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Mami
– Staffel 11 –

E-Book 1828-1837

Isabell Rohde
Annette Mansdorf
Myra Myrenburg
Edna Meare
Gisela Reutling
Eva-Maria Horn
Gloria Rosen

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-580-9

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So jung - so traurig

Roman von Rohde, Isabell

Annalena Ossiander stand in ihrem Ankleidezimmer und schob ungeduldig einen Bügel nach dem anderen von links nach rechts und wieder zurück. Was sollte sie nur anziehen? Das vanillefarbene Leinenkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt, das ihre leicht gebräunte Haut gut zur Geltung brachte und das Fabian gern an ihr sah?

Mit wehmütigem Lächeln hob sie die Schultern. Fabian war ihr Ehemann, aber sah er sie überhaupt noch richtig an? Ging es ihm nicht nur um die Rolle, die sie als seine perfekte Frau spielte? Fabian war ein begnadeter Dirigent. Er liebte den Ruhm und die Bewunderung seiner Verehrer und brauchte auch die verzückten Schreie seiner Verehrerinnen. Aber brauchte er sie, Annalena, noch?

Sie nahm ein Kleid aus violettem Chiffon hervor und sofort war sie mit allen ihren Gedanken bei Wolfgang. In diesem Modell, eines duftigen Hauchs von Kleid hatte sie ihm zum ersten Mal gegenübergestanden. Seitdem, so kam es ihr vor, war eine süße Ewigkeit vergangen, in der sie sogar ihren Ehemann ertrug. Seitdem sie Wolfgang kannte und liebte, gab es nichts, was Fabian ihr noch an Demütigungen und Schmerzen antun konnte. Ob sie dieses Kleid heute anziehen sollte?

Trug sie es, umflatterte es ihre Oberschenkel kokett und erlaubte sogar einen Durchblick auf die Silhouette ihres Körpers. Wolfgang behauptete, in diesem Kleid machte sie ihn vor Verlangen verrückt. Dann wußte sie jedesmal, daß es sich von einer Zukunft mit ihm zu träumen, ja, sie sogar zu planen lohnte.

Ihr Atem ging schneller. Sollte sie dieses Kleid heute tragen oder nicht? Sie mußte sich vorstellen, was Claudia dazu sagte. Würde ihre Tochter sie nicht überrascht ansehen und dann vielleicht zu kichern beginnen? Ein Mädchen von elf Jahren macht sich eben schon Gedanken. Aber war sie nicht stolz auf ihr aufgewecktes Töchterchen?

Annalena entschied sich für ein dunkelgrünes Kleid. Es reichte bis zu den Fesseln. Ein dezentes Ornament betonte den tiefen Ausschnitt, es war sommerlich, verführerisch, aber doch dezent. Nur paßte es nicht zu der Stimmung, die sie jedesmal in Wolfgangs Nähe überkam. Wenn sie nur einen Blick von ihm erhaschte, wurde sie sorglos, kapriziös und leichtsinnig.

Kurz entschlossen streifte sie das Kleid vom Bügel, hielt es sich vor den Körper und trat damit vor den Spiegel.

Sie war schön wie kaum eine andere Frau von knapp über dreißig. Wer sah ihr schon an, daß sie eine elfjährige Tochter hatte? Gutgelaunt schlüpfte sie hinein und trällerte dabei die einfache Melodie, die Claudia unten im Haus am Flügel übte. War das Mozart? Oder begann die Klavierlehrerin das arme Kind bereits mit Beethoven oder Brahms zu traktieren? Fabian wollte es natürlich so. Manchmal ergriff sie eine rasende Wut auf ihren Ehemann. Warum zwang er das unbekümmerte Kind dazu, sich diesen Qualen auszusetzen? Aus Claudia wurde nie ein musikalisches Genie.

Als Annalena am Schminktisch saß und ihr Haar ordnete, klopfte es zaghaft an die Tür. Sekunden später trat Claudia zögernd ein. Schritt für Schritt näherte sie sich ihrer Mutter.

»Ich dachte, du schläfst, Mama. Du wolltest dich doch hinlegen, damit du heute abend bei Papas Sommerkonzert ausgeruht bist.« Nun lächelte die Kleine. »Wie gut, daß ich dich nicht geweckt habe. Aber weißt du, das Wetter ist so schön. Darf ich nicht…?«

Annalena wandte sich um.

»Ja, du darfst mit dem Klavierüben Schluß machen. Ich hätte dich sowieso gleich gebeten, mich in die Stadt zu begleiten. Was hältst du von einem kleinen Stadtbummel und einem anschließenden Café-Besuch?«

Hoffentlich war Claudia einverstanden. Es sollte doch wie ein Zufall aussehen, wenn Wolfgang im Café zu ihnen trat.

Claudia ähnelte ihrer Mutter. Nur die ausdrucksvollen Brauen, die sich so elegant über ihre grünen, schmal geschnittenen Augen schwangen, hatte sie von ihrem Vater geerbt. Und diese Brauen zogen sich jetzt zusammen.

»Ich wollte aber zu Silke. Du weißt doch, sie hat ein Trampolin im Garten.«

»Ach, Claudia! Das Trampolin kann warten. Darauf wirst du noch in Jahren herumhüpfen. Aber so ein Einkaufsbummel, bei dem wir beiden hübschen uns für die Ferien in Italien eindecken, ergibt sich nicht alle Tage.«

»Ich habe genug zum Geburtstag bekommen.«

Claudia trug ihr wunderschönes, dunkelblondes Haar von einem Band aus der Stirn gehalten. Jetzt nahm sie es ab und schüttelte ihre Mähne. »Ich brauch’ nichts, Mama. Ist doch jedes Jahr dasselbe mit den Schulferien im Haus an der Adria. Papa kommt nur zum Wochenende, und wir beide fahren jeden Tag an den Strand oder auch mal was angucken in Bologna oder Venedig. Aber sonst?«

»Daß du so denkst, wußte ich allerdings nicht, mein Schatz«, hauchte Annalena mit erstauntem Lächeln.

Dabei hoffte sie im stillen, auch Claudia könne den langen Ferienwochen im wunderschönen Haus in Italien längst nichts mehr abgewinnen. Fabian tauchte dort ja nur noch auf, wenn ihm seine Verehrerinnen zu dicht auf den Pelz rückten oder er dringend ein wenig Abstand von einer seiner Liebesaffären brauchte.

»Tu ich aber«, erwiderte Claudia trotzig.

»Dein armer Vater«, meinte Annalena und bemerkte, wie Claudia gleichgültig mit den Schultern zuckte. Sagte das nicht alles? Ahnte ihre Tochter vielleicht schon, wie schlecht es um die Ehe ihrer Eltern stand?

Ihr Mann betrog sie, wo er nur konnte. Er, der begnadete Dirigent, nahm sich alle Freiheiten. Seine letzte Geliebte hatte er vor zwei Jahren geheiratet, und noch war keine ebenbürtige Nachfolgerin aufgetaucht. Aber Annalena wußte schon, welche Damen inzwischen ihrer großen Chance bei Fabian entgegenfieberten.

»Du bist gewachsen, Claudia«, wechselte sie das Thema. »Neue Jeans und zwei oder drei Bikinis brauchst du bestimmt. Komm, zieh’ keine Schnute, mein Liebling. So ein Bummel hat uns bist jetzt doch immer viel Spaß gemacht.«

»Ja, aber…«, Claudia stöhnte leise. »Müssen wir eigentlich wieder die ganze Ferienzeit in Italien verbringen? Kann ich nicht wenigstens zwei Wochen früher zurück nach München? Silke und Agnes sind dann auch hier.«

Das Gesicht ihrer Mutter verschloß sich. Aber genau so unvermittelt hellte ein schelmisches Lächeln es wieder auf.

»Wissen wir beide, was die Zukunft uns bringt?« fragte sie leichthin. »Hauptsache, wir beide amüsieren uns heute. Also, was ist? Wollen wir nicht versuchen, zwei richtig schicke Bikinis für dich zu finden?«

Das war verlockend, Claudia mußte es zugeben. Und so saßen die beiden eine Viertelstunde später in Annalenas Cabriolet, glitten an den Villen des Vororts vorbei und fuhren bei strahlendstem Sommerwetter in die City.

Claudia genoß es, an der Seite ihrer schönen Mutter von Geschäft zu Geschäft zu schlendern. Sie bemerkte die bewundernden Blicke der Passanten und freute sich, wenn sie als Frau und Tochter des Dirigenten Ossiander erkannt und dementsprechend hofiert wurden.

Nach fast zwei Stunden steuerten die beiden, vollbepackt mit Einkaufstüten auf ein stadtbekanntes Café zu.

Claudia bemerkte, daß ihre Mutter zur Uhr sah.

»Das wird spät für dich, wie?« erriet sie. »Heute abend gehst du doch zu Papas Konzert, nicht? Wenn’s knapp wird, verzichte ich aufs Eis. In Italien gibt’s ja genug davon?«

»Nein, nein, die Zeit muß sein. Ich hab’s dir versprochen.«

»Fein«, freute Claudia sich. »Aber ich muß Silke anrufen. Die wartet sonst.«

»Das machst du im Café«, entschied Annalena und schritt eilig auf einen freien Tisch zu.

Claudia bekam ein Eis serviert, Annalena bat um einen Fruchtdrink. Um sie herum versammelten sich vergnügte Gäste, man rief sich Grüße und Wünsche für die Ferienzeit oder das nächste Wochenende zu und sowie ein Platz frei wurde, stand schon der nächste Anwärter bereit.

Claudia war mit ihrer Schleckerei so beschäftigt, daß sie den lässig gekleideten Herr, der sich ihrem Tisch mit erwartungsvollem Lächeln näherte, gar nicht bemerkte.

Erst als er überrascht ausrief: »Hallo, Annalena, was für ein wunderbarer Zufall, dich hier anzutreffen!« sah sie auf.

Ein freundliches Männergesicht wandte sich ihr neugierig zu. Das offene Lächeln war gewinnend, der Blick verriet verschmitzte Lebensfreude und herzliche Aufmerksamkeit.

»Ja, ein netter Zufall!« hörte sie ihre Mutter zustimmen.

»Claudia, das ist Wolfgang. Wolfgang Bosch, ein Freund von Bekannten. Wir kennen uns schon länger. Willst du dich nicht setzen, Wolfgang?« bot sie ihm dann gleich an.

Wolfgang Bosch setzte sich, dann reichte er Claudia die Hand. Mit einem verlegenen Gesicht griff sie danach. Er war ihr nicht unsympathisch, aber es war ihr irgendwie unangenehm, daß ihre Mutter einen Mann, den sie noch nie gesehen hatte, einfach duzte.

»Einkäufe für den Urlaub, wie?« erriet er. »Oder verspätete Geburtstagsgeschenke? Und? Freut sich eine junge Dame von gerade elf Jahren auf die Ferien, wie ich es als Schüler tat?«

»Klar!« sagte Claudia schnell, obwohl es doch gar nicht so war.

»Claudia«, verriet ihre Mutter mit besonders weicher Stimme, »langweilt sich manchmal in unserem Haus an der Adriaküste.«

»Das kann ich verstehen.«

Claudia sah ihn an. Er hatte wache Augen von undefinierbarer Farbe. »Das glaub’ ich nicht. Sie sind doch schon… na ja… also…«

»Alt, nicht wahr?« lachte er. »Du meinst, ich bin zu alt, um verstehen zu können, wie ein Einzelkind sich im Urlaub ohne Spielkameraden langweilt?«

»Genau.«

»Claudia!« schalt Annalena sie. »Wie taktlos von dir!«

Claudia blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Aber Wolfgang Bosch war kein Spielverderber. Er blinzelte ihr voller Verständnis zu, bis sie lachen mußte.

»Sind Sie jünger als mein Vater?« fragte sie.

Er nickte amüsiert, aber nicht ohne Stolz. »Ich denke, ja.«

Annalena schüttelte den Kopf. »Was du nur für Fragen stellst, Claudia!«

»Na und? Ich kenn’ den doch gar nicht. Und was ist? Darf ich jetzt aufstehen und telefonieren? Oder ist das auch taktlos?«

»Natürlich nicht.« Annalenas schöngeschwungene Lippen wurden plötzlich ganz schmal.

Claudia verschwand. Wolfgang Bosch wandte sich sofort ihrer schönen Mutter zu.

»Sie ist im schwierigen Alter, Liebling. Sei nicht so streng.«

»So, dann gefällt dir meine Tochter wohl?«

»Natürlich! Sie ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe. Ganz ihre Mutter, nur noch nicht so hinreißend weiblich.« Er nahm ihre Hand, und sein Blick erfaßte sie voller Ungeduld. »Du hast ihr also noch nicht verraten, was uns verbindet und was du vorhast?«

»Unmöglich! Das kann ich doch nicht, Wolfgang! Ein falsches Wort von mir, und sie vertraut sich Fabian an!«

»Wie du es planst, wird es richtig sein«, meinte er, nahm ihre andere Hand und hauchte auf beide einen Kuß.

*

Fabian Ossiander zog mit seinem Taktstock eine scharfe Linie durch die Luft, dieser Bewegung folgte eine kurze Geste, die in ein Verbeugen seines Oberkörpers überging. Der letzte Akkord verhallte.

Er legte den Taktstock beiseite und griff in seine Hosentasche, um ein blaugepunktetes Tuch hervorzuziehen. Damit wischte er sich über den Nacken, so daß die leicht gekräuselten, dunklen Haare ganz durcheinander gerieten.

Es störte ihn nicht. Mit gefälligem Lächeln blickte er auf die Musiker des Staatsorchesters, bis die mit ihren Instrumenten den Lärm machten, die Bewunderung und Dankbarkeit für seine Führungsqualitäten zum Ausdruck brachte. Natürlich, alle respektieren seine Geduld, sein Feingefühl und vor allem seine Genialität.

Es war heiß an diesem Nachmittag. Abends würde es hoffentlich kühler sein. Aufatmend bewegte er sich vom Pult herunter und wandte sich nur kurz dem riesigen Oval voller Sitzreihen zu. Wie immer bei seinen Proben ließ er nur auserwählte Persönlichkeiten als Zuhörer zu. Weiter hinten allerdings drängten sich Neugierige. Unter denen befanden sich viele seiner Fans, die sich die teuren Abendkarten nicht leisten konnten.

Bevor Fabian im Gang verschwand, der in die unterirdischen Räume führte, winkte er einmal huldvoll hinüber. Gleich danach, in der dürftig eingerichteten Garderobe, würde er endlich für wenige Minuten er selbst sein.

»Fabian!« Eine weibliche Stimme erreichte ihn gerade noch, bevor er wegtauchen konnte. Er sah sich um.

»Fabian!« wiederholte die Stimme. Es klang wie ein hingebungsvoller Seufzer.

Mit wenigen Schritten hatte Wiebke Lohmer ihn eingeholt. Die Anwältin war anfang vierzig und eine sehr selbstbewußte und energische Frau, die ihren knabenhaften Typ elegant zu betonen wußte.

»Du warst mal wieder phänomenal, Fabian! Hast du mich nicht bemerkt? Ich saß links in der dritten Reihe. Natürlich habe ich dir nicht mal zugezwinkert«, meinte sie kokett. »Ich weiß doch, daß du von Frauen Diskretion erwartest.«

Mit seinen vierzig Jahren war Fabian kein junger Mann mehr, aber immer, wenn eine Frau Verständnis für ihn bewies, schwellte sich seine Brust wie die eines Jünglings. Er war für jede Art von Bewunderung empfänglich und genoß es, wenn Frauenblicke ihn verschlangen.

Die Anzeichen seiner Erschöpfung verflogen im Nu. Wiebke Lohmer stand ihm seit einigen Jahren als Juristin mit Rat und Tat zur Seite. Als Anwalt hatte sie ihm allerdings einen tüchtigen Kollegen empfohlen, denn sie wußte, eine zu enge berufliche Zusammenarbeit würde ihre persönliche Beziehung zu Fabian nur belasten.

So beschied sie sich mit andern Hilfeleistungen und hatte schon einige Male dafür gesorgt, daß Fabian ganz unbehelligt von seiner Familie und Managern ein stilles Wochenende abseits des Trubels verbringen konnte. Ob er dann über Nacht allein blieb war ihr nach außenhin gleichgültig geblieben. Viel wichtiger war ihr, daß Fabian ihr immer zu Dank verpflichtet war.

»Was machst du heute abend nach dem Konzert?« fragte sie jetzt. Dabei stellte sie sich in Positur, damit er ihre perfekt gestylte Erscheinung beachten konnte.

Fabian lächelte gequält. »Annalena kommt zum Konzert. Danach wird sie mich bald nach Hause schleppen. Du weißt doch, sie beschwert sich in letzter Zeit oft, daß ich kaum Zeit für Claudia habe.«

»Claudia, deine Tochter? Mein Gott, die ist doch ein Kind. Hat sie keine Freunde?«

Er stutzte. Über so was machte er sich nie Gedanken. »Ich nehme es doch an«, wich er lächelnd aus und tupfte sich einige Schweißtropfen von der Stirn.

»Beginnen nicht bald die Ferien? Wirst du dann nicht einige Zeit in deinem Haus in Italien mit der Familie verbringen?«

»Ja, aber nur einige Tage.« Er strich ihr flüchtig über den Ärmel. »Heute abend werde ich trotzdem mein Wort halten müssen. Sonst fühlt Annalena sich von mir zu sehr vernachlässigt.«

Wiebke atmete mit fest geschlossenen Lippen durch die Nase ein. »Ich dachte, deine Frau fühlt kaum noch etwas. So nennst du es doch.«

»Dennoch… sie ist meine Frau und die Mutter meiner Tochter.«

»Ja, ja, ja, ja.« Es klang gereizt, denn seine Antwort gefiel ihr einfach nicht. Ahnte er wirklich nicht, daß sie seit langem zu allem bereit war, um ihn über die Gefühlskälte seiner Frau hinwegzutrösten? Leicht verärgert wandte sie sich ab.

»Also dann bis bald, Fabian. Wenn du dich während der Ferienzeit als Strohwitwer einsam fühlst, du weißt ja, wo du mich erreichen kannst.«

Sofort war er bei ihr und umarmte sie schnell. »Du bist eine wunderbare Freundin, Wiebke. Vergiß das nie.«

Einige Minuten später war er endlich allein. Als er gerade sein Hemd wechseln wollte, klopfte es an die Tür.

»Ja, bitte!« rief Fabian. Daß der oberste Violinist oder ein anderes Orchestermitglied noch etwas zu besprechen hatte, war er gewohnt. So ein Freiluftkonzert verlangte nach hervorragender Organisation. Die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft.

Fabian sah auf, als er die Knöpfe an seinem Hemd schloß. Und sofort erstrahlte sein Gesicht vor Freude.

»Bella!« rief er begeistert aus. »Meine entzückende Bella!« Dann reichte er ihr seine Wangen, um sich von ihr küssen zu lassen.

Bella Crusius war eine junge Sängerin, die erst am Anfang ihrer Karriere stand. Mit ihrem schulterlangen, dich gelockten fast schwarzen Haaren und den leidenschaftlichen, dunklen Augen entsprach sie genau dem Frauentyp, den er bevorzugte. Er legte die Hände auf ihre schmalen Schultern und sah ihr tief in die Augen.

»Heute nach dem Konzert begleite ich meine Frau nach Hause, Bella. Aber du weißt, Annalena wird meist schon um Mitternacht müde. Ich werde behaupten, noch mal ins Tonstudio zu müssen, um mir die letzten Aufnahmen in aller Ruhe anhören zu können.«

»Und sie glaubt es dir wirklich?« schmunzelte Bella.

»Sicher! Sie weiß doch, ich brauche diese Stunden, um den Erfolg eines Konzertes in mir aushallen, den Stress in mir abebben zu lassen.« Lachend zog er die zauberhafte Bella an sich. »Und… willst du heute nacht wieder bei mir sein?«

Sie zögerte, und ihr Blick glitt an ihm vorbei.

»Versprichst du mir dann auch, mich im August mit dem Intendanten des Londoner Opernhauses bekannt zu machen?«

»Natürlich, mein Liebling. Ich telefoniere schon morgen mit ihm. Und du weißt, ich halte immer Wort. Im August gebe ich selbst zwei Konzerte in London. Dann habe ich sogar ein wenig Zeit für alles das, wozu mein Beruf sonst kaum Raum läßt.« Er küßte sie.

Bella schloß hingebungsvoll die Augen.

»Ich fiebere jeder Stunde mit dir entgegen, du wunderbarer Mann.«

Sie wußte, sie hatte bei ihm die besseren Karten als Wiebke Lohmer. Diese Anwältin hatte ja keinen blassen Schimmer von klassischer Musik. So eine Frau konnte einen Mann wie Fabian niemals dauerhaft fesseln und schon gar nicht faszinieren!

*

Am ersten Tag der Ferien war strahlendes Wetter gewesen. Heute aber regnete es in Strömen. Als Fabian Ossiander seine Frau und sein Töchterchen zur Limousine brachte, blickte er besorgt zum Himmel.

»Du fährst doch vorsichtig, Annalena?«

»Das tut Mama immer, Papa!« spielte Claudia die Empörte, schlüpfte unter seinen Regenschirm und hängte sich noch einmal an seinen Hals. »Wo sollen wir dich anrufen, wenn wir angekommen sind? In Nürnberg oder Stuttgart?«

Fabians Blick ruhte liebevoll auf dem Gesicht seiner Tochter. »Stuttgart. Übermorgen bin ich in Nürnberg. Und in einer Woche nach dem Konzert in Verona, gehöre ich euch, meine Lieben. Ihr kommt doch nach Verona? Ich habe Hotelzimmer reservieren lassen.«

»Ja, Papa«, seufzte Claudia gequält, was ihn lächeln ließ.

»Keine Lust, wie? Aber die Noten mit den Etüden von Chopin hast du eingepackt? Ich möchte hören, was du gelernt hast, wenn ich in den Urlaub komme, mein Kind.«

»Ja, ja, Papa«, seufzte sie.

»Du hoffst, daß der Flügel in unserem italienischen Haus inzwischen richtig verstimmt ist, wie?«

Da lachte Claudia. »Super getippt, Papa. Ja, das hoffe ich.«

Fabian zwinkerte ihr zu. Manchmal hatte er Verständnis für sein Kind, auch wenn das selten vorkam. Dann verabschiedete er sich von seiner Frau. Er zog sie in die Arme und wollte sie küssen, ohne dabei zu bemerken, wie widerstrebend sie diese Sekunden über sich ergehen ließ.

Eine halbe Stunde später preschte Annalena in hoher Geschwindigkeit über die Autobahn Richtung Österreich. Der Regen war stärker geworden, aber der Verkehr rauschte an diesem Wochentag noch mäßig dahin.

»Nächstes Jahr bin ich zwölf, Mama. Dann darf ich vorn bei dir sitzen«, meldete Claudia von hinten. Sie setzte die Kopfhörer auf und schaltete ihren Recorder ein. Nach dem Rhythmus einer Melodie auf- und abwippend zupfte sie an ihrer Bluse herum. Die war im gleichen Muster geblümt wie die ihrer Mutter. Sie hatten beide auf dem Einkaufsbummel vor zwei Wochen erstanden und trugen sie heute, um wie fröhliche Schwestern in den Urlaub zu starten.

Annalena überholte zwei Laster und dann in noch rasender Fahrt einen dahinsausenden Bus. Bald darauf tauchten vor ihnen die undeutlichen Umrisse der ersten Alpenhöhen auf. Es goß jetzt wie aus Eimern, so daß die Wischer kaum das Wasser von der Scheibe verdrängen konnten. Nach einer Weile stöhnte Annalena auf und schaltete das Radio ein. Ein flotter Sound übertönte das Geräusch des Scheibenwischers, machte das Fahren angenehmer aber nicht ungefährlicher.

»Mama!« Claudia tippte ihr auf die Schulter. »Ich hab’ keine Lust nach Verona zu fahren!« brüllte sie. »Ist schon schlimm genug, daß Papa mir den Chopin aufgehalst hat. Kannst du ihn nächste Woche nicht anrufen und sagen, ich bin krank?«

Sofort stellte Annalena das Radio leiser und bedeutete ihrer Tochter, die Stöpsel aus den Ohren zu nehmen. Dann warf sie ihr über den Innenspiegel einen ernsten Blick zu.

»Hör zu, mein Kleines. Ich muß dir etwas sagen.«

»Nee! Nicht schon wieder vom Klavierüben anfangen!« entgegnete Claudia trotzig. »Wenn Papa das macht reicht’s schon.«

Sie bemerkte, daß im Blick der Mutter ein Lächeln entstand.

»Du wirst es in Zukunft leichter haben, Claudia. Nur wenn du Lust dazu hast, sollst du Klavier spielen.«

Claudia verdrehte die Augen. »Das sagst du! Aber Papa?

»Papa wird uns in Zukunft kaum noch besuchen.«

»Das tut er doch jetzt schon.«

Annalena überlegte. Sollte sie warten, bis sie Italien erreicht hatten? Nein, dann blieb ihr kaum noch Zeit für eine längere Erklärung. Sie mußte Claudia schon jetzt die ganze Wahrheit offenbaren.

»Hör zu, mein Kleines. Wir fahren nicht an die Adria in unser Haus, Claudia. Wolfgang erwartet uns im Haus seiner Familie am Gardasee.«

»Warum? Übernachten wir dort? Was heißt Familie? Hat er Kinder?«

»Nein, nein. Aber seine Schwester hält sich dort gerade auf. Sie hat zwei kleine Jungens. Seine Mutter ist auch anwesend. Du wirst Spaß haben, Claudia. Uns stehen herrliche Zeiten bevor.«

»Aber Papa hat nichts davon gesagt«, wunderte Claudia sich.

Ihre Mutter holte tief Luft und trat noch stärker aufs Gas. Sie rast nun auf eine kurvige Strecke zu. Die Straßen wurden von Seitenplanken begrenzt und da sie eine sichere Fahrerin war, erhöhte sie unbekümmert das Tempo.

»Er weiß es noch nicht, Claudia«, erklärte sie mit erhobener Stimme. »Aber ich werde zu seinem Konzert nach Verona fahren und ihn danach um die Scheidung bitten.«

»… um was?« Claudia, die sich schon wieder die Stöpsel in die Ohren stecken wollte, versteinerte.

»Um die Scheidung!« wiederholte Annalena lauter. »Wolfgang und ich lieben uns. Du hast ihn doch kennengelernt und sympathisch gefunden. Darum werden wir die ganzen Ferien bei ihm verbringen. Nach den Ferien ziehen wir dann in eine gemeinsame Wohnung. Du bist doch dabei?«

Claudia begriff immer noch nicht. »Und… und Papa?«

»Dein Vater liebt mich lange nicht mehr, Claudia. Unsere Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Er braucht die Bewunderung anderer Frauen. Und ich liebe Wolfgang. Wolfgang versteht und braucht mich.«

Die Elfjährige starrte mit offenem Mund nach vorn in den Regen. Was sie da unerwartet zu hören bekam, verwirrte sie so, daß sie nicht mal weitere Fragen stellen konnte.

»Findest du ihn nicht nett?« wollte Annalena wissen.

»Nein!« schrie Claudia. »Überhaupt nicht!«

Annalena trat noch heftiger aufs Gas.

»Aber ich liebe ihn doch! Und du wirst ihn schon liebgewinnen. Er ist ein wunderbarer Mann. Ganz anders als dein Papa!«

»Nein! Nein!! Ich will nicht, Mama! Ich will nicht an den Gardasee. Ich will in unser Haus am Strand!« Claudia ballte die Fäuste. Sie liebte ihre Eltern, und deshalb ertrug sie diesen Zwiespalt nicht, den ihre Mutter ihr plötzlich aufbürdete.

»Es ist auch mein Leben, Claudia. Ja, ich will leben und lieben! Und dazu brauche ich Wolfgang.«

In einer Rechtskurve setzte Annalena zum Überholen eines Lasters an. Da Claudia sie von hinten an der Schulter rüttelte, verlor sie für Sekunden die Gewalt über den Wagen. Er schrammte gegen die Planke, geriet ins Schleudern, prallte gegen den Laster, wurde mitgeschleift und kam erst nach einer Ewigkeit zum Stehen.

»Mama!« schrie Claudia verzweifelt, löste ihren Gurt und öffnete die Tür, um ihrer Mutter, die vornübergebeugt über dem Steuer lag, schneller zur Hilfe zu kommen. Sie konnte nicht erkennen, daß von hinten ein Sportwagen in rasendem Tempo auf sie zukam. Sie spürte nur noch einen heftigen Stoß, dann einen stechenden Schmerz und verlor das Bewußtsein.

*

Daß Dr. Kurt Wittek an diesem Tag eine halbe Stunde früher zum Dienst in der Klinik antrat, war auf einen Zufall zurückzuführen. Eigentlich hatte er sich mit seiner Frau am späten Nachmittag noch zu einer Tasse Kaffee treffen wollen, aber Valerie hatte im letzten Moment abgesagt, weil sie mal wieder länger in der Apotheke stehen mußte.

Kurt kannte das schon. Er hatte einen kleinen Spaziergang gemacht, um die frische Luft nach dem langen Regen an diesem Tag zu genießen und kam nun wie immer in recht guter Stimmung und fast eine Stunde zu früh ins Krankenhaus.

»Dr. Wittek!« rief ihm die Pförtnerin entgegen. »Gut, daß Sie endlich da sind! Sie müssen sofort zu Dr. Hoffmann. Beeilen Sie sich bitte!«

»Zu Astrid? Was ist los?« Astrid Hoffmann war ihm mehr als eine Kollegin. Sie, seine Frau und er waren seit langem dicke Freunde.

»Exitus! Ein Unfallopfer von der Autobahn. Innere Verletzungen. Dr. Hoffmann und das OP-Team haben stundenlang um ihr Leben gekämpft. Vergeblich. Damit wird Dr. Hoffmann nicht fertig. Sie sitzt völlig apathisch im Ärztezimmer. Sie müssen jetzt gleich ihren Dienst übernehmen.«

Kurt Wittek riß sich im Weitergehen das Jackett von den Schultern, schlüpfte in den Raum neben dem Ärztezimmer, holte einen frischen Kittel aus dem Regal und zog ihn hastig über.

Als er das Ärztezimmer betrat, standen drei junge Kollegen um einen der drei Schreibtische. Kurt sah nur das rotblonde Haar Astrids. Sie hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und die Arme schützend darüber verschränkt.

»Sie können gehen«, raunte er den Ärzten zu.

Dann war er mit Astrid allein. Kurt Wittek gehörte zu den Menschen, die sich, wann immer es ging, bei allem viel Zeit lassen. Es dauerte Sekunden, bis er sie tröstend berührte. Wie schwer die Verantwortung für das zweite Team im OP gerade auf Astrid lastete, hatte er immer geahnt.

Sie galt als befähigte Chirurgin mit ihren gerade mal dreiunddreißig Jahren, aber wenn es um Leben und Tod ging, fragte keiner, ob ihrer Seele nicht vielleicht einige Jahre fehlten, um die Last der Verantwortung zu ertragen.

Hatte er ihr nicht deshalb schon häufig geraten, sich nicht für die privaten Angelegenheiten der Unfallverletzten zu interessieren? Daran konnte jeder Arzt scheitern. Und was war er dann noch als Mediziner wert?

Er strich ihr zärtlich übers Haar. »Du bist nicht die einzige, die vor Gevatter Tod kapitulieren muß. Du weißt doch, wie oft wir es alle erleben müssen.«

Sie rührte sich nicht. Nur ein leises Schluchzen war zu hören. Da stand er auf und füllte eine Tasse mit dem Kaffee aus der Maschine. Er fügte Zucker und Sahne hinzu und trat wieder zu ihr.

»Hier, trink einen Schluck. Seit wann hast du heute Dienst? Seit sieben Uhr früh, nicht? Es ist gleich fünf Uhr nachmittags, Astrid. Du gehörst nach Hause ins Bett. Und morgen sieht alles schon wieder anders aus.«

Mehr fiel ihm nicht ein. Wenn ihm ihr Kummer nicht so nahgegangen wäre, hätte er vielleicht klügere Worte gefunden. Er stellte die Tasse ab und sah sich suchend nach dem Krankenblatt um. Annalena Ossiander, geborene Achtmann, dreiunddreißig Jahre, stand da. Innere Verletzungen. Quetschungen der Milz und Leber… Da wußte er alles.

»Ich habe jämmerlich versagt«, hörte er Astrid flüstern. »Eine junge, schöne Frau, Mutter einer Tochter, voller Leben, Liebe und Hoffnung.« Sie schluckte. »Sie starb mir unter den Händen weg.«

»Ich weiß, daß ihr nichts unversucht gelassen habt, Astrid. Das Tages-Team im OP leistet genauso Unmenschliches wie wir im Nachtdienst.«

»Aber wir hätten… aber es ging nicht. Glaube mir, ich habe nichts unversucht gelassen. Es war zu spät.«

Sie hob den Kopf. Ihr herzförmiges Gesicht mit dem rosigen, von niedlichen Sommersprossen übersäten Teint sah ihm tränenüberströmt entgegen. Die hellblauen Augen verrieten Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und grenzenlose Verzweiflung.

»Ihre Uhr war abgelaufen, Astrid. Du weißt, wie oft ich mir damit selbst helfen mußte.«

»Ach, Kurt! Gut, daß du da bist!« aufschluchzend hob sie die Arme und lehnte sich gegen ihn.

Dr. Wittek reichte ihr die Tasse, und sie trank.

»Sind die Angehörigen schon benachrichtigt?« fragte er vorsichtig, als er bemerkte, daß sie ruhiger wurde.

Astrid nickte.

»Fabian Ossiander ist heute mittag zu einem Konzert nach Stuttgart geflogen. Er wird erst morgen eintreffen.«

»Ach du Schreck. Der Dirigent Ossiander? Und die Tochter?«

»Die Tochter?« Sie sah ihn an, als erwache sie aus einem Traum. »Sie liegt noch im Beobachtungsraum. Irgendwann wird sie aus der Narkose erwachen.«

Kurt verstand nicht gleich. »War sie auch in den Unfall verwickelt?«

»Ja, Quetschung des Knies, Fraktur des Oberschenkels, ein fast zertrümmerter Beckenteil. Aber die vom ersten Team haben sie wieder zusammengeflickt.«

Astrid sprach jetzt wie eine erfahrene und abgebrühte Medizinerin. Aber ein Blick, und er sah wieder ihre andere Seite. Die ihrer verletzlichen Seele, die von der Teilnahme an Patientenschicksalen immer wieder verwundet wurde und danach so schwer heilte.

»Es wird Monate dauern, bis sie wieder laufen kann, Kurt.«

Er nickte. »Weiß sie vom Tod ihrer Mutter?«

»Nein! Das kann ich nicht. Das muß ihr doch der Vater sagen.«

Nach längerem Nachdenken nahm er ihre Hand. »Astrid, ich bin mehr als dein Kollege. Wir sind Freunde. Du weißt, wie gern ich dich habe. Aber ich denke, du solltest zu dem Mädchen gehen, wenn es aufwacht. Während der nächsten zwei Wochen hast du immer Tagesdienst. Du wirst sie betreuen. Ist es nicht besser, du versuchst gleich, ihr Vertrauen zu gewinnen?«

»Unmöglich, Kurt. Wie soll ich ihr begegnen? Ich habe ihre Mutter auf dem Gewissen!«

»Nein, das hast du nicht. Keinen von uns trifft die Schuld, wenn ein Unfallopfer sein Leben verliert.«

»Soll ich dem Kind mit diesen Worten die Wahrheit sagen? Bist du verrückt?« Sie kämpfte gegen ein Aufschluchzen.

»Du mußt es ihr noch nicht sagen, Astrid. Aber sie wird… wie heißt das Mädchen?«

»Ich glaube… Claudia. Ja, Claudia Ossiander.«

Astrid trank den Kaffee aus. Die Hand, die den Becher hielt, zitterte. Ihm wurde ganz flau im Magen.

»Wir können gemeinsam gehen. Ich bin bei dir, Astrid. Daß du, wenn es drauf ankommt, immer wieder eine ungeheuerliche Kraft entwickeln kannst, wissen wir doch. Nicht wahr?«

Sie sah ihn lange an. Dann nickte sie. Kurz darauf erhob sie sich, trat ans Waschbecken im Raum, sah sich im Spiegel an und ordnete flüchtig ihr Haar.

»Ich bin bereit, Kurt. Bitte, laß mich nicht allein.«

Der untere Teil von Claudias Körper war fest einbandagiert. Eine der beiden Kanülen führte bis zu ihrer Nase, eine andere endete an ihrem Handgelenk. So lag sie unbeweglich und mit geschlossenen Augen im großen Klinikbett, umgeben von mehreren Geräten, die die kalte Zweckmäßigkeit des Raums nur noch verstärkten.

Astrid trat leise näher und beugte sich über die kleine Patientin. Auf dem Kissen um den schmalen Kopf herum hatte man ihr Haar ausgebreitet. Wie sanfte Wogen umgab es das zarte Gesicht mit den noch geschlossenen Augen.

Dieser Anblick schnürte Astrids Kehle zusammen. So fürchtete sie sich vor dem Augenblick, an dem die kleine Claudia die Augen aufschlagen und nach ihren Eltern fragen würde. Aber Kurt war bei ihr, und mit jeder weiteren Sekunde in der Nähe des Mädchens verlor sich ihre krampfhafte Anspannung. Von den Zügen des Kindes ging Friede aus. Das Gefühl, helfen und trösten zu können, ließ tatsächlich wieder ungeahnte Kräfte in ihr entstehen.

»Sie ist eine kleine Schönheit«, hörte sie Kurt flüstern und blickte ihn an. Er lächelte flüchtig. »Das meinst du auch, nicht wahr, Astrid? Ein so schönes Kind hat einen guten Charakter. Sie wird dir für jede Sekunde deiner Gegenwart danken.«

»Soll das heißen, du läßt mich mit ihr allein?«

Gerade wollte er den Kopf schütteln, als ein kaum merkliches Geräusch seinen Blick zur Patientin zwang. Das Mädchen hatte die Augen geöffnet und begann sofort, ihre Lippen mit der Zunge zu benetzen. Dann sah es die beiden Gestalten im weißen Kittel.

»Wo… wo bin ich?«

Astrid war sofort an ihrer Seite. »Landesklinik München. Du heißt Claudia, nicht wahr? Ich bin Astrid, deine Ärztin.«

Claudias Blick sog sich an ihrem Gesicht fest. »Und… Mama? Ist sie zu… zu ihm gefahren?«

Sofort glaubte Astrid zu wissen, was dem Kind jetzt am wichtigsten war. »Du meinst, deine Mutter ist bei deinem Vater? Nein, das war nicht möglich. Ihr habt einen schweren Unfall gehabt. Deshalb wird dein Vater herkommen. Schon morgen.«

»Aber wo ist meine Mama denn?«

Kurt sah, wie hilflos diese Frage Astrid machte. »Deine Mutter schläft noch. Sie ist auch verletzt.«

»Schlimm?«

»Ja«, gab Kurt dann zu. »Ihre Verletzungen waren schwerer als deine, aber glaub mir, sie ist in guten Händen.«

»Dann… dann ist sie hier? Nicht am Gardasee?«

»Ja, sie ist hier, Claudia.«

Astrid strich über ihre Hand. »Ich werde bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist, Claudia. Keine Angst, ich lasse dich nicht allein.«

»Danke«, hauchte die kaum hörbar, und schon senkten sich ihre Lider über ihre großen Augen.

Kurt beugte sich über sie. »Und in meiner Kollegin Astrid wirst du eine richtige Freundin finden. Das weiß ich schon jetzt.«

Er sah zur Uhr. »Ihr beide werdet es schon schaffen«, flüsterte er Astrid zu und verließ den Raum.

*

Fabian Ossiander zögerte seine Rückkehr aus Stuttgart um einen Tag hinaus. Unfähig, über seinen ersten Schmerz hinauszudenken und sich an seine Pflichten als Vater zu erinnern, gab er vor, zunächst an seine beruflichen Termine gebunden zu sein. Dabei ereilte ihn eine Krise, die ihn in ein abgrundtiefes schwarzes Loch aus Schuldgefühlen, Lebensangst und Verzweiflung stürzte.

Ohne seine Ehefrau Annalena fühlte er sich plötzlich um alles, was er zum Leben brauchte, betrogen. Was wurde aus dem Gefühl des Geborgenseins, aus seiner häuslichen Ruhe, kurzum, aus allem, was das Fundament seines Alltags bildete? Womit hatte er dieses schreckliche Los verdient?

Und weil er sich selbst bemitleidete, ertrug er die Wahrheit schon gar nicht. Er konnte sich nicht eingestehen, daß er Annalena lange nicht mehr geliebt hatte. Nun ja, sie hatte ihn nicht so bewundert wie andere Frauen, aber als treu ergebene Ehegattin war sie ihm immer zur Seite gestanden. Und das hatte er ihr gedankt. War das nicht Liebe genug?

Und jetzt, so plötzlich aus der Ordnung seines Lebens gerissen, fürchtete er um seine geniale Musikalität und seine einmalige Schaffenskraft. Wankte nicht alles, was seinen Ruhm untermauerte?

Aber da war ja noch Claudia, seine Tochter. Ihr zuliebe mußte er zurück, um ihren Schmerz zu teilen, um ihr beizustehen und ihr Mut zu machen.

Als er in die Klinik eilte, warteten einige Reporter vor dem Eingang. Im ersten Schreck wollte er umkehren und die Flucht ergreifen. Schon der Gedanke, in der Presse könnte ein Foto von ihm erscheinen, das sein Gesicht älter und grauer als sonst zeigte, ließ ihn fast in Panik geraten.

Zufällig beobachteten zwei Assistenzärzte die peinliche Szene. Sie eilten hinaus, jagten die Presseleute davon, nahmen Fabian in ihre Mitte und halfen ihm, sein Gesicht zu verhüllen.

Minuten später blieb Fabian Ossiander nichts anderes übrig, als endlich vor Claudias Bett zu treten. Ihr Anblick und das Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte, verlieh ihm tatsächlich etwas Kraft.

Sein Töchterchen lebte, auch wenn sie für Wochen in der Obhut der Ärzte bleiben mußte. Und sie schenkte ihm ein glückliches Lächeln als Willkommen, weil sie ihn sehnlichst erwartet hatte. Noch wußte sie ja nicht, welch furchtbare Nachricht er ihr überbringen mußte.

Man hatte Fabian den Mantel abgenommen und ihn in einen grünen Kittel gesteckt. Er mochte die Farbe nicht. Grün stand ihm einfach nicht. Darum nahm er sich den Kittel wieder ab. Damit gewann er kostbare Zeit, um sich Worte zurechtzulegen, die Claudias Schmerz mildern konnten.

Dann kauerte er sich neben sie, umschloß ihren Kopf und ihre Schultern mit seinen Armen und flüsterte ihr Satz für Satz zu, bis sie die ganze, bittere Wahrheit erfahren hatte.

Claudia konnte sich kaum bewegen. Trotz der Mittel, die sie bekam, spürte sie bei jeder noch so geringen Regung einen dumpfen oder ziehenden Schmerz, der sich von der Hüfte bis zum Fuß ihres linken Beines zog. Wie alle sehr jungen Menschen hatte sie schnell gelernt, mit ihrem jämmerlichen Zustand umzugehen. Aber jetzt, als sie wußte, daß ihre Mutter gestorben war, bäumte sich ihr Inneres auf. Ihr Atem ging schneller und wollte sich beim Stöhnen Erleichterung verschaffen. Und das Stöhnen verursachte eine schneidende Qual.

Claudia reagierte darauf. Sie machte sich steif wie ein Brett. Nur ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Lippen bebten. Sie sah ihren Vater an und wollte schreien. Aber der Atem, den sie dazu brauchte, weitete ihre Lunge und die Dehnung ihres Brustkorbs war bis zur Hüfte zu spüren. So glich der körperliche Schmerz dem Leiden ihres kleinen Herzens. Sie hielt den Atem an, hob ihre Arme und bedeckte damit ihre Augen.

Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen. Die Trauer im Gesicht ihres Vaters stieß sie ab. Sie kannte ihn doch nur strahlend vor Selbstbewußtsein. Ganz instinktiv fürchtete sie, ihn nie mehr lächeln sehen zu können. Wie sollte sie weiterleben, wenn nicht mal ihre geliebte Mama da war, um ihr über die schockierende Veränderung ihres Vaters hinwegzuhelfen?

So vergingen für beide qualvolle Minuten. Fabian fehlte die Kraft zum Trösten. Er hatte ja nur immer Bewunderung und Liebe, nie selbst Trost gebraucht. Woher sollte er wissen, was ein Mensch in der schwersten Stunde seines Lebens brauchte? Er sah immer nur sich selbst. Wäre Annalena in der Nähe gewesen, hätte er ihr sogar Vorwürfe gemacht. Warum hatte sie ihn in diese Situation gebracht, die ihn doch völlig überforderte?

Claudias Atem bebte. Sie konnte ihn nicht länger anhalten. Und dann nahm sie die Arme vom Gesicht und sah ihn mit einem leeren Blick an.

Fabian erschrak. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß dieser Blick nie wieder von kindlicher Unbekümmertheit und schalkhafter Lebensfreude erfüllt sein würde. Das brachte ihn zur Besinnung.

»Papa«, flüsterte Claudia in diesem Moment mit tränenerstickter Stimme. »Ist Mama jetzt im Himmel?«

Er zuckte zusammen. Was war denn das für eine Frage? Wie konnte Claudia daran zweifeln?

»Ja, selbstverständlich ist sie im Himmel. Ganz gewiß.«

»Und wenn nicht, wo ist sie dann?«

Er räusperte sich. Eine schluchzende Claudia hätte er an sich ziehen könne, bist sie sich beruhigte. Aber wie sollte er ihre Fragen beantworten? Was ging nur in ihr vor?

»Unsere Mama war die beste Frau und Mutter der Welt. Der liebe Gott wird sie mit offenen Armen in sein Reich aufgenommen haben.«

Es vergingen einige Sekunden, in denen Claudia seine Worte auf sich wirken ließ. Sie erkannte, daß ihr Vater nichts wußte und nichts begriff. Unwillkürlich atmete sie auf, was ihr wieder Schmerzen bereitete, so daß sie ihr Gesicht verzog. Das deutete Fabian falsch.

»Deine Mama war ja nicht nur bildschön, mein Liebling. Sie hatte ein großes Herz und eine Seele voller Liebe. Ihre ganze Liebe galt dir und mir. Durch ihre Zärtlichkeit und ihr Mitgefühl brachte sie Sonne in unser Leben. Ja, mehr noch. Sie war unser Leben. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft für meine Arbeit gefunden, und du wärst nicht ein so glückliches Kind.«

Claudia war kein glückliches Kind. In diesen Minuten konnte sie sich nicht mal daran erinnern, jemals glücklich gewesen zu sein. Das Wissen um Annalenas Pläne bedrückte sie viel zu sehr. Sie schloß die Augen und sah Wolfgang Bosch vor sich. Und damit holte sie die jüngere Vergangenheit mit überwältigender Macht ein.

»Papa, Mama hat…«

Sie keuchte, so strengte sie jedes Wort an.

»Sprich nicht, mein Liebling. Ich weiß doch, Mama hat uns ihre ganze Liebe gegeben. Sie hat sich so auf die Zeit im Haus an der Adria gefreut. Uns beide um sich zu haben, war ihr größtes Glück. Seit Wochen malte sie uns doch aus, wie wunderbar es sein würde, wenn ich euch besuche.«

Claudias Rechte zitterte, als sie sie erhob, um das Gesicht ihres Vaters zu berühren. Seine Wange kratzte, er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Und doch fühlte sie die Wärme seiner Haut. Aber seltsam – er saß hier an ihrem Bett wie ein kleiner Junge, der die Welt noch gar nicht verstehen wollte.

»Papa, Mama wollte…« Es mußte aus ihr heraus. Die Wahrheit erdrückte sie sonst.