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»Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder«

NOVALIS

Gedichte der deutschen Romantik genießen einen besonderen Stellenwert: Sie gelten als die schönsten und populärsten Texte deutschsprachiger Lyrik. Von ihrer poetischen Faszination haben sie bis heute nichts verloren.

Die blaue Blume

Ich suche die blaue Blume,

Ich suche und finde sie nie,

Mir träumt, daß in der Blume

Mein gutes Glück mir blüh’.

JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF

Gedichte der deutschen Romantik

Gedichte
der deutschen
Romantik

Herausgegeben und eingeleitet
von Yomb May

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014

Redaktionelle Mitarbeit: Lucija Karaman,

Stefanie Irlbeck und Lukas Bauer

Covergestaltung: Katharina Staal Design, Köln

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin/André Held, Kreidefelsen

auf Rügen, Ölgemälde von Caspar David Friedrich, 1818

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0407-3

www.marixverlag.de

DIE BLAUE BLUME SEHN ICH MICH ZU ERBLICKEN

NOVALIS

INHALT

Einleitung

Editorische Notiz

Die Autoren und ihre Gedichte

Die Gedichte der deutschen Romantik

Verzeichnis der Quellen

Bibliographie

Alphabetisches Verzeichnis der Gedichte

EINLEITUNG

Kaum eine andere Epoche deutschsprachiger Lyrik fasziniert so nachhaltig wie die Romantik (etwa 1790–1830). Selten zuvor waren deutsche Gedichte, sieht man etwa vom mittelalterlichen Minnesang ab, sehnsuchtsvoller, kunstvoller und zugleich tiefgründiger als sie uns im lyrischen Œuvre der Dichtergeneration begegnen, die unmittelbar nach Goethe (zum Teil auch parallel zu ihm) mit einem völlig neuen ästhetischen Programm in Erscheinung trat. Nicht umsonst gilt die Romantik als eine lyrische Epoche, die bis heute eine unbestrittene Ausnahmestellung in der deutschsprachigen Literaturgeschichte hat.

Zahlreiche Gedichte von Tieck, Novalis, Schlegel, Arnim, Brentano, Eichendorff und Heine – um nur einige prominente Vertreter zu nennen – genießen nachgerade einen einzigartigen Stellenwert. Nicht nur ragen sie in Gehalt und Kunstfertigkeit aus der deutschen Literaturgeschichte heraus, sondern zeichnen sich auch in vielfacher Hinsicht durch einen kaum überbietbaren Grad an ästhetischer Innovation und Selbstständigkeit aus. Viele von ihnen haben weltliterarische Bedeutung gewonnen.

Auch dank zahlreicher genialer Vertonungen durch Komponisten wie Schubert, Schumann, Mahler und Brahms sind unzählige Gedichte oder Gedichtzeilen der deutschen Romantik einem breiten Publikum bis in unsere Gegenwart bekannt. Als Melodie haben solche Gedichte gerade auch in Form von populären Volksliedern weit über die Grenzen der Literatur hinaus Verbreitung gefunden. Sie erfreuen sich nach wie vor international anhaltender musikalischer Rezeption.

Freilich ist die zeitlose Popularität der romantischen Lyrik von einzelnen bzw. isolierten Aspekten her schwer erklärbar. Gleichwohl besticht neben dem nahezu unüberschaubaren Textbestand und dem vielfältigen Repertoire an Formen, Themen und Motiven vor allem die außergewöhnliche sprachliche Schönheit, in der viele Gedichte der Romantik verfasst sind. Die hohe Musikalität romantischer Verse und die meist in einem schlichten, volksliedhaften Ton gehaltene Diktion strahlen hinein in einen vielfältig differenzierten Fundus an Sprachbildern und bildhaften Assoziationen. Diese besondere Ausformung poetischer Fantasie bildet einen einzigartigen ästhetischen Höhepunkt deutschsprachiger Lyrik.

Mit Recht wird der romantischen Lyrik ein herausragender Beitrag „zum Reichtum und zur Schönheit der deutschen Literatursprache“1 bescheinigt. Das zeigt sich beispielsweise an dem Gedicht Mondnacht von Eichendorff:

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blüten-Schimmer

Von ihm nun träumen müßt’,

Die Luft ging durch die Felder,

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

Dieses schlicht wirkende Gedicht zieht den Leser bereits durch den außergewöhnlichen Wortklang in seinen Bann. Verzaubert wird der Leser aber auch von dem unfassbaren dunklen Sinn des innigen Einklangs von Himmel und Erde. Hierbei entfaltet sich in der einfachen Darstellung der Landschaft in Verbindung mit der Schönheit der lyrischen Sprache ein besonderer ästhetischer Reiz. Nicht umsonst hat Oskar Seidlin die These aufgestellt, dass Eichendorffs Mondnacht zu den „zehn vollendeten Wundern deutscher Sprache“2 gehört. Bedeutenden Anteil an dieser Wahrnehmung haben nicht zuletzt die entfesselte schöpferische Fantasie, von der die romantischen Verse getragen sind, und die künstlerische Raffinesse ihrer Machart.

Gewiss nimmt Eichendorff eine exponierte Stellung als Lyriker der Romantik ein, tatsächlich aber sind jene Gedichte der deutschen Romantik, auf die diese in der fiktionalen Literatur einzigartigen Qualitätsmerkmale zutreffen, zahlreich. Die aus der poetischen Innovations- und Gestaltungskraft ausgehende ästhetische Wirkung bleibt unerschöpflich. Sie lässt Gedichte der Romantik immer wieder aufs Neue zu einem wahren Lesegenuss werden, sprechen sie doch Herz, Sinne und Verstand gleichermaßen an.

Der virtuose Kunstgriff, mit dem die von Friedrich Schlegel programmatisch geforderte ganzheitliche Poetisierung der Welt gedanklich und sprachkünstlerisch in der Lyrik der Romantik umgesetzt wird, hat einen einmaligen schöpferischen Anspruch. Diesem Konzept entspricht das vielberufene „Zauberwort“ Eichendorffs, das nicht nur dem Kunstverständnis der Romantik, sondern auch dem Gedicht als romantischem Wortkunstwerk ästhetische Anziehungskraft und Aktualitätswert verliehen hat. Anschauliche Bestätigung dafür liefern beispielsweise die Verse von Novalis berühmtem Gedicht:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen

[…]

Dann fliegt von einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.

Gerade in einer Zeit, in der Zahlen und Figuren den Lauf und das Verständnis der Welt zu bestimmen scheinen, rufen uns diese Zeilen in Erinnerung, dass das technisch-rationale Weltbild einer poetischen Ergänzung bedarf, um dem Menschen das verloren gegangene Gleichgewicht zurückzugeben. Schon dadurch wird die Aktualität des romantischen Weltverständnisses sichtbar – dies umso mehr, als die Sehnsucht nach der Heilung jenes Bruchs, der in der Zeit der Aufklärung zwischen Mensch und Natur aufgetreten ist, nach wie vor den Reiz der romantischen Gedichte ausmacht.

Auch der Zauber der romantischen Lyrik, so scheint es, ist heute noch wirksam. Zahlreiche Gedichte jener Zeit vermögen es nach wie vor, „seelische Saiten in uns“ anzurühren3, weil sie den Leser immer wieder auffordern, die eigenen Bilder und Fantasien zu entfalten. Johann Wolfgang Goethe, der ansonsten der romantischen Bewegung kritisch bis ablehnend gegenüberstand, wird man bis heute darin zustimmen dürfen, dass das künstlerische Schaffen der romantischen Dichter einen „unglaublichen Reiz“4 besitzt.

Ein Lesebuch, das die besten Gedichte der deutschen Romantik vorzustellen beabsichtigt, sieht sich vor die besondere Herausforderung gestellt, aus der Vielzahl von Gedichten weltberühmter Lyriker eine begrenzte Auswahl zu treffen. Eine solche Auswahl, wie gewissenhaft sie auch vorzugehen vermag, verkürzt. Denn mit jeder Entscheidung für ein bestimmtes Gedicht wird immer auch eine Entscheidung gegen andere Gedichte getroffen. Daher erscheint es geboten, dem Leser an dieser Stelle kurze Rechenschaft darüber abzulegen, welche editorischen Grundsätze und Besonderheiten die vorliegende Gedichtauswahl auszeichnen.

Die vorliegende Anthologie ist als eine Leseausgabe konzipiert. Sie vermittelt fundierten Einblick in die lyrische Produktion der gesamten Epoche der deutschen Romantik. Die aufgenommenen Gedichte stammen überwiegend aus der Feder von großen Lyrikern, die zu den Klassikern der Poesie der Romantik zählen. Doch die Anthologie enthält auch mit bisher weniger bekannten Gedichten von Karoline von Günderrode, Julius Kerner, Ludwig Uhland u.a.m. einige Entdeckungen, die zu echten Überraschungen zählen dürfen. Damit ist eine der wesentlichen Absichten der vorliegenden Anthologie erfüllt: dem Leser mehr von der Vielfalt der romantischen Lyrik zu bieten als nur die bekannten Texte.

Neu an dieser Anthologie ist der Versuch, den Leser der hier versammelten Gedichte an die Motiv- und Themenvielfalt, die zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten sowie die individuellen Schreib- und Verfahrensweisen der Autoren heranzuführen. Rasch wird der Leser einsehen, dass die permanente Überschreitung aller räumlichen und zeitlichen Grenzen, das ständige Aufbrechen zu neuen Ufern, auch in ästhetischer Hinsicht zum Grundkonzept der literarischen Romantik zählte. Die Lyrik der Romantik, so wie sie in dieser Anthologie präsentiert wird, ist auch als Ergebnis eines besonderen poetischen Universums zu verstehen, dessen Umrisse sich „in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen“ (Schlegel). Dies rechtfertigt die Aufnahme der Gedichte von Autoren wie Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist, die allenfalls unter Vorbehalt einer wie auch immer verstandenen Romantik zugerechnet werden.

Es ist folgerichtig, wenn sich die Auswahl der vorliegenden Gedichte nicht an einer gewaltsamen Konstruktion des „typisch“ Romantischen orientiert, das dem lyrischen Œuvre der deutschen Romantik ein normatives Verständnis aufzwingen würde. Die Romantik ist weniger ein normativer als vielmehr umstrittener, ja unklarer Begriff. Ihr Wesen ist, wie Oscar Wilde einmal treffend formulierte, „die Ungewissheit“. Deshalb zielt die hier vorgelegte Gedichtauswahl darauf ab, dem Leser ein authentisch differenziertes Weltbild der Romantik zu vermitteln, wie es in den Gedichten Niederschlag gefunden hat.

Mit Authentizität und Vielseitigkeit sind bereits zwei entscheidende Kriterien genannt, die für die Gedichtauswahl leitend waren. Nur so dürfte es gelingen, dem Leser einen möglichst repräsentativen Querschnitt der meistbehandelten Themen und Motive sowie der wichtigsten Gedichtformen der Romantik in überschaubarer Form anzubieten. Diese Lyrik stellt aber vor allem auch ein stilgeschichtliches Phänomen dar, d.h. sie lässt sich als das Werk von Dichtern mit ausgeprägtem sprachkünstlerischem Sinn lesen. Gezielt aufgenommen wurden deshalb Gedichte von hoher rhetorischer Qualität, also solche, die die sprachästhetische Ausdrucksstärke der romantischen Lyrik hör- und sichtbar werden lassen.

Eine weitere Besonderheit dieser Anthologie betrifft die Anordnung der Gedichte. Unter den verschiedenen Gruppierungsmöglichkeiten wurde die chronologische Anordnung gewählt. Demnach sind die ausgewählten Gedichte nach den Geburtsjahren und -daten der Autoren gereiht. Dabei stehen sie möglichst in der Folge, in der sie erstmals veröffentlicht wurden. Die eingeklammerte Jahreszahl in der Schlusszeile gibt, soweit ermittelbar, das Erscheinungsdatum an. Somit spiegelt sich in dieser Anordnung nicht nur das historische Fortschreiten des geistigen Phänomens der Romantik. Es zeigen sich auch Kontinuitäten, Brüche und Wandlungen in der Schaffensweise der jeweiligen Autoren.

Ziel dieser Anordnung ist es, den Blick nicht allein auf die Gedichte selbst, sondern auch auf ihren ursprünglichen Entstehungskontext und auf die Vieldeutigkeit des Begriffs „Romantik“ zu schärfen. Dies erscheint umso notwendiger, als die romantische Lyrik häufig auf vereinfachende Klischees reduziert wird. Durch eine leichtfertige und unreflektierte Typisierung entsteht ein verzerrtes Bild der romantischen Lyrik, das nicht nur das vielgestaltige Aussagespektrum, sondern auch den Facettenreichtum und schließlich auch den Sinn dieser Lyrik vielfach verfehlt. Durch aufmerksame Lektüre ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild: Mit großem Gewinn lassen sich Gedichte der Romantik lesen und auch gedanklich am besten durchdringen, wenn man sie trotz allgemein-übergreifender Tendenzen ihres universalpoetischen Dogmas immer auch als unterschiedliche poetische Antworten und Reflexe auf einen bewegten und unsicheren zeitgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen versucht.

Gerade die Verflechtung der romantischen Lyrik mit anderen literarischen Genres, aber auch mit der Kunst, der Musik und der (Zeit) Geschichte eröffnet den Blick auf jenen prekären politischen, sozialen und literarischen Umbruchkontext, in dem die damaligen Dichter lebten. Es versteht sich von selbst, dass ohne eine eingehende Vergegenwärtigung des historischen Kontextes die meisten Gedichte der deutschen Romantik unverständlich bleiben.

Wirkmächtig sind bei der Abgrenzung gegenüber der Klassik sowohl die Verklärung des Mittelalters als Projektionsfläche für die „gute alte Zeit“ als auch die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins, das als Antwort auf die Kriege und Herrschaft Napoleons in zahlreichen patriotischen Gedichten Niederschlag gefunden hat. Die Lyrik der Romantik speist sich aus einem vielfach als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Kontext. „Nirgend kann ich hier auf Erden / Jemals wieder glücklich werden“, so Novalis in seinem berühmten Gedicht Weinen muß ich, immer weinen (Vgl. S. 97 in diesem Band).

Bezieht man diese Aussage auf den historisch-politischen Kontext, dann liegt die Annahme nahe, dass der Lyrik der deutschen Romantik gerade auch dort politische und kulturtragende Bedeutung zuwächst, wo uns ihre spezifische Form der Bewältigung von Wirklichkeit auf den ersten Blick als Weltflucht erscheint.

Ausdrücklich hinzuweisen ist deshalb auf das augenfällige, als solches jedoch bisher viel zu wenig zur Kenntnis genommene Paradoxon, dass sich nicht wenige Gedichte der Romantik der landläufigen Vorstellung geradezu widersetzen, die wir uns von ihnen zu machen pflegen. Um es pointiert zu sagen: Gedichte der Romantik sind nicht immer romantisch, jedenfalls nicht nach heutigem Wortverständnis. Dieser scheinbare Widerspruch besitzt durchaus ein Irritationspotenzial, das sich jedoch leicht auflösen lässt. Das Selbst- und Weltverständnis der Romantiker – die sich selbst übrigens nicht so bezeichneten – hebt sich von den eher reizvoll-trivialen Assoziationen ab, die mit dem Stichwort „Romantik“ heutzutage verbunden werden.

Doch so unbestritten es ist, dass sich viele Gedichte der Romantik durch ein Höchstmaß an sprachlicher Kunst und einen musikalischen Rhythmus auszeichnen, die das poetische Rauschen der Wälder, das Funkeln der Sterne, das leise Fließen der Bäche und den nächtlichen Mondschein in einem außergewöhnlich schöpferischen Raum in Einklang bringen, so gewiss ist allerdings auch: Die Lyrik der Romantik evoziert gerade auch mit Hilfe solcher eingängigen Bilder, in der klaren Formgebung und im einfachen Volksliedton ebenso häufig eine scheinbare Schlichtheit, die mitunter ihre geheimnisvollen Abgründe, insbesondere das Unbehagen ihrer Autoren an der Gegenwart und damit ihren tieferen Sinn oder ihre besondere Brisanz vollständig zu verschleiern vermag.

Mit Recht weist Stefan Scherer darauf hin, dass der Eindruck von Einfachheit romantischer Gedichte künstlerisch erzeugt und daher gewollt ist. Treffend bezeichnet er diese artifizielle Einfachheit, die sich als Gestaltungsprinzip vorzugsweise an der Form und Sprache der romantischen Poesie beobachten lässt, als „künstliche Naivität“5. Charakteristisch für dieses ästhetische Verfahren ist, dass es Traum und Wirklichkeit, Kunst und Leben ineinander fließen lässt und sich dadurch vielfach dem Zugriff eingeschliffener oder vorgefertigter Lesarten entzieht.

Die Lyrik der Romantik lässt sich nicht pauschal bestimmen, aber sie strukturiert tendenziell ein gebrochenes Verhältnis der romantischen Dichter zu ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Gegenwart. Kompensiert wird die innere Abwendung der romantischen Dichter von den bürgerlichen Werten zum einen durch die Rückerinnerung an eine glückliche Vergangenheit und zum anderen durch das Streben nach einer poetischen Existenz, deren charakteristisches Merkmal die Ungewissheit ist. Zuhause fühlten sich die Romantiker nirgendwo. In ihren Liedern wird das Leid der Entfremdung häufig bereits durch eine melancholisch-dunkle Grundstimmung vermittelt. Dennoch bedarf es des genauen Hinhörens, um in die verborgenen Töne der romantischen Lyrik vordringen zu können.

Die Gedichte der Romantik sind meist reizvoll, oft schlicht verfasst, aber nirgends erschöpfen sie sich in frei schwebender Fantasie. Sie sind schlicht und schön, aber nicht in jedem Fall unschuldig. Das liegt zum Teil daran, dass sie immer schon jene rätselhafte Tiefe aufweisen, die zu einer stillen Reflexion über die dunklen „Lockungen der Welt“6 einlädt, denen der Mensch ausgesetzt ist. Damit strukturieren Gedichte der Romantik hinter der Maske der Naivität – allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise – ein komplexes Wirklichkeitsmodell, das nicht nur, aber vor allem auch Heinrich Heine in exemplarischer Art und Weise aufgegriffen hat. Sein brillanter, bissig-ironischer und nicht selten parodistischer Umgang mit vertrauten romantischen Motiven bildet den Abgesang nicht nur auf die sentimentale Naturlyrik, sondern auf das poetische Programm der Romantik insgesamt.

Folgerichtig ist diese Anthologie darauf angelegt, Leserinnen und Lesern die Gedichte der Romantik als „Sternstunden“ der deutschen Lyrik ins Bewusstsein zu bringen. Schon recht nah kommt man dem Verständnis ihrer Eigenart, wenn man sich unvoreingenommen auf die romantischen Gedichte einlässt, die reich an poetischen Überraschungen sind. Eben in dieser Eigenschaft liegt ein wichtiges Merkmal der Originalität romantischer Ästhetik begründet. Heinrich von Ofterdingen, der Protagonist aus Novalis gleichnamigem Roman, spricht es deutlich aus: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt. Und was man glaubt, es sey geschehn, kann man von weitem erst kommen sehn“7.

Diese einmalige ästhetische Erfahrung lässt sich auch auf die Begegnung mit Gedichten der deutschen Romantik ausdehnen, insbesondere dann, wenn man sich bei ihrer Lektüre nicht auf die Oberfläche beschränkt. Doch was die Leserin oder der Leser dabei „erst von weitem kommen sehn“ mag, nimmt in jedem einzelnen Gedicht eine individuelle Gestalt an. Wohl deshalb kann man mit Hermann Hesse sagen: Jedem der hier versammelten Gedichte „wohnt ein Zauber inne“, und zwar als unendliches ästhetisches Sinnangebot, das es immer wieder neu einzulösen gilt.

Die hier vorgelegten Gedichte gehören, gemessen an ihrem Gehalt und ihrer künstlerischen Raffinesse, allesamt zu den großen dichterischen Leistungen der Romantik. Sie stehen nicht so sehr für das Typische, sondern vielmehr für das Wesentliche der romantischen Lyrik. Als Meisterwerke sind sie unverzichtbar für jeden, der die bis heute ungebrochene Attraktivität und Faszination deutscher Gedichte der Romantik neu oder wieder entdecken will. Dank ihrer überdauernden Strahlkraft ziehen die Gedichte der deutschen Romantik den Leser nach wie vor in ihren Bann und werden auch in der Zukunft einen bleibenden Stellenwert bewahren.

Herausgeber und Verlag wünschen eine ebenso anregende wie spannende Lektüre.

München, im Juli 2013

Y.M.

_________________

1 Wolfgang Frühwald (Hrsg): Gedichte der Romantik. Stuttgart 1984, S. 35.

2 Oskar Seidlin: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965, S. 47.

3 Wolfgang Nehring: Spätromantiker. Eichendorff und E.T.A Hoffmann. Göttingen 1997, S. 76.

4 Goethe: Rezension von Achim von Arnim und Clemens Brentano Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. In: Jenaische allgemeine Literaturzeitung, Nr. 18-19, 21-22. Januar 1806, S. 282.

5 Stefan Scherer: Künstliche Naivität. Lyrik der Romantik. In: Der Deutschunterricht 3 (2005), S. 44-54.

6 Wolfgang Frühwald, a.a.O., S. 33.

7 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Aus: Novalis Schriften. Herausgegeben von L. Tieck und Friedrich Schlegel. Wien 1827, S. 201

EDITORISCHE NOTIZ

Die vorliegende Anthologie enthält rund 255 Gedichte, darunter alle Bekannten und Beliebten. Die aufgenommenen Gedichte stammen überwiegend aus der Feder von „großen“ Lyrikern, die zu den Klassikern der Poesie der Romantik zählen. Doch die Anthologie bietet auch einige Entdeckungen, die als echte Überraschungen betrachtet werden dürfen. Aufgenommen sind Gedichte von randständigen oder inzwischen zu Unrecht fast in Vergessenheit geratenen Autoren, deren Texte jedoch im Lichte der neueren Romantik-Forschung ebenfalls als einschlägig für jene Epoche betrachtet werden können.

Als Textgrundlage dient die jeweils im Quellenverzeichnis ausgewiesene historisch-kritische Ausgabe. Für alle Gedichte, die noch nicht in einer editorisch-kritischen Ausgabe erschienen sind, wurde eine zuverlässige, wissenschaftlich anerkannte Referenzausgabe herangezogen. Die Wiedergabe der Gedichte folgt aus Gründen der Texttreue und der editorischen Standards in Orthografie, Interpunktion und Textgestalt den jeweiligen Vorlagen.

Lucija Karaman, Stephanie Irlbeck und Lukas Bauer, Danny Plank und Xaver Zimmermann haben entscheidenden Anteil an der Realisierung der vorliegenden Anthologie. Ihnen gilt der besondere Dank des Herausgebers für ihre Mitarbeit.

DIE AUTOREN UND IHRE GEDICHTE

Geordnet nach Geburtsjahr des Autors

JOHANN PETER HEBEL (1760–1826)

Sonntagsfrühe (Hochdeutsch)

JENS PETER BAGGESEN (1764–1826)

An Lilia

An Romantica

DOROTHEA SCHLEGEL (1764–1839)

Draußen so heller Sonnenschein

Mein Lied, was kann es Neues euch verkünden

AUGUST WILHELM SCHLEGEL (1767–1845)

Die Sylbenmaaße

Todten-Opfer

Variationen

ZACHARIAS WERNER (1768–1823)

Zwei Sonette

1. An mein Ideal

2. An die Teutschen

ERNST MORITZ ARNDT (1769–1860)

Abendlied

Klage um den kleinen Jakob

FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770–1843)

Abendphantasie

Der Zeitgeist

Menschenbeifall

Heidelberg

Hälfte des Lebens

An die Hofnung

Blödigkeit

Dankgedicht an die Lehrer

Des Morgens

Die Heimath

Die Nacht

Lebensalter

Sonnenuntergang

Stimme des Volks

SOPHIE MEREAU (1770–1806)

Abschied an Dornburg

Durch Wälder und Felder, dem Tale entlang oh weh

In Tränen geh ich nun allein

FRIEDRICH SCHLEGEL (1772–1829)

An die Deutschen

Die Weltseele

Diana, heilge, wo sind deine Brüste?

Als die Sonne nun versunken

Das Ideal

Fantasie

Anruf

Bild des Lebens

Das Gedicht der Liebe

Der Dichter [Der schwarze Mantel will sich dichter falten]

Der Dichter [Was wünschen und was streben alle Sinnen?]

Rückkehr zum Licht

Spruch

FRIEDRICH VON HARDENBERG (NOVALIS, 1772–1801)

Fern in Osten wird es helle

Weinen muss ich, immer weinen

Ich sehe dich in tausend Bildern

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Hymnen an die Nacht

LUDWIG TIECK (1773–1853)

Der Arme und die Liebe

Melankolie

Waldeinsamkeit

Antwort

Mondscheinlied

Die Phantasie

An einen jüngeren Dichter

An Novalis

Einsamkeit

Der Dichter

Wunder der Liebe

Glosse

Auf der Reise

Heimweh

Erster Anblick von Rom

WILHELM HEINRICH WACKENRODER (1773–1798)

Das Meer

Siehe wie ich trostlos weine

Arion

Süße Ahndungsschauer gleiten

Wenn die Ankerstricke brechen

CASIMIR ULRICH BOEHLENDORFF (1775–1825)

Auf dem See

Der Wechsel

Einsamkeit

Elegie

Er sieht die Sonne schwinden

FRIEDRICH WILHELM JOSEPH VON SCHELLING (1775–1854)

Lied

HEINRICH VON KLEIST (1777–1811)

Germania an ihre Kinder

FRIEDRICH BARON DE LA MOTTE FOUQUÉ (1777–1843)

Frühlingsblüthe, Mayenwind

Liebe Geige, bist zertrümmert

Mutter geht durch ihre Kammern

CLEMENS BRENTANO (1778–1842)

Abschied

Sprich aus der Ferne

Abendständchen

Hörst du wie die Brunnen rauschen

Du Herrlicher! Den kaum die Zeit erkannt

Ich träumte hinab in das dunkle Tal

In dir ringelt die Träne

Schwanenlied

An den Engel in der Wüste

Der Spinnerin Nachtlied

Die Gottesmauer

O Stunde, da der Schiffende bang lauert

Ach alles geht vorbei

Wie so leis die Blätter wehn

Was reif in diesen Zeilen steht

Auf dem Rhein

Wie wird mir? Wer wollte wohl weinen

Laß rauschen, Lieb, laß rauschen

Lureley

Wenn ich ein Vöglein wär

Wiegenlied

FRIEDRICH GOTTLOB WETZEL (1779–1819)

Das Sonnett

Philosophische Poesie

KAROLINE VON GÜNDERRODE (1780–1806)

Liebe

Der Adept

Der Kuß im Traume

Die eine Klage

Überall Liebe

Zueignung

ACHIM VON ARNIM (1781–1831)

Wie die Stunden rennen

Mir ist zu licht zum Schlafen

Getrennte Liebe

Ahndungen

Dichterlohn

Lehrgedicht an die Jugend

Liebeszweifel

Ritt im Mondenschein

ADELBERT VON CHAMISSO (1781–1838)

Tragische Geschichte

Das Schloß Boncourt

Der Invalid im Irrenhaus

Die zwei Grenadiere

Geh du nur hin!

Lied

Sehnsucht

Was soll ich sagen?

HELMINA VON CHÉZY (1783–1856)

Ach, wie wärs möglich dann

Ich bin so reich in deinem Angedenken

MAX VON SCHENKENDORF (1783–1817)

Freiheit

Der Dom zu Köln

Weihnachtslied

BETTINA VON ARNIM (1785–1859)

Seelied

Wer sich der Einsamkeit ergibt

OTTO HEINRICH GRAF VON LOEBEN (1786–1825)

An Novalis

Loreley

Sprache der Poesie

Variazion

Welt und Herz

Wird die Plage nimmer enden

WILHELM FREIHERR VON EICHENDORFF (1786–1849)

Schwermuth und Entschluß

Die zauberische Venus

An meinen Bruder Josef

Ein Zauberwald

Wiedergenesung des Dichters

JUSTINUS KERNER (1786–1862)

Wanderlied

Der Wanderer in der Sägmühle

Der Zopf im Kopfe

Abschied

Alphorn

Icarus

Wo zu finden?

LUDWIG UHLAND (1787–1862)

An den Tod

Das Schloß am Meere

Schäfers Sonntagslied

Der Traum

Des Knaben Berglied

Dem Künstler

Die Sonette

Der gute Kamerad

Der Rezensent

Der Wirtin Töchterlein

Frühlingsglaube

Vorwärts!

Das Schwert

Des Sängers Fluch

Schlußsonett

Schwäbische Kunde

Unstern

Die neue Muse

Kreislauf

JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF (1788–1857)

Die Zauberin im Walde

An A…

Abendständchen

Min<n>elied

An Maria

Das zerbrochene Ringlein

Abschied

Frische Fahrt

Zwielicht

Zeichen

Die blaue Blume

Die zwei Gesellen

Der verspätete Wandrer

Der Abend

Der wandernde Musikant

Denkst du des Schloßes noch auf stiller Höh?

Morgenständchen

Die Nacht

Lockung

Schöne Fremde

Sehnsucht

Der wandernde Student

Die Nachtblume

Zauberblick

Auf meines Kindes Tod

Frühlingsnacht

Mondnacht

Neue Liebe

Trennung

Ein Eiland, das die Zeiten nicht versanden

Wünschelruthe

Verloren

Nachtzauber

THEODOR KÖRNER (1791–1813)

Aufruf

Abschied vom Leben

Vor Rauchs Büste der Königin Louise

GUSTAV SCHWAB (1792–1850)

Böse Stunden

Der Feiertag

Der Gefangene

Der Reiter und der Bodensee

Heuernte

Nachruf

Rückblick

WILHELM MÜLLER (1794–1827)

Wanderschaft

Wohin?

Ungeduld

Brüderschaft

Der Liebe Zeit

Nachtwandlerin Liebe

Der Liebe Morgenröthe

Gefrorene Thränen

Erstarrung

Der Lindenbaum

Die Post

Letzte Hoffnung

Freiheit im Wein

Guter Wein, gut Latein

Das Irrlicht

Der Leiermann

Morgenlied

Der Wassermann

HEINRICH HEINE (1797–1856)

Ich wollte meine Lieder

Die Grenadiere

Belsatzar

Die Botschaf

Vergiftet sind meine Lieder

Die Linde blühte, die Nachtigall sang

Ein Jüngling liebt ein Mädchen

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten

An deine schneeweiße Schulter

Der Mond ist aufgegangen

Die Jahre kommen und gehen

Wer zum erstenmale liebt

Wanderlied

Die Ilse

Abenddämmerung

Nachtgedanken

An A. W. v. Schlegel

Das Fräulein stand am Meere

Die Heimführung

Wenn ich in deine Augen seh

LUISE HENSEL (1798–1876)

Nachtgebet

WILHELM HAUFF (1802–1827)

Amor der Räuber

Stille Liebe

Sehnsucht

Treue Liebe

Reiters Morgenlied

Trost

Schlägerlied

Der Kranke

Hans Huttens Ende

An Emilie

DIE GEDICHTE DER DEUTSCHEN ROMANTIK

JOHANN PETER HEBEL

Sonntagsfrühe

Hochdeutsch

Der Samstag hub zum Sonntag an:

„Jetzt ruhn sie alle, Nachbarsmann!

Sie sind vom Schaffen her und hin

Gar weidlich müd an Seel und Sinn;

Mir selbst will’s bald nicht besser gehn,

Kann kaum noch auf den Beinen stehn.“

Er spricht’s, und von der Mitternacht

Wird er nun auch ins Bett gebracht.

Der Sonntag spricht: „Jetzt ist’s an mir!“

Gar heimlich schließt er seine Tür.

Schlaftrunken noch und gar gemach

Schwankt er den Sternlein hintennach.

Doch jetzt reibt er die Augen aus

Und kommt der Sonn an Tür und Haus;

Sie schläft im stillen Kämmerlein.

Er klopft und pocht ans Fensterlein

Und ruft ihr zu: „‘s ist an der Zeit!“

Die Sonne sagt: „Bin auch bereit.“

Und leise auf den Zehen geht

Und heiter auf den Bergen steht

Der Sonntag. Und das Tal entlang

Schläft alles noch; mit stillem Gang

Tritt er ins Dorf hinein und spricht

Zum Hahne: „Du, verrat mich nicht!“

Wenn alles endlich ist erwacht,

Geschlafen hat die ganze Nacht,

So steht er da im Sonnenschein,

Guckt zu den Fenstern uns herein

Mit seinen Augen, mild und gut,

Und mit dem Sträußchen auf dem Hut.

Drum meint er’s treu, und was ich sag,

Es freut ihn, wenn man schlafen mag

Und meint, es sei noch dunkle Nacht,

Wann längst die Sonn am Himmel lacht.

Drum kam er auch so leis heran

Und sieht so lieblich jetzt uns an.

Wie glitzert rings auf Gras und Laub

Vom Morgentau der Silberstaub!

Wie weht so frische Maienluft

Voll Kirschenblüt und Schlehenduft!

Und’s Bienlein sammelt ohne Frist;

Es weiß nicht, daß es Sonntag ist.

Wie prangt nicht in dem Gartenland

Der Kirschenbaum im Maigewand!

Und blaue Veilchen, Tulipan’

Und Sternenblümchen nebendran

Und Hyazinthen, daß man traun

Meint, in das Paradies zu schaun!

Und’s ist so still und heimt uns so,

Man ist so ruhig und so froh.

Man hört im Dorf kein Hüst und Hott;

Nur Guten Tag! und Dank Euch Gott!

Und Gott sei Lob! ein schöner Tag!

Ist alles, was man hören mag.

Und’s Vöglein sagt:„Ei freilich ja!

Potztausend, ja, er ist schon da!

Er dringt mit seinem Himmelsstrahl

Durch Blüt und Laub in Berg und Tal!“

Und’s Distelfinkchen vornean

Hat’s Sonntagsröckchen angetan.

Wie? Läuten sie nicht da schon ein?

Der Pfarrer muß heut eilig sein.

Geh, brich ein paar Aurikeln ab;

Doch wisch mir ja den Staub nicht ab;

Und prangst Du, Gundel, in dem Staat,

Halt ich ein Sträußchen dir parat!

JENS PETER BAGGESEN

An Lilia

Was ich Göttliches fand

In hellen begeisterten Stunden –

Was schön ich gedacht, und empfunden,

Mit sorgsamer Hand

Erlas ich; und pflanzt’ es, mit heiligem Streben

Nach himmlischen Blumen, in’s endliche Leben.

Und es hub sich empor,

Wie Blümchen umher auf der Heiden,

Von tönenden Freuden und Leiden

Ein lieblicher Flor.

Da trat aus der Fern’ ein geharnischter Riese

Mit blutigem Fuß auf die singende Wiese.

Und der Rohe zertrat

(Ich fühle mit zuckenden Schmerzen

Der Lieder Ermordung im Herzen)

Die keimende Saat.

Ach! alle die Blumen im holden Entstehen,

Ich sah sie für immer, so wähnt’ ich, vergehen.

Eine Lilie stand

Dicht neben mir, ohne zu beben –

Wie starrte mein innerstes Leben,

Als diese verschwand!

Es welkte der Flor, es verstummten die Lieder –

Ich sank in der Mitte der Sterbenden nieder.

Doch es schwebte herab

Vom Himmel ein goldener Knabe,

Und nahte mit silbernem Stabe

Dem blumigen Grab;

Und blickte mit Seufzen, und blickte mit Weinen

Auf alle die Stengel der sterbenden Kleinen.

Und es rührte sich leis’

In jedem bethräneten Stengel –

Da schlug um sie alle der Engel

Den segnenden Kreis;

Und blickte mit Lächeln voll himmlischer Güte

Auf jede nun wieder sich hebende Blüthe.

Und es regte sich tief

Im Busen der Kleinen so wonnig,

So selig, so süß, und so sonnig,

Die Seele, die schlief;

Und hold in der Kelch’ und der Stengelchen Beben

Erwachte der Duftenden tönendes Leben.

Mit dem Lilienstab

Berührte sie leise der Engel –

Da lösten vom zitternden Stengel

Die Blumen sich ab;

Und flogen hinauf in ätherische Lüfte,

Darbringend dem holden Erlöser die Düfte.

Wer den Riesen gekannt,

Der jegliche Blüthe zerstöret,

Dem jetzo die Heide gehöret,

Dem ist er genannt.

Das goldene Kind mit dem silbernen Stengel,

Du, himmlische Lilia, du warst der Engel!

An Romantica

Sonett

Es flossen Blitz’ aus jedem Edelsteine;

Mondstrahlen träufelten aus allem Golde;

Es weinte Liebesfunken jede Holde;

Rings dampften alle Berge Glut vom Weine;

Die Fluten alle loderten – nicht eine

Der Flammen, die da stehn in Lichtes Solde,

Vom Glanz der Sterne, bis zum Schein der Dolde,

Blieb übrig – jede Blüthe ward die deine.

Geathmet all’ in einem einz’gen Kusse,

Sich selbst in neuer Strahlung zu gebähren,

Verschlang sie dein jungfräulich keusches Dunkel.

So that dein Schoos, durchbohrt vom Himmel, Buße;

Und die Empfängniß selig zu bewähren,

Gebahrst du den schwarzleuchtenden Karfunkel.

DOROTHEA SCHLEGEL

»Draußen so heller Sonnenschein,

Alter Mann, laß mich hinaus!

Ich kann jetzt nicht geduldig sein,

Lernen und bleiben zu Haus.

Mit lustigem Trompetenklang

Ziehet die Reuterschar dort,

Mir ist im Zimmer hier so bang,

Alter Mann, laß mich doch fort!«

Er bleibt ungerührt,

Er hört mich nicht:

»Erlaubt wird, was dir gebührt,

Tust du erst deine Pflicht!«

Pflicht ist des Alten streng Gebot;

Ach, armes Kind! du kennst sie nicht,

Du fühlst nur ungerechte Not,

Und Tränen netzen dein Gesicht.

Wenn es dann längst vorüber ist,

Wonach du trugst Verlangen,

Dann gönnt man dir zu spät die Frist,

Wenn Klang und Schein vergangen!

Was du gewähnt,

Wonach dich gesehnt,

Das findest du nicht:

Doch bleibt betränt

Noch lang dein Gesicht.

[1802]

Mein Lied, was kann es Neues euch verkünden?

Und welche Weisheit, Freunde, fordert ihr?

Der Hohen meine Jugend zu verbünden,

Dies, wie ihr wißt, gelang noch niemals mir.

Noch Neu, noch Alt wußt’ ich je zu ergründen;

Das Schicksal gönn’ im Alter Weisheit mir.

Wir irren alle, denn wir müssen irren,

Gelassen mag die Zeit den Knäul entwirren.

Der Waldstrom braust im tiefen Felsengrund,

Gar schroffe Klippen führen drüber hin,

Die furchtbar hängen über’m finstern Schlund;

Wer strauchelt, dem ist sichrer Tod Gewinn!

Ein Müder wankt an Geist und Gliedern wund

Daher, schaut bang hinab, kalt graust der Sinn:

Am Felsen spielt ein Kind, sorglos bemühet

Ein Blümchen pflückend, das am Abgrund blühet.

Oft mühten sinnreich Dichter sich und Weise,

Das Leben mit dem Leben zu vergleichen.

Am glücklichsten geschah’s im Bild der Reise!

Ein Tor eröffnet Armen sich, wie Reichen;

Früh ausgewandert auf gewohntem Gleise

Sieht er die Dämmrung kaum dem Licht entweichen,

So treibt der Wahn, ihm dürf’s allein gelingen,

Rastlos in nie erreichte Fern’ zu dringen.

Es türmen Felsen sich in seinen Wegen,

Des Mittags Strahlen glühn auf seinem Haupt,

In Wüsten Sands muß sich der Fuß bewegen,

Ein Ungewitter naht, der Sturmwind schnaubt,

Wo kommt ein sichres Dach dem Blick entgegen?

Es seufzt nach Ruh’, wem stolzer Mut geraubt;

In später Nacht, doch tausendfält’ger Not

Kömmt er ans Ziel – und dieses ist – der Tod!

Der Jüngling tritt, von Ahndung fortgezogen,

Zur Schwelle hin, die in das Leben führt.

An seiner Schulter tönt der goldne Bogen

Der Göttin, so die Welt ihm hold verziert,

Der Phantasie, die ihn auf kühnen Wogen

Sanft fortreißt, ihn mit bunten Bildern rührt.

Wenn er dann so nach schönen Träumen hascht,

Wird unbewußt vom Glück er überrascht.

Gebt acht, gebt acht, Gelegenheit ist flüchtig,

Nicht leicht ihr Stirnenhaar im Flug zu fassen.

Obgleich zu nützen sie ein jeder tüchtig,

Dem’s klug gelang, sie nicht entfliehn zu lassen,

So ist dem Würdigen sie nie so wichtig,

Daß er von ihr sich mag bestimmen lassen.