Titelseite

Gudrun Fritsch

Ich wird fällig

Geschichten zwischen
Gedachtem und Erlebtem

Leykam

Meiner Familie gewidmet und all den Liebhabern von
Handschrift in Briefen

Ich wird fällig – oder: Ich schreib mir deinen Liebesbrief

Das Ich ist ein reales Ich, gebrandmarkt und weidwund, aber bereit, heil zu werden; es wurzelt in der Wirklichkeit der Gegenwart, es atmet, es lebt. Und es zitiert Shakes­peare: „Gebt eurem Schmerz Worte: ein stummer Schmerz presst seine Klagen in das Herz zurück und macht es brechen.“ (Macbeth, 6. Szene, 4. Aufzug)

Eben. Und Ich ist nun dabei, sich seine eigene Geschichte zu erschaffen und dort das Fehlende hinzuzufügen, so eine Art „So-soll-es sein-Geschichte“ (ich bekomme endlich den Brief, den ich mir seit Jahren wünsche, zum Geburtstag, zu Weihnachten, zum Hochzeitstag), in der sich schlussendlich das erfüllt, was das Leben in seiner grenzenlosen Schlampigkeit vergessen hat oder was im Trott des Alltags unter den Tisch gefallen ist. Klong. Und noch immer dort liegt. Eben.

Also. Spätestens nach vierzig ist das Ich so was von fällig, fast schon überfällig, möchte man sagen, höchste Zeit, dass es sich reinigt von alten Krusten und hinderlichen Panzerungen und sämtlichen altlastigen Verheerungen innen und außen. Höchste Zeit, sich bereit zu machen für eine lebenslange gute Freundschaft zum innersten Selbst.

Also, ich werde mir in deinem Liebesbrief das schreiben, was ich hören/lesen will, und damit ein der menschlichen Natur unausrottbar inhärentes Ziel erreichen, nämlich mich gewürdigt zu wissen, wie es mir aus meiner Sicht zusteht. Daher werde ich dir ordentlich was einflüstern. Und ich lasse dich mit Dichterzunge sprechen, manchmal, vielleicht, von Zeit zu Zeit. Wir werden sehen.

Du könntest zum Beispiel so beginnen:

Liebstes,

wie sollte ich dich anders nennen, denn nie bist du mir etwas anderes gewesen als eben das Liebste, der umfassendste vorstellbare Superlativ.

Georges Moustaki spielt mir im Hintergrund Töne und Gedanken zu; auch davon, dass es zu spät sei, singt er in seinem unverkennbar melancholischen Timbre, und man niemals allein sei mit der eigenen Einsamkeit, die einen treu wie ein Schatten begleitet. Oft, zu oft, war sie, Liebstes, dein einziger Begleiter. Ich weiß es, jetzt erkenne ich es und wünsche, dass dies Erkennen nicht zu spät ist. Zu spät? Aber nein, es gibt doch noch so viel Zeit …

Dein Libellengewand, Liebstes, fällt mir ein, das dir irgendwann zugewachsen ist wie eine zweite Haut, der unendliche Farbreigen auf den silbrigen Schimmerflügeln, die, vom Licht und der Sonne benetzt, in der Luft glänzen und locken, fiebrig zitternd und aufgeladen. Dein Libellengewand, Liebstes, ich habe es angeschaut, aber nicht gesehen, ich habe es wahrgenommen, aber nicht erkannt. Ich hätte es hätscheln sollen wie ein seltenes Kleinod, statt es, wie so oft, zur Alltagsgarderobe in den Schrank zu hängen. Verzeih.

Nun, Liebstes, ich fühle die Zeit reif für eine
Rückschau, die ich dir zu schulden meine. Gut durchwachsen soll sie sein wie abgelegener Speck.

Ich will mich weit zurückgraben in den Erinnerungstunnel, aber ungewollt stoße ich sogleich an die jüngste Vergangenheit.

Ein Montag, spätabends, kaum alltagsverseucht, weil noch vom Wochenende durchwirkt, an der Treppe unten stand ich, und du kamst heim, mit Mantel und Tasche und duftendem Haar, und nahmst mich in deinen Arm. Wie ein Geschenk hast du mich betrachtet, das kostbar ist und zerbrechlich, und dann mein Gesicht betastet, mit feingliedrigem Atem meine Augenlider geküsst, als sei es das erste und letzte Mal zugleich.

Schau, wie ich mich verliere in dem Schönen und schon jetzt den roten Faden verliere, den ich nicht einmal noch richtig aufgenommen habe … Verflixt! Aber zum Teufel mit der linearen Stringenz, ich lasse die Gedanken strömen und schreibe auf, was sich ans Ufer schwemmt …

Vor fünfzehn Jahren, als sich unsre Lebensläufe verbanden, begann auch das Ringen um eine Lebensplanung – um die Wichtigkeit von Besitz und Statussymbolen, den Stellenwert von Prestige- und Karrieredenken, von Kunst und Freigeistigkeit, von Revolution, Evolution und Involution (das mit dem „Innen“ war von Anfang an deines).

Du hast den Schöpfergeist zur Erschaffung des Immateriellen in dir, ich wiederum erwies mich als Schöpfer des Materiellen. Und ich weiß es jetzt:
Nur deinem angeborenen oder eigens kultivierten Widerstandstrotz verdanktest du hingegen dein (Über)Leben. Denn: Für das Andere, das Durchwirkte, Feinmaschige, Oszillierende, das Flimmernde am Saum der Seele gab es für viele, zu viele, unendlich viele Jahre keinen Platz; unsere Schnittmenge lag bei null. Aber: Mitten im tiefsten Winter entdecktest du den unbesiegbaren Sommer in dir (frei nach Albert Camus). Das wahrgenommene Heraufleuchten deiner Ressourcen, deiner unangreifbaren inneren Schätze, sicherte dir das Überleben – bis heute. Und nicht nur fühlst du, nein, du weißt es: Nur dort, tief drinnen im innersten Wesenskern des Menschen, dem die größtmögliche Einzigartigkeit eigen ist, sind die wichtigsten und stärksten Kräfte gebündelt, die Essenz individuellen Lebens – und dessen Transzendenz. Kunst, die mit diesen Kräften arbeitet, freilegt, schabt, reibt, berührt, verändert, entwickelt, ist existenziell. (Ich bin versucht, pathetisch hinzuzufügen: … und groß und wahr und unvergänglich/zeitlos.)

Und jetzt erst, verzeih, weiß ich es wirklich. Du bist durch eine Hölle, deine Hölle, gegangen, als du plötzlich mit dem Grundkauf und anschließenden Hausbau in eine Art von Leben gezwungen warst, die du dir niemals gewählt hättest. Die Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein zermürbten dich, aber am schlimmsten war die Tatsache, dass fast alles anders verlief als geplant und abgesprochen; und dazu noch mein verantwortungsvoller Führungsjob und die vielen zu realisierenden Projekte daneben mitsamt ihrem unersättlichen Ressourcenbedarf an Zeit und Geld und persönlichem Einsatz. Ich habe dich und vor allem unseren Jüngsten, der noch klein und biegsam war, alleingelassen, kaum vorsätzlich, da bin ich mir sicher, aber aus Unbesonnenheit, angetrieben von einem plötzlich eindimensionalen Denken und Handeln, dem ausschließlich die Anhäufung von Gütern wichtig war. Und ich habe dich dadurch – fast – verloren.

Die vergangenen Monate haben nun endlich den anderen, den entbehrten Reichtum in unser Leben gebracht, sodass du es hoffentlich nicht bereust, geblieben zu sein.

Ja, und noch etwas: Dein – noch immer – mädchenhafter Charme, der blitzende Scharfsinn in deinen Augen, dein warmer, weicher Körper, in dem eine Seele wohnt, voll Innigkeit und Tiefe, die zulässt und mitklingt, wenn die großen Töne klingen. – Sapperlot! Schon wieder der stringenten Ausführung abgeschworen und mich im Schwärmerischen verhakt. Aber du magst es –
sehr –, ich weiß es, ich spür’s!

Die ungeheure schöpferische Energie, die in dir pocht und sich abarbeitet, isoliert und weitgehend zwiesprachelos, drängt dich vorwärts, drängt aus dir heraus, im Alleinsein, in der Stille, ja, da am besten, aber einzelne der aufgeladenen Partikel suchen nach Verbindung, Ergänzung, Befruchtung, Umformung, Verwandlung … Ich weiß es, ich spür’s!

Das „Verortetsein“, für lange Jahre der Geborgenheit für die Kinder – vermeintlich – geschuldet, ist nun das Bollwerk gegen die „Schwingenlust“ deiner Libellenflügel; und manches Mal fürchte ich, dass deine Lust am Flügelschlag langsam erlahmt und es porös wird, dein Libellengewand, und sich auflöst …

„Nur noch das noch, dann …“ – „Wenn das jetzt fertig ist, dann …“

Diese Sätze sind unser Standardrepertoire seit Jahren, sie wurden als Durchhalteparolen miss- und gebraucht, die das Funktionieren gewährleisten sollten – und diesen Zweck wohl auch erfüllten.

„Was kam nach dem ,dann’“?, höre ich dich in klarem, wachem Ton fragen. – Ja, als den äußeren Erfolgsimperativen untertan, nichts weiter als das Übliche – Abhaspeln der allmächtigen Erledigungslisten, die stets voller und länger waren als die verfügbare Zeit und Kraft …; stets im Rückstand, mit Unruhe, Schlaflosigkeit

oder Bauchgrimmen als Begleiter.

So sollte es nicht sein, so war’s nicht gut …

Ich weiß es jetzt besser, glaub mir.

Noch etwas muss ich dir sagen. So oft, Liebstes, hast du deinen Rücken gekrümmt, bist eine Sprosse gewesen in der Lebensleiter der anderen; nun ist’s höchste Zeit und an mir, dir die hilfreichen Sprossen zu zimmern.

In Liebe,

dein Gero

Das Ich ist ein reales Ich, gebrandmarkt und weidwund, aber bereit, heil zu werden; es wurzelt in der Wirklichkeit der Gegenwart, es atmet, es lebt. Und es zitiert Adolf Muschg: „Schreibend setzt sich der Bedürftige ins Recht – ins Recht des Gefühls, das ihm zur rechten Zeit nicht geworden ist.“

Ich lege den Stift zur Seite und greife in die linke Schreibtischlade. Ein Päckchen Papiertaschentücher liegt dort. Es trägt den Aufdruck: „Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was, sondern bei so is es.“

Mein Herz bäumt sich auf. Es will ausweichen, dem Schwerthieb der Wirklichkeit entgehen.

Ihr müsst verstehen. Gero ist vor einem halben Jahr gestorben.

Lojze, Vinzidorfbewohner. Ein Gruß.

Ich kannte ihn nicht. Überhaupt nicht. Ihn, den Lojze Marjan, Vinzidorfbewohner und längst schon zu Grabe getragen, im Frühling.

Ich kannte ihn nicht. Überhaupt nicht. Bin ihm wahrscheinlich niemals begegnet, von Angesicht zu Angesicht.

Aber etwas geschieht mit mir, als ich eine Fotografie dieses Mannes, eingebettet in die berührenden Abschiedsworte von Pfarrer Pucher, in der Zeitschrift „Armendienst“ sehe. Es reißt mir das Herz auf. Mit einem Mal bin ich diesem Bild völlig ausgeliefert.

Das Gesicht strahlt. Es ist ein Strahlen, das ganz und gar von innen her kommt. Ein Strahlen und inwendiges Leuchten, das bis zum innersten Kern meiner Seele vorzudringen vermag.

Ich kannte ihn nicht. Überhaupt nicht. Aber ich kann kaum den Impuls unterdrücken, in das schwarz-weiße Abbild dieses Menschen hineinzufassen, diesen seinen Kopf zu umfangen, zu halten, zu wiegen, zu bergen, in eine unbenennbare grenzenlose Zärtlichkeit zu betten. Eine besondere großformatige Zärtlichkeit, die entschädigen soll für all das Übermaß an Hartem und Schwerem, für all das schmerzhaft Fehlende und bitterlich Vermisste, die zahlreichen Bürden der Vergangenheit.

Ich kannte ihn nicht. Überhaupt nicht. Den Herrn Lojze Marjan, aus Pettau gebürtig, in Slowenien, am Leben 1943 bis 2008.

Tränen rinnen unbarmherzig über meine Wangen. Ich muss mich hinsetzen und standhalten. Meine unvorbereitete, unerwartete Trauer zulassen.

Da ist jemand fortgegangen, heimgegangen, dessen Menschsein nicht von Verhärtung und Bitterkeit über die Schläge und das vielfache Misslingen des Lebens, seines Lebens, gekennzeichnet war, sondern – ganz gegenteilig – von tiefer Dankbarkeit für die Aufnahme in diese tragende, schützende, Geborgenheit vermittelnde einzigartige Vinzidorfgemeinschaft, aber auch gekennzeichnet von sichtbarer Zufriedenheit über das ihm spät, aber doch Zuteilgewordene. In seinen Zügen kann man eine außergewöhnliche Herzenswärme erspüren. Wie warme Energie, so sagte es mein Sohn. In diesen Zügen liegt aber auch der Ausdruck einer seltenen, einer beispielhaften Bescheidenheit. Und Würde. Und die Erfülltheit aus seinem Tun als Verantwortlicher der Dorfwerkstätte.

In zahllosen Begegnungen mit Menschen, die in Wohlstand und gemeinhin als glückvoll bezeichneten Umständen leben, habe ich nach dieser Größe innerer Haltung vergeblich gesucht.

Ich kannte ihn nicht. Überhaupt nicht. Ihn, den Lojze Marjan, ehemaliger Vinzidorfbewohner.

Ihm gilt mein Gruß. Auf geheimen Wegen wird ihn die Botschaft erreichen. Ganz sicher.

Du bist vor Anker gegangen

in Wellen gelber Wärme

durch mein Atemgeflecht mäandern

Und vielleicht dachtest du einst:

Dann stückteile ich mein Herz

und verborge es an die Herzlosen.

Du, ein Großherziger, bist schon angekommen

Ohne Schluchtendunkelfliehen lebst und wächst

in Lichterstraßen der Unendlichkeit entgegen.