fand im Privaten statt – und nicht unter der Dauerbeobachtung von tausend ziemlich besten Freunden, die alle vorgeben, das geilste, tollste, aufregendste Leben zu führen. Kim Kardashian und Heidi Klum können mit diesem Freizeitstress umgehen, Erika Mustermann eher nicht.
Vielleicht ist der Dauerwohlstand seit den Wirtschaftswunderjahren an allem schuld. Hunger, Krankheit, Krieg, Vertreibung – das sind echte Probleme. Krisseliges Haar, zwei Kilo Urlaubsspeck und eine ignorierte WhatsApp-Nachricht eher nicht.
Aber woran sind Netflix & Co eigentlich schuld? Daran, dass wir gelangweilt sind und Zeiten nachtrauern, in denen wir noch nicht gelangweilt waren? Daran, dass wir uns mit 35, 45, 55 die Frage stellen „War’s das schon?“
Dieses Buch versucht, Gedankenanstöße zu geben. Wohin diese Gedanken führen – das bestimmen Sie. Denn so interaktiv wie das heutige Leben ist auch dieses Buch. Jeder Text führt zu einer Gabelung, an der Sie entscheiden, wie der Weg weitergeht. Doch Vorsicht, mancher Pfad führt zu Gedanken, die Ihr Weltbild erschüttern könnten. „War’s das schon?“ – garantiert nicht! Viel Spaß bei diesem Trip durch das moderne Leben!
Leben auf der Sonnenseite
Verfluchtes Glück. Es war einfach verfluchtes Glück gewesen. Erst hatten sie den mörderischsten Krieg der Menschheitsgeschichte verpasst und danach den Hungerwinter 1946/47, in dem der Weiße Tod (Tuberkulose) und Typhus viele dahinraffte. Sie, die Babyboomer, mussten weder Trümmer wegräumen noch Lebensmittel beiseiteschaffen. Die frühen autoritären Adenauerjahre waren ihnen, den zwischen 1955 und 1969 Geborenen, ebenso erspart geblieben wie der Spätstalinismus. Stattdessen erlebten sie die Welt als Ponyhof, auf dem Jahr für Jahr ein paar Kleinpferde hinzukamen.
Das galt nicht nur für die Wirtschaftswunder-Bundesrepublik, sondern in schwächerem Maß auch für die DDR. Der Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 war der Startschuss zu mehr Konsum – „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) in der abgespeckten sozialistischen Version. Der Westen war zwar weiterhin der Klassenfeind, doch zugleich willkommener Belieferer der Intershops. (Und wer kein Westgeld hatte, konnte seine Ostmark in die Exquisit- und Delikat-Läden tragen – „man gönnt sich ja sonst nichts“).
So empfanden die Babyboomer hüben wie drüben das Leben als stetige Verbesserung. Sie waren nicht nur die Babys des Booms, nein, sie erfuhren und lebten ihn in ihrer gesamten Kindheit und Jugend: Die Altbauwohnung mit Etagenklo und Kohleofen wurde gegen einen Neubau mit Zentralheizung getauscht, der überfüllte Omnibus gegen ein Auto, der Volksempfänger gegen einen Fernseher. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, diese Honecker-Parole hätten auch die Babyboomer des Westens sofort unterschrieben. Spätestens, wenn Oma oder Papa von der gar nicht so guten alten Zeit erzählten, wussten sie die Gnade der späten Geburt zu schätzen.
Und das nicht nur in materieller Hinsicht. Mit der Warenpalette wuchs auch das Kulturangebot. 1955, als die ersten Babyboomer auf die Welt kamen, wurde mit „Rock around the clock“ auch die moderne Populärmusik geboren – und mit ihr die Jugendkultur. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte waren Teenager mehr als ausbeutbare Arbeitskräfte und Kanonenfutter für die Front. Jung sein hieß plötzlich: Spaß haben. Das Leben wurde zum Wunschkonzert. Im wörtlichen Sinn, weil auch die Musikbranche boomte. Nicht allein im kapitalistischen Westen. Wenn es um Songs und Sounds ging, erreichte die DDR das oft beschworene „Weltniveau“. Manfred Krug evergreente sich durch die internationalen Charts, City und Karat überwanden mit ihren Songs den antifaschistischen Schutzwall, und Frank Schöbel meisterte gar die „Wall of Sound“ – sein „Wie ein wilder Stern“ hätte auch ein Phil Spector nicht bombastischer hinbekommen.
Und weil zum Pop das Poppen gehörte, wurde die Musik zum Soundtrack eines entkrampften Liebeslebens. Im Westen waren es Kommunen und WGs, im Osten die FKK-Kultur, die den Babyboomern dabei halfen, ihren Körper und den des Gegenübers zu entdecken. Wenn es schon mit der politischen Freiheit nicht klappte (die Jugend der BRD holte sich bei Demos regelmäßig Prügel ab, die der DDR kam erst gar nicht dazu zu demonstrieren), dann wenigstens mit der sexuellen – „Euch die Macht, uns die Nacht!“ Und zwar in wechselnden Konstellationen. Da niemand zum Establishment gehören wollte, war es eine Frage der Ehre, nicht zweimal mit derselben zu pennen.
Dass das Gros der Nachtrevoluzzer und Spontis dann doch im Establishment landete, ist eine andere Geschichte. Denn einmal mehr hatten die Babyboomer Glück. Der politische Erfolg der Grünen, die Institutionalisierung und Subventionierung alternativer Bewegungen und soziokultureller Zentren, das Ende des Kalten Krieges, der Fall der Mauer – all dies sorgte dafür, dass auch beruflich viele Karten neu gemischt wurden. Sogar selbst erklärte Staatsfeinde von einst fanden sich plötzlich auf der anderen Seite wieder und stellten fest, dass ein bürgerliches Leben ja eigentlich doch ganz okay war, solange man den SUV für Einkäufe im Biomarkt nutzte.
Damit hatte die Geschichte der Babyboomer ihren triumphalen Abschluss gefunden. Die Glückskinder des 20sten Jahrhunderts hatten in jeder Hinsicht gesiegt. Sie waren gesellschaftlich aufgestiegen, hatten halbwegs Karriere gemacht und waren dabei – so glaubten sie zumindest – moralisch sauber geblieben.
Doch genau darin liegt das Problem jener Generation, die heute in Staat, Wirtschaft und sozialen Organisationen das Sagen hat: Sie hat stets nur die Sonnenseite des Lebens kennengelernt. Die Babyboomer haben Deutschland als Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfahren, in dem ein studentischer Tellerwäscher vielleicht nicht zum Millionär, aber immerhin zum Leiter einer Tagesförderstätte aufsteigen kann. Anders als ihre Eltern und Großeltern haben sie Krieg, Hunger und Not nie am eigenen Leib erfahren. Ihnen fehlt das Vorstellungsvermögen, dass es mitten in Deutschland Menschen gibt, an denen der Wohlstandszug vorbeigerauscht ist. Da die Babyboomer immer Gewinner waren, kommen Verlierer in ihrem Weltbild nicht vor.
Schon gar nicht die vor der eigenen Haustür. Selbst wenn sie in Berlin leben, ist ihnen New York näher als Neukölln. Stets schweift ihr Blick in die Ferne. Zwar ist ihnen, den fleißigen Flugmeilensammlern, bewusst, dass es ein guatemaltekischer Kaffeebohnenpflücker schwerer hat als sie (weshalb sie den teuren Fairtrade-Kaffee trinken, der nicht nur besser für den Magen, sondern auch für das Gewissen ist), doch vor Ort hört ihr Interesse an prekären Verhältnissen auf. Die weltbereisten Babyboomer wissen mehr über das Problemland Haiti (Karibik) als über den Problemstadtteil Hasenbergl (München).
Ihre Kontakte mit der heimischen Unterschicht beschränken sich auf Comedysendungen mit Cindy aus Marzahn. Dann dürfen sie endlich – frei von den Zwängen politischer Korrektheit – die Assis und Prolls auslachen. In solchen Momenten zeigen die Babyboomer ihr wahres Gesicht: Sie, die Besitzer des Ponyhofs, schauen vom hohen Ross auf die Bewohner der Hartz IV-Gettos herab. All ihr Gerede von einer „gerechteren Welt“ vermag die eigene Selbstgerechtigkeit nicht länger zu verbergen. Und mit einem Mal erscheint das Glück, das dieser Generation ihr Leben lang treu blieb, tatsächlich als Fluch.
Von den Babyboomern zur Generation Schneeflocke („Generation Y“ oder „Why“) (Seite 143)
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