Ernst von Wildenbruch

Das wandernde Licht

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066111892

Inhaltsverzeichnis


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Text

Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek.
Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker.
Zehnter Jahrgang. Band 3.

Das wandernde Licht.

Inhaltsverzeichnis

Novelle
von
Ernst von Wildenbruch.

Stuttgart.
Verlag von J. Engelhorn.
1893.

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht, vorbehalten.

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.

An der kleinen Station, die nicht weit hinter Breslau an dem großen Schienenstrange liegt, der, Schlesien durchquerend, Berlin mit Wien verbindet, war zu später Abendstunde der Eisenbahnzug angekommen.

Es war keiner von den Kurierzügen; wenige Fahrgäste nur saßen in den Wagen verteilt; auf der Station stiegen nicht mehr als zwei Reisende aus. Dies waren zwei Männer, von denen der eine, der bejahrter und dicker als der andre war, sogleich von dem Gepäckträger des Bahnhofs in Empfang genommen und begrüßt wurde. Er schien am Orte bekannt zu sein, und das war natürlich genug, denn es war der Arzt, der in der kleinen, etwa zwei Meilen hinter der Station landeinwärts gelegenen Stadt seinen Wohnsitz hatte.

»Ist der Wagen da?« fragte er den Gepäckträger, dem er seine Reisetasche anvertraute; er war offenbar nur zu einem kurzen Ausfluge von Hause fort gewesen.

»Is da, Herr Dukter,« erwiderte jener; »die Frau Dukter hat och den Mantel für'n Herrn mit eingelegt, wird aber nicht nötig sein, is scheenes Wetter heut abend zur Nacht.«

Jetzt wandte sich der Arzt an den Mitreisenden.

»Wollen Sie nicht auch nach – fahren?« Und er nannte den Namen des Städtchens.

Der Angeredete bejahte. Er wollte am nächsten Tage noch weiter ins Land hinein; darum hatte er die Absicht gehabt, in der Stadt zu übernachten.

Mit einem raschen Blick stellte der Doktor fest, daß außer einem Koffer nichts weiter an ihm hing.

»Wenn's Ihnen also recht ist,« meinte er, »steigen Sie mit ein, und wir fahren zusammen.«

Das wurde angenommen, und bald darauf rasselte der Wagen mit seinen Insassen durch das Gitterthor des Bahnhofgebäudes auf die Chaussee hinaus, die sich im Mondlicht wie ein weißes flimmerndes Band in das Land hinein verlor.

Es war, wie der Gepäckträger gesagt hatte, schönes Wetter heut abend zur Nacht.

Man befand sich im Juli; zu beiden Seiten der Chaussee stand das reifende Korn auf den Feldern; über dem weiten, flachen Lande lag die tiefe, süße Stille der Sommernacht, nicht unterbrochen, sondern nur eindringlicher gemacht durch das Gequak der Frösche, in das sich von Zeit zu Zeit der dumpfe Ruf der Rohrdommel mischte.

Um die Fahrt zu verkürzen, bog jetzt der Kutscher von der Chaussee in einen Weg ab, der quer durchs Land einen Bogen der großen Fahrstraße abschnitt. Obschon man hier stellenweise durch sandigen Untergrund hindurch mußte, blieben die kräftigen Braunen, die vor den Wagen gespannt waren, in munterem Trabe, so daß man gut vom Flecke kam.

Nach einer halben Stunde etwa tauchten vor den Reisenden die dunklen Umrisse eines baumreichen Parks auf, und indem man näher kam, sah man über den Bäumen ein Haus emporsteigen. Vielleicht war es das Dunkel der Nacht, welches die Linien des Gebäudes undeutlich machte – jedenfalls erschien es, von hier unten gesehen, außerordentlich groß, beinahe kolossal.

»Ist das das Schloß, das zu dem Park gehört?« unterbrach der zweite Reisende, der im Lande fremd zu sein schien, die Stille, die bisher im Wagen geherrscht hatte.

»Jawohl, das ist das Schloß,« erwiderte der Arzt. »Ein gehöriger Kasten! Nicht wahr?«

Die Bezeichnung traf zu. Einem ungeheuren finstern Kasten sah das Bauwerk ähnlich, wie es in seiner schweren Masse, lautlos, scheinbar leblos, auf der Terrasse über dem Parke lag, und mit den schwarzen, lichtlosen Fenstern in die dunkle Nacht hinausstierte.

Indem die Blicke des Reisenden noch an dem merkwürdigen Bilde hafteten, griff der Kutscher mit einem plötzlichen Ruck in die Zügel, so daß die Pferde zum Stehen kamen.

»Herr Dukter,« wandte er sich vom Bocke zum Wagen um, »itze sucht er wieder – da!«

Mit dem Peitschenstiele deutete er auf das Schloß hin; die Augen des Arztes und seines Begleiters folgten der angegebenen Richtung.

In dem toten Hause war es lebendig geworden.

Hinter einem der dunklen Fenster, und zwar demjenigen, welches sich an der äußersten Ecke des Hauses befand, dämmerte ein Lichtschein auf, der sich allmählich verstärkte, so daß es aussah, als käme eine Leuchte aus dem hinteren Teile eines weitläufigen Gelasses langsam nach vorn.

Dann blieb das Licht stehen, flackerte eine Zeitlang hin und her, als würde die Leuchte von der Hand, die sie trug, im Kreise umhergeführt; alsdann verdunkelte sich das erste Fenster, das danebenliegende wurde hell – das Licht wanderte. Man konnte wahrnehmen, wie es aus dem ersten Zimmer in das anstoßende Gemach ging. Dort blieb es abermals stehen, und der Vorgang von vorhin wiederholte sich. Aus dem zweiten wanderte es in das dritte, und so die ganze lange Flucht von Zimmern entlang, und jedesmal das flackernde Umherfahren, jedesmal aber hastiger, als würde die Hand, die die Leuchte trug, immer erregter, als suchte das Licht etwas in den Ecken der Gemächer, und fände nicht, wonach es suchte. Wie das Ringen einer stummen, verzweifelten Seele, beinahe gespensterhaft sah das alles aus.

Zwölf Fenster befanden sich in der langen Front des Schlosses; an allen zwölf wanderte das Licht entlang, bis daß es endlich in das letzte, von dem ersten Zimmer entfernteste Gemach gekommen zu sein schien.

Hier wurden die Bewegungen noch ungestümer als zuvor, das Licht fuhr herauf und herab, daß es aussah, als suchte es am Fußboden umher.

»Itze is er in ihrem Schlafzimmer,« sagte der Kutscher, der kein Auge von dem Vorgange verwandt hatte.

»Ja, jetzt ist er in ihrem Schlafzimmer,« bestätigte der Arzt. In dem Augenblick aber trat eine neue Erscheinung ein: das Licht, das ganz tief am Boden umhergeglitten war, als suchte es unter Möbeln und Betten, wurde plötzlich hoch gehoben und stand ruhig und still, ohne weiter umherzuirren und zu flackern. Es sah aus, als wäre eine andre, festere Hand hinzugekommen, die es der ersten abgenommen hatte und emporhielt. Dies dauerte einige Zeit, dann verdämmerte der Lichtschein nach dem Hintergrunde des Zimmers, verschwand sodann völlig, und gleich darauf lag das Schloß wieder finster und leblos da, wie es zuvor gelegen hatte.

»Itze is der Johann gekommen und hat ihn geheißen vernünftig sein,« sagte der Kutscher, indem er leise in sich hineinlachte, wie jemand, der sich gegrauelt hat und froh ist, daß der Spuk zu Ende ist.

»Es scheint,« erwiderte der Arzt, »jetzt ist der Johann gekommen. Also – fahr auch zu.«

Er lehnte sich zurück; der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und die Pferde zogen wieder an. Wenige Minuten später lag das Schloß den Fahrenden im Rücken.

Der zweite Reisende, der das abenteuerliche Schauspiel schweigend beobachtet hatte, wandte sich jetzt an seinen Begleiter. Aus dem Gespräche des Arztes und des Kutschers hatte er entnommen, daß der rätselhafte Vorgang ihnen verständlich erschien.

»Können Sie mir denn sagen,« fragte er, »was das alles für eine Bewandtnis hat?«

Es erfolgte zunächst keine Antwort. Der Arzt saß in seiner Wagenecke und brummte vor sich hin; er schien nicht recht aufgelegt, Auskunft zu erteilen.

»Sie sind wohl nicht aus der Gegend?« fragte er dann zurück.

»Nein – warum?«

»Hm – nu ja –« meinte der Arzt, »weil sonst – haben Sie nie von den Fahrenwalds gehört?«

»Fahrenwalds?«

»Nu ja – die Freiherren von Fahrenwald.«

»Niemals gehört,« versicherte der Gefragte.

Der Arzt brummte wieder vor sich hin; es klang beinahe wie Mißbilligung. Als echter Schlesier konnte er kaum begreifen, daß jemand von einem Geschlechte, wie das der Fahrenwalds, nichts wissen sollte.

»Gehört denen das Schloß?« fuhr der Reisende nach einer Pause fort.

»Nu, das versteht sich,« entgegnete der Arzt, »der Baron, der jetzt da oben sitzt, ist der letzte von ihnen.«

Er drückte sich tiefer in seinen Sitz.

»Aber wenn Sie fremd sind – es sind Sachen – man thut schon besser, man spricht nicht viel davon.«

Der andre wurde immer neugieriger.

»Ist etwas los mit dem jetzigen Baron?«

»Nu – was soll mit ihm los sein?« sagte der Arzt, dessen Antworten immer zögernder wurden, »man könnte halt eben von ihm sagen: es blakt bei ihm ein wenig.«

»Es – blakt?« fragte der Gefährte. »Was meinen Sie damit?«

Der Arzt lachte in sein feistes Doppelkinn.

»Nu, sehen Sie, das Gehirn der Menschen, damit ist's so ungefähr wie mit den Lampen. Bei den einen brennt das ruhig und manierlich, bei den andern flickert's und flackert's, und endlich gibt's welche, bei denen die Lampe blakt.«

»Also – irrsinnig?«

Der Arzt schlug mit der Hand durch die Luft und wandte den Kopf nach der andern Seite.

Eine längere Pause entstand.

Dann fing der andre wieder an.

»Und – er hat also eine Frau?«

Der Arzt warf den Kopf herum.

»Wieso?« fragte er.

»Nun – weil Sie doch vorhin sagten, daß er jetzt in ihrem Schlafzimmer wäre.«

Der Arzt stieß einen schnaubenden Seufzer aus. Es war ihm offenbar nicht lieb, daß er so ausgeholt wurde, und er ärgerte sich, daß er schon zuviel gesagt hatte.

»Eine Frau,« sagte er dann, »kann ja sein, daß er eine hat, oder wenigstens gehabt hat. Aber das ist eine Sache, wo es schon am besten ist, wenn man halt gar nicht davon spricht.«

Er seufzte noch einmal; seine Stimme sank herab, daß es wie ein Selbstgespräch klang: »Die Frauensleute – das ist ja manchmal nicht viel anders als die Schafe, die ins Feuer laufen, weil es glänzt. Nachher, wenn sie drinnen sind, merken sie, daß es auch brennt, aber dann ist's zu spät.«

Er schüttelte die Achseln und reckte sich auf.

»Aber, wie gesagt – da wird alles Mögliche geredet – denn wovon reden die Leute nicht – und wenn man nachher zusieht, wer etwas weiß, ist niemand, der etwas Sicheres weiß. Darum mein' ich schon, es ist halt das beste, man spricht nicht davon. Und ich für mein Teil, ich meine, es ist gut, wenn einer keine Verpflichtung hat, sich um gewisse Dinge zu bekümmern. Dann soll er sich auch nicht darum bekümmern. Und ich habe keine Verpflichtung, mich geht's nichts an – also bekümmere ich mich nicht drum.«

Damit lehnte er sich tief in die Wagenecke zurück, wie jemand, der genug gesagt hat und nichts weiter sagen will. Der andre schien es zu fühlen und schwieg. Die Andeutungen des Arztes hatten ihm die Sache beinahe noch dunkler gemacht, als sie gewesen war. Irgend ein Vorgang mußte sich da oben abgespielt haben, vielleicht sogar ein schrecklicher, aber was?

Immerfort sah er das stumme Licht hinter den Fenstern des toten Hauses dahinwandern, von Zimmer zu Zimmer, wie ein schlummerloses böses Gewissen, immerfort das zuckende Umherfahren der Leuchte, das Suchen in den Ecken der Gemächer, am Fußboden entlang, unter Möbeln und Betten, das wilde verzweifelte Suchen. Wer war der nächtliche Wanderer? Wen suchte das Licht? Ein Schauder bedrückte ihm das Herz – was mochte das finstere Haus gesehen haben?


In den Breslauer Gesellschaftskreisen war vor einiger Zeit eine Persönlichkeit aufgetreten, deren Erscheinen in den Familien, denen sie Besuch machte, jedesmal eine gewisse Aufregung, eine Mischung von geschmeicheltem Stolz und von beklommener Sorge hervorrief. Das war der Baron Eberhard von Fahrenwald.

Alle Welt kannte den Namen und den Reichtum des Geschlechts, alle Welt aber munkelte auch, daß es mit den Fahrenwalds nicht recht richtig sei.

Jahrelang nach dem Tode des Vaters war der Baron Eberhard unsichtbar, wie verschwunden gewesen. Wo hatte er gesteckt? Einige behaupteten, er hätte Reisen um die Welt gemacht, andre, er wäre gar nicht von seinem Schlosse fortgekommen, sondern hätte vergraben und verborgen unter seinen Büchern gelebt, eine dritte Art von Berichterstattern endlich wußte zu erzählen, daß er ganz einfach in einer Anstalt untergebracht gewesen sei. Anverwandte, von denen man Gewisses und Genaues hätte erfahren können, waren nicht vorhanden; die Fahrenwalds waren wie ein alter, verdorrender Baum, der keine Aeste mehr treibt, von dem nur noch der Stamm übrig geblieben ist.

Und nun tauchte diese geheimnisvolle Persönlichkeit plötzlich auf, machte Besuche und that alles das, wodurch Menschen anzudeuten pflegen, daß sie mit Menschen verkehren wollen. Und doppelt auffällig – seine Besuche galten vornehmlich den Familien, wo Töchter im Hause waren. Was hatte das zu bedeuten? Etwa, daß er daran dachte –? Man konnte es den Eltern im Grunde nicht verdenken, wenn sie sich aufgeregt fühlten.

Einen Freiherrn von Fahrenwald zum Schwiegersohn zu besitzen, die eigene Tochter als Gebieterin eines großen Vermögens, als Besitzerin eines von aller Welt gepriesenen Herrensitzes zu wissen – unter normalen Umständen wäre es ja ein Ziel gewesen, »aufs innigste zu wünschen«. Aber so – wie nun einmal die Verhältnisse jetzt lagen –

Erklärlicherweise bemächtigte sich die Aufregung der Eltern in noch stärkerem Maße der Töchter selbst. Neugier mischte sich mit Grauen; es war eigentlich ein noch nie dagewesener Gesellschaftsreiz.

Sobald es feststand, daß der »verrückte Baron« – denn unter dieser Bezeichnung ging er kurzweg – zu einer Gesellschaft eingeladen sei und erscheinen würde, flogen die jungen Damen auf, von Haus zu Haus, herüber und hinüber, und es gab ein Gewisper und Geflüster, ein Kichern und Lachen, und ein wollüstig wonnevolles Graueln.

Wie doppelt begehrenswert man sich erschien! Wie man sich gegenseitig darauf ansah, auf welche von ihnen wohl der unheimliche Mensch die Augen richten, nach welcher von ihnen er die Hand ausstrecken würde! Die blühenden Wangen beugten sich zu einander, die kleinen Hände drückten sich mit gegenseitigem Verständnis – es war wie ein erregter Taubenschwarm, über dem der Habicht in Lüften steht.

Man kann sich hiernach vorstellen, wie eigentümlich und gepreßt der Empfang war, der dem Baron Eberhard von Fahrenwald zu teil wurde, so oft er in Gesellschaften erschien.

Seine persönliche Erscheinung und die Art seines Auftretens bestärkte alles das, was über ihn gemunkelt und geredet wurde.

Man wußte, daß er stets von seinem Diener begleitet wurde, der nie von seinen Schritten wich und ihm zu jeder Gesellschaft folgte.

Dieser Diener war ein langer, hagerer, eisgrauer Mann, mit einem von schweren Runzeln durchfurchten Gesicht, aus dem eine starke, gekrümmte Nase hervorragte. Stets in schwarzem Frack und weißer Krawatte, wie ein versteinerter Ueberrest aus der Zeit, da es noch große Herren und große Kammerdiener gab.

Nie hatte man ein Wort aus seinem Munde vernommen, kaum einmal hatte man gesehen, daß er nach rechts oder links blickte – an einem einzigen Gegenstande haftete sein Denken und Sinnen, das war sein Herr.

Jeden Abend, wenn er den Baron zu einer Gesellschaft begleitete, wiederholte sich ein besonderer Vorgang: er stand hinter seinem Herrn und nahm ihm mit schweigender Würde den Mantel ab; währenddem wandte der Baron sich zu ihm um und sagte: »Geh nach Haus, Johann, und hole mich nachher ab.« Jedesmal, so oft der Baron dieses sagte, verneigte sich der alte Johann, feierlich wie ein Senator, nahm den Mantel seines Herrn an sich und ging nicht nach Haus. Im Dienerzimmer setzte er sich nieder, ernst, würdevoll und schweigsam, und wartete, bis die Gesellschaft zu Ende war. Sobald der Baron dann heraustrat, stand der Alte schon wieder da, den Mantel in beiden Händen, stumm, regungslos, wie eine Bildsäule. Natürlich hatten die Diener und Hausmädchen der Häuser, wo die Gesellschaften stattfanden, sich bemüht, den komischen alten Kerl zum Sprechen zu bringen und über seinen Herrn auszuholen, aber sie hatten ihre Versuche aufgeben müssen; sie hätten ebensogut zu einem Stein sprechen können; der Alte hatte nicht einmal gethan, als ob er sie überhaupt vernähme.

Ein einziges Mal hatte er ein Lebenszeichen gegeben – der Fall war sorgfältig registriert worden – als einmal ein schnippisches Stubenmädchen in seiner Gegenwart gesagt hatte, nun würde der Herr Baron wohl nächstens heiraten und eine Frau Baronin nach Haus bringen. Er wäre so zusammengezuckt, erzählte das Mädchen, als er das gehört, daß es nicht anders ausgesehen hätte, als wenn er sich schüttelte, und dann hätte er sie mit einem Blick angesehen – ganz gräßlich, sagte das Mädchen. Und dann hätte er die Achseln gezuckt, ganz hoch hinauf, und alsdann wieder stumm dagesessen. Und das Achselzucken, das hätte ausgesehen, als wollte er sagen: »Was redst du denn? Weißt du denn nicht, daß er verrückt ist?«

Seitdem stand es für die Dienerschaft fest: der Baron von Fahrenwald war verrückt. Der alte Johann war sein Wärter, und der Wärter hatte es gesagt.

Und aus dem Dienerzimmer flüsterte sich das, wie es ja stets geschieht, in die herrschaftlichen Zimmer hinüber: der Baron von Fahrenwald war verrückt.

Und wer, der ihn ansah, hätte zweifeln können, daß es wirklich also war?

Wenn die Thür sich aufthat und er hereintrat mit langsam schleppendem Schritt, ein langer, eckiger Mann, mit dunklem, fast schwarzem Haar, das bleiche, beinahe marmorweiße Gesicht von dunklem Barte umrahmt, dann legte es sich unwillkürlich wie ein Alp auf die Anwesenden, Wirte und Gäste, Herren und Damen.

Und dieser Bann ging hauptsächlich von den Augen des Mannes aus, die ganz tief, wie zwei dunkle tiefe Löcher in dem bleichen Gesichte lagen, und aus denen ein starrender, suchender, bohrender Blick hervorgekrochen kam, langsam, beinahe wie ein Wurm.

»Er sieht eigentlich kolossal interessant aus,« hatte die junge Komtesse Karmsdorf, als sie ihn zum erstenmal erblickte, hinter dem Fächer hervor zu ihren Freundinnen gesagt, »aber da man weiß, wie es mit ihm steht, ist es des Interessanten denn doch ein bißchen zu viel.«

Die Freundinnen hatten kopfnickend und kichernd bestätigt, daß es so sei, und als der Baron Miene machte, auf sie zuzutreten, waren sie samt und sonders, wie von einem panischen Schrecken erfaßt, nach einer andern Ecke des Saales entwischt, und es hatte nicht viel gefehlt, so hätten sie laut aufgekreischt.

So erging es dem Baron Eberhard von Fahrenwald. Die Wirte, die ihn eingeladen hatten, konnten sich seiner Begrüßung natürlich nicht entziehen. Aber wenn er alsdann mit schwerer, eckiger Verbeugung auf sie zutrat, sah man ihm an, wie wenig er in fröhlich ausgelassene Gesellschaft paßte. Er versuchte, sein Gesicht zu einem verbindlichen Ausdruck zurechtzulegen, zu lächeln, aber das Lächeln wollte sich so gar nicht mit dem bleichen, schwermütigen Gesicht verstehen, es sah aus, als thäte es ihm weh.

Beim Tanze blieb er Zuschauer, am Kartenspiel nahm er nicht teil, so blieb er einsam, und das wiederholte sich in jeder Gesellschaft, so daß man sich unwillkürlich fragte, wie lange er die zwecklosen Besuche und Versuche fortsetzen würde.

Offenbar fühlte er das selbst, denn der Ausdruck dumpfer Schwermut in seinem Gesichte verstärkte sich von einem zum andern Mal, seine Bewegungen wurden immer schleppender, es sah aus, als ermüdete der Mann unter der Last des Daseins.

So näherte sich der Winter seinem Ende. Ein großes Ballfest wurde gegeben, dem der Baron, einsam und teilnahmlos wie gewöhnlich, beiwohnte.

Indem er, an den Thürpfosten des Nebenzimmers gelehnt, dem wirbelnden Tanze zuschaute, der im Saale auf und nieder flog, richtete er plötzlich das Haupt zur Seite – es war ihm gewesen –

Auf einem Stuhle, dicht an die Wand gerückt, saß ein junges Mädchen. Sie nahm nicht teil am Tanze, offenbar, weil sie nicht aufgefordert worden war, ein Mauerblümchen, wie man zu sagen pflegt.

Wenn man sie ansah, begriff man das einigermaßen; sie hatte etwas Unscheinbares; sie war nicht besonders hübsch und, wie es schien, arm. Ein schmaler Silberreif um den Hals, das war der ganze Schmuck des jungen Körpers; ihr dürftiges weißes Tüllkleidchen stach von den Gewandungen ihrer reicheren, glücklicheren Altersgenossinnen ab.

Indem der Baron den Kopf nach ihr umwandte, bemerkte er, daß sie ihn schon längere Zeit von der Seite betrachtet hatte. Er sah zwei runde, nicht besonders schöne, aber unendlich gutmütige Augen, die stumm beobachtend, aber ohne Neugier auf ihm ruhten. Jetzt, da er zu ihr hinblickte, senkte sie die Augen, und er gewann Zeit, sie von seiner Seite zu betrachten.

Sie war in Verlegenheit etwas errötet; um den kleinen Mund, der sich ein wenig nach vorn zuspitzte, war ein unmerkliches Zittern; dadurch erhielt das ganze Gesichtchen etwas Trauriges, beinahe, als wenn es mit verhaltenem Weinen kämpfte.

Er war also nicht der einzige Einsame heute abend; da war noch eine, und er sah es ihr an, sie fühlte sich unglücklich. Solch ein junges Mädchen, das zum Balle eingeladen, nicht zum Tanze aufgefordert wird und in der Ecke sitzen bleibt, leidet ja in Wirklichkeit ganz bitterlich; alle Qualen der Zurücksetzung lasten auf der armen jungen Seele.

Jetzt schrak die einsame Kleine leise auf, die Röte auf ihren Wangen wich einer tiefen Blässe, ihre Hände, die einen mageren Fächer im Schoße hielten, preßten sich zusammen – der Baron Eberhard von Fahrenwald hatte sich neben sie gesetzt. Sie hatte natürlich, wie alle andern, von dem »verrückten Baron« erzählen gehört, und nun saß er plötzlich neben ihr, nicht durch Zufall, sondern weil er sie aufgesucht hatte. Es wurde ihr unheimlich zu Mute.

Vorhin, als sie den blassen einsamen Mann, dem man das Unglück am Gesicht ansah, an der Thür hatte lehnen sehen, war ihr Herz ganz von tiefem Mitleid erfüllt gewesen – jetzt fühlte sie eine Angst, die ihr die Nähe des unheimlichen Menschen verursachte.

Eine Zeit lang saßen beide schweigend, dann erhob der Baron das Gesicht.

»Es thut mir so leid,« sagte er, »daß ich nicht tanze, gnädiges Fräulein, sonst würde ich um die Erlaubnis bitten, Sie dort hineinführen zu dürfen.«

Er hatte mit dem Kopfe nach dem Tanzsaale gedeutet; mit unwillkürlichem Staunen wandte sie sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. War das die Stimme eines »Verrückten«?

Ein so tiefer, milder Wohlklang lag in den einfachen Worten; etwas so Sanftes, so Warmes, so Gütiges kam von ihm zu ihr herüber, daß es ihr war, als hätte eine Hand ihre Hand erfaßt, mit liebem, tröstendem Drucke.

Schweigend blickte sie ihn an und war sich kaum bewußt, daß sie es that. Schweigend hielt er die Blicke in die ihrigen gerichtet; in seinen tiefen geheimnisvollen Augen erwachte etwas, wie eine sehnende Frage, wie ein Hoffen, das sich nicht hervorgetraut, wie ein verstohlenes Leuchten in lichtloser Nacht.

So saßen die beiden, von niemand beachtet, nach niemand fragend, wie zwei Leidensgefährten, die unausgesprochenes Verständnis zu einander führt, und nach einiger Zeit schob er, ohne ein Wort zu sagen, die Hand zu ihr hin, und ohne ein Wort zu erwidern, löste sich ihre kleine Hand vom Fächer, den sie immer noch krampfhaft umspannt hielt, und senkte sich zitternd in seine Hand. Und als sie nun den leidenschaftlichen Griff fühlte, mit dem er ihre Finger zusammenpreßte, erschrak sie; aber als sie dann fühlte, wie er sogleich, indem er ihren Schreck empfand, den Druck mäßigte, faßte sie neues Vertrauen. Welche Aufmerksamkeit sprach aus seiner Bewegung, welche Zartheit; es war, als streichelten seine Finger ihre erschreckte Hand, als spräche seine Hand: »Ich thue dir nichts, fürchte dich nicht.«

Sie kamen dann ins Gespräch, und im Verlaufe desselben erfuhr er Genaueres über die Kleine.